Man kann so sitzen

Ich gehe abends noch einmal ziellos raus, ich brauche mehr Bewegung. Ich gehe über die Gastro-Meile im kleinen Bahnhofsviertel. Es ist voll, es ist sogar sehr voll, die Menschen sitzen draußen. Es ist, man kann das kaum anders sehen, hochsommerlicher Betrieb. Es gibt Stellen, da kommt man kaum durch, die Menschen stehen auch vor den Kiosken und trinken.

„Man kann so sitzen“, das höre ich im interessierten Vorübergehen mehrfach, „man kann ja einfach so sitzen!“ Und dann ein Strecken, ein Räkeln, als würde man in seinen eigenen Körper noch einmal überall sorgfältig hineinfühlen aber nein, der ist wirklich nirgendwo kalt. Man braucht keine Decken, die liegen in Stapeln herum und werden nicht nachgefragt und nicht ausgeteilt. Man braucht keine Jacken oder Mäntel, keine Mützen und Schals, man braucht nicht einmal einen dicken Pullover, den man aber vielleicht dennoch anhat, mehr aus Prinzip oder weil es eben die Zeit der Herbstmode ist. Man will die neuen Sachen ja auch mal anziehen und vorzeigen. „Das ist der Klimawandel“, sagt eine und zeigt unbestimmt in die Gegend, auf all die Umsitzenden, auf die Szenerie, auf den Abend an sich: „Das ist der Klimawandel, aber es ist schön.“

Einer geht gerade, er verlässt mit beiden Händen winkend eine größere Gruppe mit Freundinnen und Freunden, das gibt eine laute Verabschiedungsszene. Viele Umarmungen, Küsschen, Schultergeklopfe. „Genießt das Wetter“ ruft er im Gehen noch laut in die Runde und wendet sich dann noch einmal um, „auch wenn das der Untergang ist!“ Fröhliches Gelächter, es wird schon wieder Bier gebracht, klirrendes Anstoßen. Der Abend ist noch lang, man sitzt da sehr entspannt.

Na, aber das halte ich nur eben für die Geschichtsbücher fest. So nämlich ging es bei uns zu, im Oktober des seltsamen Jahres 2022. So wurde geredet, so wurde das hier erlebt. So hat man beisammengesessen und die Lage kundig kommentiert, und sehr kurz darauf war es schon November.

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Währenddessen in den Blogs, Ausgabe 28.10.2022

Mittlerweile bin ich einigermaßen zerfranst in den Randbereichen, also nicht immer außerordentlich konzentriert.“ Frau Novemberregen beschreibt etwas, das, so glaube ich, etliche unterschreiben können. Und hier schreibt sie im unteren Teil über Temperaturen im Großraumbüro, also über ein sich abzeichnendes Trendthema.

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Die Kaltmamsell über die Zeit mit dem meisten Geld. Ja, das ging mir auch so. Geld wie Heu damals, also gefühlt. Dieser Zustand hat sich dann nie wiederholt, das habe ich aber zu dieser Zeit nicht geahnt, ich dachte ernsthaft, das gehöre jetzt so, das sei dieses Erwachsensein. Man ist aber auch dumm manchmal.

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Wolfgang Müller über das Streaming, also über kein Geld. Sehr verständlich dargestellt.

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Über das Ende der sozialen Medien

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Herr Doktor, ich hab‘ Hybris

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Und die Vögel singen wieder am Morgen

Aus der Klimawandel- und/oder Wetterchronik – am Wochenende haben wir im Garten etwas Laub geharkt, es war in der Jacke zu warm dafür. Es war auch im Pullover zu warm dafür und das T-Shirt habe ich schließlich nur nicht ausgezogen, weil es mir wie eine ungeklärte Benimmfrage vorkam, ob man nun Ende Oktober noch mit freiem Oberkörper im Garten arbeiten kann oder nicht. Wir waren alleine, niemand sonst in den Gärten, weit und breit nicht, es fühlte sich aber auch unbeobachtet alles falsch an. Die Rosen und der Topinambur blühen noch, eine Handvoll Himbeeren gab es immerhin, letzte Radieschen in ungeheuerlicher Größe. Über uns drehten zwei Krähen und eine Elster Kreise im Postkartenhimmel und jagten sich, spielerisch sah das aus und lange ging es. Wie das Fangenspiel der Menschenkinder, noch eine Runde und noch eine, unermüdlich, laut lachend, bzw. krähend und keckernd. Im Weißdorn Eichhörnchen, Kohlmeise und Rotkehlchen, saßen da und sahen mir beim Harken zu – was der da unten nun wieder macht? Aber hübsch immerhin, wie die juwelenhaften Früchte des Weißdorns bei meinem Harken rubinrot und lustig durch das Gras sprangen. Vielleicht gefiel das auch den Dreien da oben.

