Es gab Rotkohl

Es gab im Heimatdorf der Herzdame, ich erwähnte es bereits kurz, u.a. Rotkohl von meiner Schwiegermutter. Welcher aus mir unklaren Gründen stets verlässlich besser schmeckt als meine selbstgekochte Variante, erheblich besser. Obwohl wir doch in etwa die gleiche Prozedur, obwohl wir doch die gleichen Zutaten … Na, am Ende wird es daran liegen, dass ich ihn serviert bekomme. Das mag sein.

Rosenkohl gab es auch, den in der Familie kaum jemand mag. Die Söhne und die Herzdame als unbelehrbare Ignoranten. Aber Schwiegermutter mag ihn, aber ich mag ihn, wir tauschten wieder wissende Blicke über den Tisch. Der erste Rotkohl der Saison war es jedenfalls für mich an diesem Abend, der erste Rosenkohl auch.

Ich bin in diesem Jahr in meiner Küche also nicht ein einziges Mal dazu gekommen, wichtiges Saisongemüse zu kochen. Es gab bei uns keine typischen Wintergerichte, es gab auch keine etwas festlicheren, keine etwas besseren Varianten des Abendessens. Ich habe in den letzten Wochen nirgendwo Gelegenheiten dafür gesehen. Immer habe ich nur die flotten und die üblichen, die viel zu etablierten Alltagsrezepte für zwischendurch abgearbeitet. Die mit dem geringsten Zeitaufwand also, die mit den wenigen Zutaten, die mit dem, was so herumlag. Ach komm, es gibt Curry.

Und das ist auch eine Premiere, denke ich, aber keine angenehme. So übel also waren November und Dezember in dieser Hinsicht, so sehr schlugen sich meine chronifiziert schlechte Laune und die ausufernde Betriebsamkeit bis runter auf meinen Speiseplan durch. Arg unbefriedigend ist das, im Nachhinein betrachtet.

Vielleicht kann oder sollte ich das im Januar und Februar noch etwas ausgleichen? Auf den letzten Wochen des Winters noch etwas retten, damit die Bilanz der Jahreszeit am Ende nicht zu schlecht und zu mager ausfällt.

Wobei der Januar, von dieser Seite des Kalenders aus betrachtet, auch schon nach viel Grund für schlechte Laune aussieht, es ist einigermaßen klar zu erkennen. Selbst wenn ich, denn man hat ja Erfahrungen und auch die Lebensratgeber irgendwann gelesen, den Teil mit der „self-fulfilling prophecy“ brav und bemüht herausrechne.

Es gibt nun einmal Lagen und Zeiten, die sind nicht die besten. Von der vermutlich weiter ausufernden Betriebsamkeit zu schweigen, die prompt ab dem 2. Januar erforderlich sein wird, und auch das wird kaum zu ändern sein.

Vielleicht sollte ich daher – immer im Trotz verbleiben und aus dieser Haltung heraus handeln, um auf diese Art wenigstens bei sich zu bleiben – ein entschlossenes „Jetzt erst recht“ in der Küche anpeilen. Das scheint mir, wenn ich weiter überlege, ohnehin ein naheliegender und gut anwendbarer Gedanke für das nächste Jahr zu sein, bei gar nicht wenigen Themen.

Ich suche mir also wieder einmal die Rezepte heraus. Die für die Rotkohlgerichte und auch die anderen.

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Hier noch ein Weihnachtsabschlussbild, dann lassen wir das auch schon hinter uns. Ohne Rotkohl, aber mit Kuchen, und der war auch sehr recht.

Eine Art Linzer Torte mit etwas Schlagsahen daneben, beides auf weihnachtlicher Tischdecke

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Nur zwei, drei Links

Die lose Reihe „Fiktion und Realität“, das Thema scheint mir in letzter Zeit seltsam treu zu sein, habe ich währenddessen mit etwas leichter Unterhaltung beim Kochen (Gulaschsuppe) fortgesetzt, nämlich mit einer Sendung über D‘Artagnan. Den es wirklich gab, nicht etwa nur in der Fantasie von Alexandre Dumas. Wie auch die anderen bekannten Musketiere aus dem Buch und den vielen Filmen tatsächlich echte Vorbilder hatten, also Athos, Porthos und Aramis. Das war mir nicht bekannt, wieder was gelernt.

In der Doku wird am Rande der Pariser Stadtteil Saint-Germain-de-Prés erwähnt, da fiel mir nebenbei wieder ein, dass es eine charmante Aufnahme des bekannten Liedes zur Gegend von Anthony Perkins gibt, die ich noch gar nicht gezeigt habe, glaube ich.

Aber Sie kennen Sie vielleicht nicht, gucken Sie mal, hören Sie mal:

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Die Kaltmamsell verlinkte hier eine weitere Doku zu Cary Grant, das sind dann noch einmal sinnvoll verbrachte, interessante anderthalb Stunden.

