Mitte November

Weiter im phänologischen Kalender der großen Stadt, der mich gerade bis zur Besessenheit interessiert. Alles mitschreiben, ich lese statt Twitter jetzt Gegend, irgendwo muss die Aufmerksamkeit ja hin. Vor den Blumenläden der großen Ketten im Hauptbahnhof jedenfalls schon seit zwei Tagen die Adventskränze, nacktgrün oder mit vorgefertigter Deko, wie es passt, verschiedene Größen und Preisklassen natürlich und die Vorbeigehenden gucken, stutzen und checken dann vermutlich kurz den inneren Kalender: Jetzt schon!? Ja, jetzt. Mitte November, ne. Okay.

Vor den Drogeriemärkten wieder das Futter in großen Packungen, feed the birds. Auch auf unserem Balkon haben wir nach lebhaften und nicht eben freundlich vorgebrachten Beschwerden aus Singvogelkreisen wieder Meisenbälle aufgehängt, ein weiterer Saisonbeginn.

An die metallgraue Seite eines Fahrkartenautomaten im Gewirre der U-Bahngänge hat jemand mit Edding geschrieben: „God has mother issues“, die Schrift ist eher klein und unauffällig. Eine Botschaft an versteckter Stelle, auch große Gedanken können also dezent geäußert werden. Da mal ein Beispiel nehmen, falls wider Erwarten ein großer Gedanke im eigenen Hirn auftauchen sollte.

Ein Mann im Anzug kommt mir auf der Rolltreppe, auf der ich im Bahnhof abwärts fahre (äußerst unangenehme Erinnerungen an generationsbedingte Schullektüre bitte ggf. hier einfügen) aufwärts entgegen, er hält einen Blumenstrauß in Knisterklarsichtfolie in der Hand. So einen fertig gebundenen Strauß, bestenfalls mittelschön ist der, fast liebloser Tankstellenstyle, sagen wir zwanzig bis dreißig Euro. Als Mitbringsel schon etwas größer, aber tendenziell eher lieblos, so ein Pflichtgebinde. Er besieht sich den Strauß, und zwar tut er das ganz genau. Guckt so intensiv prüfend, als würde er die Blumen nachzählen, im Geiste nach Farben neu sortieren, den Zustand des blassen Ziergrases prüfen, die Üppigkeit der Blüten kritisch bedenken – er hat einen ausgesprochen skeptischen Blick dabei, so sieht man aus, wenn man etwas falsch gemacht oder entschieden hat und es dummerweise gerade etwas verspätet merkt, es ist dieser Gesichtsausdruck der Reue oder Einsicht, eindringlich gespielt. Er führt den Strauß auch mal näher an die Augen heran, dann wieder weiter weg, grimassiert, nein, doch, oh, es ist wirklich wie im Theater. Vielleicht denkt er aber auch nur: Tulpen? Jetzt? Mitte November? Er hätte doch auch einen Adventskranz kaufen können.

Da vorne ein Feuerwehreinsatz, gleich fünf verschiedene Wagen kommen angerast und bleiben mit blinkendem Blaulicht stehen, in dieser Straße geht erst einmal nichts mehr. Jetzt auch noch Polizei, es wird alles gesperrt. Allerdings steigen die von der Feuerwehr nicht aus, sondern bleiben sämtlich in ihren Wagen sitzen und machen erst einmal in aller Ruhe das, was wir alle machen, wenn wir warten müssen: Sie sehen auf ihre Handys. Um sie herum entsteht ein grandioser Stau, sie lesen sitzend irgendwas nach. Es wirkt ein wenig surreal, aber was sollen sie auch machen, solange die Lage noch von irgendwem geklärt wird. Und es ist ja gut, es ist sogar hervorragend, wenn sie gar nicht erst aussteigen müssen.

Auf dem Fußweg neben ihnen sofort die Menschen, die aufgeregt filmen, so viel Feuerwehr, so viel Blaulicht, guck mal, guck mal, erst einmal das Smartphone auf Verdacht draufhalten. Um den Satz von gestern zu wiederholen: Was ist mit den Leuten. Wer braucht davon Videoclips, wie fünf Feuerwehrwagen irgendwo halten und dann überhaupt nichts passiert, und wer würde diese Videos brauchen, wenn etwas passieren würde.

In einem Gespräch am Straßenrand die laute, unwillige Enttäuschung: „Passiert ja gar nix!“ So schade. Vielleicht brennt in zwei Wochen wenigstens irgendwo ein Adventskranz, dann bekommen sie doch noch etwas geboten.

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