Szenen und Geschichten

Ich kann über das Tool Nuzzel sehen, welche Links in meinen Timelines am häufigsten geteilt werden. Im Moment dreht sich alles um den seltsamen Fälschungsfall beim Spiegel und nicht wenige haben angemerkt, dass der Tonfall, in dem im Spiegel über diese Fälschungen berichtet wird, mit ziemlicher Sicherheit Teil des Problems ist, mit Pathos gegen Pathos, also bitte. Wenn man ab und zu über das Schreiben und über Geschichten nachdenkt, dann sind viele der Wortmeldungen zu Thema gar nicht uninteressant, ich lege mal kurz etwas zu meinem Schreiben an.

Wenn ich aus dem Haus gehe und gut aufpasse, sehe ich in aller Regel etwas, über das ich schreiben kann, das ist nicht schwer. Wenn ich mein Revier verlasse, sehe ich sogar mit enorm hoher Wahrscheinlichkeit etwas, über das ich schreiben kann, denn außerhalb des Reviers ist natürlich alles viel interessanter. Was ich da sehe, das sind Szenen, im Journalismus wäre das die ganz kleine Form, so etwas passt höchstens in Glossen und Kolumnen. Manchmal sind das Ansätze zu Geschichten, manchmal sind es Ausschnitte aus Geschichten, es werden aber eher keine ganzen Geschichten. Schon weil ich tendenziell eher soziophob bin und also sicher nicht mit fremden Leuten rede, noch weniger als es der nordddeutsche Normalfall ist. Ich spreche niemanden an, ich frage nichts nach. Ich gucke nur so herum. Würde ich nachfragen und ermitteln, recherchieren etc. (wovon ich gar nichts verstehe), ich würde vermutlich auf viele kleine Geschichten kommen, auf Geschichtchen. Auf Geschichten, die vielleicht als Kurzgeschichten tauglich wären, weil mit dem richtigen Blick einfach alles als literarische Kurzgeschichte brauchbar ist, auf Geschichten, die Alltägliches erhellen, Undramatisches, Gewöhnliches oder immer wieder und wieder das Zwischenmenschliche, er liebt sie, sie liebt ihn nicht, das bleibt ja spannend. Woran auch nichts schlecht ist, denn das Gewöhnliche ist das, was wir leben und ich halte es für eine anständige Aufgabe, das zu beschreiben.

Selten hätte ich mal einen Knaller dabei. Eine Hammergeschichte oder auch nur eine mit Pointe, mit einer super Wendung, mit Wow-Effekt und starken Figuren. Ich habe zufällig gerade vor ein paar Tagen mit Isa über das Auffinden von Geschichten gesprochen, weil mir in diesem Jahr auffiel, dass mir aus dem Alltag heraus keine begegnet ist, keine einzige, ich habe nicht einmal eine erzählt bekommen. Also keine starke Geschichte jedenfalls. Keine spektakuläre Trennung, kein wildes Liebesdrama, kein Kriminalfall, kein Plot als Gottesgeschenk, nada. Keine einzige Begebenheit, die eine wirkliche Story gewesen wäre. Das macht auch nichts, das war nur eine für mich spannenden Feststellung, denn es gab auch mal Zeiten, da hätte ich mir das anders vorgestellt und mehr Erzählungen im Alltag erwartet. Aber das, was ich sehe, es sind Szenen, keine Geschichten. Es ist nun mit etwas Fantasie nicht schwer, aus Szenen Geschichten zu drehen, Geschichtenansätze, die man so verwenden könnte, die sehe ich quasi ohne Ende. Literarisch ist das Verwenden in dieser Art der Normalfall und einwandfrei, es ist zu begrüßen und notwendig und gerne gelesen und alles, gar kein Thema. Journalistisch ist das aber vermutlich der Anfang vom Untergang, wenn etwas am Ende Geschichte sein muss, weil der Stil des Hauses es so verlangt, und das ist auch der Teil, den ich nicht verstehe. Wo doch die Abfolge von Szenen reicht, um zu sagen, was ist.

Und das wiederum trifft einen Gedanken, den ich häufiger habe, dass nämlich in Artikeln und Meldungen oft nicht gesagt wird, was meiner Wahrnehmung entspricht. Das liegt vielleicht auch daran, dass die Wirklichkeit grundsätzlich wesentlich öder und gewöhnlicher ist als das Aufregungsniveau in den Redaktionen, das würde mich jedenfalls nicht überraschen. Den Exkurs über Clickbait kann sich jeder an dieser Stelle zwanglos selbst denken, das leuchtet ja unmittelbar ein. Die in unaufhörlicher Szenenfolge abgespulte Wirklichkeit, die kommt mir oft zu kurz. Das meine ich nicht als allgemeine Medienkritik, das klingt nur so. Ich verstehe gar nicht genug von Medien, ich meine es eher als persönliche Geschmackssache. Ich lebe in der Mitte einer Großstadt, das Leben hier ist nennenswert friedlicher, beschaulicher, normaler als es in den Medien dieser Stadt dargestellt wird, da fängt es schon an, und so geht es immer weiter. Wann immer in Artikeln pauschalisierend über die Stimmung im Land und ähnliche vermeintliche Seelenregungen einer mehr oder weniger unklar umschriebenen Bevölkerungsmenge geschrieben wird, ich sehe mich oft ratlos um und denke ”Was? Wo denn?”

Die Normalität fällt hier vor meinen Fenstern nach wie vor ziemlich normal aus und ändert sich geradezu nervtötend langsam. Da draußen findet eben keine Verkehrswende statt, da steht nur plötzlich eine Ladesäule für E-Autos, die ist über Nacht einfach da und mehr passiert dann nicht, an der hält zunächst nicht einmal ein Auto. Und nach sechs Monaten steht da dann eine zweite Säule und das ist es, finde ich. Das ist, was passiert. Wenn man nun neben der neuen Ladesäule stehen bleibt und die Reaktionen der Leute beobachtet, dann hat man nach nur zwanzig Minuten einen Text, und je länger ich blogge, desto spannender finde ich genau so etwas. Das ist so ziemlich das Gegenteil der Pathos- und Scoop-Welt einiger großer Medien, und mich bestärkt diese ganze Angelegenheit darin, die kleine oder ganz kleine Form noch viel größer und interessanter und spannender zu finden, das wollte ich nur eben sagen.

