Währenddessen in den Blogs, Ausgabe 12.6.2022

Es gibt eine neue Monatsnotiz der geschätzten Nicola, die dauernd das macht, wozu ich nie komme, nämlich Podcasts hören. Sie erwähnt da auch den Roman „Nebenan“ von Kristine Bilkau, den lese ich ebenfalls gerade, was für ein Zufall. In dem Buch spielen leerstehende Häuser eine zentrale Rolle. Etwa solche in der Innenstadt, in denen einmal Läden waren, also die mit den blinden oder schon schadhaften Schaufenstern und dem unklaren Schicksal. Läden also, die Sie vermutlich auch in nächster Nähe haben, ob Sie nun in einem Dorf leben, in einer Kleinstadt oder in einer Millionenstadt wie ich (wenn ich durch den Hauptbahnhof in die Hamburger Innenstadt gehe, gleich auf den ersten Metern: Karstadt Sport weg, Kaufhof weg, C&A weg).

Das ist mir bisher noch nicht als Thema in einem deutschen Roman begegnet, glaube ich, dieser urbane oder ländliche Strukturwandel der neueren Zeit, aber es ist ein einladendes Thema. Umweltthemen kommen auch im Buch vor, bei denen denke ich aber, dass die nicht recht in einen Roman passen. Mikroplastik etc., Klimawandel und Bauschäden. Ich vermute, dieser Gedanke ist komplett irrational und abwegig, denn selbstverständlich gehört so etwas in Romane, auch wenn mir die Begriffe nicht literarisch genug vorkommen oder was mich da nun genau stört, ich kann es ja nicht einmal exakt benennen, es ist einfach ein Unbehagen. Ich habe jedenfalls nicht Recht mit diesem Unbehagen, glaube ich. Warum soll man immer alles gut finden, was man selbst denkt.

Apropos Strukturwandel, ich schwenke eben in den Alltag vor der Haustür – hier macht neben einem Coffeeshop gerade ein neuer Laden auf, es ist ein, ich halte auf dem Fahrrad extra an, um nachzusehen, es ist ein weiterer Coffeeshop. Das ist gut, denke ich, weil ich doch gerade direkt neben dem Coffeeshop oft Durst auf Kaffee hatte, wer kennt es nicht.

Klebkunst: Ein papierner Schmetterling an einer gekachelten Wand

Ansonsten gilt hier seit ein, zwei Jahren übrigens das Prinzip der halbherzigen Eröffnung, es machen also dauernd Läden auf, nur um nahezu sofort wieder zu sterben. Es gab sie dann immerhin einen Tag, zwei Wochen oder einen Monat, manche sogar ein Quartal. Egal, es wird sich niemand jemals an sie erinnern können. In einem dieser Eintagsfliegenlädchen steht eine Schale im Schaufenster, verschrumpeltes Obst liegt darin und ein Schild steht daneben: Vegane Häppchen. Der Laden, ein Café soll es wohl sein, hatte einen Tag geöffnet, dann wieder doch nicht, dann Tage später noch einmal, der Laden flackerte. Jetzt ist er wieder weg, seit Tagen war da kein Licht mehr an. Am Ende war es bloß kurz Kulisse für ein Filmteam, was weiß ich.

An einem anderen Laden schrauben zwei Männer auf Leitern gerade ein Schild ab, als ich vorbeikomme, und in dem Moment, in dem sie es herunterheben, habe ich schon vergessen, was darauf stand.

Ich kann auch keine Podcasts hören, das wollte ich noch eben sagen, weil ich doch Bücher höre. Bücher beginnen gleich mit dem Inhalt, das ist sehr gut eingerichtet. Podcasts dagegen beginnen mit Smalltalk, viele jedenfalls, und ich komme mir doch etwas irre vor, wenn ich Smalltalk im echten Leben kunstvoll vermeide, nur um ihn mir dann medial gezielt zuzuführen, das geht doch nicht.

Ich höre „Wellen“ von Keyserling, den ich mit Vehemenz mag, wie vermutlich bereits häufig genug erwähnt. Keyserling gehört zu den Autoren, die im Grunde immer das Gleiche geschrieben haben, in jedem Buch, immer nur leicht anders betonte Nuancen und sacht abweichende Varianten, aber das ist alles sehr gut so und reicht aus.

Ich schreibe auch immer das Gleiche, nur nicht so gut wie Keyserling. Kein fishing for compliments, eher ein Erkennen des Problems. Ich fahre aus dem Garten (erste Erdbeeren, Zucchini wachsen, Stachelbeeren in Bälde) nach Hause, weil ich nicht nur das Gleiche schreibe, sondern auch immer das Gleiche mache, womöglich besteht da ein Zusammenhang. Immer wieder die Wege zwischen der Wohnung und dem Büro und dem Garten, dazwischen das Einkaufen und die Bücherei, mehr passiert hier einfach nicht. Ich fahre über eine Brücke, unten liegt ein Fleet. Stand-Up-Paddler in träger Bewegung darauf, am Ufer malerische Schrebergärten. Überhängende Bäume spiegeln sich im Wasser, schön sieht das aus. Kleine Boote liegen vertäut an Stegen, es ist ein Sommerromantikbild, es ist das Postkartenhamburg abseits von Alster und Elbe. Aus einer Laube kommt laute Schlagermusik, da hat die ganze Gartenkolonie etwas davon und auch die Menschen, die vorbeikommen oder über die Brücke fahren, so wie ich, die also irgendwo hinwollen, denen singt Udo Jürgens laut nach: „Ich weiß, was ich will!“

 

Ja, schön für dich, denke ich mit immerhin nur geringer Bitternis, „dass jede Nacht für uns zum Karneval wird“, die Phase habe ich doch längst hinter mir. Ich aber will meine Ruhe, denke ich. Dieser Satz kommt bei Hüsch irgendwo wörtlich als Pointe vor, ich aber will meine Ruhe, es ging da um den Text auf seinem Grabstein, wenn ich mich richtig erinnere. Es gibt viele Sätze beim Hüsch, bei denen nicke ich ihm so zu, vage in Richtung Himmel.

