Denken, was man möchte

Ich sehe nach dem Aufstehen mit dem ersten Kaffee in der Hand aus dem Fenster. Im Frühdienst des Stadtteils geschieht schon einiges. Auch in den Stunden, in der routinemäßig nur wenige Menschen mitzuspielen bereit sind, am Ende der wee small hours of the morning.

Drei Möwen belagern etwa einen Mülleimer und rauben ihn aus. Wobei sie sich so abwechseln, dass es verdächtig nach einem System aussieht. Und mit Schnabelbewegungen machen sie ihre Räuberei, die derart energisch und zielorientiert sind, dass man beim Zusehen gleich etwas mehr Respekt vor diesen Vögeln gewinnt. Wie die da mehrere Plastikverpackungen gekonnt zerlegen … sie haben, es ist im Grunde eine simple Gleichung, immer noch mehr Kraft und Geschick, als man ihnen ohnehin schon zutraut.

Tauben beäugen währenddessen die Sandkiste auf dem Spielplatz und prüfen hier und da mit gewohnter Akribie, ob es sich bei gewissen interessanten Objekten um Kies oder womöglich essbare Krümel aus Kinderhänden handelt. Krähen marodieren flatternd und verhalten kakelnd durch sämtliche Blumenkästen an den Balkonen ringsum, von Stockwerk zu Stockwerk vorgehend, nein, vorfliegend.

Meisen inspizieren Stuckornamente an Gründerzeitfassaden und beseitigen Insekten, die sich dort dummerweise sicher gefühlt haben. Ein Junkie durchwühlt derweil mit bebenden, fliegenden und sehr dreckigen Händen ein Versteck, das ich nicht näher bezeichnen möchte.

Eine schwarzweiße Katze schnürt mit demonstrativem Desinteresse und adeliger Kopfhaltung quer durch die ganze Szenerie. Sie hat offensichtlich etwas Wichtigeres vor, als sich um das niedere Volk an ihrem Wegesrand zu kümmern. Sie ist nicht einmal gewillt, es auch nur am Rande zu beachten, dieses niedere Gelichter, das irgendwas treibt. Was sollte es da auch zu beachten geben.

Ein Blogger sieht aus einem Dachfenster auf die diversen Vorkommnisse, trinkt Kaffee und kramt in seinen Gedanken.

Eine Nachbarin im Haus dem Dachfenster gegenüber öffnet gähnend eine Balkontür. Sie hält ihren Kopf kurz wie einen Temperaturfühler hinaus und zündet sich dann im Türrahmen eine Zigarette an. Während sie den Rauch des ersten Zuges ausstößt, sieht sie hoch zur Kirchturmuhr und schüttelt dann den Kopf.

Ein Taxifahrer jagt sein Auto in höchst unzulässiger Geschwindigkeit durch die Tempo-30-Zone, wobei er einen Arm aus dem Fenster hängen lässt, lässig wie in alten Opel-Manta-Filmen.

Das Ringeltaubenpärchen sitzt neben einer Amsel im Holunder am Spielplatzrand. Alle drei Vögel strecken sich gerade. Ein leises Gurren und Zwitschern ist dabei zu hören. Man muss sich beim Zusehen mühsam vergegenwärtigen, dass sich diese Tiere nach jetzigem Erkenntnisstand der Wissenschaften vermutlich nicht morgens über Artgrenzen hinweg höflich darüber unterhalten, wie wohl die Nacht auf jenem anderen Zweig gewesen sei.

Aber dennoch, denkt man dann vielleicht noch, aber dennoch! Es sieht doch dermaßen deutlich danach aus. Und kann man nicht denken, was man möchte.

Ein Wind aus Südost macht schließlich schwungvoll das, was die Stimmung bei den meisten Menschen um diese Uhrzeit noch nicht macht: Er kommt auf, und zwar mit nachhaltiger Munterkeit und belebender Frische. Er spielt mit den Blättern, dieser Wind, mit den Büschen und den Bäumen, so wie wir gleich mit irgendetwas anderem spielen werden.

Vielleicht allerdings, es gibt Grund zu dieser Annahme, wird der Wind heute etwas ausdauernder spielen als wir.