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Ansonsten gehört: Ein Zeitzeichen über die Schneekönigin von Hans Christian Andersen und ein Kalenderblatt über Udo Jürgens.

Auf den ersten Blick sicher eine eher seltsame Kombination, diese beiden. Auf den zweiten Blick aber zwei markante Texterinnerungen an meine Kindheit. Die Märchen von Andersen haben mich damals oft und schwer beschäftigt, haben mich sicher auch geprägt. Und die Lieder von Udo Jürgens waren immer da, von frühester Kindheit an. Ich bin nach wie vor bei allen seinen Erfolgen textsicher, ohne mich je darum bemüht zu haben. Das ist ein mitgeliefertes Feature meiner Altersklasse.

In meinem Geburtsjahr war der legendäre Grand-Prix-Gewinn mit Merci, Chérie. Das war vier Jahre nach dem oben verlinkten Anthony Perkins, und wie gut die beiden Filme zusammenpassen, nicht wahr.

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Im Bild die Landstraße im Heimatdorf der Herzdame, die ich an der Stelle jedesmal fotografiere, wenn wir dort zu Besuch sind.

Diesmal ging ich ins Licht, immerhin.

Eine leere Landstraße. kahle Obstbäume am Straßenrand, wolkenverhangener Himmel, die Sonne kurz vor dem Durchbrechen

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Wir bleiben dran

Vorweg herzliche Glückwünsche an den Blognachbarn. Immerhin 21 Jahre hat er schon vollgeschrieben, ist mir damit uneinholbar um mehrere Monate voraus und segelt stets verlässlich vorweg. Aber es tippt sich gut, in diesem Kielwasser.

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Ich sehe frühmorgens die Seite von CNN an. Warum sollte man sich die Startseiten im Browser nicht so einstellen, dass sie einem sofort die Laune verhageln, dann hat man es gleich hinter sich. So habe ich es mir als praktisch denkender Mensch überlegt.

Die Schlagzeile dort lautet übersetzt: „Trump kündigt US-Expansion nach Panama, Grönland und Kanada an.“ Dem könnte man, wenn man gut informiert ist, also unangenehm gut informiert ist, wie man es heute wohl nennen muss, in Details widersprechen, die Formulierungen waren etwas anders, aber wirklich notwendig ist eine solche Genauigkeit nicht mehr.

Denn es bleibt trotz allem dabei, dass wir zweifelsfrei in einer Satire-Version unserer Welt gelandet sind. In einer Variante, die ausgesprochen trashmäßig gescripted wurde. Unser aller Plot wurde, um das neuerdings geflügelte Wort aufzugreifen, recht eindeutig bewusst unterkomplex angelegt.

Wir müssen vor einiger Zeit im Multiversum verrutscht sein, oder was auch immer da passiert sein mag. Vielleicht ergründen es Historikerinnen irgendwann, in mehrbändigen Universalgeschichten, in Universumsgeschichten. Ich kann, wie alle Menschen meiner Generation, jedenfalls mit Sicherheit sagen: Ich komme aus einer anderen Welt.

Wir hätten es uns damals nicht träumen lassen, als wir noch im Frottee-Schlafanzug das Raumschiff Enterprise im Fernsehen gesehen haben, wie schräg und plastikbillig es sich anfühlen würde, in andere Welten vorzudringen. Wir hatten, so meine ich mich zu erinnern, dabei etwas viel Cooleres im Sinn als das, was uns heute in den Nachrichten geboten wird.

Im Grunde ist die Handlungsvorgabe für die aktuellen Folgen der Weltgeschichte so unterirdisch platt, sind auch die neulich bereits erwähnten James-Bond-Bösewichte in ihrer realen Ausprägung dermaßen schlicht, niveaulos und in jeder Beziehung albern und enttäuschend – wenn man das alles bildgerecht weiterdenkt, sind wir längst bereit für den Auftritt einer primitiven Godzilla-Kopie oder dergleichen.

Was soll ich machen. Es tut mir auch leid, das so festzustellen, denn ich weiß um das seltsame Verhältnis zwischen diesem Blog und der Wirklichkeit. Ich weiß also um die Gefahren solcher Notate, wer sollte sich da besser auskennen. Aber es ist nun einmal kaum zu übersehen. Mumien, Monstren, Mutationen, und in Tschernobyl gibt es schon die schwarzen Frösche, las ich gerade drüben bei Croco, wie passend ist das denn.

So gehen doch Eröffnungssequenzen, nicht wahr, wir erkennen so etwas. Wir sind doch alle gestandene Medienkonsumenten und haben ein gewisses Grundverständnis für solche Abläufe.

Bleiben wir dran? Wir bleiben dran. Was sollen wir auch machen.