„Sag mir nur eins“ singt Udo, und dann höre ich ihn nicht mehr, „will ich zu viel?“

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Ach, und ich habe hier für das Goethe-Institut etwas über Menschen im ÖPNV geschrieben.

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Eine Dankespostkarte

Rückseite

Ich habe zu danken für die Zusendung der gesammelten Lyrics von John Prine, wunderbar, sehr erfreulich ist das. Da ich unlängst auch schon die gesammelten Texte von Brassens erhalten habe, muss ich eigentlich ein neues Regal anfangen, Liedtexte, aber so etwas endet dann vermutlich wieder im Umbau der ganzen Wohnung, Sie kennen das. Ich zögere also noch etwas. Vielen Dank jedenfalls!

Vorderseite

Ein Bild aus dem ÖPNV, mit dem ich gerade deutlich mehr Zeit verbringe als in den letzten zwei Jahren, und ich habe viel Spaß dabei. Man muss sich nur hinsetzen und notieren, es passiert dauernd etwas, es laufen unentwegt Menschen durchs Bild, die irgendwie agieren, mit denen man aber meistens nicht interagieren muss, es ist ganz wunderbar. Eine kleine, eine winzige Szene nur aus dem Hamburger Hauptbahnhof, ein Sekundenclip, wie auf diesen Karten, die eine gif-artige Bewegung zeigen, wenn man sie hin- und herdreht.

Ein kleines Mädchen, noch vor dem Grundschulalter ist sie vermutlich, höchstens in der ersten Klasse wird sie sein. Sie steht neben ihrer Mutter, die gerade Brötchen kauft, sie steht auch neben ihrem kleinen Bruder, der den Daumen noch im Mund und die Augen geschlossen hat, der ist gar nicht ganz da. Eine Taube fliegt auf die kleine Gruppe zu. Es ist eine ausgesprochen tief fliegende Taube, wie es sie in diesem Bahnhof oft gibt. Es empfiehlt sich manchmal, lieber in Deckung zu gehen, besonders rund um die Bäckereien, in die sie hinein und hinaus fliegen. Über die Jahrzehnte haben sie es in der Wandelhalle gelernt und können es jetzt sehr gut, es kommt aber doch gelegentlich noch zu Kollisionen mit diesen Menschen, die da auf dem Boden überall herumlaufen, wo das ganze Essen bereitliegt. Diese Taube also rast auf die Familie zu, schnurgerade wie ein Geschoss, auch Tauben können ein wenig segeln und sehen dann sogar halbwegs elegant aus, flotter Flug, starke Beschleunigung. Das Mädchen aber geht nicht in Deckung. Das Mädchen sieht die Taube auf sich zukommen und macht einen kleinen Karate-Move. Einen Arm schiebt sie dabei als Block nach vorne, der andere geht im gleichen Moment nach hinten und die Faust holt mit Schwung aus. Gekonnt sieht das aus, sie wird Unterricht haben, und sinnlos ist der absolut nicht. Sie hat diese Bewegung verinnerlicht, das sieht man. Sollte die Taube nicht sofort abdrehen, die würde dermaßen auf den Schnabel bekommen. Die Bewegung geht aber noch weiter, es wird noch besser, denn als die Taube knapp über den Kindern wegzieht, schiebt sie in wahrhaft großer Geste mit dem rechten Arm, mit dem sie dann doch nicht zuschlagen musste, ihren kleinen Bruder hinter sich. Kein Held aus einem Actionfilm könnte Schwächere lässiger in die Sicherheit hinter seinem Rücken überführen, so gekonnt sieht das aus, so selbstverständlich, so stark. Und sie sieht der Taube ernst nach, die Gefahr im Blick behaltend.

Der Bruder aber lutscht Daumen und merkt nichts. Er muss auch gar nichts merken, er hat ja diese Schwester.

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Währenddessen in den Blogs, die Pfingstausgabe

Herr Kid37 hat mein Bild gemalt, also das, welches ich neulich in der einen Gartenszene beschrieben habe, wie schön ist das denn? Und sehr gut getroffen ist es auch noch. Toll, ich bin begeistert.

Ein Aufkleber: Engaging with art seriously improves your mental health

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Ich habe noch nie etwas von Ruth Rehmann gehört, aber das kann man ja ändern. Vorgemerkt.

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Die neuen Fundstücke aus den Literaturblogs. Diesmal sind sogar Blogneuentdeckungen für mich dabei, hervorragend.

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Es ist Pride Month, ich habe ein neues Wort gelernt, das passt dazu: Matelotage. Hier das Tiktok-Video, in dem ich es gehört habe, hier die Wikipedia dazu. Wie abgefahren ist das denn? Was man alles nicht kennt und weiß! Astrid Lundberg, die Frau in dem Video, ist überhaupt oft interessant und sie ist, falls Sie Tiktok meiden, auch auf Youtube.