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Der Alte Wall neben dem Rathaus, gerade menschenleer

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I’m gonna sit and watch the waves

Zu meiner Verwunderung finde ich „Königliche Hoheit“ von Thomas Mann so interessant, dass es fast den ganzen anderen Medienkonsum verdrängt, das hätte ich bei seinen Werken nicht mehr vermutet.

Aber gut, währenddessen wurde bereits der „Tristan“ in der Audiothek serviert, man wird dort stetig weiter und auf Vorrat versorgt. Und gelesen wird diese Erzählung von Gert Westphal, schlechter wird es auch nicht gerade.

***

Wir winken außerdem Brian Wilson. „Summer’s gone“ ist das letzte Lied vom letzten Beach-Boys-Studio-Album von und mit Brian Wilson, ein hervorragend passendes Endstück.

„Summer’s gone
I’m gonna sit and watch the waves
We laugh, we cry
We live, then die
And dream about our yesterday.”

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Davon abgesehen Unbeschreibliches im Familienalltag und dazwischen ein gewöhnlicher Bürotag in Hammerbrook mit dezenter Überlänge und zu vielen Meetings. Im Roman „Königliche Hoheit“ ist es in der Erziehung des Prinzen die höchste, schlimmste Strafe, wenn das Kindermädchen ihn traurig ansieht. Ich probiere das mit KollegInnen, es scheint aber nicht zu funktionieren. Sie werden es am Ende nicht einmal bemerkt haben. Ich werde erheblich an meiner Mimik arbeiten müssen, um diese Methode fortzusetzen.

Bürobauten am Südkanal in Hammerbrook, Smileys als Graffiti an den Fassaden

Zuhause sehe ich dann die Söhne traurig an, es gibt in ihrer Altersphase immer Grund dazu. Aber Problem: Die Söhne sehen mich nicht an.  In den Büchern ist doch vieles einfacher, als es sich im echten Leben darstellen lässt. Siehe auch Happy End etc.

Währenddessen versteht immerhin der gestern erwähnte Sohn mit dem Stochastik-Problem plötzlich alles. Und nicht nur das, er findet jetzt auch alles großartig, er begeistert sich auf einmal erheblich für das Fach, möchte Mathematiker werden und fängt spontan an, sich berufliche Szenarien vorzustellen, in denen er wunderliche Begabungen bis zum Exzess austoben kann.

Es bleibt allerdings vollkommen unerfindlich, woher er diese Neigung zur Übertreibung und die seltsam blühende Fantasie haben könnte.

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Wahrscheinlichkeiten

Mir fällt beim morgendlichen Lesen der Nachrichten auf, dass ich es in diesem Jahr womöglich noch nicht erwähnt habe, aber ich bin jedenfalls mit der Gesamtlage nach wie vor nicht einverstanden. Es zieht sich nun seit etwa 2015 so durch und muss daher allmählich als chronifiziert bezeichnet werden. Die typische Ärztinnenfrage, wie lange haben Sie das schon, und dann sagt man leise: „Zehn Jahre“. Wohl wissend, ein größeres Problem zu benennen.

Ein unschöner Zustand. Aber solange man sich noch indigniert geben kann, ist man kaum betroffen und eher privilegiert, das ist schon klar. Ich habe auch immer meine Mutter relativierend im Sinn (Jahrgang 1938), die fassungsloser als ich vor den aktuellen Nachrichten sitzt und sich zwar immer wieder zum bescheidenen Trost sagen kann und es auch tut, dass sie was auch immer vermutlich nicht mehr erleben wird – die aber lange Zeit auch nicht damit gerechnet hat, solche Rückschritte, wie sie unsere Gegenwart in bedrohlicher Eskalation zu bieten hat, auch nur in Ansätzen zu erleben. Man hat es so nicht vorhergesehen.

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Passend dazu: Das Buch „Verlust“ von Andreas Reckwitz liegt hier schon seit Wochen bereit zur Lektüre, ich werde wohl demnächst dazu kommen. Beim SRF in den Kultur-Sternstunden gibt es ein Interview mit ihm vom Jahresanfang, das ist auch sehenswert. Ein Thema, das ich für enorm wichtig und unterschätzt halte – der Verlust der Zukunft in „unserem“ Teil der Welt.

Das Video hier auch wieder als Link.