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Wandern, streben, verlangen

Wir fuhren ins Heimatdorf der Herzdame, durch norddeutsche Grauwinterödnis. Die üblichen Regenschauer, der Nieselregen. Einen Werbefilm für Niedersachsen hätte man an diesem Nachmittag unmöglich drehen können, Lichtpunkte waren nur die Schaufenster der Kreissparkassen und die beleuchteten Werbetafeln der Discounter und Autohäuser. Ich sah deutlich weniger aufwendige Weihnachtsdeko in den Vorgärten als im letzten Jahr, es kam mir jedenfalls so vor. Es würde zur allgemeinen Stimmung auch passen: Ach, lass mal.

Die Söhne hörten durchgehend Musik über Kopfhörer, auf der Autobahm und auf der Landstraße. Die Herzdame fing neben mir seufzend mit der Jahresendbuchhaltung an. Für einen Lehrfilm über familiäre Kommunikation hätte das auch wieder nichts hergegeben, aber es war mir alles recht so.

Zweieinhalb Stunden Fahrzeit sind es nach Nordostwestfalen. Wenn es gut läuft, und es lief gut. Zweieinhalb Stunden, in denen man in Ruhe nachdenken kann. Dies und das Revue passieren lassen, einiges abwägen. Bei zwei, drei Themen auch schon einmal vorausdenken. Als würde am 1. Januar irgendein Vorhang aufgehen, willkommen, bienvenue, welcome, gleich die Einstiegsszene aus dem Cabaret-Film vor Augen. Oder nein, der Film geht nicht gut aus. Da lieber noch auf etwas anderes kommen.

Allerdings auch nicht eben erfolgreich nachgedacht. Ich landete wieder bei den richtigen Einstellungen, die ich mit einiger Dringlichkeit zu diesem und jenem finden muss. Das Thema kann ich noch nicht abhaken, es ist ein warnblinkendes To-Do im Kalender. Dazu kam dann doch einmal die Sinnfrage, denn wenn man ein paar Kilometer und einige Stunden ungestört Zeit hat, kann das dummerweise passieren.

Schön ist das meistens nicht, wenn einen Sinnfragen unbestellt beschäftigen. Ab und zu wird es wohl notwendig sein, das ist allerdings einzusehen, man muss hier und da justieren. Und am Ende ist es eben das, was mit dieser ominösen Besinnlichkeit gemeint ist, von der jetzt alle reden. Auch wenn das Wort so einen seltsam gemütlichen, wohligen Klang hat, auch wenn deutlich mehr Rotkohl als Ratio in der Bedeutung des Begriffes mitschwingt.

Nachgesehen, althochdeutsch sinnan: Gehen, reisen, wandern, streben, verlangen. Eine interessante Reihung, das liest sich dermaßen klangvoll, es kommt einem fast wie ein Buchtitel vor. Altenglisch sinnan: Achthaben und sorgen. Wenn ich das richtig überfliege, ist im Abschnitt Etymologie auch einiges im Sinne von Bewegung und Beschluss zu finden. Da besinnt man sich nach vorne, auf ein Ziel hin, nicht etwa im Kreis und um ein Thema herum.

Neben mir liegt währenddessen die Katze des Hauses. Die weiß selbstverständlich alle Antworten, sogar auf die Sinnfragen. Die hat sich längst genug besonnen, es ist das Privileg ihrer Art. Aber sie sagt nichts, sie gibt nichts weiter. Zen und die Kunst, nur zu liegen.

Eine schwarzweiß gefleckte Katze

Sie sieht mich nur ab und zu an, diese Katze, und sie weiß, dass ich nichts weiß. Ich erkenne es deutlich in ihrem Blick. Und am Ende, das mag sein, ist es das erstrebenswerte Ergebnis aller Besinnungen: Der Rest ist Schnurren und Schweigen. Bis man das aber erreicht hat, kann man weiter fast täglich von seinen Bemühungen berichten. Zumindest bei mir ist das so.

Und zwischendurch darf man auch einmal kurz zum Rotkohl übergehen. Der hat auch seine Berechtigung, seinen Sinn und seinen Segen, beonders wenn ihn meine Schwiegermutter zubereitet.

Na, wie auch immer. Machen Sie es sich schön, machen Sie es den Kindern schön, seien Sie nett zueinander.

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Nur zwei, drei Links und ein Zitat

Gesehen: Diese Doku bei arte über Truman Capote und sein Buch „Kaltblütig.“ Über einen Mordfall, zu dem er zunächst nur eine Zeitungsnotiz las, die ihn dann unplanmäßig Jahre beschäftigt hat. True Crime in den Anfängen also, als das Thema noch keine Standardform der leichten Podcast-Unterhaltung war. Eine verstörende Geschichte über eine verstörende Geschichte. Und diese Dokumentation, in der auch die Verfilmung des Buches vorkommt, ist dann schon die vierte Form der Steigerung.