Auf einem Briefkasten steht "Ich liebe dich"

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Frau Herzbuch meint, nirgendwo mehr hinzumüssen, eine Folge oder besser eine Erkenntnis der Pandemie. Man kann das, wie alles, auch anders sehen, aber so ist es ebenfalls interessant und bezogen auf den sogenannten Brotberuf sehe ich es tatsächlich auch so. Bezogen auf meinen Kuchenberuf, auf den lustgewählten Zweitberuf also, auf den mit dem Schreiben, sehe ich es vollkommen anders. Zwei Jobs wohnen, ach, in meiner Brust, oder wie das heißt.

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Flies in the kitchen

Ich gehe Wassermelone kaufen, denn Teile dieser Familie leben im Sommer größtenteils von Wassermelonen, was ich als Koch sympathisch finde, das spart viel Zeit. „Was wollt ihr essen?“ „Wir haben schon!“, und dann liegen da überall die abgenagten Melonentrümmer und die halbe Küche klebt fruchtzuckerwässrig. Im Laden mit den besten Melonen gibt es zwei Kassen, an beiden sitzt gerade niemand. Ich frage also den Chef, der aus dem Hintergrund dienstbereit auf mich zueilt, an welche Kasse ich gehen soll. „Gehen Sie nach rechts“, sagt der Obstundgemüsemann, strahlt mich an und macht eine einladende Geste zur Kasse hin, „immer nach rechts, nur nicht politisch!“ Okay. Da mal öfter einkaufen.

Wassermelonen sind allerdings verflucht teuer in diesem Jahr, wenn mich die Erinnerung an die Preise im letzten Jahr nicht trügt.

Ich gehe danach zum Edeka. Da kann man nach wie vor nicht mit der EC-Karte bezahlen, immer noch scheiternde, schimpfende Kunden in der Schlange vor mir, die kein Bargeld dabeihaben. Ich frage, wie lange das wohl noch dauern wird, die Antwort ist: „Da ist kein Ende in Sicht.“ Dann wird vermutet, die Medien hätten „wieder an allem Schuld“, das erschließt sich mir argumentativ eher nicht.

Haben Sie es gelesen, der Herr Delius ist verstorben. Wenn Sie nichts von dem kennen, ich habe die Birnen von Ribbeck in guter bis sehr guter Erinnerung.

Peter Härtling ist schon länger nicht mehr bei uns (seit 2017), ich lese gerade Herzwand von ihm, Untertitel „Mein Roman“. Es ist ein Zufall, dass es schon wieder ein Buch ist, in dem Herzprobleme vorkommen, wie neulich erst bei Ortheils Ombra. Ich suche das nicht aus, weil ich betroffen bin, es war eine eher beiläufige Mitnahme in der Bücherei, in der ich gerade wieder öfter bin, weil das abendliche Lesen auf einmal wieder gut geht. So gut geht es, ich könnte jetzt Wochen mit Lesen zubringen. Na, es sind alles nur Phasen. Betroffen bin ich vom Buchinhalt jedenfalls, indem ich auch älter werde, also auch ein alter weißer Mann bin, das schon. Mit der Härte der Härtlingschen Erfahrungen hatte ich bei diesem Buch nicht gerechnet, im Klappentext stand etwas von „weicher, fast zarter Prosa“. Ich wusste nicht viel über ihn, ich wusste gar nichts über die besondere Bitternis seiner Nachkriegszeit, man kann hier die Kurzfassung des Lebenslaufs nachlesen, das erschlägt einen schon. Ich lese also schon wieder vom Krieg und von seinen Folgen. Wenn ich zwischendurch auf eine Nachrichtenseite gehe, steht dort die moderne Version davon und es ist wenig überraschend, dass im Zuge der im Buch geschilderten Verbrechen aus dem letzten Weltkrieg wieder das Wort Ukraine fällt, es werden Verbrechen dort beschrieben, wo sie jetzt auch passieren.

Das erste Drittel des Buches fand ich schon einmal lesenswert.

Ich habe außerdem „Die Liebe unter Aliens“ gelesen, Terézia Mora. Kurzgeschichten mit passender Länge für die Abendlektüre, das ist ja nicht unwichtig. Ein mittelmelancholisches Buch, der Spiegel hat es als „durchweg klug“ bezeichnet. Ich fand die Stimmung in einigen Geschichten sehr gut, in einige bin ich nicht hineingekommen und habe sie daher frühzeitig abgebrochen. Aber ich bin eben nicht „durchweg klug“, daran wird es vermutlich liegen. Oder ich war zu müde.

Es ist ansonsten schon Donnerstag, wie kann es sein, was ist überhaupt passiert.

„How the hell can a person
Go to work in the morning
Then come home in the evening
And have nothing to say?”

John Prine hat das geschrieben, in seinem vielleicht bekanntesten Song „Angel from Montgomery“, besonders erfolgreich war damals die Version von Bonnie Raitt. John Prine hat durchweg kluge Lyrics geschrieben. In diesem Lied singt er die Rolle einer Frau, „I am an old woman named after my mother“, das schien damals spektakulär zu sein, so etwas machte man nicht.

„There’s flies in the kitchen
I can hear ‚em there buzzin‘
And I ain’t done nothing
Since I woke up today.”

Der Mann konnte Bilder, und wie er die konnte.

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Eigentliche Enten

Am Sonntagmorgen ist es herbstlich kalt im Garten, nein, fast schon winterlich kalt ist es in der Laube am frühen Morgen, und ich krümme mich zitternd um den dampfenden Kaffeebecher wie damals dieser frierende Mensch im nassen Zelt der Yes-Torty-Werbung, die Älteren erinnern sich gewiss. Ich verwünsche diese ganze unvernünftige Aktion. Was für eine selten abwegige Idee, bei diesem Wetter im Garten zu übernachten. Der Sohn dagegen, der nie friert, liegt selig ausschlafend im Bett und grinst träumend.