Der Postzusteller sitzt am Montag auf seiner Runde im kleinen Bahnhofsviertel noch mit kurzen Hosen auf seinem Fahrrad. Auf dem Spielplatz eine Mutter in irgendwas, das die Schultern freilässt, quasi Strandmode an der Sandkiste. Die Außengastro ist weiterhin gut besucht, auch am Abend noch, es wird ringsum auch immer weiter gecornert, gut besetzte Hauseingänge und Bänke auf Plätzen. Man trinkt wieder Wodka mit Red Bull, nachdem es eine Weile nicht mehr im Trend gewesen ist. Morgens sehe ich die leeren Flaschen vor der Haustür, die Scherben, die Kippen daneben.

Der Wind, ich erwähnte es gestern bereits, ist warm, südwestwindwarm, unheimlich warm, das gehört so nicht. Und die Vögel singen wieder am Morgen, nicht nur die Amsel, auch andere Arten steigen jetzt noch einmal ein. Der Wetterbericht erhöht die Aussichten wieder auf 21 Grad, mit immerhin 19 Grad werden wir wohl in den November gehen. Finale.

Ich kaufe der Herzdame Blumen. Vor mir ein Kunde, der sich einen riesigen Strauß binden lässt, ungewöhnlich groß. Teuer wird das sein und wahnsinnig lange dauert es, bis ihm die präzise gewünschte Zusammenstellung der herbstlichen Blütenpracht gefällt, bis die Floristin endlich alles geschnitten, arrangiert und zurechtgebunden hat. Hinter uns eine Schlange, die immer länger wird, die Verkäuferin ruft schon ab und zu entschuldigend: „Das dauert hier noch!“ Einige Kunden gehen knurrend wieder, es gibt noch andere Blumenläden in der Nähe. „Schenken Sie denn von Herzen“, fragt die Verkäuferin nebenher leise den Kunden. Sie sieht ihn über ihre Brille an, als sei das eine ganz gewöhnliche Frage, und er guckt erst so, als müsse er sich da gerade verhört haben, überlegt es sich dann aber und auf einmal ist ein Leuchten in seinem Gesicht, ein Lächeln, ein leicht errötetes Strahlen, dass dann minutenlang bleiben wird: „Ja“, sagt er, „ja, das tue ich wohl.“ Sie nickt zufrieden. „Ein schöner Strauß“, sagt sie, so etwas bindet sie vermutlich auch nicht oft. So groß, so prächtig. Und dann auch noch von Herzen.

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Währenddessen in den Blogs, Ausgabe 25.10.2022

Etwas zur Rückreise von Tetiana aus Frankreich in die Ukraine, einige werden die Geschehnisse verfolgt haben.

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Die Debatte, ob „die Medien“ gestreamlined sind, ob keine gegensätzlichen Positionen mehr gehört und erzählt werden, ob alle wie eine Horde Schafe in die gleiche Richtung läuft, ob alternative Stimmen einfach mundtot und unterdrückt werden: Ja, kann man alles diskutieren. Ich kann mir gut vorstellen, dass man bei längerem Drübernachdenken zu dem Entschluss kommen kann, dass eigentlich alles tippitoppi ist, dass FAZ und taz nicht immer im Detail die gleiche Linie vertreten.