Eine weitere Ergänzung zum vielfältigen Themenkreis Fiktion und Realität also, allerdings keine der besonders beruhigenden, angenehmen Art.

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In der ARD-Mediathek gibt es aber auch etwas für die eher entspannte Stimmung. Eine Doku, die sich besonders viel Zeit nimmt, die Ruhe ausstrahlt und Längen zulässt, was doch sehr auffällig ist. Das passt womöglich als Besinnungsprogramm auch zu Ihren Feiertagen (das Video ist bis 12.1. verfügbar).

Living Bach“, da geht es um Menschen weltweit, die sich in Laienchören, Ensembles etc. intensiv mit der Musik von Bach beschäftigen. Interessante Geschichten sind darin. Vieles erscheint romanhaft ausbaufähig, das fällt sicher nicht nur mir auf. Das Paar aus Malaysia mit dem Cembalo-Bausatz etwa, der dann doch etwas schwieriger im Aufbau ist als ein Möbelstück von Ikea. Es klingt arg nach einem Plot für ein Buch, das einen internationalen Literaturpreis abräumt.

Wenn Sie selbst Musik machen, sehen Sie sich das unbedingt an. Aber es passt selbstverständlich auch, wenn Sie einfach nur Bach mögen.

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Ebenfalls kompatibel zum Datum und ungeachtet meiner Verfassung, die sich nicht einmal ansatzweise weihnachtlich anfühlt, habe ich eine Sendung über den historischen Jesus gehört (46 Minuten beim Deutschlandfunk). Dabei habe ich immerhin in eher seltener Zufriedenheit mit mir selbst festgestellt, dass ich bei dem Thema auf dem neuesten Stand bin. Da war nichts Neues für mich dabei. Das ist auch einmal schön, ein Gefühl fast wie ein bestandener Test.

Als die Söhne noch klein waren, gab es bei uns am 24. noch den obligatorischen Kirchenbesuch. Dort gab es das Krippenspiel, an dem sie oder ihre Freundinnen und Freunde stets beteiligt waren. Außerdem war der Pastor unser geschätzter Nachbar, wir hatten damals noch einige Verbindungslinien in die Gemeinde und waren mit ihr auch über Projekte verbunden.

Das ist alles längst vorbei, heute hat das Fest bei uns keinen religiösen Bezug mehr.

Aber ich denke immer noch gerne an diese eine Weihnachtspredigt in der anderen Familienkirche zurück, im Heimatdorf der Herzdame in Nordostwestfalen. Etliche Jahre ist das schon her, wenn auch nicht ganz so lange wie das gestern erwähnte Alstereisvergnügen. Diese eine Predigt jedenfalls, von der ich vermutlich schon mehrfach berichtet habe, weil mich der Gedanke daran bis heute so überaus verlässlich amüsiert. Diese Predigt nämlich, in der Jesus vom Pfarrer im steten Bemühen um aktuelle Bezüge und freshe Ansprache auch der Jüngeren mit Batman verglichen wurde, über den vermutlich gerade ein neuer Film im Kino lief.

Er predigte über die beiden Helden und ihre Motivation: „Der eine kam aus dem Dunkel, der andere ging ins Dunkel.“

Es wird wohl der einzige Satz sein, den ich jemals aus einer Kirche mitgenommen habe. Aber ich mag ihn immer noch.

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Im Bild ein Kirchenfenster, vermutlich zu St. Jacobi gehörend. Wenn man nicht immer gleich Notizen macht und Schlagwörter vergibt!

Ein Kirchenfester, von innen fotografiert, Bleiverglasung, ein geometrisches Muster, keine figürliche Darstellung

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Meist trüb

Ein paar Tage zurück. Über den Kirchhof vor unserer Haustür wabert beißender Rauch durch einen dunkelgrauen, durchnieselten Dezembernachmittag. Eine große Feuerschale hat man dort aufgestellt, kleine Holzkistchen werden darin verbrannt, als ich vorbeigehe. Vielleicht sind es solche, in denen manchmal die Mandarinen in Supermärkten liegen, sie sehen beim flüchtigen Hinsehen so aus. Um die qualmende Schale herum stehen etliche Menschen. Allerdings stehen sie da nicht, um sich zu wärmen oder weil etwas gefeiert wird.

Sie stehen dort für die Essensausgabe an, die hier wöchentlich in der Kirche stattfindet. Es ist die übliche, seit Jahren so furchtbar lang gewordene Schlange der Bedürftigen, ich berichtete vielfach.