Noch besser aufpassen, noch mehr beschreiben. Da hat man doch wieder was vor. Auch gut.

Update: Siehe auch bei Anke.

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Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

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Ein Held der Höflichkeit

Der Herr Knüwer über die Goldenen Blogger des Jahres 2018 und auch über die Rolle der neuen Akademie, der anzugehören u.a. auch ich die Ehre habe (ich muss das unbedingt noch irgendwie in meinem Lebeslauf unter “akademische Titel” unterbringen). Von den nominierten Bloggerinnen und Bloggern kenne ich einige bisher überhaupt nicht, das ist ja auch gut so.

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Abschied vom Wintersport im Harz. Und den Harz, den hatten wir hier doch gerade.

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Slowtiger über Sex auf Tumblr.

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Eine bemerkenswerte Kritik am neuen Mary-Poppins-Film.

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Vielleicht hat das Leben keinen Sinn. Gefunden via Kaltmamsell.

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Und da kann man sehr schön anlegen, an diesen letzten Artikel gerade, denn wenn schon keinen Sinn, dann auch richtig: Would human extinction be a tragedy?

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Ich habe den “Nikolaus Nickleby” von Charles Dickens angefangen, ich habe jetzt drei mal nachgesehen, in meiner Ausgabe steht wirklich nicht, wer sie übersetzt hat, vermutlich fiel sie in deutscher Sprache vom Himmel, das ist ja auch schön. Ich habe den Nickleby jedenfalls noch nie gelesen, obwohl er seit Jahrzehnten im Regal steht, aber ich bin schon vom Anfang schwer begeistert. Es beginnt in ganz herrlicher Weise langatmig, wobei es eigentlich erstaunlich ist, dass man dieses Wort meist im negativen Sinne verwendet und es also schlecht findet, wenn jemand beim Erzählen einen langen Atem hat. Man muss es hier als Kompliment verstehen, denn man möchte es sich nach nur drei Seiten gemütlicher machen, um länger lesen zu können, viel länger, und was könnte man von einem Erzähler sagen, das ihn noch mehr loben würde? Doch, das Wort muss positiv verwendet werden.

“Was schreibst du gerade?”

“Einen sehr langatmigen Text.”

“Oh, wie toll!”!

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Die S-Bahn ist rappelvoll, die Tür geht auf, ein alter Mann schiebt seinen Rollator in die unwillig zurückweichende Menge der stehenden Fahrgäste und tapst wackelig hinterher. Ein junger Mann arabischer oder ähnlicher Herkunft springt sofort mit großer und in Hamburg nicht gerade häufig zu erlebender Selbstverständlichkeit von seinem Platz auf, sagt: “Bitte, sitzen!”, und zeigt auf seinen Platz. Der alte Mann verneint freundlich, er fährt nur eine Station, das Hinsetzen und Aufstehen würde ihm viel zu viel Mühe machen, er winkt ab. Neben dem alten Mann steht eine nicht ganz so alte Frau, und weil dem jungen Mann auffällt, dass er seinen Platz ja nur einer Person angeboten hat, andere aber vielleicht ebenfalls sitzen möchten, fragt er die jetzt sicherheitshalber auch noch, denn wo hört die Höflichkeit gegenüber Älteren auf? Die Frau freut sich daraufhin sehr und lobt ihn laut, verneint dann aber, woraufhin dem jungen Mann auffällt, dass neben der nicht ganz so alten Frau noch eine steht, die ist etwa im gleichen Alter, vielleicht einen Tick jünger, man müsste genauer hingucken und raten. Er sieht sie etwas unsicher an, ist die nun im korrekten Sitzanbietealter oder nicht, so etwas wird ja schnell wahnsinnig kompliziert, wenn man zu lange darüber nachdenkt. Die Frau guckt zurück und schüttelt lebhaft und grinsend den Kopf – und ich steige lieber schnell aus, bevor der junge Held der Höflichkeit mich genauer ins Auge fasst.

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Musik! Chet Baker. Ja, das dauert zehn Minuten und am Ende fehlt ein Stückchen. Aber hey. Es ist nicht irgendwas.

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So viele Töne

Wir haben einen neue Nachbarn. Bisher dachten wir, man würde in diesem Haus nie die Nachbarn hören, super Wände und Decken und so, jetzt müssen wir aber umdenken, den Herrn hört man. Vermutlich konnten die vorigen Bewohner der Wohnung einfach nicht so gut singen wie der, denn das zeichnet ihn aus, er singt. Laut und viel und gut, so gut immerhin, wie Sie und ich vermutlich nicht singen können. Also ich ganz sicher nicht, Sie wahrscheinlich nicht, denn wer singt schon gut, wer singt schon publikumstauglich, chorgeeignet, bühnenreif? So singt der aber. Zur Zeit singt er Weihnachtslieder. Dauernd singt er die, rauf und runter, er übt sicher für irgendwelche adventlichen Auftritte. Wenn ich gloria in excelsis deo auch nur summe, dann wird es tendenziell schnell peinlich, bei ihm höre ich mit dem Staubsaugen auf, höre durch die Wand zu und wundere mich. Was Menschen alles können! So viele Töne! Und alle an der richtigen Stelle!

Wie weit weg das von mir ist. Ich kann mir mühelos vorstellen, einen Tausendseitenroman zu schreiben, aber ich kann mir nicht einmal ansatzweise vorstellen, vor anderen richtig zu singen.

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Acht Stunden Arbeit.

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Der Weihnachtsmann ist gar nicht fair. Oder nur ein wenig.

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Klimaschutz zum Mitmachen.