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Ein Bericht von der Apfelernte

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Ein Nachruf auf Anne von Canal. Es ist schon wieder jemand gestorben, den ich kannte, auch wenn es nur von einem gemeinsamen Leseabend war. Ihre Bücher kann man weiterhin lesen, und was die Anzahl derjenigen in meinen Timelines betrifft, die in diesem Jahr das Posten dort und anderswo unfreiwillig und final eingestellt haben, noch einmal das Drosten-Zitat: „Ja, ist gut jetzt.“

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Winds in the east

Ich befinde mich nach wie vor wohlig zufrieden in meiner künstlich zurechtgefilterten Dark-Arcademia-Autumn-Halloween-Pumpkinspice-Chopin-Area auf Instagram und Tiktok, es ist ausgesprochen nett und freundlich dort. Und ein wenig dunkel, das ist es natürlich auch, aber eben auf die heimelige Art. Man kann dort auch sehr schön langsam entgleisende Muster beobachten, das ist eine reizvolle und auch tiefsinnige Freizeitbeschäftigung. Ich will das einmal exemplarisch schildern.

Es beginnt mit irgendeinem Beispielfilm, den können Sie sich bitte kurz vorstellen, das reicht vollkommen aus. Ein Filmchen, in dem sich etwas im Wind bewegt, sagen wir Zweige vor einem Wohnzimmerfenster, am besten in der Abenddämmerung, am besten auf dem Lande, in schönster Zwielichtstimmung. Dazu halber Singsang in seltsam vertrauter Melodie: „Winds in the east …“ Ostwind also, damit wird es eine bestimmte Bewandtnis haben, Ostwind ist etwas Besonderes. Okay.

Schnitt.

Dann irgendwas mit Nebel, es könnte etwa ein abendlicher Hauch über ein Bächlein wehen, nur so ein angedeutetes Huschen, ganz kurz, man kennt das aus Gespensterfilmen, dazu wieder die Stimme, die jetzt nicht mehr singt, sondern eher sachlich feststellt: „Mist coming in.“ Und das versteht sich von selbst, dass aufziehender Nebel in irgendeinem erzählerischen Kontext stets etwas verheißt, was auch immer. Der Sprecher oder Sänger (Dick van Dyke) greift dann auch vor, er kündigt Kommendes an: „Like somethin‘ is brewin‘ and ‘bout to begin.” Es wird viel passieren, siehe auch Marienhof. Es ist aber noch nicht klar, was passieren wird: „Can’t put me finger on what lies in store”, da kommt dann die Melodie wieder, aber es wird einerseits etwas sein, das man vielleicht fürchten muss, jedenfalls den Lyrics nach: „But I feel what’s to happen all happened before”, und andererseits – wenn man sich die Original-Szene ansieht, aus der das Zitat kommt, sieht man doch das freudige Grinsen im Gesicht des Straßenkünstlers, Improdichters und Schornsteinfegers und man weiß eh, es geht um Mary Poppins, die als finstere Gruselhexe nicht recht in Betracht kommt. Was soll schon kommen, eine weitere liebreizende Szene wird es sein, und so ist es im Film dann auch, Chim-Chiminey.

Ein netter Soundschnipsel, eine nette Erinnerung auch, und irgendwie, wenn auch nicht zu Ende gedacht, ist das also grob passend in Richtung Herbst, Halloween etc., die sich auch jedes Jahr wiederholen, all happened before.

Nun machen das viele, viele Menschen nach, dieses Filmchen in solcher Machart, wer auch immer damit angefangen hat. Mit eigenen Mitteln und eigenen Szenen, mit eigener Kulisse wird nachgedreht. Sie halten also das Handy aus dem Wohnzimmerfenster, filmen Bäume, Hecken, Gras und was nicht alles, wenn es sich nur im Wind bewegt, wenigstens minimal. Der erste Take ist noch leicht, das findet man. Manchmal sieht es schon arg bemüht aus, das dürre Gras am Straßenrand, die Landschaft, der man den Wind nicht recht ansieht, weil nur die Wolken allzu langsam ziehen, aber es will noch angehen.

Dann wird es aber deutlich schwieriger: Mist coming in. Das ist nun ein Problem, denn die Wetterlage ist in vielen Gegenden dagegen. Trockener, goldener Oktober, keine Spur von Novembernebel, von mystischer Herbststimmung, von wabernden Ahnungen – nichts davon. Strahlender Sonnenschein, es ist deutlich zu warm. Und da filmen die Menschen nun Ersatz, etwa Wolken, die ihnen grob verwandt vorkommen, die sind doch auch irgendwie Dunst. Es gibt also Filmchen, da sieht man zweimal irgendwas, einmal etwas fast ohne Wind, einmal etwas ohne Nebel oder Dunst, aber dazu auf jeden Fall dieser Sound, denn man wollte ja mitmachen.