Vor dem Fenster Regen, Wind, großes Grau, der Wetterbericht sagt, es wird heute nicht mehr besser, morgen auch nicht, lass alle Hoffnung fahren Und dann landet da ein Vogel, ein seltsamer. Groß, bunt – noch nie habe ich so einen Vogel gesehen, er sieht fast unwirklich aus. Er sitzt auf einem Holzverschlag, ganz dicht vor meinem Fenster, und sieht in die Laube zu mir. Er ist eindeutig zu groß und zu fremd aussehend, um eine gewöhnliche Erscheinung zu sein, solche Vögel gibt es hier doch gar nicht. Was bitte ist das denn? Ich googele das später, das ist nicht sehr schwer, es war eine Brandgans. 153 Paare davon sollen in Hamburg leben, da hat jemand aber genau gezählt. Und einer von diesen nur 306 Vögeln also fliegt zu uns in den Garten, sieht sich dort einmal um und guckt dabei auch in die Laube, wer da so sitzt. Okay.

Tadorna tadorna, so heißt der Vogel mit der lateinischen Fachbezeichnung, das klingt wie ein Fluch in einem Fantasyroman: „Tadorna tadorna!“ Und dann zerfällt jemand zu Staub oder so, nachdem er diesen Spruch gehört hat, ich sehe es gleich vor mir. Tadorna tadorna, so etwas murmeln alte Männer mit sehr langen Bärten und seltsamen Hüten.

Der Vogel ist, so steht es in der Wikipedia, eine Halbgans, die aber auch einige Merkmale der „Eigentlichen Enten“ aufweist. Ist das nicht schön? Eigentliche Enten. Die haben wieder eine eigene Seite in der Wikipedia, auch das ist also eine Fachbezeichnung, ich könnte ganze Tage in der Wikipedia zubringen. Wobei das auch eine gelungene Bezeichnung für eine Schülerband wäre, von denen wenigstens eine oder einer im Bioleistungskurs ist, denn irgendwo muss die Kenntnis des Begriffs ja herkommen. Es gibt eine Oberstufenparty, es spielen die Eigentlichen Enten. Sie spielen ihren bekannten Hit „Tadorna tadorna.“

Habe ich also auch an diesem Wochenende wieder etwas gelernt im Garten, hat es alles dennoch wieder Sinn gehabt und Huck Finn fragt schon zum fünften Mal, wann wir da wieder schlafen können. Bald, sage ich, bald. Es darf nachts aber gerne Temperaturen im zweistelligen Bereich geben, dann bin ich vermutlich etwas entspannter.

Am Sonntagabend führe ich, wieder in der Wohnung und annähernd aufgetaut, mit der Herzdame ein Gespräch, in dem ich sie aus Gründen, die schnell in Vergessenheit geraten, wie es bei Beziehungsgesprächen so üblich ist, mit Excel vergleiche. Es geht darum, so viel ist klar, wer welche Vor- und Nachteile hat, und es geht auch darum, warum ich eigentlich nicht mit Excel verheiratet bin, das nämlich will die Herzdame einleitend wissen. Womöglich klingt in der Frage leise irgendein absurder Vorwurf an, wenn ich so im Nachhinein darüber nachdenke, möchte ich das nicht vollkommen ausschließen. Aber im Moment des Dialogs bilanziere ich selbstverständlich erst einmal die verschiedenen Eigenschaften, immerhin geht es um eine klare Frage.

Und jedenfalls nenne ich sie im Laufe des weiteren Gesprächs, um sie in ihrer charakterlichen Vielfalt deutlich von der kühlen und stets berechenbaren Logik des Kalkulationsprogramms abzuheben, „wildes Bioding“, merke dann aber sofort, weil ich ja stets ein aufmerksamer Beobachter zu sein versuche, dass sie das nicht eben schmeichelhaft findet. Kommunikation! Es ist dermaßen kompliziert.

Ich dagegen finde die Bezeichnung auch nach etwas Nachdenken gar nicht mal so unzutreffend, fast schon lobend eigentlich und womöglich auch im erotischen Kontext anwendbar … ach, lassen wir das. Aber es ist doch deutlich besser als Eigentliche Ente oder Halbgans, vielleicht können wir uns noch schnell darauf einigen.

Tadorna tadorna, murmelte er, kraulte seinen Bart und ging kopfschüttelnd aus dem Raum. Egal. Jetzt wieder was mit Excel.

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Währenddessen in den Blogs, Ausgabe 29.5.2022

Ein Update der geschätzten Korrespondentin aus Frankreich, in etwa dreifacher Blogartikellänge, vielleicht vorher einen Kaffee holen, dann liest man das entspannter. Es geht da auch um Geflohene aus der Ukraine, also um den Krieg, und nur einen Blogeintrag weiter, im gleichen Blog, sind wir schon beim Klima, und zwar nicht, weil dass das Thema herbeigezerrt worden wäre. Nein, es ist einfach da, weil das Wasser nicht da ist.

