Die Gegenwart vor der Haustür

Sie erinnern sich an das Bild von gestern, das mit dem weißen Schriftzug „Love“ an der Mauer? Ich biete noch etwas Kontext, in welchem Umfeld Love hier stattfindet, und Sie werden gleich wieder denken, jetzt übertreibt er aber … nun, dem ist nicht so.

Wir haben da also diese Ziegelmauer im Bild, es ist die Rückseite der Kirche vor unseren Fenstern. Rechts von dem Schriftzug „Love“ und nicht mehr im Bild ist eine metallene Treppe, darauf sitzt ein haltlos wirkender Junkie, in sich zusammengesunken wie ein Mensch ohne Knochen, vor seinen Füßen das übliche Zubehör, das ihm zu diesem Zustand verholfen hat. Links vom abgebildeten Mauerwerk der Backstage-Bereich der wöchentlichen Essensausgabe in der Kirche, es werden gerade gespendete Lebensmittel palettenweise von Freiwilligen verräumt. Auf der anderen Seite der Kirche dann die lange Schlange der Hungrigen und  Bedürftigen, da werden die Lebensmittel an die Wartenden ausgegeben.

Einmal halb um die Kirche herum, auf einer kleinen Fläche neben dem Spielplatz, wo an der Mauer äußerst dekorativer Wein wächst und gerade herbstlich bilderbuchmäßig aussieht, beten fünf Männer gen Mekka. Warum sie das hier draußen tun und nicht in der Moschee um die Ecke, das weiß ich nicht, dass sie es hier aber tun können, ist vielleicht, mit etwas Glück, auch als gutes Zeichen zu sehen, als kleiner Aspekt religiösen Friedens.

Ich weiß nicht, wie es heute ist, vor ein paar Jahren jedenfalls hatte die Gemeinde hier eine gute Beziehung zur Gemeinde der Moschee ein paar Meter weiter, es gab auch gemeinsame Veranstaltungen. Vielleicht ist das immer noch so. Vielleicht gibt es auch eine viel schlechtere Erklärung für das, was ich sehe.

Vor den betenden Männern der Spielplatz, darauf drei Väter mit Kleinkindern, die von ihnen geschaukelt werden, heute sind keine Mütter im Programm. Das kommt vor, wenn es auch der seltenere Anblick ist, aber über die Jahre, und ich habe das gut im Überblick, steigt die Männerquote auf diesem Platz deutlich. Langsam, aber eben auch unübersehbar.

Gegenüber sehen wir ein Plakat in einer Wohnung im ersten Stock, da wird vermutlich eine Mietwohnung in Eigentum umgewandelt, eine Maklerwerbung ist es. Die Preise von so etwas sieht man in meinen Kreisen schon seit vielen Jahren nicht mehr nach, nicht einmal, um darüber zu lachen, sie sind viel zu absurd.

Vor den Fenstern der zu verkaufenden Wohnung eine Zone-30. Sie interessiert kategorisch niemanden, man kann da so schön beschleunigen.

Vor der Kneipe an der Ecke des Platzes stehen einige Männer, rauchen und trinken Bier. Im Fenster des Etablissements hängt wieder der jahreszeitlich obligatorische Grünkohlhinweis, an den ich mich noch aus dem letzten Winter erinnere, und mir kommt es gerade so vor, als ob es neulich erst war. Mit vegetarischer Option gibt es ihn, den Grünkohl.

Zwischen den parkenden Autos an der Kirchenrückwand ein Obdachloser im nassen Schlafsack.

So in etwa das Gesamtbild, einmal um die Kirche herum. Ziemlich viel Gegenwart auf ein paar Metern, denke ich immer wieder, und dabei war ich noch gar nicht im Hauptbahnhof mit seinem trubeligen Leben, dabei war ich nur eben ein paar Meter vor der Tür und einmal um die Kirche herum.

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Ansonsten das Tagebuch von Stefan Zweig durchgelesen. Jetzt die Briefe von Mascha Kaléko, der erste Band, und sie geht da gerade, 1956 ist, in ihren Schilderungen etwa zwei Gehminuten von dem eben Geschilderten entfernt herum, in einem sehr kalten Winter. Hamburg in Eis und Schnee beschreibt sie, wie es meine Söhne kaum noch kennen. Der letzte Eiswinter war in ihrer Kleinkindzeit, danach gab es keinen mehr.

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Und noch eben ein neues Bild, ich lege mal etwas Liebe nach, nicht wahr, der Bedarf scheint doch erheblich zu sein.

Ein Aufkleber "Liebe für alle" (Schriftzug in einem Herz) vor der Rückseite des Maritimen Museums und einem Fleet

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3 Kommentare

  1. diese stadtansichten erschrecken mich kleinstadtbewohnerin. ich war vor jahren dort in der kunsthalle. auf der aussentreppe eines seiteneinganges lag ein junkie im tiefschlaf, neben sich die drogenuntensilien. aufgeregt fragte ich die aufsicht, ob man nicht einen krankenwagen rufen müsse. nur ein müdes lächeln war die reaktion, ähnliches erlebte ich in berlin. sollte ich auch übersehen? muss man diese menschen machen lassen, um zeit für die hilfesuchenden zu haben?

  2. Ich weiß darauf keine richtige Antwort. Ich sehe auf meinen Spaziergängen sicher über zwanzig akut hilfsbedürftig wirkende Menschen, nicht alle davon werden es auch sein. Es ist sehr kompliziert.

  3. Ich hatte jüngst während dreitägiger „Straßenexerzitien“ einen womöglich interessierenden Erfahrungsaustausch dazu: Meine äußerst freunlichen Gastgeber hatten mehr als 20 Jahre Erfahrung darin, Obdachlose privat bei sich temporär aufzunehmen, um sie in „die Gesellschaft“ aufzunehmen bzw. „zu reintegrieren“. Viele Male ging das gut, manches Mal nicht. Als es Mal nicht gut ging, waren meine Gastgeber sehr niedergeschlagen. Die überlieferte Antwort des Heimatlosen auf ihre Enttäuschung soll sinngemäß gelautet haben: „Seid nicht traurig! Bisher musste ich immer annehmen, ich sei ausgestoßen worden, ich sei nicht erwünscht. Dank Eurer Bemühungen weiß ich nun, dass es eine ganz freie Entscheidung von mir ist, zurück auf die Straße zu gehen. Danke!“

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