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Sohn II braucht etwas Hilfe in Mathe und sieht mich fragend an, was bei dem Fach eine eher originelle Idee ist. Allerdings geht es, wie ich kurz darauf erleichtert feststelle, um Stochastik, da kann ich sogar etwas. Da kann ich vor allem dem Sohn sinnige Vorträge darüber halten, dass dies jenes Thema ist, bei dem ich damals zu meinen Schulzeiten auf einmal sogar in Mathe alles verstanden habe und sofort logisch und einleuchtend fand. Als hätte man mein Hirn über Nacht irgendwie justiert. Weswegen ich dann am Ende des Halbjahres auch eine verblüffend glanzvolle Note erhielt und mich damit zum Abitur retten konnte.

Diese Rettung war also eine Frage der Wahrscheinlichkeitsrechnung, aber es war doch eine Wahrscheinlichkeit der Rettung, mit der man fraglos nicht rechnen konnte.

Und diese Wahrscheinlichkeitsrechnung, ich rede einfach immer weiter, merke aber längst, dass der Sohn dabei unauffällig nach dem Smartphone gegriffen hat, sie gehört zu den wenigen Themen aus dem Fach Mathematik, die tatsächlich und ernsthaft im späteren Leben vorkamen. Mehrfach! Die Sache mit dem Urnenmodell und dem Zurücklegen etc., das Rechnen mit der Fakultät, das gab es alles auch „in echt“ und bei verschiedenen Gelegenheiten.

Die Wahrscheinlichkeitsrechnung ist nützlich, ich kann es beweisen, ich habe es erlebt. Der Sohn gähnt und wirkt unwahrscheinlich müde.

Ich habe es hier auch nicht immer leicht.

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Das Spiegelgebäude in Hamburg im Abendlicht

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Diverses, Dienstag

Die Kaltmamsell zitiert eine Stelle von Nils Minkmar, die mir auch zitierwürdig vorkam, da lasse ich ihr gerne den Vortritt. Außerdem weist sie auf Arbeiten an der Blogroll hin, die ich auch in meiner kleinen Blogbude lange nicht mehr angesehen habe, wie mir dabei auffällt. Zu vermelden ist bei der Durchsicht, dass ich Lu wieder aufnehmen konnte. So etwas ist immer erfreulich – manchmal kommen sie wieder. Und nur ein Blog aus der Liste hat noch keinen Text aus diesem Jahr zu bieten und muss etwas strenger angesehen werden. Das kommt mir wie eine hervorragende Quote vor. Fleißbienchen für alle, Lob und freundliche Zurufe.

Bei Patricia gibt es eine lesenswerte Reisereihe, ausgehend von dem schönen Satz: „Also dachte ich: meinen 50. Geburtstag sollte ich nutzen und meine potenziellen Beerdigungsgäste besuchen gehen.

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Es gibt ansonsten neues Futter für den Freundeskreis Geschichte: Beim Podcast „Alles Geschichte“ drei Folgen „Stars des Absolutismus“, die inhaltlich eher etwas neben dem üblichen Schulwissen liegen, es ist erfreulich. Über die Sonderrolle und seltsame Begabung zur Politik der Maria Theresia, über Friedrich den II. und seine Seidenraupen sowie über die Strategien der Madame Pompadour.

Jeweils rund 20 Minuten.

Außerdem hat man, falls überhaupt noch jemand mehr Thomas Mann vertragen kann, einen weiteren Roman nachgelegt: „Königliche Hoheit“. Gelesen von Dietmar Schönherr, die wählen da klug aus. Ich zumindest halte noch durch und mache mit, zumal ich diesen Roman bisher noch nicht gelesen habe. Die Vorliebe Thomas Manns für albern sprechende Namen nervt erheblich (Graf Trümmerhauf, meine Güte), aber davon abgesehen ist es unterhaltsamer als gedacht.

Ein Trümmerhaufen nach Hausabriss vor älterer Fassade

Zwischendurch wird den Hauptfiguren ein Gabelfrühstück gereicht. Das ist ein Begriff, der mir schon sehr lange nicht mehr begegnet ist. In der Wikipedia gibt es eine aufschlussreiche Seite über Zwischenmahlzeiten im deutschen Sprachraum, gucken Sie mal. Mir geläufig ist vor allem das plattdeutsche „Fofftein“, zumal ich aus einer Handwerkerfamilie komme. Liebenswert und deutlich in der Bezeichnung kam mir beim Lesen das „Bettmümpfeli“ aus der Schweiz vor, interessant ist aber auch „Imbs“ aus Rheinhessen. Beides noch nie gehört.