Einige sind rührend bemüht, etwas Stimmungsvolles zu suchen, einige halten einfach ihr Handy in die Gegend, anders ist es nicht mehr zu erklären, oder filmen sich selbst mit neckischem Hexenhut auf und gucken verspielt böse. Ein Meme weicht auf und zerbröselt und „Winds in the east“ ist am Ende einfach nur noch irgendein Herbstsatz, den man etwa ab Oktober reflexmäßig aufsagt. Und warum auch nicht, wir singen zu Weihnachten ja auch etwas von Schneeflöckchen, obwohl es längst nicht mehr schneit. Die Sinnfrage stellt sich nicht, die nach Traditionen schon.

Und nun ist es natürlich so, dass es egal ist, ob der Sinngehalt der Ursprungsszene aufweicht, und es auch komplett egal ist, was man da filmt – es stimmt doch immer. Selbstverständlich können Sie jederzeit eine Ahnung haben, kurz innehalten und an Kommendes denken – und dann kommt auch was. Pandemien und Kriege brechen aus, die Polkappen schmelzen ab und die Milch wird schlecht. Sie verlieben sich in die Nachbarin oder umgekehrt, Sie rutschen auf Laub aus und … und immer so weiter. Vielleicht zieht auch tatsächlich einmal Nebel auf und auf eine gewisse Art ist selbstverständlich alles Wiederholung, es ist nur eine Frage der rechten Betrachtung.

Ich hätte diese Sätze zum Beispiel summen oder denken können, als ich gestern ganz normal auf den Fahrstuhl in unserem Haus wartete, denn als die beiden Metalltüren zur Seite glitten, sah ich in der Kabine Drogenkonsum in flagranti, ausgeführt von einer älteren und fortgeschritten heruntergekommenen Frau, die Märchenfilmhexen nicht unähnlich sah, so geht es hier nämlich zu. Something is brewing about to begin, und zwar jederzeit und überall.

Mein Hirn neigt nun dazu, gewisse Catch-Phrases auf Endlos-Repeat zu stellen, ich werde daher vermutlich noch wochenlang vom Ostwind reden, vom Nebel und davon, dass etwas passieren wird.

Und Recht werde ich haben, so viel steht fest. Obwohl hier eher ein Südwestwind weht, und was für einer – unangemessen warm ist der, fast unheimlich warm, bedrohlich geradezu und was steht im Wetterbericht: „bei gering bewölkten Phasen leichte Nebelneigung´“ Also bitte. Mist coming in.

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Eine Dankespostkarte

Rückseite

Ich habe zu danken für „Das Schweigen der Frösche“ von Pauline de Bok, Deutsch von Gerd Busse. Nature Writing, das Buch kommt ohne erdachte Handlung aus, das passt mir gerade gut. Bevor sich jemand aber auf allzu Feinfühliges einstellt – die Frau ist Jägerin, ihre Beziehung zur Natur ist daher teilweise, nun, zupackend. Aber ich lese derart Beobachtendes, Beschreibendes im Moment mit Vorliebe, ich lerne auch etwas dabei, vielen Dank dafür!

Und apropos Naturbeobachtungen, es gab auch das Buch Trockenhelden. Es war in diesem Sommer nicht schwer zu erkennen, dass man derartige Lektüre jetzt dringend braucht. Danke!