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Ich finde hier die Stelle mit dem Gullideckel sehr nachvollziehbar.

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Ich habe vorgestern über Ragoutfinpasteten (Königinpasteten) getwittert, an den zahlreichen Reaktionen sah ich, dass die wohl kein Mensch mehr macht. Daher sei es hier noch als Tipp für Eltern betont – die Dinger sind erstaunlich kinderkompatibel, versuchen Sie das ruhig mal. Milder Geschmack, seltsame Konsistenz, eigenartige Form, mehr Krümel als bei jedem Croissant, das ist doch was. Und man kann auch endlich mal wieder die Worcestersauce einsetzen, die aus ansonsten völlig unklaren Gründen ganz hinten im Schrank steht.

(Ich habe sie mit Huhn gemacht, etwa so)

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Die ganze Familie war im Kino, auf besonderen Wunsch von Sohn I gab es “100 Dinge”.

Ein Film mit ein paar zuverlässigen Lachern, um mir einen positiven Satz abzuringen. Doch, es gibt noch etwas Gutes zu vermelden, man kann nach dem Film prima mit Kindern über Konsum reden, das ist auch willkommen, schon recht.

Ansonsten ein Film für die Freunde des verfilmten Kalenderspruchs, um die moralische Tiefe des Werks kurz anzudeuten. Und er ist sicher auch empfehlenswert, wenn man selbstverliebte männliche Hauptdarsteller mit erstaunlichen Muskeln gerne nackt sieht. Und schließlich muss man ihn lieben, wenn man wie die Filmemacher davon ausgeht, dass befreundete Männer sich zwischen ihren rührseligen Kumpelmomenten immer mal wieder kurz prügeln müssen. Warum auch immer. Na egal, nicht meine Welt.

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Dialog beim Wecken im Kinderzimmer:

Sohn II: “Fass meine Decken nicht an! Jetzt hast du mir die ganze Gemütlichkeit hier versaumeiert!”

Ich: “Versaumeiert? Tolles Wort, kannte ich gar nicht.”

Sohn II: “Dann geh das doch verbloggen und lass mich hier in Ruhe liegen, verdammt!”

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In einem Kaufhaus in der Innenstadt steht ein Punk in der Damenstrumpfabteilung, es ist ein Punk alter Schule, mit Iro und allem, die sieht man ja heute kaum noch. Er steht vor einer ganzen Wand höchst damenhafter Strümpfe, die in Packungen mit kryptischen Bezeichnungen und unverständlichen Abkürzungen darauf stecken, sein Gesicht ist ein einziges Fragezeichen. Mit spitzen Fingern nimmt er eine Packung und liest, seine Augenbrauen erreichen Höhen, da kommen sie vermutlich nicht jeden Tag hin. Weihnachten kann herausfordernd sein.

Bei den Parfums steht ein bulliger Mann, der direkt von einer Baustelle kommt, zumindest lässt seine Kleidung samt Warnweste (nicht gelb, wie man jetzt wohl ergänzen muss) diesen Schluss zu, der ist wohl nur kurz zwischendurch mal rein, schnell ein Geschenk besorgen, dann geht es weiter mit dem Straßenbau oder mit etwas in der Art. Er steht vor einer ganzen Batterie von Flakons, Düfte für Frauen. Er besprüht seinen linken Arm, an dem er für diesen Zweck die Jacke bis über den Ellenbogen hochgeschoben hat. Er sprüht, riecht, überlegt einen Moment. Dann nimmt er den nächsten Flakon, sprüht, riecht überlegt. Dann macht er so weiter, von Oberarm bis Handgelenk besprüht er sich nach und nach, und er macht das sehr konzentriert, ernsthaft und zügig. Er wird nach dieser Aktion ganz außerordentlich und meilenweit rosa duften, denn er nimmt nicht gerade wenig von dem Zeug. Er hat schon nach zwei Flakons einen ganz routinierten Bewegungsablauf, würden da hundert Flakon stehen, er würde sie vielleicht alle abarbeiten, so sieht das aus – nur sein Arm wäre natürlich nicht lang genug, er müsste bald den anderen Arm und auch die Beine dazunehmen. Ein Mann der Tat und des planvollen Beschlusses. Weihnachten kann eine lösbare Aufgabe sein.

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Musik!

 

Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

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Alte Regel, frischer Schnee

Ich war mit den Nerven so runter, dass es weder zum Lesen noch zum Schreiben gereicht hat, jetzt ist es aber auch mal gut, let’s call it a year.

Ich habe noch eine Weihnachtskolumne zu schreiben, wofür ich aber erst noch stimmungsmäßig etwas beidrehen muss. Mal sehen, welche Hilfsmittel mir da noch einfallen und nein, Glühwein ist keine Option, Glühwein ist einfach nur furchtbar. Schnee würde mir vielleicht helfen. Es roch hier auch tatsächlich schon nach Schnee, was immer wieder erheiternd ist, weil der gewöhnliche Großstadtmensch ohne die geringste Bindung an die Natur plötzlich nach Feierabend witternd vor seinem Büroturm oder seinem Wohnklotz steht, die Nase wie ein Jagdhund in den Wind hält und von Wetterphänomenen murmelt, als müsste er gleich noch fliehendes Wild in der Tundra erlegen. Da kommt eine archaische Regung durch, da klingeln die rudimentären Neandertalergenreste, wenn wir Schnee riechen. Besonders klingeln sie natürlich, wenn wir den ersten Schnee des Winters riechen. Und es wird uns so, als müssten wir mit dieser Information etwas anfangen, Schnee, Schnee, es gibt Schnee, was machen wir denn jetzt? Wir denken eine Weile darauf herum, ein, zwei Atemzüge lang. Weil wir aber gut geheizte Wohnungen und Streudienste und Supermärkte und Winterreifen haben, machen wir doch einfach nur die Jacke etwas weiter zu und erzählen es dann dem nächstbesten Menschen, wobei wir vermutlich unbewusst nach uraltem Brauch den Stamm oder die Horde warnen. “Es riecht nach Schnee”, sagen wir kenntnisreich, jedenfalls sagen wir es dann, wenn dieser nächstbeste Mensch uns damit nicht zuvorkommt, denn wenn es nach Schnee riecht, dann sagen es sich mit großer Gewissheit alle Menschen gegenseitig, dass es nach Schnee riecht, alte Regel, also im Sinne von: uralte Regel. Und wir gucken kurz in die Wolken, als könnten wir sie lesen und deuten wie damals, als es darauf noch ankam. Wir fühlen uns für einen kurzen Moment so, als könnten wir ganz genau benennen, wann, wieviel und auf welche Art es schneien wird, gut fühlt sich das an, wir nicken ungeheuer vielsagend. Und aus uns nicken in diesem Moment tausend Generationen Erfahrung mit Schnee, das ist doch, wenn man drüber nachdenkt, auch ein wenig beeindruckend.