Schließlich hörte ich bei Radiowissen eine Folge „Thomas Mann und die Seinen – Im Hofstaat des Zauberers“. Vor allem interessant, wenn man sich mit der Familie noch nicht intensiv befasst hat. Dann kann man etwa über die tragische Rolle der Monika noch einmal staunen. Wenn man tendenziell schon eine Überdosis der Sippe hat, wird man bei der Sendung nichts Neues mehr lernen können.

***

Neues von der fortgesetzten Musiksuche. Ich hörte mich durch das Gesamtwerk von Phil Ochs (Wikipedia) und stoße auf „Remember me“. Da singt ein im Zweiten Weltkrieg gefallener US-Soldat, und man möchte den Text in den Vereinigten Staaten groß plakatieren. Aber nicht nur dort, schon klar, nicht nur dort.

„Remember me when the crosses are a-burnin‘
Remember me when the racists come around
Remember me when the tides of peace are turnin‘
Remember me and please don’t let me down

When the Fascists started marching many millions had to pay
We saw them come to power but we looked the other way
It happened once before and it can happen once again
Will you show me that I didn’t die in vain?”

Das Video hier auch als Link.


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And your shoes are laced up wrong

Währenddessen ist es Herbst geworden, ohne dass der Sommer uns aufgefallen oder sehr groß gewesen wäre, wie es die Dichtung doch fordert. Aber gut, man muss die Feste feiern, wie sie fallen. Es sind zwölf Grad, mit einem „Real-Feel-Faktor“ von bescheidenen neun Grad. Es regnet, es schüttet und gießt, dazwischen wird man benieselt. Spätoktobrig fühlt es sich an, und spätoktobrig, das mag ich.

In der Innenstadt sehe ich die Regenjackenparade der trotzenden Tagestouristen mit Schirmscharmützeln am Rande, man kommt sich dort erstaunlich oft ins Gehege. Am Ende fehlt aber nur die Gewöhnung, wir haben in der langen Trockenzeit auch das Herumlaufen mit Schlechtwetterzubehör womöglich ein wenig verlernt.

Man kann hervorragend getragene Musik der fortgeschritten melancholischen Art hören, es passt zum Bild und zur Stimmung, die mit sämtlichen Pfingstassoziationen einfach nicht zu verbinden ist. Das kommt meinem Geschmack freundlich entgegen und ich sortiere also emsig die passenden Playlists neu. Mit einer zeitverschwendenden Leidenschaft, wie sie wohl allen sammelnden Menschen eigen ist. Und wie sie in uns angelegt sein wird, seit wir überhaupt angefangen haben, auf diesem Planeten irgendetwas zusammenzuklauben.

Es ist nun einmal unsere Art, denke ich mir, wir gehören nun einmal so. Und ich beruhige mich damit, denn manchmal muss man seine Zeiteinteilung auch sich selbst gegenüber rechtfertigen. Sie werden es kennen, nehme ich an.

Eine HVV-Fähre am Anleger Landungsbrücken, neblige, graue Stimmung

„Homburg“ finde ich bei meiner Suche am Pfingstsonntag. Ein Lied von Procol Harum, das mir nicht geläufig war. Der Nachfolger des Erfolgsgiganten „A Whiter shade of pale“. Musikalisch nahe dran am anderen Stück, viel zu nahe dran, so fand man damals wohl. Textlich ist es ähnlich angenehm spinnert und ins Surreale überlappend. Drogeninduziert oder nur poetisch, man kann es deuten, wie man möchte, je nach Gnade oder Geschichtswissen.

Ich bin jedenfalls zufrieden mit dem Fund und höre es dann oft genug, so dass es mir bald ähnlich vertraut vorkommt, als sei es immer schon dagewesen. Was zeitlich auch hervorragend hinkommt. Es ist von 1967, es war tatsächlich die meiste Zeit da, in der ich auch da war.