Und natürlich, wo ich schon beim Dank bin, freue ich mich weiterhin über alle Beträge, die mich für mein Schreiben via Paypal oder per Überweisung erreichen, ich möchte aber stellvertretend für alle doch zwei hervorheben, weil es im Betreff die ersten ihrer Art waren. Dort stand nämlich als Verwendungszweck in dem einen bei der Summe: „Heizkosten.“ Das ist überaus nett und auch zeitgemäß, und ich finde es fast bedauerlich, dass ich das nicht sofort und exakt in tatsächliches Heizen umrechnen kann – wäre das nicht großartig? Diese Stunde Gemütlichkeit wurde sponsored by Leserinnen. Eine schöne Vorstellung: Mit klammen Fingern in der kalten Kammer schreiben, endlich posten – dann erst die Heizung aufdrehen: „Das habe ich uns verdient. Ich habe uns auch heute wieder warmgetippt.“ So spitzwegmäßig. Über so etwas fantasiere ich ausgesprochen gerne und die Handwerkerabstammung ist da stark in mir, ich möchte tatsächlich immer etwas gemacht haben, und sei es nur ein so lapidares Werkstück wie ein kurzer Text.

Zum anderen wurde ausdrücklich ein weiterer Inflationshaarschnitt finanziert, ich komme also vermutlich gepflegt und gestriegelt über den Jahreswechsel.

Auch dafür vielen Dank, wie selbstverständlich auch für alle anderen Beträge mit oder ohne Betreff.

Vorderseite

Das heutige Bild ist schnell erzählt, da es lapidar und ein wenig lieblos ist, um es gleich zuzugeben, was aber daran liegt, dass ich es gar nicht gemacht habe, sondern ein, nehme ich mal an, Innenarchitekt. Also er hat es jedenfalls in Auftrag gegeben, denke ich mir. Stellen Sie sich bitte ein Stück Fototapete vor, halbe Schrankwandgröße, auf Karton oder Plastik gezogen und laminiert, von insgesamt etwas billiger Optik, Massenware. Darauf abgebildet Buchrücken mit historischer Anmutung, dicht an dicht, wir sehen also ein Buchregalimitat. Die Bücher sind aber auch nicht einmal fotografisch echt, es sind vielmehr nur Buchdarstellungen, bei denen man nicht einmal Titel oder Autorin erkennen könnte, sie sehen auch alle gleich aus, wie gebundene Jahrgänge einer juristischen Fachzeitschrift, in die niemals jemand sehen wird – so etwas in der Art. Und zwar in Blassblau, also auch noch ausdrücklich unaufdringlich, beruhigend, harmlos. Ein Bibliothekssurrogatextrakt, man soll im Vorbeisehen irgendwie diffus „Bücher“ denken oder ahnen, auf keinen Fall aber mehr.

Interessant ist nun natürlich, wo das hängt oder eher klemmt, wo ich es im Vorbeigehen gesehen habe, nämlich auf meinem Arbeitsweg. Dort wurde an der hier schon öfter erwähnten spektakulär hässlichen Riesenkreuzung, an diesem entsetzlich abstoßenden Stück Verkehrsbrache mitten im urbanen Nichts zwischen zwei Stadtteilen, mal eben ein neues Hotel hochgezogen und eröffnet. Ich nehme ohne genauere Kenntnis an, dass es mittelklassig ist, wieder so etwas für Geschäftsreisende, die es also doch noch oder schon wieder gibt. Und in diesem Neubau gibt es im Lobbybereich Sesselchen, vor die man so etwas wie Kaminzimmermöbelattrappen gestellt oder gehängt hat, Illusiönchen von getäfelten Wänden und Gemütlichkeit. Dazwischen dann die oben beschriebene Fototapete, mehrfach, so als Versatzstück und Ersatz für alle denkbaren Möglichkeiten echter Besinnung. Als Hauch viktorianischer oder gutsherrlicher Anmutung, weil es eben von der Kulisse, der Dekoration und dem Zubehör her insgeheim doch die gute alte Zeit war, was immer uns die Moderne seit hundert Jahren erzählen und verkaufen will, und weil dieses heimelige, warme Kaminzimmer im Pub im schöneren Teil einer englischen Grafschaft in nicht näher benannter Kutschenvergangenheit der Ort ist, an den wir eigentlich wollen, während wir leider doch wieder nur für eine Nacht in Hamburg-Hammerbrook absteigen und irgendeinen Projektscheiß machen, statt Abende lang entspannt ins langsam runterbrennende Feuer zu starren, während Frauen oder Männer wie Charles Dickens oder Elizabeth Gaskell erzählen und erzählen und sich Schicksale vor uns betont langsam entfalten, denn wir Zuhörer haben ja Zeit.

