Goldene Momente

Hier, ein Video von Kiki: Escaping the social media trap. (And it’s all true.)

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In den Kommentaren zu meinem letzten Text wurde auf Facebook ASMR erwähnt, das wird sicher nicht jedem etwas sagen. Clemens Setz hat einmal etwas darüber geschrieben, und wenn Sie jetzt auf Youtube zum ersten Mal danach gucken sollten, Sie finden da hochgradig erstaunliches Zeug. Wenn Sie etwas weiter suchen, wird es noch entschieden seltsamer, versprochen. Natürlich wirken diese Videos in der von Clemens Setz beschriebenen Weise nur bei einigen wenigen Menschen. Bei mir z.B. wirken sie nicht oder jedenfalls nicht in der intendierten Weise. Bei mir wirken sie wie diese Fokus-Playlists auf Spotify, die ich brüllend ausstellen möchte, und das ist ja wirklich nicht erstrebt. Ich habe dennoch vor einer Weile ein paar dieser ASMR-Videos gesehen, aber es war doch eher die Faszination des Schreckens. Wenn es nicht wirkt, wirkt es eher seltsam.

Ich kann aber etwas in der Richtung beisteuern, da ist sogar auch eine körperliche Reaktion dabei. Es ist kein Kribbeln oder etwas in der Art, aber es ist doch immerhin ein Schönheitsempfinden, das irgendwie auch den Bauch erreicht und das vor allem sehr entspannend wirkt, weil kurz – viel zu kurz! – alles richtig ist. Dazu brauche ich Kopfhörer, Musik, die mir sehr gut gefällt und ich brauche, das ist dann der Teil, bei dem es verdammt schwierig wird, eine Stadtszene, in der die Bewegungen mehrerer oder im Idealfall sogar aller Passanten und/oder aller sich bewegenden anderen Elemente im Bildausschnitt genau zum Rhythmus des Songs passen. Das klappt gar nicht so oft, aber manchmal eben doch. Vielleicht sogar über mehrere Takte! Das ist dann schon fast perfekt, ein goldener Moment.

Ich nehme an, das ist ein Folgeschaden meines exzessiven MTV-Konsums als junger Erwachsener. So etwas bleibt doch sicher nicht ohne Folgen, wenn man diese Clips jahrelang wie ein Junkie verbraucht, statt sich sinnvoll zu beschäftigen. Im Grunde gehe ich nach all den Stunden vor dem Bildschirm mit dauerlaufenden Musikvideos vermutlich unbewusst davon aus, dass Szene und Ton gefälligst harmonisch zu passen haben, dann ist es nämlich richtig, dann gehört alles so und ist sinn- und planvoll. Wobei man sich natürlich an den heute völlig unfassbar  erscheinenden Umstand erinnern muss, dass wir damals nicht vorspulen konnten. Wir haben also stundenlang alles gesehen, auch den übelsten Müll, auch Last Christmas, immer wieder und immer in der Hoffnung, irgendwann doch noch das sehen zu können, was wir gerade gut fanden. Und es hat sich auf diese Art alles recht tief eingeprägt, möchte ich meinen.

Wenn ich heute morgens im Hamburger Hauptbahnhof stehe und am Gleis gegenüber der Regionalexpress aus Lübeck einläuft, wenn aus dem die vor Müdigkeit wankenden Pendler aussteigen und die ersten drei Figuren das zufällig im richtigen Takt meiner Musik tun, dann, so deute ich das jedenfalls, bin ich ganz kurz in einem Video und mein innerer Jugendlicher bebt mal eben ergriffen. Und das soll er auch ruhig tun, er hat ja sonst nichts mehr zu melden.

Ein Glas auf Ray Cokes! Ist zwar nur Wasser, aber egal. Die Geste zählt.

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Und außerdem bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

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Die geschenkte Zeit

Die Herzdame und ich haben heute den 15. Hochzeitstag. Läuft. Oder, wie die Herzdame es ganz untypisch ausdrückte: “Immer noch die große Liebe.” 

Die Söhne schenkten uns Zeit, wir konnten zu zweit in ein Restaurant gehen. Das haben Sie neulich schon einmal gemacht, da kamen wir beide abgehetzt von der Arbeit und fragten, was denn jetzt wieder zu tun sei und wer mit wem wohin und so, da saßen sie da gechillt auf dem Sofa und sagten ganz ernsthaft : “Nichts. Geht Kaffee trinken oder so. Wir brauchen Euch hier nicht, es ist alles gut.”

Wir saßen dann kurz darauf irritiert, erfreut und amüsiert im Café vor ausgezeichneter Mandelkaramelltorte. Auch an diese Phase müssen wir uns erst gewöhnen. 

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Ich habe gerade eine etwas überladene Woche im Büro, zur Erleichterung habe ich versucht, mir während der Arbeitszeit irgendwelche Spotify-Playlists mit “Focus” im Titel anzuhören, also so deepes Konzentrationszeug, das war ganz schrecklich. Als ob eine Frau mit viel zu sanfter Stimme, eine Ersthelferin in der Psychiatrie oder etwas in der Art, einem tief in die Augen sieht und betont freundlich und sehr deutlich sagt: “Jetzt beruhigen Sie sich doch erst einmal.” Es macht mich, wie soll ich sagen, spontan eskalationsbereit. 