Ich schreibe dies an einem kalten, saukalten Maimorgen, es sind nur acht Grad in der Laube, in die ich doch wieder gefahren bin, nachdem es mit dem laubenverrückten Sohn gestern etwa folgenden Dialog gab:

Sohn II: „Übernachten wir wieder im Garten?“

Ich: „Es ist rattenkalt, es stürmt, es regnet, nein, es schüttet sogar die ganze Zeit, das ist eine komplett irre Idee.“

Sohn II: „Also übernachten wir jetzt im Garten?“

In der Laube also. Von hier aus, das wollte ich nur eben sagen, sehe ich keine Krise, von hier aus sehe ich die Elster, die lange den Meisenball beäugt und nachdenkt. Ein Mann geht hinter der Hecke vorbei, er führt einen kleinen Hund aus. Mehr nicht. Aber wenn ich von diesem Word-Dokument kurz zu Twitter rüberklicke – alles Elend der Welt. Ich schalte es an, ich schalte es ab, das ist die Calm-Crisis-Balance. Morgen ist wieder ein Werktag, ein Bürotag, Wohnungstag, unweigerlich wird mir alles begegnen. In Zahlen, in Symbolen, Gesprächen, Szenen, Artikeln. Ich werde gar nicht hinterherkommen, es alles aufzuschreiben, aber hier gerade – nichts.

Ein Aufkleber auf einer Mülltonne, eine Friedenstaube auf einer ukrainischen Flagge

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Etwas Nachhilfe zum Thema Kommunikation. Anders als Sie denken, versprochen. Ich jedenfalls hatte von dieser Wortherkunft noch nie etwas gehört.

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Was Kiki noch sagen wollte.

Eine Kinderzeichnung einer Friedenstaube hängt an einem Schulzaun

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Findet Corona eigentlich weiterhin statt? Ja.

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Ruppiger Wind

Es ist windig, fast stürmisch, die Böen zerren am Laub der Bäume im Garten und verwuscheln die Büsche, sie holen sich die letzten Magnolienblüten und beschleunigen die herumirrenden Aurorafalter unangemessen stark, sie schießen geradezu durch den Garten. Beaufort 8: „Große Bäume werden bewegt, Fensterläden werden geöffnet, Zweige brechen von Bäumen.“ Ja, sagt die alte Weide, nimm das, und wirft mir Holz vor die Füße, das braucht sie nicht mehr. Im Wetterbericht ist die Rede von „ruppigem Wind“, das passt. Ich sammele Reisig wie ein alter Mann im Märchen, ein ganzes Bündel. Später stehe ich draußen im Windschatten hinter der Laube am Bottich und wasche ab, wobei mich Bill Evans freundlich am Klavier begleitet, you must believe in spring, den Gesangspart übernimmt die Heckenbraunelle: “You must believe in love and trust it’s on it’s way, just as the sleeping rose awaits the kiss of May.” Es gibt auch eine Version von Tony Bennett, aber Vorteil Heckenbraunelle, bei allem Respekt. Sonnenflecken im Abwaschwasser, ich finde alles großartig, auch bei mäßigem Wetter, ich bin eindeutig in Gutfindestimmung, und der Wind kommt suchend um die Ecke, findet mich und heftet mir Eichenlaub aus dem Nachbargarten an die Brust, der Wind dekoriert hier alles eigenwillig neu.

Fenster und Türen geschlossen halten, die Laube als Wärmeinsel, oben auf dem Schlafboden ist es noch mollig. Huck Finn und ich hören Musik und Podcasts, jeder für sich, ab und zu sagen wir uns, wie gut es uns geht. Die Herzdame schickt Nachrichten aus der Wohnung, wir haben also auch eine Wohnung, Huck Finn und ich erinnern uns dunkel, aber es fehlt uns hier nichts und wir antworten nur zögerlich.

Die Lampions an der Leine über der Terrasse vor der Tür schaukeln wild im Sturm und wollen auf und davon, mit dem Wind wollen sie mit, weit weg wollen sie, über die Bille, über die Elbe sogar, das wäre es doch. Und dann am Ende des Tages irgendwo in Fetzen hängen und von vergangener Pracht träumen, wer kennt es nicht.

Ich lege dem Sohn noch einmal Toast in den Sandwichmaker und vor dem Fenster füttert ein Star gerade einen Jungvogel, der noch nicht dieses schicke Metallic-Gefieder hat. Matt und mausgrau ist er noch, aber sehr hungrig und schon so groß wie die Eltern. Die Kohlmeisen picken mit den Staren gleichzeitig an den Meisenbällen. Während sich sonst alle Arten gegenseitig rigoros und ohne Pardon vertreiben, scheint es da einen Pakt zu geben, die tun sich nichts, die dulden sich. Wie so etwas wohl kommt.

Ich lege das „Weiße Leintuch“ wieder weg, denn es ist zwar gut, aber es ist ein Herbstbuch, es braucht dunkle Abende. Und das mache ich später auch mit dem „Saal von Alasto“von Volter Kilpi (Deutsch von Stefan Moster), das, nach den ersten 50 Seiten zu urteilen, tatsächlich so epochal großartig ist, wie es bereits etliche Rezensentinnen befunden haben, aber 1.000 Seiten sind mir im Sommer doch zu viel, auch das gehört in den Herbst, wenn nicht sogar in den Winter, Winter, wie weit ist der Winter.

Am späten Nachmittag fahren wir nach Hause, gehen wir nach Hause, der Sohn auf dem Rad, ich zu Fuß, und dann fremdeln wir in der Wohnung und lesen im Wetterbericht nach, wann es im Garten wohl wieder gut genug fürs Übernachten sein wird.

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In der bürgerlichen Dämmerung

Ich schreibe in der Laube, ich schreibe in der morgendlichen Kälte, ich schreibe in der vergehenden bürgerlichen Dämmerung. Den Begriff habe ich gerade erst gelernt, den hätte ich nicht gewusst – die bürgerliche Dämmerung, das ist, wenn man schon oder gerade noch im Freien lesen kann. Danach kommt die nautische Dämmerung, dann die astronomische, also morgens natürlich andersherum, aber die bürgerliche klingt doch am schönsten.