Immerhin aber gibt es ja dieses Stück Fototapete für unsere manchmal aufflackernde und seltsam unzeitgemäße Sehnsucht. Das ist nichts. Es ist nur fast nichts.

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Inflationsschnitt

Ich war beim Friseur, ich fragte nach Preiserhöhungen. Die seien gerade noch in Diskussion hieß es. Man überlege außerdem, etwas Beleuchtung abzuschalten, denn ob man all diese Lichter hinter den Spiegeln wirklich brauche … und man könne vielleicht auch die Handtücher ohne Maschinen trocknen, einfach auf Wäscheständern. Nachts. Wie früher, da ging das ja auch. So stehen vermutlich gerade überall Menschen vor Geräten und Lichtern und überlegen und prüfen und rechnen. In Disney-Filmen hätten die Geräte grimassierende Gesichter, weit aufgerissene Augen, ein deutliches Beben und Bibbern im Blech- und Plastikkörper, und sie würden ängstlich hoffen, doch bitte in Betrieb bleiben zu dürfen. Aber nichts da, es ist Zeit für den Winterschlaf und dann Nahaufnahme, die Hand am Stecker, die pure Vernunft.

Ich ging mit einem Inflationsschnitt nach Hause, noch rechtzeitig vor den neuen Preisen, und vom Look eher näher an Brecht als an Precht. 

In den Aldi-Märkten im Norden werden die Öffnungszeiten verkürzt, sie schließen dann den Winter über schon um acht Uhr abends. Es scheint niemanden zu geben, den das stört, jedenfalls nicht in meinem Umfeld. Im Gegenteil, es können ruhig alle Geschäfte so schließen, wer braucht denn die Läden nach acht Uhr? Die sind doch eh alle gähnend leer um diese Uhrzeit? Eine Nachricht ohne jedes Aufregungspotential, das gibt es ja heute kaum noch. Das jetzt in jedem Smalltalk mal anbringen, die Übereinstimmung genießen.

Es gibt ein Geräusch weniger in meinem Alltag, unten auf dem Spielplatz wird am späten Nachmittag kein Tischtennis mehr gespielt, kein Ping mehr, kein Pong in der Dämmerung. Die Platte ist jetzt durchgehend mit gefallenem Laub bedeckt, man müsste erst etwas fegen, bevor man dort spielen kann, das macht niemand. Das Laub liegt dicht an dicht auf der Platte und sieht aus wie eine Tischdecke. Etwas spießiges Design allerdings, Herbstlaub in Braun und Beige und Blassorange, Linden- und Eichenblätter, naja. So etwas hängen Großmütter über Gartentische, und wenn es vererbt wird, dann wird es kurz darauf auch schon dezent entsorgt, bei aller Pietät.

Ich telefoniere, es geht um einen Weihnachtstext, es ist wieder so weit. Ich gehe noch einmal los, Mandarinen und Lebkuchen kaufen, ich muss mich einstimmen. Im Wetterbericht steht währenddessen noch etwas von zwanzig Grad, wie geht das zusammen. Soll man sich über die Wärme freuen wegen der Heizkosten, soll man sich fürchten wegen des Klimawandels, soll man sich ärgern wegen der jahreszeitlichen Stimmungsverfehlung, soll man nachsehen, ob es in der Ukraine auch noch warm ist, die haben immerhin noch viel weniger Strom als wir. Was ist richtig, wer blickt da durch. Alles erst einmal aufschreiben. Was sonst. Die Temperaturen bleiben bis in den November hinein deutlich zweistellig, es sei immerhin festgehalten. Und die Amsel singt am Morgen weiter so zartschmelzend, dass man eine schwere Saisonverwirrung diagnostizieren möchte. Zumindest beim Vogel, wenn nicht bei uns allen.

Veronika, der Herbst ist da.

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Währenddessen in den Blogs, Ausgabe 19.10.2022

Luise, ich bring dir hier ding zwei Bälch

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Eine neue Monatsnotiz von Nicola, wie immer besonders empfehlenswert für den Freundeskreis Podcast.

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Ein Status-Update zu deutschsprachigen Buchblogs

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So jedoch geht Demokratie in die Tonne. So geht’s nicht weiter.“ Jochen über den Wahlkampf in Michigan.

