Ohne Segel, kein Hafen

Freitag, der 9.6. Ich beschäftige mich bei einem Projekt mit einer bibliothekarischen Aufgabe, es geht um die Klassifikation von Mediendateien. Es kommen Schiffe vor, sie haben Merkmale und Namen oder nicht, sie liegen im Hafen oder nicht, es ist Sturm oder nicht, es muss alles irgendwie erfasst werden. Nachdenken über Schlagwörter und Strukturen und Ordner und Ablagen, es ist wie Aufräumen, und ich mag Aufräumen. Sehr sogar. „Ohne Segel, kein Hafen“, das steht als Angabe unter einem Bild, es ist ein Sortierversuch. Wie traurig das klingt. Dabei kann man sich sofort muntere Bilder vorstellen, Sommerreisebilder etwa, auf denen Schiffe ohne Segel sind, die in keinem Hafen liegen. Aber wenn man nur das Negative hervorhebt, das Fehlen von etwas, wird des gleich melancholisch, ohne Segel, kein Hafen, so sad. Irgendwo in der Flaute herumdümpeln, danach klingt es. Joseph Conrad hätte so etwas glatt für ein, zwei Kapitel gereicht.

Es ist der erste Tag, an dem unsere Wohnung heiß ist, nicht nur einfach warm. Ich merke es bei der Arbeit am Schreibtisch, das Gefühl schleicht sich an und wird dann auf einmal bewusst: Es ist viel zu warm hier drin. Spontan alles von sich werfen wollen, den Ventilator im Keller suchen, die Fenster schließen, die Jalousien runterziehen, auch die Vorhänge zumachen. Alles lange nicht mehr gemacht. Es ist Juni, es passt, es wird nur jedes Jahr etwas schlimmer. Ich habe schon wieder vergessen oder verdrängt, wie anstrengend ich Hitze finde, ich werde mich erst neu daran gewöhnen müssen. Den Tagesablauf umstellen, mittags nicht mehr rausgehen und so weiter, die Bewegung in die anderen Stunden verschieben. Noch früher aufstehen oder doch einmal länger aufbleiben, irgendwas mit den Rändern des Tages machen, mit den Zonen der etwas frischeren Luft in der Stadt.

Für heute aber ergebe ich mich der plötzlichen Schwäche, und gerne sogar. Siesta, fordert der Körper nachdrücklich, dem gebe ich nach und schlafe in dem Moment ein, in dem ich das Bett berühre. Es ist viel zu warm auf dem Bett, es macht nichts. Auf den winzigen Lufthauch im Raum achten, denn den gibt es immer, man muss ihn nur wahrnehmen. Schön ist das.

Ein Sohn kommt am frühen Abend aus seinem Zimmer, er sieht aus wie nach dem Sport, er hat da aber nur vor seinem PC gesessen. „Es geht wieder los“, sagt er und „Ja“, sage ich, „das habe ich auch gemerkt. Im Kühlschrank ist noch Eis.“

Das beste Wetter ist dann, wenn ich in einem Anzug weder friere noch schwitze, wenn ich auch nicht nass werde und nicht wegwehe. Dieses Wetter ist ausgesprochen selten. Ohne Regen, kein Wind.

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3 Kommentare

  1. Lieber Herr Buddenbohm,

    ich liebe Ihre Texte! Und so eine Aussage entlockt man mir nicht leicht.

    Während viele andere Blogs, denen ich mit Freude gefolgt bin, langsam sterben, ist es mir ein fast tägliches Aufatmen hier sicheres Futter für Gehirn und Seele zu finden. Aktuell ist es sogar der laute, tiefe Atemzug wenn man durch die Wasseroberfläche bricht, nach allzu langem Tauchen im Alltagsgewühl.

    Ihr Ritual zu schreiben, ist mein Ritual hier zu lesen!

    Danke!

    Herzliche Grüße
    Nelia

  2. Lieber Herr Buddenbohm,

    dankeschön für den schönen Text! Die „Ränder des Tages“ kommen auch wunderbar vor in Dörte Hansens „Zur See“, falls sie noch mehr Bücher auf Ihrem Stapel brauchen können.

    Herzlichst, Esthi

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