Gestern gab es noch einmal einige Sonnenstunden, die Hütte war noch warm, heute wird es vermutlich allzu campingmäßig märzklamm, heute werde ich vielleicht wieder in die Wohnung wechseln, wobei der mich routiniert begleitende Huck Finn vehement dagegen ist, der will lieber noch bleiben.

Gestern gab es das erste Rot auf den Kirschen, streifig und blass war es, noch weit weg vom lockenden Kirschrot des späteren Sommers. Die Äpfel sind jetzt teils schon kastaniengroß, der Kohlrabi bekommt gerade Bäuchlein, alles rundet sich und nimmt langsam Farbe an, nur die Möhrenblätter sehen noch klein, fedrig und grünschüchtern aus, aber es wird. Nelken blühen bald, der Mohn geht auf, der Fingerhut, sogar die saumselige Pfingstrose wird diesmal zeitig im Programm auftauchen. Am Meisenball hängen kopfüber Stare und Elstern, der Eichelhäher sieht sich das sinnend an und weiß nicht recht.

Gestern gab es einen Himmel über der Laube und der Insel wie aus dem Aquarellkurs für Anfänger, machense das mal nass und dann ganz wenig Schwarz und nur so ein Hauch von Blau, und danach in kleinen Kreisen schnell drüber – sehense? Sehense? Norddeutscher Himmel. So einfach geht der. Und davor, aber das dann vielleicht mit Feder, scharf und schwarz, die Telefonmasten mit den Drähten, Pünktchen als Vögel darauf und ganz oben die zwei schnellen Bögen als Vögel, so hingehuscht, sehense, schon hat man eine Möwe oder zwei. So sieht es hier tatsächlich aus, wenn man hochsieht.

Wie nahe die Tiere kommen, wenn man sich in den Garten setzt und nichts macht. Ein wie immer eiliges Eichhörnchen läuft mir fast über den Schuh. Die riesige Rabenkrähe schreitet direkt vor meinen Stuhl und äugt dann so kritisch hoch zu mir, ist der am Ende nicht echt oder was. Blaumeisen, Kohlmeisen, Rotkehlchen auf den Ästen ringsum. Die immer singende Heckenbraunelle. Die Stare, all die Stare, wir werden Netze für die Kirschen kaufen müssen, es gab hier noch nie so viele Stare. Es gab hier jahrelang überhaupt keine, wo kommen die Stare her.

Ich lese Katerina Poladjan, „In einer Nacht, woanders“, ich mag das Buch. Isa hat vor Jahren einmal darüber geschrieben. Ich lese „Vielleicht Esther“ von Katja Petrowskaja, das kennen wieder alles schon, nur ich nicht, das ist auch sehr gut. Ich lese „Das weiße Leintuch“ von Antanas Škéma, aus dem Litauischen von Claudia Sinnig, das fängt hervorragend an. Ich habe die richtigen Bücher dabei und setze die literarische Osterweiterung entschlossen fort.

Als ich in den Garten fuhr, da war es noch Mittwoch, saß in einem Hauseingang eine Frau, die aussah wie früher die Crack-Junkies. So eindeutig und auf den ersten Blick heruntergekommen, mit diesen fahrigen, hektischen Bewegungen, mit diesem so schnell und eindeutig sichtbaren Elend im Gesicht. Es gab eine Zeit, da hat man im kleinen Bahnhofsviertel viele davon gesehen, dann eine Weile keine mehr. Jetzt wieder welche. Ich weiß nicht, welche Drogen gerade en vogue sind, und man muss vermutlich froh sein, wenn man sich da nicht auskennt.

Die Frau hielt einen kleinen Taschenspiegel in der linken Hand, in rosafarbenes Plastik gefasst. Mit der rechten zog sie Lippenstift nach. Das gelang ihr nicht, die Hand gehorchte ihr nicht, der Arm nicht, die wollten ganz andere Bewegungen machen, die wollten wahrscheinlich lieber wild herumfuchteln. Sie versuchte es sicher schon eine Weile, sie hatte bereits viele Lippenstiftspuren um den Mund herum, aber eher clownesk als elegant, und die Hand landete gerade einen weiteren Fehlversuch. Rot auf der Wange, ihr verzweifelter Blick, ihr Entsetzen beim Blick in den Spiegel, wie sieht sie aus, wer ist das, wie kann das sein, sie schminkt sich doch, eine groteske, fremde Fratze im Spiegel, und beide Hände sanken, sie sah verzweifelt in den Himmel.

Eine Ecke weiter kam eine Gruppe aus einem Haus, sechs, acht Leute, Mittagspause vermutlich. Einer im Anzug, einer in fortgeschrittener IT-Lässigkeit, der Rest so dazwischen, eine Firma. Beredeten, wo sie hingehen sollten, „Hauptsache Kaffee!“, beredeten, wie es lief, beredeten, was noch zu tun war und dann fiel es einem auf, er gab es erst als Frage weiter, was die anderen dann bestätigten, sie blieben kurz stehen und stellten dann fest: „Wir sind zum ersten Mal alle gemeinsam im Büro!“ Kleine Juchzer, große Freude, das ging man dann feiern. Büro, Büro, macht alle froh, sie bogen um die Ecke und ich auch, ich fuhr in den Garten.