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Nun kam die Prinzessin aber an ein Schloss …

Ich mache am Morgen das Radio an, einen Nachrichtensender. Ich weiß nicht, liegt es an mir oder höre ich wirklich, was ich höre, aber die Betonung der Sprecherinnen und Sprecher auf diesem Sender wird seit Monaten immer kindgerechter, wird immer mehr zu diesem Bilderbuchvorlesetonfall, den alle Eltern zuverlässig kennen. „Nun hat der Kanzler ein Machtwort gesprochen“, und da ist mir schon zu viel Melodie am Satzanfang, das klingt doch wie bei „Nun kam die Prinzessin aber an ein Schloss …“, und bei dem Wort Machtwort bläht sich die Betonung dann kräftig auf, weil es ja groß und eben sehr mächtig ist, das Machtwort, es wird also langsam und in überdeutlichen Großbuchstaben gesprochen, wie in „die Hexe rief einen mächtigen Zauberspruch“, so ein wirksames Machtwort war das nämlich und ich mache das Radio entnervt wieder aus, ich fühle mich schon wieder wie gestern beim Bäcker. Bin ich in meinem Alltag oder bin ich in der Bärchengruppe der Kita.

Vielleicht werde ich auch einfach nur immer empfindlicher. Was weiß ich.

Zu den Langzeitfolgen von Covid können kognitive Beeinträchtigungen gehören, das weiß man mittlerweile. Das ist natürlich nur eine nette Umschreibung fürs Dümmerwerden. Was für ein Science-Fiction-Roman-Setting das ist, nicht wahr, wir werden alle langsam immer dümmer und merken es natürlich nicht, eben weil wir es werden, deswegen passt die kindgerechte Betonung im Radio am Ende vielleicht sogar perfekt in die Zeit. Alles ganz genau aussprechen, alles mit viel Satzmelodie, sonst schnallt keiner mehr irgendwas. Nun liebe Kinder, gebt fein acht, ich hab euch etwas mitgebracht, die Nachrichten. Aber wenn ich doch merke oder ahne, dass ich dümmer werde, ist das doch recht schlau, und ich werde es also erwiesenermaßen nicht?

Nur wer es vehement abstreitet, der ist davon betroffen, so wird es nämlich sein. Besser gleich alles zugeben, besser gleich sein Licht unter den Scheffel stellen, wie wir früher gesagt haben, denn dann leuchtet es heute umso heller.

Ich bin so dumm, du bist so dumm, wir wollen sterben gehen, kumm. Auch mal wieder Morgenstern lesen. Steht sogar im Regal! Gesammelte Werke, guck an. Jahre nicht gesehen, dieses Buch, noch aus meiner Antiquariatszeit ist es. Und kann es jetzt, ich sagte es gestern bereits ähnlich, bitte endlich November werden, ich habe dieses lockende Rausgehwetter dermaßen satt, ich will hier nur sitzen und lesen, echtjetztmal. Ab und zu das Radio anmachen und einen überbetonten Wetterbericht hören, „es kommt ein mächtiges Tief“, und ich sehe dabei vor mir, wie der Sprecher eine Kasperlepuppe schwenkt, die Puppe der Wetterfee ist es, sie droht mir mit dem Finger, ich soll nicht rausgehen.

Und dann die Decke hochziehen und liegenbleiben. Ich glaube, das wäre sehr schlau.

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Kürbis, Zimt, Chopin

Beim Bäcker gibt es Schnecke Agathe, Mira Maracuja und Franz im Glück, ich kann das alles nicht bestellen. Bin ich in einer Bäckerei oder bin ich im Kindergarten, man will doch noch Unterschiede wahrnehmen. Ich möchte normale Brötchen und ich sage das auch. „Na, wie heißen die denn?“, fragt die Fachverkäuferin neckisch und zeigt auffordernd auf die Schilder an den Körbchen mit den Backwaren. Man kann auch einfach jeden Tag Toast frühstücken, denke ich, andere machen das immer so, jahrelang, das geht. Toast gibt es in jedem Supermarkt, und am Regal steht einfach „Toast“ und nicht „Willi Weichbrot“ oder so etwas. Glaube ich jedenfalls. Hoffe ich. Das mal überprüfen, schon wieder ein To-Do, so wachsen sie mir zu.