Sie stehen da in einem Bogen um die Feuerschale herum. Es ist ein scheußlicher, aber immerhin warmer Dezembertag, die üblichen 12 Grad, das Durchschnittswetter. Die Leute werden heute kein wärmendes Feuer auf dem Kirchhof brauchen, denke ich mir. Aber riechen werden sie alle unweigerlich, penetrant wie die Räucherware vom Fischmarkt, denn sie können dem Rauch in der Warteschlange nicht entkommen. Sie stehen zu lange in den stinkenden Wölkchen, die zwischen ihnen verwehen, sie können ihre Plätze in der Schlange nicht aufgeben. Es wird gut gemeint sein, das große Feuer, davon gehe ich aus. Aber ob es auch gut ist, da bin ich nicht sicher.

Aber das nur als Bild am Rande. Ich muss es ab und zu erwähnen, wie es hier zugeht. Denn bei Ihnen, was weiß ich, geht es irgendwie anders zu.

Sie haben vielleicht in den letzten Tagen eine Meldung gesehen, in der unser Stadtteil auch überregional erwähnt wurde. Es sind selten erfreuliche Meldungen, wenn so etwas vorkommt, es war auch diesmal keine. Da ging es um eine Kita, die ihr Außengelände gerade mit Stacheldrahtverhau gegen Junkies etc. zu schützen versucht. Das ist hier um die Ecke.

Und ich bin gerade, Sie müssen sich hier eine kurze Pause vorstellen, dort vorbeigegangen. Ich dachte, ich mache Ihnen reportermäßig ein Bild davon. Das habe ich dann aber gelassen, denn es standen Typen vor der Kita, die man lieber nicht fotografiert. Aber dieses Bild, das es nun nicht gibt, es passt auch.

Es ist ansonsten norddeutsch dezembrig in Hamburg, also eher hässlich. Schwer ist es, in dieser Zeit des Jahres, im durch und durch unschönen Stadtwinter, irgendetwas Reizvolles, Attraktives zu entdecken, während man durch die Straßen geht (andere haben es gerade etwas leichter, wie etwa Anke). Ich müsste aber neue Fotos machen, denke ich mir. Zu viele meiner Vorratsfotos sehen jahreszeitlich schon falsch aus, das stört mich.

Neue Bilder braucht das Blog. Ich gehe wieder raus, ich gehe gucken.

Ich sehe aber hartnäckig nichts. Also nichts, das ich abbilden möchte. Ich komme gegen den winterbedingten Filter in meiner Wahrnehmung nicht an, ich kann Schönes im Moment nicht erkennen. Der trostlos ghettohaft herumfliegende Müll fällt mir nur auf. Die unzähligen falschparkenden Autos. Das Elend der Obdachlosen, die durchnässten Schlafsäcke in den Hauseingängen, die zerfledderten Kartonbetten. Die Bettelnden am Straßenrand usw. Das möchte, kann und darf ich alles nicht abbilden.

Das Wetter zieht uns hier etwas herunter in diesen Wochen, nicht nur mich. Und man lässt sich auch ziehen. Das bringt diese Zeit so mit sich, immer wieder, und es klingt auch schlimmer, als es ist. So geht der Winter hier nun einmal, man kennt es nicht mehr anders. Wann war das damals mit dem Alstereis, mit diesem letzten Winteralstervergnügen. Mit den vielen gutgelaunten Menschen auf Schlittschuhen unter der Wintersonne am Nachmittag, mit den Glühweinständen auf der weiten weißen Fläche, wann war denn das.

Da waren die Kinder noch … der Autor zeigt mit einer Hand irgendetwas ungefähr in Kniehöhe an, fährt dann doch etwas höher, grübelt, weiß es nicht recht, schüttelt den Kopf, winkt ab. Früher eben, es war einfach früher. Da war es hier jedenfalls auch im Winter einmal schön, in jenem Jahr. Da sah es gut aus, zumindest unten an der Alster. Was sagt der Wetterbericht gerade, ostwärts abziehende Schauer, dahinter neu aufkommender Regen, vereinzelt Graupel und Schneeregen, meist trüb.

Na, es passt schon alles zusammen.

Im Bild heute ein U-Bahngleis im Hauptbahnhof. Auch so ein Festival des Frohsinns.

Die menschenleere Haltestelle der U2 im Hauptbahnhof, nur ein Mann sitzt auf einer Bank und lässt den Kopf hängen.

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Sonderspiegelung

Vielleicht haben Sie über die Feiertage Zeit für einen längeren Text? Wenn Sie sich nebenbei die Zeit mit irgendwelchen Apps vertreiben, dann sind Sie schon im Thema. Dann sind Sie auch schon betroffen. Ed Zitron schreibt in ausgiebiger Wut, mit vielen Beispielen, Belegen und Bezugspunkten, auch mit erschreckend vielen Ausläufern in andere Themenbereiche über die Rot Economy. Warum alles so schlecht ist und warum die Meinung der Kundschaft keine Rolle mehr spielt: Never forgive them.