Auf dem Fußweg vor der Garage stand „FREI SEIN“ in bunter Kreide, jeder Buchstabe hatte eine andere Farbe, das malt hier eine Künstlerin seit Jahren täglich überall hin. „Was soll das denn jetzt“, fragte ein Passant, der kurz stehenblieb und las, seine Frau. Die schüttelte unwillig den Kopf, das wusste sie nun auch nicht. Frei sein eben. Na, egal. Weitergehen, na komm.

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Währenddessen in den Blogs, Ausgabe 25.5.2022

Was macht eigentlich New York?  New York wird anders. Ich sehe das rund um mein Büro in Hamburg-Hammerbrook nicht, dort scheint es mir wieder voll zu sein, geradezu präpandemisch voll. Es ist aber vielleicht nur eine Frage des Branchen-Mixes, vielleicht sieht es an anderen Hamburger Büro-Standorten, City-Nord oder so, wieder anders aus. Immer das Stichprobenproblem.

Ein Brückengeländer in Hammerbrook mit dem Aufkleber FCK AFD

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Tut mir leid, murmle ich leise, ich bin leider Optimist.

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Neues Gefühl gelernt: Bienenfressersichtungsneid. Schlimm.

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Die beiden stehen sehr nah beieinander, ich frage mich, ob sie sich gleich küssen werden, und dann tun sie es.

Ein Aufkleber an einem Ampelmast: Best things in life are free.

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Der Mann aus den Bergen und Huck Finn

Es ist wohl ein Laubenjahr. Im letzten Jahr schlief ich nicht gerne im Garten, hätte aber nicht recht erklären können, warum nicht. In diesem Jahr schlafe ich ausgesprochen gerne hier. In der Laube, in der ich auch jetzt am kleinen Tisch sitze, den ersten Kaffee trinke und schreibe und auf den Rasen vor der Tür sehe, auf dem 22 Stare im Frühdienst, es hängt noch etwas im Augenblick verwehende Restdunkelheit in den Büschen, emsig über das Grün patrouillieren und die Rasensamen wieder einkassieren, welche die Herzdame und ein Sohn gestern erst ausgebracht haben. Die Stare sind fleißig dabei, es sieht nach organisierter Gründlichkeit in großer Eile aus, sie werden nicht viel übriglassen. Dieser gute Anteil kompletter Sinnlosigkeit bei aller Gartenarbeit, aus dem wir bekanntlich lernen sollen: „Alles immer dennoch machen.“ Aber gut, jeder findet im Garten seine eigene Botschaft, nehme ich an.

Ich hätte noch im letzten Jahr den Komfort der Wohnung mehr vermisst. Es gibt hier keine Dusche, keine Heizung und nur ein Kompostklo, man wärmt sich morgens zu campingklammer Uhrzeit nur am Kaffee und es gibt auch keinen Bäcker um die Ecke, in diesem Jahr ist mir das alles vollkommen egal. Ich sehe nach drei Tagen in der Laube aus wie der Mann aus den Bergen, die Älteren erinnern sich, aber das macht nichts. Der mich begleitende Sohn hat eine dazu passende Huck-Finn-Optik, es ist alles recht harmonisch. Der andere Sohn ist mit seinen Kumpels Gott weiß wo und kommt irgendwann zurück, die Informationslage ist eher vage, und auch das ist gut, das ist so, wie es sein soll, in seinem Alter. Die Herzdame kommt und geht und fährt unentschlossen zwischen Wohnung und Garten hin und her, unstet und flüchtig ist sie in diesen Wochen.

Ich aber sitze überzeugt in der Laube.

Das Wetter war gestern und vorgestern bestenfalls mäßig, anderswo tobten Tornados durch das Land, lese ich; hier dagegen rauschte nur der Regen auf das Dach, gleichmäßiges Prasseln über dem Bett. Es gab zwischendurch genug Sonnenstunden, weswegen die Laube auch am Abend noch warm war, holzhüttenwarm, sie kennen das vielleicht. Es ist eine hervorragende Wärme, die sich sehr gut und ausgesprochen tröstlich anfühlt. Vor dem Fenster die Regentonne, glucksend fiel der Regen hinein, es blubberte und plätscherte, es perlte, es pingte. Ich hörte ein Stück Melodie, wie auf einem Xylophon gespielt, auf einem dieser Billig-Xylophone, wie wir sie damals in der Grundschule hatten. Viel zu hohe Töne hatten die, ich mochte es nicht, darauf spielen zu müssen. Fuchs, du hast die … das klimperte das Wasser in der Regentonne, ganz deutlich hörte ich es, aber weiter ging das Lied nicht, dann franste das Plätschern schon ziellos und verworren aus und ergab keine Melodie mehr. Fuchs, du hast die, murmelte ich, und es war ein guter Tag für die Gans, sie kam davon. Was für ein Fuchs jetzt, fragte der Sohn und guckte irritiert.

Ich sitze in der Laube und lese.

Ich lese Aitmatow, Geschichten von ihm. Es sind Geschichten, in denen nicht viel passiert. Ein Mensch liebt einen anderen Menschen, dann verändert sich einer von beiden und der andere liebt etwas weniger, dann leiden sie darunter, dann versuchen sie etwas. Ist das denn schon eine Geschichte? Natürlich ist das eine Geschichte, und was für eine.