Das Video auch als Link, denn das Einbetten scheint bei einigen nicht recht zu funktionieren, las ich.

Your trouser cuffs are dirty

And your shoes are laced up wrong

You’d better take off your Homburg

Cause your overcoat is too long.”


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Davon abkommen

Ich scheine am Ende der Notizen angekommen zu sein. Also der Notizen, die hier noch gebrauchsfertig herumlagen. Zwei Themen nur sind noch übrig, die mir aber gerade nicht von der Hand gehen. Da fehlt mir noch der Zugang, die müssen noch etwas nachreifen.

Manche Notizen, das kam schon vor, reifen sogar jahrelang. Und dann auf einmal, man wacht auf und weiß nicht einmal, was an diesem Tag anders sein könnte, ist es klar, was damit zu tun ist und man kann losschreiben. So geht es mir auch mit einigen Geschichten. Irgendwann werden sie wohl dran sein, nehme ich an, und Eile spüre ich nicht mehr dabei.

Mir fällt ohne besonderen Grund die Film-App der öffentlichen Büchereien wieder ein, Filmfriend. Die hatte ich irgendwann auf dem Bildschirm des Smartphones kurz verschoben und dann prompt vergessen. Aus den Augen, aus dem Sinn, siehe auch Menschen, darin bin ich gut. Ich mache die App auf und sehe überrascht, dass da immer noch „Weitersehen“ steht. Eine Maigret-Folge mit Bruno Cremer wird mir dort angezeigt, etwa halb habe ich sie damals angesehen. Diese Serie von 2005, die ich gar nicht genug loben kann.

Ich mache dann, was ich sonst nie mache, ich sehe doch einmal im Blogarchiv nach, wann und wie ich davon abgekommen bin, diese Serie bis zum Ende zu sehen. Ich kann mich nicht erinnern, aber es war im September des letzten Jahres, stelle ich fest. Es war wegen der „So long, Marianne“-Serie über Leonard Cohen und Marianne Ihlen, guck an.  Na gut, die war auch ganz interessant. Aber der Maigret, es ist im Nachhinein doch recht deutlich, ist besser, viel besser.

Und wieder frage ich mich bei dieser Gelegenheit, aber es ist nur ein flüchtiger Nebengedanke, was wohl wäre, wenn wir alle weitermachen würden mit dem Zeug und mit den Gedanken und Vorhaben, von denen wir im März 2020 abgekommen sind. Als die Pandemie ausbrach und alles so nachhaltig durcheinanderbrachte.

Aber die Frage ist selbstverständlich sinnlos, der März 2020 ist schon furchtbar viele lange Jahre her. Niemand kann sich an die Zeit davor erinnern. Wir kennen diese Zeit nicht mehr, wir wissen nicht, wo sie liegt. Und schon wieder ist man bei Asterix.

Ich habe einen Kollegen, der auch schon ein Mitschüler war, damals in Lübeck. Wir haben uns gegenseitig Asterix in den Lateinstunden zitiert, wir tun es heute noch im Büro. Die Gallier als Lebenskonstante. Da man Asterix aber auch nicht mehr so liest wie früher, kommen da andere, vor allem Jüngere, nur noch manchmal mit. Wir wachsen da also aus dem allgemeinen Verständnis langsam heraus und reden seltsames Zeug. „Ach, die beiden zitieren wahrscheinlich wieder ihre Kindheitscomics.“

In der letzten Woche hatte ich, fällt mir dabei ein, einen ausgesprochenen Boomer-Moment. Als ich anlässlich eines kleinen Fehlers in Daten in einem Call sagte: „Das versendet sich.“ Da guckten die Jüngeren einigermaßen ratlos, den Ausdruck kannten sie nicht. Nie gehört, was soll das denn heißen? Ich suchte ihnen eben die Erklärung aus dem Internet, immer serviceorientiert bleiben. Die Erklärung aber bezog sich dann auf so alte Zeiten, dass da nicht einmal etwas vom Radio stand, aus dem dieser Ausdruck selbstverständlich kommt, sondern vom Rundfunk.

„Ich bin eben von damals“, sagte ich, und ich fühlte es auch sehr in diesem Moment.

Aber wie auch immer. Jetzt den Maigret weitersehen. Das passt auch vom Wetter her, es ist kalt und regnerisch in der Bretagne.