They have twisted and broken and hyper-monetised everything — how you make friends, fall in love, how you bank, how you listen to music, how you find information.”

Ich fand es lesenswert.

Und sicher fallen nicht nur mir beim Lesen der Überschrift spontan die Meldungen zum Oxford word of the year 2024 ein, also die Meldung zum brain rot.

Aber schön immerhin, um noch einen positiven Aspekt bemüht dranzuhängen, dass ich beim Abarbeiten meiner gespeicherten Links gut vorankomme. Am Ende bekomme ich zumindest diese Schubladen doch noch alle zu in diesem Jahr.

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Ich hatte einen Termin zur Verlängerung meines Personalausweises, dabei mussten auch neue Bilder gemacht werden. An einem neuen Automaten in den Räumen der Behörde, der die Höhe der Kamera roboterhaft selbst einstellte und mir sinnige Anweisungen per Display gab. Es war ausreichend narrensicher für mich.

Das fertige Bild baute sich schließlich erstaunlich langsam vor mir auf, nachdem ich alle Anweisungen befolgt hatte. Bevor das Endergebnis in Farbe auf dem Monitor gezeigt wurde, gab es zunächst eine vorläufige Schwarzweißversion, die da zögerlich, stockend und wie im Internet früher einmal, also Zeile für Zeile und von oben nach unten erschien. Erst stark verpixelt, dann allmählich klarer.

Ich stand dann einen Moment etwas entgeistert vor dem Gerät. Denn das Bild zeigte, als es endlich bei Kinn und Bartlinie angekommen war und das Gesicht vollständig freigab, nicht etwa mich, wie ich selbstverständlich erwartet hatte. Es zeigte vielmehr in aller Deutlichkeit meinen Vater. Meinen Vater, der mich aus dem Schattenreich, in dem er seit einigen Jahren weilt, ernst ansah.

Der gerade erst hier im Blog erwähnte Stephen King hätte vermutlich etwas daraus machen können, dermaßen klar und überzeugend war dieser Eindruck. So überraschend war diese überzeugende Ähnlichkeit, die mir vor gewöhnlichen Spiegeln im Alltag nie bewusst wird. Der Augenblick kam dann, und da sollte ich sicher dankbar sein, ohne weitere und vertiefende Horror- oder Fantasy-Effekte aus, ich muss hier nicht das Genre wechseln.

Es reichte aber immerhin für eine ungeplante Gedenkminute, und warum auch nicht. Man muss die Feste feiern, wie sie fallen.

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Kulturvorhaben

Hamburg gibt mehr Geld für Kultur aus. Die geplagten Menschen aus Berlin möchten diesen Absatz vielleicht überspringen? Ich könnte es verstehen, man muss seine seelische Stabilität manchmal auch zu schützen wissen.

Davon abgesehen: Auch die guten Nachrichten mitnehmen und prominent hier einbauen. Frohsinn verbreiten und Aussicht auf Gelingendes. Auch einmal mit etwas einverstanden sein, es kommt selten genug vor. Und, versteht sich, diese mit meinen Steuern ausdrücklich gerne finanzierte Kultur dann im Gegenzug auch besuchen, ansehen und erleben.

Um das ansonsten eher dämonisch am Kalenderrand erscheinende nächste Jahr wenigstens mit einem konstruktiven Gedanken anzugehen, mit immerhin einem mehr als keinem. Wenn wir sonst schon bei nahezu sämtlichen Themen mit bedauerlicher Sicherheit eher zum Heulen und Zähneklappern, zum Händeringen und Haareraufen übergehen werden. Zwischendurch können wir hier immerhin ins Theater, ins Konzert, ins Museum gehen.

Ich werde es jedenfalls so machen, das ist zumindest der Plan. Ich werde mich passend verhalten und mein Kulturbudget ebenfalls erhöhen. Das wird in Zeiten der massiv bedrohten Demokratie ohnehin angemessen zu sein.

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Gehört, und es passt im weitesten Sinne noch in den Zusammenhang: Eine Sendung beim Deutschlandfunk über die Evolution der menschlichen Gewalt: Weshalb Krieg uns nicht in den Genen steckt. Ein Titel, bei dem man zunächst spontan widersprechen möchte, sofern man die Weltlage am Rande zur Kenntnis nimmt. Es geht um patriarchale Strukturen und ihre verheerende Wirkung auf die Gesellschaft. Es geht in biologischer Hinsicht um unsere verwandten Primaten, und es geht auch wieder um die Mutter fast aller unserer Probleme. Also um die neolithische Revolution, in der unsere Vorfahren die selten dämliche Idee hatten, den Besitz und die Arbeit zu erfinden.

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Ansonsten gerne gesehen: Diese Doku auf arte über Cary Grant. Ein schüchterner Mann voller Selbstzweifel und schlimmen Ängsten, man sah es ihm nicht eben auf den ersten Blick an.