Das funktioniert also nicht, da höre ich doch lieber weiter monumentales Georgel von Bach. Ich finde, Bach klingt nach Konzentration.

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Keine bezahlte Werbung und kein Partnerlink, nur ein freundlicher Hinweis: Ich benutze als Notizbuch gerade etwas mit dem seltsamen Namen Filzduett in freundlichem Grau, und das ist sehr gut. Falls Sie auch Notizbuchjunkie sind, das dann mal probieren, es liegt hervorragend in der Hand. Und hier übrigens noch Kritzeleien von Kafka, apropos Notizbuch. 

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Ein Nachtrag zum Wochenende. Auf dem Weg vom Garten nach Hause (wir haben Hochbeete versetzt, eine sehr befriedigend Arbeit) fährt Sohn II auf Inline-Skates, und zwar macht er das auf eine Art, die bei mir für Rückenschmerzen sorgt. Bei Ihnen vielleicht auch gleich, wer weiß, ich beschreibe Ihnen das mal. 

Und zwar müssen Sie sich vorstellen, Sie haben ja Fantasie, dass Sie da so ganz zwanglos auf Inline-Skates einen Fußweg entlang fahren, der ist breit und eben und menschenleer, darauf kann man wirklich prima fahren, top Bedingungen, gutes Wetter auch. Jetzt stellen Sie sich bitte weiter vor, wie Sie sich beim Rollen langsam und mit ausgestreckten Beinen nach vorne beugen. So lange beugen Sie sich, bis ihre Handflächen den Boden berühren können, die Handflächen, wohlgemerkt, nicht etwa nur die Fingerspitzen. Weil sie das also können und wo Sie mit den Händen schon einmal da unten sind, machen Sie mit den Händen einfach mal schwungvoll krabbelnde Bewegungen, wobei Sie feststellen werden, dass Sie, wenn Sie die Beine nur breit genug auseinander spagatiert bekommen und geschmeidig genug in der Wirbelsäule sind, auf diese Art erstens recht lustig und zweitens auch noch ziemlich flott vorankommen, also wenn Sie denn auch ausreichend Kraft in den Armen haben.

Sohn II zumindest kommt auf diese Art vorwärts wie ein seltsames Rieseninsekt auf Speed, er kann sich auch zwischendurch einfach so wieder aufrichten, lachend und winkend, während mir allein vom Zusehen so ziemlich alles wehtut, was mit Muskeln und Gelenken zu tun hat, was ja eine ganze Menge ist. 

“Guck mal Papa, guck mal!”

“Ich sehe es“, sage ich stöhnend und halte mich weiter aufrecht, sehr aufrecht. 

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Musik! Suburban kids with biblical names, wenn das kein schöner Bandname ist.

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Und außerdem bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte. 

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Der Morgen – gerne wieder

In Hamburg ist übrigens Klimawoche, da kann man auch mal hingehen.

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Für diese Gesellschaft ist das jeweils erreichte historische Maximum jederzeit das unabdingbare Minimum, ohne das wir hier, ja was, zusammenbrechen?” Viele Stellen drin, bei denen man noch etwas weiterdenken kann.

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Fotos aus Japan (Via Kathrin Klette auf Twitter)

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Ich höre weiter Alexander von Humboldt, die Ansichten der Natur als Hörbuch, mittlerweile hört da ein Sohn sehr angetan mit. Das ist abends schön beruhigend, sich von Südamerika damals erzählen zu lassen, das macht angenehm müde und klingt dabei noch so lehrreich. Und während das Kind fasziniert zuhört, wie die Indianer Curare zubereiten, denke ich über praktische Anwendungsbeispiele im Alltag nach. Ich mache ja keine Ballerspiele, ich muss das mit den Aggressionen zumindest im Kopf und in der Träumerei irgendwie anders lösen

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Im Garten haben wir noch zwei Hokkaidos und zwei Zucchinis geerntet, erstere werden in Kürze versuppt. Es warten noch zwei Kürbisse im Garten, dann war es das aber auch schon, gesamt waren es jetzt sechs. Das reicht mir noch nicht, das reicht noch lange nicht, damit kommt man ja mit vier Personen nicht allzu weit. Das Kürbisprogramm muss dringend weiter ausgebaut werden, ich mache da im Winter einen Plan und hänge mir dann nächstes Jahr LPG-mäßige Motivationsposter in die Laube. Man muss das doch wohl zweistellig schaffen? Schafft zehn, zwanzig Hokkaidos!