Ein Fleet in Hammerbrook im Nebel

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Vor dem Seniorenteller

Und dann habe ich doch tatsächlich gestern bei einer Stelle von Thomas Mann laut gelacht und nehme stark an, dass mir das zum ersten Mal im Leseleben passiert ist. Und denke mir, okay, jetzt bist Du also auch in diesem Alter angekommen, in dem man bei Thomas Mann lacht. So ist das nämlich, wenn man auf die 60 zugeht, so äußert sich das. Und dann gibt es auch schon bald den Seniorenteller im Restaurant.

Eine Stelle im „Wälsungenblut“ war es, die mich da so amüsiert hat. Ich bin mir nicht sicher, ob ich die Ironie in der Passage als jüngerer Leser überhaupt verstanden hätte. Ich befürchte aber das Schlimmste. Was selbstverständlich den Eindruck verstärkt, der sich mir ohnehin schon länger aufdrängt, dass man im Grunde alles noch einmal lesen muss.

Also alles zumindest, was einem groß und wichtig vorkommt. Was man geliebt hat oder was für uns Geltung zu haben scheint, nach wessen Deutung auch immer. Denn es sind doch deutlich andere Bücher, wenn man als lesender oder hörender Mensch bereits mehrere Jahrzehnte herumgelebt hat und also ganz anders mitreden und mitdenken kann.

Meine Urteile jedenfalls fallen signifikant anders aus als beim ersten Lesen, das merke ich immer wieder. Mein Vergnügen oder mein Missfallen ebenfalls.

Und einen Gedanken habe ich beim Wälsungenblut vermutlich zum ersten Mal gedacht, obwohl er mir einigermaßen naheliegend vorkommt. Aber gut, man kann auch nicht jeden nahelegenden Gedanken bereits selbst gedacht haben, schon klar.

Es ist jedenfalls einigermaßen erschütternd, ja, das ist wohl das richtige Wort, wenn einem auffällt, dass die Literatur, die man schätzt, mit einem mitgealtert ist. Und daher jemand wie Thomas Mann nun ein paar Jahrzehnte mehr etwa von den Jahrgängen der Söhne entfernt ist, als er es damals von mir war. Was nämlich auch heißt, ich habe ihn damals auf eine Art lesen können, die unwiederbringlich ist. Schon wegen der anderen assoziativen Anschlussmöglichkeiten an den Text. Ich war deutlich näher an seiner Zeit, an seinen Deutungen, an seinen Begriffsinhalten, Bezügen usw.

Wie gesagt, es ist ebenso logisch wie naheliegend, ich habe es nur noch nie bedacht. Dass etwa mein Fontane ausdrücklich meiner bleiben wird, niemals der der Nachkommenden werden kann. Während ich dies notiere, ist mir ein wenig so, als sei das auch ein feines Essay-Thema, aber wer hätte Zeit für so dergleichen: „Assoziative Brücken zu literarischen Werken im Wandel der Jahrzehnte.“

Am Ende aber hat auch das schon längst jemand geschrieben.

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Der Innenhof des Hamburger Rathauses

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Ein kleiner Nachtrag noch zum gestern verlinkten Video von Tim Minchin. Ich kam auf ihn, weil ich gerade alte Links aufräume und umsortiere, Arbeiten im digitalen Keller gewissermaßen (durch die Schließung von Pocket getrieben).

Da fand sich in den verstaubten Kisten nämlich dieser Link zu der Ansprache von Tim Minchin vor Studentinnen, der „damals“ weit gestreut wurde. Ich habe mir das Video noch einmal angesehen und finde es immer noch gut. Wie auch die ähnlich gelagerte Rede-Variante von Anne Lamott über ihre Learnings als älterer Mensch

Mir macht beides immer noch Spaß und falls Sie die Clips vielleicht nicht kennen sollten, zeige ich sie noch einmal. Man kann, wenn man sie morgens ansieht, auf jeden Fall etwas mit in den Tag nehmen, wie man so sagt.


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Wirr und wahnhaft

Nach einem eher wirren und wahnhaften Werktag gestern muss die Devise für den Mittwoch unbedingt lauten: „Play it safe“. Oder auch „Keep it simple“, wenn nicht sogar „Find the path of least resistance” – das sind aber alles nur im bemühten Versuch einer passenden Einleitung zitierte Zeilen aus einem Song, den ich gestern wiederum mit einiger Verspätung gefunden habe.