Für den Sonntag ist hier eine Schneeflocke in der Wetter-App, die riecht nach gar nichts.

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Musik! Ich mag die Gesichter im Publikum. Die Herzdame aber fragte: “Wer sind denn Peter, Paul and Mary?” und eventuell bin ich doch schon über hundert Jahre alt.

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Forcierte Traulichkeit

Ich hole Sohn II abends von seinem Kumpel ab, der wohnt einen Stadtteil weiter. In einem Wohnblock, drei Etagen hoch, drei Eingänge breit, sind die Fenster aller Wohnungen geschmückt und mit Lichterketten beleuchtet. Glühschmuck aller Art hängt dort, was man in dieser Jahreszeit eben so nimmt, um die Gemütlichkeit und Traulichkeit der Abende zu forcieren, um der Dunkelheit etwas abzugewinnen. Da hat ein Nachbar es dem anderen nachgemacht und dann ist es etwas eskaliert, das kennt man. Nur die Fenster einer einzigen Wohnung sind gänzlich undekoriert, nichts ist an ihnen zu erkennen, nur ein schwacher Lichtschein aus der Wohnung dahinter. Auf dem Balkon zu dieser Wohnung steht ein Mann, es ist nur seine Silhouette in der Dunkelheit zu erkennen, danach ist er ein großer, kräftiger Typ. Der Mann raucht. Seine Zigarette leuchtet rot im Dunkeln, er steht und guckt, sein Blickfeld wird wohl vollständig vom Block gegenüber eingenommen, der sieht exakt so aus wie der, in dem er wohnt, in dem sind aber ausnahmslos alle Wohnungen irgendwie mit Weihnachtsschmuck versehen, leuchtende Rentiere, Schlitten, Sterne, Tannenbäume, alles. Zwischen den Blöcken ein nichtssagendes Stück Rasen, winterabenddunkel.

Als ich vorbeigehe, höre ich den Mann laut “Ha!” sagen. Das gilt nicht mir, er wird mich gar nicht gesehen haben, nehme ich an, das sagt er ganz für sich. So ein “Ha!” wie in “Hab ich’s doch gewusst!”, vielleicht auch ein wenig wie in “Nicht mit mir, Freunde!” oder auch wie in “Das wollen wir doch mal sehen!”, so ein ”Ha!” ist das, und mehr sagt er nicht. Die Silbe ist dem Klang nach gar nicht so einfach zu klassifizieren, wenn man dazu nur eine Silhouette auf einem Balkon sieht und einen kleinen, roten Lichtpunkt, der genau im Moment des Wortes allerdings recht energisch nach unten bewegt wird. Ich höre genau hin, noch als ich außer Sichtweite bin, aber da kommt nichts mehr nach. Es bleibt bei dem „Ha!“, das mich, so unter uns im Freundeskreis Küchenpsychologie, auch deswegen fasziniert, weil mir nach diesem Jahr gerade kein Grund für ein deutliches und auch nur halbwegs selbstzufriedenes „Ha!“ einfallen will. Ich wäre auch nach längerer Überlegung eher bei “Hä?”

Wir brauchen jetzt natürlich noch einen stimmigen, aber bitte möglichst friedlichen und dezembertauglichen Grund für diese aus dem Rahmen fallende Wohnung und ihren Bewohner, für das “Ha!” natürlich auch, denn der Mensch sucht Zusammenhänge, so ist er nun einmal.

Dafür reicht meine Zeit aber heute nicht, das denkt sich besser jeder selbst aus, Sie mögen doch Geschichten.

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Mit Stevensons Schatzinsel komme ich gut voran, gerade wird Long John Silver in die Handlung eingeführt und die Hispaniola sticht schon in Kürze in See. Dummerweise gibt es unangenehme Nebenwirkungen, denn im Vergleich mit Stevenson wirken Heines Reisebilder eher nicht mehr so süffig und lesbar. Viel mehr als einen weiteren Abend gebe ich ihnen nicht, dann müssen sie weichen. Der Sinn des Wiederleseprojektes ist es ja, nur die für mich wichtigsten und besten Bücher zu behalten, ungeachtet aller literaturgeschichtlichen Vorgaben. Und bis auf wenige Ausnahmen werden die bleibenden Bücher bei mir auch gut lesbar sein müssen.

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Haben Sie übrigens auch diese Meldung gesehen, die gerade durch diverse Medien gereicht wurde, die mit dem uralten Docht? Da hat man also einen Docht ausgegraben, 1.500 Jahre alt, in Israel war das. Einer der ältesten Dochtfunde weltweit, wobei ich bis zum heutigen Tag nie damit gerechnet hätte, jemals das Wort “Dochtfunde” zu schreiben. Schön, wenn das Leben eine noch überraschen kann! Der Docht, es geht noch weiter, pardon, besteht aus Leinenfasern und wurde eigentlich schon 1930 ausgegraben, aber jetzt erst richtig erkannt und -Moment! Nicht einschlafen! – das alles wurde also erstaunlich breit gemeldet, gipfelnd in der Aussage, dass dieser Docht nun in einem Museum ausgestellt wird, zusammen mit anderen Funden.