Auf Instagram sehe ich mir Filmchen an, Reels, wie sie dort heißen. Der Algorithmus spielt mir zwei zu, die musikalisch mit „It’s beginning to look a lot like Christmas” unterlegt sind, Menschen tragen darin glücklich lächelnd bunte Geschenkkartons durch ein malerisches New York, es schneit. Ich lege das Smartphone wieder weg. Draußen ist noch bestes Oktoberwetter, wir sind im Herbst, nicht im Winter, also bitte. Ich gehe runter an die Alster und filme kurzentschlossen selbst ein Reel. Wie so ein Mensch, der alle Kreativitätsratgeber gelesen hat.

Ich gehe nach Hause, ich poste den Film, freundlich wird er beherzt. Ich sehe mir weitere Filmchen an, diesmal auf Tiktok, heute ist mein Bewegtbildtag. Ich habe da neulich bei irgendetwas auf das Herzchen getippt, bei dem ein Kürbis zu sehen war, seitdem bin ich in einem Dark-Academia-Autumn-Pumpkin-Edinburgh-Harry-Potter-Kitsch-Loch, und ich finde es schön da. Auch mal die Weltflucht zulassen! Dampfende Teetassen vor ledergebundenen Büchern aus den letzten Jahrhunderten, junge Menschen in Vintage-Klamotten mit fortgeschritten spießigen Pullundern, Regen an den Scheiben, Nebel über Wiesen vor Kirchenruinen. Dazu Chopin, immer wieder Chopin, außerdem Brownies und irgendwas mit viel Zimt, alles im flackernden Kerzenlicht– warum auch nicht. Es ist zu früh für den Dezember, aber in Richtung November kann man ja mal vorfühlen.

Ich bestelle mir einen Pullunder. Ruhig auch mal Marketingopfer sei, aber eben bewusst, aber eben immer Topchecker dabei bleiben. So geht das. Den letzten Pullunder, den ich hatte, erbte ich von meinem längst verstorbenen Großonkel Gustav, der damals noch den Zeppelin bei der Landung in Hamburg auf der Schulter getragen hat, also nicht alleine natürlich, wie bei Treffen immer wieder erzählt wurde. Oder war es beim Start. Ein dunkelroter Pullunder war das jedenfalls, Jahrzehnte ist es her. Ich hätte ihn auf einmal gerne wieder. Ich hätte beide gerne wieder, den Pullunder und den Großonkel.

Meine Mutter hat Essen für uns gemacht, ich hole es bei ihr ab. Es gibt Bohnen mit Speck. Niemand außer mir isst hier Bohnen mit Speck, aber sie hat für vier Personen gekocht. Ich esse Bohnen für vier, bin danach allerdings nicht mehr gesellschaftsfähig, ziehe mich zurück und gucke nur noch Filmchen. Es regnet in Edinburgh und alle Menschen sind sehr schön und geheimnisvoll, dazu wabert ein Soundtrack über der Stadt, das man weiß, es passiert gleich Wunderbares. Ach, wäre ich doch in Edinburgh. Ach, läge doch ein Kürbis auf meinem Schreibtisch. Seufze ich genüsslich vor mich hin.

Ich lese später die Dörte Hansen durch, Zur See, ich finde es gut. Ich lese Wolfgang Kohlhaase weiter, Erfindung einer Sprache, ich finde es auch gut.

Ein seltsamer Tag ist das, mit einer verdächtig wohligen Grundstimmung. Da muss man misstrauisch werden, vielleicht werde ich krank oder so. Aber dieser Tag geht auch vorbei, singe ich leise, denn der Mensch braucht ein Mantra. In der Küche liegen noch die letzten Kürbisse aus dem Garten, sehe ich beim Zubereiten des Abendkaffees. Die morgen mal eben versuppen, und dann die Suppentassen so neben einer halb heruntergebrannten Kerze arrangieren, die olle Shakespeare-Gesamtausgabe dezent ins Bild ragen lassen, Chopin abspielen …

Also meinetwegen kann es November werden, es ist in Ordnung.

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