Aber Verspätungen machen bei den meisten Künsten sowieso nichts, Vorteil Kultur.

Ein Song von Tim Minchin zum Jubiläum jedenfalls, 50 Jahre Sydney Opera House. Das war vor zwei Jahren und ist mir komplett entgangen. Das Video ist aber unbedingt sehenswert und der Text ist eben Tim Minchin. Man kann also etwas erwarten, und man bekommt es dann auch.

Der am Ende erwähnte weird old Danish ist dieser Herr hier und über die Zeilen

“Keep it simple and same-ish

Leave the weird ideas to the Danish”

kann ich mich auch etwas länger freuen.

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Davon abgesehen hatte ich nach den Bürostunden, die in der Tat eher speziell ausfielen, Bedarf an deutlich anders gelagerter Berieselung aus deutlich anderer Richtung. Zu diesem Zwecke hörte ich (aus der App der öffentlichen Büchereien) ein kurzes Stück von Arthur Schnitzler, die „Kleine Komödie“, eine Briefnovelle, nur etwa eine Stunde lang.

Kein Meilenstein der Literaturgeschichte sicherlich, aber gelesen von Christiane Hörbiger und Michael Heltau, und was will man mehr.

Danach sah ich, dass in der ARD-Audiothek beim Thomas Mann wieder nachgelegt wurde und stieg auch dort wieder ein. „Wälsungenblut“, gelesen ebenfalls von bewährter Stimme, von Ulrich Noethen.

Und zum Abend dann wieder ein Buch auf die alte Art, mit Papier und allem. Es war eines aus dem öffentlichen Bücherschrank, neulich erst dort gefunden, das zur Jahreszeit passt: Die „Sommerdiebe“ von Truman Capote, Deutsch von Heidi Zernig.

Schnitzler, Mann, Capote, dazu noch diese Opernsache mit Minchin – mit dieser Kombination kam ich dann immerhin erfolgreich gegen die wüste Bürostimmung an und beendete den Tag erfolgreich abgelenkt.

Manchmal braucht man eben etwas Hilfe.

Ein trockengefalllenes Fleet an der Trostbrücke

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Montag, Trümmer

Auf meiner Spaziergangsstrecke hat sich das Fassadenteil eines Hauses aus dem vorletzten Jahrhundert gelöst. Trümmerstücke auf dem Gehweg, welche man mit anglermäßig ausgebreiteten Armen beschreiben könnte: „Solche Dinger!“ Die Feuerwehr sichert von einer Drehleiter aus oben, was noch zu sichern ist. Es ist nicht einmal ein hohes Haus, eher ein Zwerg im Stadtteil, aber ich sehe mir die Ausmaße dieser Trümmerstücke an und denke okay, hätte auch wieder gereicht. Zur falschen Zeit am falschen Ort, und das wäre es gewesen.

Wie neulich schon mit dem Koffer, ich berichtete, es war knapp. Was sagt einem das? Was macht man daraus? Also außer weiter? Ich habe keine Ahnung, aber diese altvertraute Asterix-Ahnung, dass einem der Himmel auf den Kopf fallen könnte – es scheint doch etwas dran zu sein. Und Bezüge zu „Don’t look up“ drängen sich ebenfalls in die Gedanken. Es scheint gerade etwas mehr als sonst da oben herumzufliegen.

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Und nicht besonders intelligent war es, auf den ersten Werktag nach dem Urlaub auch einen zahnärztlichen Termin zu legen. Ich rate von solchen Kombinationen nach dieser Erfahrung ab.

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Abgedeckte Segelboote auf einem Steg an der Außenalster

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Ich habe ansonsten den Wolf Haas durchgelesen, den Wackelkontakt. Richtig überzeugt hat er mich dann doch nicht. Direkt hinterher sah ich aber beim Wegstellen des Buches durch einen sogenannten „Zufall“ ein neulich aus dem öffentlichen Bücherschrank erbeutetes Buch eines anderen Autors mit Doppelvokal im Namen: Ein Lied von Sein und Schein von Cees Nooteboom. Und da geht es faszinierenderweise auch um die Verstrickung von Buch und Wirklichkeit, da treten Autor und Figuren in wiederum seltsamen Kontakt und es fängt mich diesmal viel eher ein als das andere Buch.