Und an Handlung reicht mir das eigentlich auch. Ich bin nicht damit einverstanden, dass sich die Literatur in den letzten Jahrzehnten so handlungsgeil entwickelt hat („Es wird viel passieren“, es lag doch alles an diesem dämlichen Lied). So handlungs- und auch so krisengeil. Ich habe in der Bücherei neulich regallang Romanklappentexte angelesen, und in fast allen ging es da um schlimme, schlimme Dinge, um Desaster, Katastrophen und entsetzliche Dramen voller Grausamkeiten. Ein Paar hat ein Kind, und da weiß man gleich, mit dem Kind passiert etwas, vermutlich etwa auf Seite 50 schon, spätestens aber um 100. Es reicht nicht, dass dieses Kind dezent seltsam ist, wie es alle Kinder doch immer sind, nein, es muss viel Schlimmeres passieren. Das Grauen, das Entsetzen, der Untergang. Der Markt will es so, wird wieder irgendwer sagen.

Ein Paar liebt sich, und weil das so ist, muss er sie aber auch umbringen, oder sie ihn, das geht auch, es wäre jedenfalls sonst kein verkaufbares Buch. So scheint man das jetzt zu sehen und ich bin auch da aus der Zeit gefallen, da mir viel weniger reicht und jeder noch so durchdachte Plot an mich eher verschwendet ist. Weil mir die Grausamkeit „sie ging“ schon reicht, für mich muss man sich gar keine neuen und noch spektakuläreren Gemeinheiten ausdenken. Die alten waren ausreichend.

Ich sitze in der Laube und lese. Ich schlafe ein, ich wache auf, ich lese weiter. Ich lege das Buch weg und gucke so vor mich hin. Der Tag zerfällt in Einzelteile, die mir sonst zu selten auffallen. Es gibt mehr kleine Geräusche, als ich sonst mitbekomme. Es sitzen mehr Vögel in den Bäumen, als ich sonst sehe. Es sitzt auch ein Vogel auf dem Telefondraht vor dem Fenster, ich sehe genauer hin, das wird eine Grasmücke sein. Ich sehe sonst keine Grasmücken, nie sehe ich die. Es gibt sie aber hier, sie sitzt ja da, es ist doch bewiesen. Es sitzen wesentlich mehr Vögel auf den Drähten, als ich sonst mitbekomme, merke ich nach einer Weile, es sind hier überall birds on the wires.

Kennen Sie die Geschichte zu diesem Leonard-Cohen-Song, wie es zu diesem Bild kam? Er hat ihn auf der griechischen Insel Hydra geschrieben, auf der er mit der Marianne aus „So long, Marianne“ eine Weile lebte. Das war eine Insel, die damals in der Moderne noch nicht angekommen war, man saß da abends noch bei Kerzenlicht zusammen. Irgendwann waren diese Drähte vor seinem Fenster, die es vorher nicht gegeben hatte, das war also der Einbruch dieser Moderne in sein Insel-Idyll. Cohen fand das furchtbar. So furchtbar, dass er von der Insel wegwollte, wie er Marianne sagte. „But as they were speaking, a bird came and perched on the wire. Marianne told me she said to him, ‚If a bird can get used to the wire, Leonard, you can get used to the wire.

Das Zitat, das viel zu gut ist, um wahr zu sein, aber vielleicht dennoch stimmt, als Schreibender kennt man so etwas immerhin, kommt von der Seite Songfacts, vor der ich ausdrücklich warnen muss. Man kann da fürchterlich viel Zeit verbringen, wenn man Songgeschichten interessant findet.

Auf der brachliegenden Nachbarparzelle wippt Klatschmohn im Wind, es ist der erste in diesem Jahr, drei Blüten stehen nebeneinander. Im Gemüsebeet vorne fassen die Ranken der Zuckererbsen in die Luft, ob da nicht vielleicht irgendwo etwas zum Festhalten zu finden ist. Im Vorbeigehen ist das nur ein Beet mit irgendwelchen Nutzpflanzen, wenn man sich aber hinhockt und eine Weile guckt, dann sieht man dieses langsame Greifen nach dem Rankgerüst. Es ist eine grazile Bewegung über Stunden hinweg, über einen Tag und mehr. Schön ist das.

Der Sohn und ich bauen ein weiteres Hochbeet. Es ist sehr einfach, ein Hochbeet zu bauen, lassen Sie sich bloß nichts anders erzählen. Sie brauchen vier Bretter, das ist die Wahrheit. Man kann sich von da aus beliebig steigern und auch wahnsinnig viel Geld ausgeben und sich sachbuchdick fachkundig machen, aber es fängt da an und es funktioniert auch tadellos von da aus: Vier Bretter. Sagen wir ruhig auch: Vier gefundene Bretter, denn der Schrebergärtner an sich neigte immer schon zum Sparen und zum Wiederverwenden.

Hinter der Laube ist es windstill und die Sonne kommt wieder durch. Da, wo wir arbeiten, da ist es sommerlich. Drei Meter weiter, um die Ecke der Hütte, weht der Wind fast oktoberscharf.

Der Sohn baut nach einer Weile alleine weiter, ich sitze daneben und lese. Ich lese „Ombra“ von Hanns-Josef Ortheil, es ist ein Buch über seine Rekonvaleszenz nach einer schweren Herz-OP. Ich bin mit dem Buch nicht recht einverstanden. Ich finde es aber so interessant, es weiter zu ergründen, warum ich damit nicht einverstanden bin, dass ich immer weiter und weiter lese. Es liegt nicht nur an den aus meiner Sicht viel zu vielen Ausrufezeichen, die er verwendet, es ist nicht nur das. Am Ende, so denke ich, liegt es einfach daran, dass mir der Autor über alle Erlebnisse und Empfindungen hinweg zu einverstanden mit sich selbst ist. Denn das ist etwas, nach einer Weile komme ich darauf, das mir nicht statthaft vorkommt. Da mal drüber nachdenken.

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