Sehen Sie bei diesen Zeilen auch schon die Schlangen der Besucherinnen vor sich, die geduldig am Museum anstehen, um einen Docht zu sehen? Einen Docht! Nein, den Docht! Je länger ich darüber nachdenke, desto besser wird es, ich möchte fast sagen, die Vorstellung erhellt meinen Abend. Wie kommt es denn bloß zustande, dass so etwas ziemlich prominent gemeldet wird, was läuft da? Wie viele Archäologen mag es weltweit geben, die fortwährend etwas ausgraben, und dann meldet man etliche Zeilen zur vergleichenden Dochtforschung. Was graben denn um Gottes willen die anderen aus, dass es noch langweiliger ist und also keine Zeile wert? Wie schafft es ausgerechnet diese Meldung in die Weltpresse? Man darf da allerdings nicht zu lange drüber nachdenken, sonst ist man ganz schnell bei der Frage, warum überhaupt welcher Text wo erscheint und es wird furchtbar tiefschürfend und grundsätzlich und man steht händeringend vorm Schreibtisch herum und wirkt albern theatralisch, das möchte man nicht. Denn ist es vielleicht eine einfache Frage, was überhaupt als Meldung ausgewählt wird? “Nein!” “Docht!” “Orrr.”

Falls Sie jedenfalls ab dem 24. Januar in Haifa sein sollten, das wollte ich nur sagen, nehmen Sie das hier bitte als Veranstaltungstipp. Den Sie nicht brauchen werden, schon klar, die Stadt wird ja doch mit Dochtplakaten zugegepflastert sein.

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Musik!

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Die Größe des Bösen

Öfter mal eine Schüssel für alle auf den Tisch stellen.

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Man wird unser Zeitalter anhand von Hühnerknochen nachweisen können.

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Loslassen.

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Ich habe beschlossen, beim Wiederleseprojekt etwas zu schummeln und mir einige Werke als Hörbuch vorlesen zu lassen, so gewinne ich durch den Arbeitsweg immerhin etwa 40 Minuten Lesezeit am Tag, da passt vieles hinein. Klaus Nägelen hat mir daher in nur zwei Tagen “Der seltsame Fall des Dr. Jekyll & Mr. Hyde” von R. L. Stevenson vorlesen können, das ist eines der Bücher, die ich tatsächlich alle paar Jahre mal lese. Das ist außerdem zum heutigen Stand meine Lieblingserzähung, die wurde in meinem Lieblingstonfall von meinem Lieblingsautor geschrieben, es ist für mich ein geradezu heimatliches Gefühl, die einleitende Beschreibung von Mr. Utterson zu lesen, hier zitiert nach der Ausgabe im Gutenbergprojekt:

“Der Rechtsanwalt Utterson hatte ein strenges, von tiefen Falten durchfurchtes Gesicht, das nie durch ein Lächeln erheitert wurde, kalt, kurz und verlegen in seiner Unterhaltung, zurückhaltend im Ausdruck seiner Gefühle; lang, dürr und schwermütig war er – und doch konnte man nicht umhin, den Mann lieb zu haben.

Unter alten Freunden, nach einem guten Diner, wenn der Wein ihm besonders schmeckte, strahlte etwas unbeschreiblich Liebevolles aus seinen Augen, etwas, dem er in seiner Rede nie Ausdruck zu geben vermochte, aber das sich oft und laut in seinen Handlungen aussprach. Er war streng mit sich selbst; wenn er allein war, trank er gewöhnlichen Gin, um seine Vorliebe für gute Weine abzutöten. Er war ein großer Verehrer des Dramas, doch hatte er seit zwanzig Jahren kein Theater besucht. Er hatte aber grundsätzlich eine große Duldsamkeit für die Schwächen anderer; er schien fast mit Neid das Ueberfließen von Temperament zu bewundern, das die Ursache ihrer Untaten war, und in allen Fällen war er geneigt, lieber zu helfen, als zu tadeln. »Ich folge Kains gottloser Ketzerei,« pflegte er in seiner eigentümlichen Weise zu sagen, »und lasse meinen Bruder seinen eigenen Weg zum Teufel gehen.« Daher kam es denn auch häufig, daß er die letzte und einzige anständige Bekanntschaft von verkommenen Menschen war; und diesen gegenüber bezeigte er, wenn sie ihn besuchten, auch nie die geringste Veränderung in seinem Wesen.”

Deutsch von Gisela Etzel.

Es ist eine außerordentlich fein konstruierte Erzählung, bei jeder neuen Lektüre bewundere ich wieder das Geschick von Stevenson. Während die meisten Menschen grob wissen, was es mit Jekyll & Hyde auf sich hat, haben vermutlich gar nicht mal so viele das Buch gelesen, dabei ist das ein wirklich erheblicher Spaß und der Herr Stevenson für mich einer der Erzähler schlechthin. Ich war erneut so verzückt, ich habe sofort danach wieder mit seiner Schatzinsel angefangen, es ist ganz und gar herrlich.

Eine Anmerkung zu Jekyll & Hyde noch. In der Wikipedia fand ich den Hinweis, dass in den zahllosen Verfilmungen des Buches der böse Hyde stets größer als Jekyll dargestellt wird, im Buch ist das umgekehrt. Aus Stevensons Sicht war das auch richtig so, Hyde musste schwächer entwickelt, jünger und kleiner als Jekyll sein, er hatte ja als verdrängte Persönlichkeit viel weniger Zeit gehabt, sich zu entwickeln und zur Blüte zu gelangen. Aber Stevenson ist in diesem Punkt ein korrigierter Erzähler, die Filmemacher haben durch die Bank erkannt, dass das Böse groß sein muss, um Angst zu machen, dass die Größe vollkommen untrennbar zu seiner Macht gehört und ein kleiner Hyde nicht zu vermitteln ist. Und ob bedacht oder unbedacht, sie haben so auch noch den Umstand verstärkt hervorgehoben, dass Verdrängung Monster gebiert – und Monster stellt man sich nun einmal nicht mager und schwach vor, fragen Sie ruhig mal das nächstbeste Kind nach präzisen Größenangaben, die Kinder wissen verlässlich Bescheid.