Ein charmantes Buch über das Schreiben scheint es zu sein, über das seltsame Erwecken von Wirklichkeiten. Fast in einem Rutsch durchgelesen, quasi noch am Regal stehend, das Buch ist eher schmal.

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Hier noch ein Interview aus der SRF-Reihe, es wird aber nur für eine abgedrehte Rand- und Splittergruppe von Interesse sein. Für die aber sehr. Nämlich für diejenigen, die sich für die Folgen unserer geschichtlich immer noch recht neuen Religionslosigkeit interessieren. Es sind eher weniger, die das als Thema bemerkenswert finden, jedenfalls meiner Erfahrung nach, was ich allerdings stets ein wenig bedaure.

Denn ich finde das Thema auch aus religionsloser Perspektive, also etwa von meinem Standpunkt aus, relevant und eher unterschätzt.

Und ich mag es, wenn in solchen Interviews Sätze vorkommen wie etwa „Ich möchte Ihnen bei Sophokles widersprechen …“, denn dann kann ich vermutlich etwas lernen.

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Entscheidungsfragen

Das plattdeutsche Wort des Jahres steht fest, und es ist das so appetitliche und zur Erdbeerzeit passende Schlackermaschü (Schlagsahne). Welches ich meiner Aussprache gemäß eher mit gg schreiben würde, Schlaggermaschü. Aber es gibt im Niederdeutschen eh keine festgelegte Rechtschreibung. Wir sind so frei.

Außerdem gibt es ein neues Wort, welches in die niederdeutsche Sprache integriert werden soll. Das ist diesmal die Upschuveritis (das Aufschieben, das Prokrastinieren). Die Meldung zu beiden Begriffen findet man hier.

Das hochdeutsche Pendant zur Upschuveritis kam dann kurz nach dem Lesen der Meldung oben passenderweise mehrfach im folgenden Interview mit Bas Kast vor. Das mich schon deswegen interessiert, weil er auch über das Thema Entscheidungen ein Buch geschrieben hat und hier in den nächsten Jahren bei den Söhnen größere Entscheidungen anstehen. Entscheidungen, die zum ersten Mal nicht durch die starren Gleise und wenigen Optionen des Schulsystems vorgeprägt sein werden, sondern ungewohnt variabel ausfallen werden. Genau genommen sogar so variabel wie nie zuvor, denn mehr Wahlfreiheit nach der Schulzeit hatte vermutlich bisher keine Generation. Was die Sache selbstverständlich keineswegs einfacher macht.

Ich habe die Vermutung, aber das ist nur ein vollkommen unbelegter Gedanke ohne jede empirische Grundlage, dass in den Jahrgängen der Söhne Zufallsverbindungen eine größere Rolle bei der Berufswahl spielen werden als bei denen, die vor ihnen dran waren. Etwa im Sinne von: „Ein Kumpel macht gerade was in einer Werbeagentur, dann sehe ich mir das da auch einmal an.“ Was dann eine eher lapidar anmutende Art wäre, zu großen Entscheidungen zu kommen. Aber vielleicht ist es auch die genau passende Art für eine Generation, die sich jederzeit umentscheiden kann. Nach aller Voraussicht sogar für lange Zeit, vielleicht lebenslang. Denn sie wissen natürlich, dass dies so ist.

Nun, man wird sehen. Die furchtbare Grundangst jedenfalls, bei der Richtungswahl schwere und folgenreiche, kaum jemals wiedergutzumachende Fehler zu begehen, die meiner Generation noch so vertraut war, die uns auch von den damals wirtschaftswundergeprägten Erwachsenen so gründlich eingeimpft wurde, die nehme ich bei dem, was mir an Jugend zur Beobachtung gelegentlich zur Verfügung steht, bisher jedenfalls nicht wahr.

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In Hamburg ehrt man währenddessen die amtierende Bildungsministerin in ungewohnter Deutlichkeit. Ts.

Die Fassade des Prien-Hauses mit dem Schriftzug Prien in Gold an der Binnenalster.

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