Außerdem gesehen: Eine weitere arte-Sendung, diesmal über Italo Svevo, dessen Zeno Cosini ich viel zu spät, erst in diesem Jahr gelesen habe. Der Herr ist interessant, seine Bücher sind es auch. Fast noch interessanter kam mir in dieser Sendung aber Triest vor, seine Stadt.

Besonders faszinierende Bilder sah ich da, ungeheuer anziehend. Man könnte glatt meinen, dort einmal hinzumüssen, um etwa zehntausend Fotos zu machen. Aber ich habe ja, siehe oben, schon einen anderen Plan.

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Ansonsten Urlaub

Frau Büüsker wie immer lesenswert, diesmal über die CO2-Lobby und das Flüssiggas.

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Bei den Blättern gibt es einen freigeschalteten Artikel von Michael Tomasky (Wikipedia über ihn) aus der November-Ausgabe. Es geht um  die rechten Medien in den USA, um ihre entscheidende Rolle bei der Wahl. Es geht auch darum, dass erstaunlich viele Menschen die Logik dahinter nicht verstehen, wohl auch nicht verstehen wollen. Und ich habe oft, viel zu oft den Eindruck, dass auch in Deutschland nicht gesehen wird, wie sehr und vor allem wie unrettbar uns die gemeinsame Informationsbasis, die als verlässliche Wahrheit über viele Jahrzehnte zumindest galt, in den letzten Jahren abhandengekommen ist.

Es wird dramatisch unterschätzt, wie weit diese Verlagerung der Information schon gediehen ist, auch bei uns. Insbesondere mein ansonsten stets und so verlässlich topcheckendes Online-Umfeld hat hier eine beachtliche Verdrängungsleistung, die mich oft wundert. Ein echter Bubble-Effekt, nehme ich an.

Ergänzend noch einmal Michael Tomasky in The New Republic, mit ein paar weiteren Aspekten.

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Ich habe ansonsten Urlaub, also sehe ich wieder den Sender arte leer und versuche darüber hinaus, einigen der in den letzten Wochen gespeicherte Links nachzugehen. Hier noch etwas nachlesen, dort etwas nachhören. Es hat sich einiges angesammelt, es ist nicht alles schon nach 14 Tagen komplett veraltet.

Zwei Dokus habe ich über Autoren gesehen, deren Werke ich nicht, nicht mehr oder noch nicht (wer weiß) lese. Zum einen etwas über Tolkien und seine erfundenen Welten, seine Inspirationsquellen und seinen Lebenslauf. Ich bin nie recht mit ihm warm geworden, ich habe seine Bücher nicht oder zumindest nicht durchgelesen. Mich hat nie eine Fantasy-Welle voll und ausreichend lange erwischt, jedenfalls nach der Kindheit nicht mehr.

Ich kenne auch von den so berühmten Verfilmungen seiner Bücher nur Teile. Die ich dann eher langweilig fand, Menschen und andere Wesen ziehen von Schlacht zu Schlacht und hin und her, von links nach rechts durchs Bild und umgekehrt, dann wieder Schwertkampf, repeat. ich habe aber dennoch die relevanten Hauptfiguren und auch die wichtigsten Handlungsstränge recht sicher parat. Ich verstehe also Anspielungen und Vergleiche, wovon es im Alltag nicht eben wenig gibt. Siehe auch Star Wars oder Harry Potter, mit diesen Werken verhält es sich ähnlich.

Immer wieder finde ich das faszinierend, etwas zu kennen, ohne es zu kennen, ohne es durch Lektüre gelernt zu haben. Einfach nur, weil es im Laufe des Lebens ohne jedes Bemühen in mich eingesickert ist, durch die zahllosen Spiegelungen in der Popkultur, durch Parodien (Die Star-Wars-Reihe etwa damals in den Mad-Heften), durch Smalltalk etc.

Und ich mag bei Tolkien seine Verstiegenheit in exzentrische Themen. Es ist mir grundsätzlich sympathisch, dass sich jemand eigene Welten ausdenkt und Sprachen erfindet, in alte Schriften abtaucht und Jahre mit Mythen verbringt, ich mag solche Formen der Besessenheit.

Zum anderen sah ich eine Sendung über Stephen King, Das notwendige Böse. Horrorbücher sind auch nicht mein Lieblings-Genre, ich habe kaum jemals etwas aus dieser Rubrik jemals gelesen, auch fast keine Filme dieser Art gesehen. Immerhin aber habe ich vor Jahren einige Kurzgeschichten von King konsumiert und auch sein Buch über das Schreiben („Das Leben und das Schreiben“), welches ich, wenn ich es richtig erinnere, gut fand.