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Ich hatte mehrere Termine in einer Praxis für Radiologie, weitere liegen noch vor mir. Die waren in meinem Fall völlig harmlos, im Falle etlicher anderer Patienten aber unübersehbar überhaupt nicht. Alle Formen des seelischen und körperlichen Elends, weinende Patienten und Angehörige, da spielen sich Szenen ab, die so nah an den jeweils heiligsten Gefühlen und wichtigsten Gedanken der Betroffenen sind, solche furchtbaren seelischen Dramen, es gehört sich nicht, sie zu beschreiben, man möchte sich eher entschuldigen, überhaupt etwas gesehen zu haben.

Nur so viel, man möchte beim Rausgehen sofort ein besserer Mensch werden, weil das unvermeidbare Leid doch ganz gewiss schon für alle ausreicht, es kann gar keinen Grund geben, es noch durch vermeidbaren Varianten zu vermehren. So gehe ich nach diesen Besuchen jeweils zwanzig Minuten frisch geläutert durch die Straßen, bis ich schließlich doch wieder in die moralische Durchschnittlichkeit zurückfalle, die uns nun einmal alle unweigerlich auszeichnet.

Aber so ist der Mensch, ist er nicht?

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Musik. Heute mit etwas mehr Schwung. 

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In der Welt sein

Die Sache mit der Plastiksammelei im Meer, die klappt erst einmal nicht.

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Erfrischungsstäbchen und Dominosteine.

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Nachrichtenredaktionen als Kläranlage der Sprache. Ja, gerne mehr Mühe in dieser Richtung geben. Viel mehr Mühe.

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Sohn I spielt mittlerweile gerne online mit seinen Freunden, wozu sie sich per Messenger oder auch telefonisch verabreden, um dann gemeinsam in irgendwelchen virtuellen Welten zusammenzufinden. Bei einem dieser Telefonate hörte ich gestern einen grandiosen Satz. Man muss diesen Satz von ihm nur ganz kurz aus dem Zusammenhang nehmen, um ihn sofort einrahmen zu wollen, so schön und treffend ist der. Es ist ein Satz, der am Anfang aller Philosophie steht, am Anfang aller Grübelei, ja, es ist ein Satz, der Kultur überhaupt erst entstehen lässt, wenn ich es recht bedenke, weil er letztlich alles geistige Streben begründet. Und es ist auch noch ein Satz, der uns allen vermutlich irgendwie bekannt vorkommt, den wir alle schon einmal so gedacht haben, wenn er nicht sogar in fataler Genauigkeit unser Lebensgefühl beschreibt: “Ich bin jetzt in der Welt, aber es funktioniert nichts.”

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Heinrich Heine ist währenddessen in seinen Reisebildern auf Norderney angekommen, findet die Frauen der Eingeborenen dort hässlich und beschuldigt sie des Fischgeruchs, wie man überhaupt über das Verhältnis zwischen Männern und Frauen auch bei Heine nicht länger nachdenken darf. Er grübelt ansonsten über die Größe Goethes und stellt fest, dass jede kommende Generation immer mehr in ihm sehen wird. Ich werde das dann noch feststellen, wenn ich bei Goethe ankomme. Also ich so als Vertreter meiner Generation, irgendwer muss es ja sein – hier passt wieder prima das so wunderbar abwertende “selbsternannt”, den Begriff mag ich ohnehin gerne. “Der selbsternannte Vertreter seiner Generation”, Moment, das übernehme ich gleich mal in meine Kurzbio.

Warum aber die Reisebilder selbst eigentlich einen solchen Rang in der deutschen Literaturgeschichte einnehmen, es erschließt sich heute übrigens nicht mehr sofort, finde ich. Man kann natürlich die Rezeptionsgeschichte etc. nachlesen, stets bemüht, wie man nun einmal ist, aber so aus dem Buch heraus – ich weiß ja nicht. Ich lese stoisch weiter, vielleicht komme ich noch drauf.

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Musik!

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Déjeuner dinatoire

In der Harzreise von Heine gibt es eine Stelle, da trifft der Autor unterwegs einen Schäfer, es ist um die Mittagszeit, sie essen gemeinsam Käse und Brot am Wegesrand, was Heine dann als “déjeuner dinatoire” bezeichnet. Wäre es nicht nett gewesen, diese Bezeichnung hätte sich für so eine Mahlzeit durchgesetzt? Und man wüsste gar nicht, was ein Brunch ist? Ein Brantsch? Sowieso ein furchtbar klingendes Wort, dieser unangenehme Endlaut, äußerst unschön. Nach dem Brunch zieht der Mensch einen Flunsch, das klingt doch alles nicht, was so aufhört. Wobei ich nebenbei gerade sehe, dass manche Menschen wohl auch die Flunsch sagen, das habe ich ja noch nie gehört, das klingt dann für mich eher maritim, siehe auch Winsch. Hisst die Flunsch! Egal, wo war ich? Déjeuner dinatoire, so ein wunderschöner Begriff jedenfalls. Komm, wir treffen uns auf ein kleines déjeuner dinatoire. Das klingt doch so, als würde man dabei über Bücher und Bedeutendes reden, nicht über Business und Bullshit.