Ich schätze außerdem seine Meinungen zu Politik und Religion. Ich kann gut nachvollziehen, wie er dabei die Verbindungslinie zum Horror zieht, ich teile diese Sichtweise. Und ich folge ihm in den sozialen Medien. Es ist immerhin gerade besonders interessant, einige Stimmen aus den USA mitzubekommen, die bei der aktuellen Nummer „kissing the ring“ nicht mitmachen.

Es ist aber sowieso eher egal, ob ich die Bücher der beiden Herren nun lese oder nicht. Dokus über Schreibende finde ich fast immer interessant, sehe ich fast immer mit Sympathie und hoffe auch meistens, irgendetwas dabei zu lernen.

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Im Bild eine Farbansicht aus vergangenen Tagen, mit unwirklich blauem Himmel. Gefühlt ist es Monate her, dass wir hier so etwas über uns gesehen haben.

Blick über die Außenalster von St. Georg aus, blauer Himmel darüber, Winternachmittagslicht

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We’ll have to muddle through somehow

Jemand spielt Klavier im Haus, ich höre es beim Tippen. Es ist etwas dezenter als sonst. Ich weiß daher nicht recht, ob der gleiche Nachbar wie immer spielt oder ob die Musik nicht doch von weiter unten kommt. Ob es am Ende ein neues Klavier im Haus gibt, denn nach dem übenden Kind klingt es auch nicht. Die Melodie kommt nur dünn und dezent durch die Wand. Sie bleibt auch teilweise im Mauerwerk stecken, es fehlen einige Verbindungen im Auf und Ab der Melodie. Ich brauche eine Weile, um das Stück zu erkennen. Es wird das gleich folgende Lied sein, ja, ich bin mir fast sicher.

Ich zeige Ihnen die nicht eben aufheiternde Originalversion mit weinendem Kind, vielleicht ist sie nicht so bekannt:

Wie jemand auf Youtube in den Kommentaren schreibt, erschien der Film mit dieser Szene darin 1944, im Jahr 1943 wurde gedreht. Man muss also wieder den historischen Kontext mitdenken, bevor man im üblichen, routiniert gegenwärtigen Zynismus auf die Textzeile: „Next year all our troubles will be out of sight“ mit einem abfällig gezischten „Ja, von wegen!“ reagiert. Es passt dann nicht mehr recht, so zu reagieren, wenn man das Entstehungsjahr bedenkt. Das Publikum hatte damals noch ganz andere Probleme als wir.

Es kommt allerdings schlimmer. In der ersten Textversion des Liedes hieß es in der ersten Version der Verse noch, halten Sie sich fest:

Have Yourself a Merry Little Christmas
It may be your Last.
Next Year we may all be living in the past”

So rabenschwarz und geradezu erschütternd war es zunächst gedacht. Fast wirkt es wie eine Parodie, obwohl es die eigentliche Idee ist. Judy Garland hat beim Dreh auf Änderungen bestanden, der Text kam ihr zu furchtbar vor, sie wollte diese Zeilen so nicht singen. Und Frank Sinatra forderte Jahre später für seine so berühmt gewordene Aufnahme noch einige weitere Anpassungen. Der Text wurde also in Etappen aus der depressiven, verzweifelten Stimmungslage gehoben, in die er einmal gehört hat.

Weswegen wir auch das in der Originalversion so bemüht tapfere und tränendrückende „From now on, we’ll have to muddle through somehow” eher nicht mehr als Textzeile kennen. Auch diese Zeile wurde durchgetauscht, sie wurde sicherheitshalber ausgewechselt gegen das aufmunternde, allerdings auch etwas lau und konventionell anmutende „So hang a shining star upon the highest bough.“

Aber man könnte an dieser Stelle des Liedes, man könnte gerade in diesem Jahr zumindest in Gedanken doch kurz in der Originalversion des Textes mitsingen, nicht wahr. Sie wirkt dermaßen aktuell.

“From now on, we‘ll have to muddle through somehow.”

Falls Ihnen das aber zu flach vorkommt, berufen Sie sich einfach auf Charles E. Lindblom, der das Konzept des Mudddling Through in der Organisationsheorie dargestellt hat. Es kommt immer gut, wenn man etwas mit Namen und Quellen versehen kann.

Und falls Ihnen der Begriff zunächst allzu negativ vorkommt, ich habe sicherheitshalber noch einmal nachgeschlagen. Die englischen Wörterbücher deuten den Ausdruck allesamt eher positiv. Er wird auf ein erreichbares Ergebnis und auch auf ein Gelingen bezogen.

To muddle through meint in diesem Sinne kein Scheitern in Zeitlupe, sondern vielmehr einen Erfolg, der langsam und auf Nebenstrecken, auf verschlungenen Pfaden und ohne definierte Etappen oder Zeitplan erreicht wird.

Und das ist zumindest für mich vielleicht nicht der schlechteste Plan für das kommende Jahr.

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