Ansonsten ist Heine gerade in Goslar, über Goslar weiß ich nichts, wie ich sowieso über den Harz nichts weiß. Einmal, es ist viele Jahre her, war ich mit einer Frau, die nicht die Herzdame war, so unvorstellbar lange ist das her, wild entschlossen, einen Urlaub im Harz zu verbringen, im Westharz damals, denn den anderen gab es noch gar nicht wirklich, also zumindest nicht aus westlicher Sicht. Man konnte damals noch nicht zu jeder Bude online zwanzig Bilder und dreißig Bewertungen prüfen, das Buchen von Urlaubsunterkünften war mehr so glücksspielartig und beruhte auf nichtssagenden Zweizeilern und winzigen Bildern in gedruckten Prospekten, wir hatten ja nichts. Wir wollten aber kein Glück – was ein Satz! -, wir wollten verlässliche Planung, also suchten wir uns nach den spärlichen Beschreibungen in den Reisekatalogen etwas aus und fuhren dann einfach kurzentschlossen an einem Sonntag hin, um es uns vor der Buchung genau anzusehen. Das Wort “romantisch” kam definitiv in der Beschreibung vor, den Rest habe ich natürlich vergessen, aber “romantisch”, das wollten wir haben, und zwar viel davon und mit alles. Im Atlas schien der Harz gar nicht so weit entfernt von Hamburg zu sein, die Fahrt dauerte dann aber viel länger, als wir es uns vorgestellt hatten. Viel, viel länger. Das tat der Stimmung nicht gerade gut, damit fing es schon an. Wenn man so liebesnestmäßige Ideen im Kopf hat, dann will man nicht in Niedersachsen auf der Autobahn herumstauen und sich dann, damals noch mit dem Finger auf der Landkarte herumsuchend, auf Landstraßen verfahren, zumal man bei der schwierigen Frage des Navigierens auch leicht aneinander gerät, wenn nicht sogar zwingend aneinander gerät.

Als wir das Hotel schließlich fanden, empfing uns die Hausherrin in reservierter Höflichkeit und führte uns herum, nachdem sie uns bei der Begrüßung einigermaßen erstaunt angesehen hatte – wir waren zu jung, wie uns schnell klar wurde. Aus ihrer Sicht gehörten wir eher in eine Jugendherberge oder auf einen Zeltplatz. Das Hotel war ein Albtraum an Spießigkeit, das allervermuffteste Etablissement, das wir uns nur vorstellen konnten. Ein liebloses Durchschnittsgebäude aus den Fünfzigern, bei dem man sofort nach dem Eintreten keine Luft mehr bekam. Mobiliar, Tapeten, Teppiche, Gäste, Kegelbahn, Partyraum, eines schlimmer als das andere, knietief in der Nachkriegszeit, konservativer und gestriger als Adenauer, und der Ausblick aus den Zimmern ging auf eine höchst gewöhnlich aussehende Wiese in enttäuschend unspektakulärer Hanglage und auf einen Parkplatz, der mit gepflegten Fahrzeugen der oberen Mittelklasse vollgestellt war. “Wir haben hier viele Stammgäste”, das hatte die Hausherrin gebetsmühlenartig wiederholt, “wir haben hier eigentlich nur Stammgäste. Aber wenn Sie ganz früh buchen …” Und ihr Blick sagte: “Tun Sie es nicht.”

Wir haben selbstverständlich nicht dort gebucht und sind keine Stammgäste geworden, wir haben uns sehr schnell zurückgezogen und versucht, unter freiem Himmel wieder normal zu atmen. Bis heute denke ich aber, dass der Harz gewiss irgendwo und irgendwie schön ist, wir haben es nur damals nicht gefunden.

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Musik! Im Laufe der Woche soll es ein Flöckchen schneien, sagt der Wetterbericht. Für diese ungewöhnliche Situation haben wir auch etwas.

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Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

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Gerechtigkeit für Keely Smith

Da wurde in den Kommentaren also gerade gefragt, wer denn da im vorletzten Video die stocksteif herumstehende Frau neben Louis Prima sei – das war Keely Smith, seine Ehefrau zur Zeit der Aufnahme, und es ist nur fair, ihr ein paar Zeilen zu widmen. Es war fester Bestandteil ihrer Auftritte, dass er auf der Bühne völlig ausflippte und mit der Musik und der Band wild eskalierte, während sie stets vollkommen beherrscht daneben stand und abfällig oder versteinert guckte. Manchmal verleitete er sie auch zu Tanzschritten, die ihr dann regelmäßig und geradezu hanseatisch misslangen, das war Programm und kam beim Publikum bestens an, wie auch ihre Neigung zu undamenhaften Gesten, sie kratzte sich etwa bei sentimentalen Nummern ungeniert an der Nase und dergleichen – und zwar auch dann, wenn sie selbst sang. Denn das konnte sie, wie man hier gleich sieht. Keely Smith, sie ist erst im letzten Jahr, fast genau zu dieser Zeit, gestorben.

Wenn Sie Streamingdienste wie Spotify nutzen, gucken Sie doch mal nach dem Album “The intimate Keely Smith”. Das ist gut für einen Sonntagabend mit Regen und Kälte, versprochen.

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Ein Artikel zur Psychologie und zur Geschichte des Trinkgelds. Der Text ist nicht oder kaum auf Trinkgelder in Blogs via Paypal zu übertragen, aber doch interessant. Bei dieser Gelegenheit aber auch zwischendurch einen herzlichen Dank für die Einwürfe in den Hut in den letzten drei Tagen, es sind mir nach wie vor die herzallerliebsten Euros, die da herangeflogen kommen.

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12 Bilder des Jahres.

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Ich war der Ansicht, ich würde bis zur 7. Klasse locker mit dem Gymnasialstoff mithalten können, andere Mütter und Väter nannten auch mutig höhere Zahlen, mir kamen da schon Zweifel wegen Chemie und Physik. Das mit der 7 war aber, wie sich herausstellt, nicht falsche Bescheidenheit von mir, das war schon Größenwahn. Denn wenn ich auch in Deutsch, Mathe und Englisch noch lustig winkend im Sattel sitze, gestern kam der Sohn mit Musik – und ich bin raus. Ich bin so etwas von raus, ich weiß überhaupt nichts, was nicht als Scherz oder heitere Übertreibung gemeint ist, sondern bitter wörtlich. Zwar kann ich sicher sein, in der Schule auch einmal Noten gelernt zu haben, aber das wurde im Hirn längst gelöscht und überschrieben, da ist keine Datenrettung mehr möglich. Ich erkenne keine Note, kein anderes Zeichen, ich weiß rein gar nichts über Musik, mein musikalisches Wissen erschöpft sich im Grunde mit: “Klingt ganz gut” und “Drück mal repeat”, es ist wirklich schlimm.

Aber wie auch in den anderen Fächern, es gibt für Musik eine App, man kann damit lernen und den Wissensstand online testen. Wir, also der Sohn und ich, haben uns gemeinsam durch einen Test geraten und ohne alle Kenntnisse eine glatte Drei geschrieben, das war dann auch die einzige Note im Spiel, die uns dabei bekannt vorkam. Geht doch! So haben wir eben etwas über Glücksspiel und Wahrscheinlichkeitsrechnung gelernt, das ist ja auch nicht unwichtig fürs weitere Leben.

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Den Keyserling habe ich wieder weggelegt, ähnlich wie bei Huxley ist das Frühwerk zwar interessant, man weiß aber eben auch, es wird noch besser. Und dann will man es auch besser. Nach meinen aktuellen Maßstäben kann das Buch jetzt weg, seine späteren Romane werden aber sicher weiter im Regal bleiben.

Ich habe mir jetzt Heinrich Heine gegriffen, sämtliche Reisebilder, beginnend mit der Harzreise. Drei Bemerknisse gleich auf den ersten Seiten: Ich muss das Buch schon mehrmals angefangen haben, so sehr kommt mir alles dort bekannt vor, aber ich bin nicht sicher, ob ich es auch einmal wirklich durchgelesen habe. Die Bedeutung von Heine für den Humor in deutscher Sprache kann gar nicht überschätzt werden, es lassen sich sofort Sätze finden, nach deren Muster heute noch Bespaßung per Text hergestellt wird, auch in diesem Blog, womit ich mich jetzt selbstverständlich nicht mit Heine vergleichen möchte. Drittens schreibt er im Jahr 1824 schon über den verfallenden Wert von Kleidungsstücken, die einfach nicht mehr geschätzt werden, so viele haben die Leute davon, so beliebig sind sie. Während früher (!) ein Überrock noch dreimal vererbt wurde und entsprechend mit den Geschichte der Generationen betankt war, wissen die Menschen heute, also 1824, so schreibt er, kaum noch, wieviel Knöpfe sie an der Weste haben, so wenig beachten sie, was sie haben und anhaben. Guck an. So weit reicht das also zurück.

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Musik!

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Und damit gute Nacht. Wie wir hier mit Storm  früher an der Bettkante der Söhne gesungen haben:

Över de stillen Straten

Geit klar de Klockenslag;

God Nacht! Din Hart will slapen,

Un morgen is ok en Dag.

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Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

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Tingelträume

Das Shift-Phone.

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Mich stört bei Ereignissen wie der Wahl einer neuen CDU-Parteichefin vehement, dass die Medien sich nahezu flächendeckend mit Wahrsagerei beschäftigen und reihenweise prophezeien, was demnächst passieren wird, statt zu beschreiben, was ist. Beliebiges Beispiel, die SZ-Schlagzeile (online) am Morgen: “Der Frühling in der CDU könnte bald vorbei sein.” Könnte! Ja, es könnte morgen auch regnen oder schneien, wer weiß. Was alles sein könnte! Es könnte auch sein, dass ich so etwas gar nicht lesen möchte.

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Apropos Lesen. Das abendliche Vorlesen ist mir etwas entgleist, Sohn I und die Herzdame, die beiden Interessenten für die Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens, sie sind nicht mehr synchron zu bedienen. Da die Herzdame an einem Abend keine Zeit hatte, aber wider Erwarten doch auf einer Fortsetzung besteht, lese ich jetzt versetzt, wobei Sohn I Vorsprung hat, immerhin etwa zehn Seiten. Bisher ist es mir noch nicht gelungen, sie wieder auf den gleichen Stand zu bekommen. Dadurch lese ich also alles doppelt und kann die Geschichte bald auch ganz ohne Buch vortragen, vielleicht kann ich damit ja künftig über Weihnachtsmärkte tingeln und in Glühweinschwaden altertümlich gewandet besinnliche Klassiker rezitieren? Immer die Geldquellen, die Fähigkeiten und die Gelegenheiten im Auge behalten! Allerdings bin ich nach mehreren Leseabenden erst beim Geist der vergangenen Weihnacht angekommen, das zieht sich also.

Im Gegensatz zu Sohn I schläft die Herzdame gerne ein, während ich vorlese, ein immer etwas zweifelhaftes Kompliment für Vorleser.

Ich: “Was habe ich gerade gelesen? Du dämmerst doch schon wieder weg!”

Die Herzdame: “Gar nicht! Marleys Geist erschien im Türknauf und so.”

Ich: “Himmel, das habe ich vorgestern gelesen!”

Die Herzdame: “Oh.”

Sohn II ist bei dem Buch erst einmal raus, der ist zu sehr mit dem E-Piano beschäftigt und übt wie besessen, wir teilen uns hier sozusagen kulturell auf. Auch recht.

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Bei den zahllosen Orthopädenbesuchen im letzten Halbjahr fiel auf, dass mein Ehering etwas eng geworden ist, den bekam ich nicht mehr schnell genug ab, und so etwas stört manchmal den Ablauf in Arztpraxen. Ich habe den Ring jetzt zu einem Juwelier gebracht, dort wird er geweitet, das sollte problemlos klappen, sagten die da. Und hinterher bietet der Ring dann etwas mehr Platz und ich kann den eingravierten Vornamen der Herzdame um einen Kosenamen ergänzen. Oder um ihr Geburtsdatum, die Anschrift und einen kurzen Lebenslauf, mal sehen.

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Musik! Einmal im Jahr muss das schon sein. Und das Original dann natürlich auch noch. Schönen zweiten Advent!

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Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

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