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An der U-Bahn-Haltestelle kurz vor dem Garten hängen große Werbeposter, die werben für den Religionsunterricht (“Dein Religionsunterricht”) und für den Tag der Deutschen Einheit. Beides ist mir einigermaßen rätselhaft. Man hat hier in der Schule keine Wahl, man muss zum Religionsunterricht, der übrigens von Lehrerinnen gegeben wird, die in der Kirche sein müssen, was ich auch einigermaßen fragwürdig finde, aber das nur am Rande. Was gibt es da denn bloß zu bewerben? Glaubt irgendwer im Ernst, dass auch nur eine Schülerin beim Anblick eines Plakats plötzlich den tieferen Sinn dieses Unterrichts so dermaßen durchdringt, dass sie die nächste Stunde dann gar nicht mehr abwarten kann? Gibt es auch Poster für Deutsch und Mathe, was bitte soll das? “Dein Kunstunterricht – Come in and create.” Hm. 

Das Poster für den Tag der Deutschen Einheit fragt, ob ich mich auch schon freue. Ich stehe davor und sage: “Nein”, denn ich rede öfter mal mit Dingen und bin dabei recht direkt, ich denke immer, Dinge können das ab. Deutsche Einheit gut und schön, ich würde ohne die viele großartige Menschen nicht kennen, aber der Tag ist mir doch vollkommen egal. Ein Staatsfeiertag eben, da werden die tätig, die damit offiziell beauftragt sind, der Rest hat frei und mit Glück einen Brückentag, das führt dann in der Tat zur lebhaften Freude. Ändert da Werbung etwas? Freust du dich schon, was für eine höchst seltsame Frage. Das dann bald auch zum Reformationstag, seid ihr schon aufgeregt? Und dann kreischen alle. 

Mir kommen beide Werbeaktionen so dermaßen sinnlos vor, man könnte meinetwegen auch Wochentage oder Tageszeiten auf diese Art bewerben. Etwa den Morgen, denn das ist doch eine wirklich tolle Tageszeit, echtjetztmal, so ein Morgen ist super, gerne wieder, der Morgen hat jederzeit eine ganz große Kampagne verdient. 

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Musik! Niels Frevert. Und der Herr Bunger, der auch, und der via Isa auf FB. 

 

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Und außerdem bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte. Aber ist es nicht verblüffend? Er ist immer noch da. Ab und zu fällt es mir auch auf. 

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Die Verkehrsmeldungen

Bei HONY wieder eine ganze Romanhandlung in einem kurzen Beitrag.

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Warum es Wasser zum Kaffee gibt. (Via Petra auf Twitter)

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Währenddessen geschieht hier auf den Straßen Seltsames, ganz so, als würden diverse Meldungen aus den Medien in der Stadtmitte zuspitzend und geradezu volkstheaterhaft inszeniert. Zum einen sehen wir mehr und mehr ganz neue SUV-Modelle, noch einmal größer und barocker als die Vorgänger, schier riesige Kutschen, unfassbar eigentlich, monströs, gigantisch. Wie drehbuchoptimiert gibt es auch immer mehr kleine Szenen, in denen diese Autos in den kleineren Nebenstraßen nicht mehr aneinander vorbei passen oder Kurven nicht mehr richtig zu nehmen in der Lage sind oder an Garageneinfahrten scheitern, die noch in den Zeiten des Fiat Panda gebaut worden sind. In Artikeln wird wieder und wieder auf das Sicherheitsgefühl verwiesen, das diese Ungetüme ihren Insassen ermöglichen, ich frage mich, warum dann der Fahrersitz immer noch ganz außen an der Seite ist, in der Mitte müsste man darin doch sitzen, in der Mitte, da ist es ganz klar am geschütztesten. Und dann natürlich auch etwas erhöht, damit die Rundumsicht noch besser wird, dann erst wäre alles richtig und hier, noch ein Vorschlag – apropos Barock. Wenn so ein SUV schon eine dermaßen verschwenderische Nutzung der Gegenwart ausstrahlt, wären nicht dezente Memento-Mori-Applikationen eine schicke Ergänzung? Könnte man nicht Gebeine und Schädel, meinetwegen auch stilisiert, rundum am Fahrzeug anbringen, verchromt und alles, aber doch so, dass die Vergänglichkeit ständig mitfährt? So Vanitas-Gelöt? Ich würde das gut finden. Oder warten Sie, eine günstigere Variante, die auch der Tatsache gerecht wird, dass man mit einem Auto immer ein potentielles Mordgerät fährt, standardmäßig sollte ein Betrachtungssärglein mitgeliefert werden, das dann am Rückspiegel baumelt wie früher der Wunderbaum, wäre das nicht etwas? Ja, Betrachtungssärglein, so heißt das.

Zum anderen brausen gefühlt jeden Tag noch mehr getunte Superbrummer um die Blöcke, Sportwagen der allerhöchsten Leistungs- und Tuningklasse, die ihren Sprit laut schlürfend in Tempo-30-Zonen vergurgeln. Die sorgen hauptsächlich für Geräusch, und dieser Sound wabert dann so durch die Straßen und die Bebilderung erfolgt durch die SUVs, in der Kombination ergibt das so eine Endzeit-Ausstrahlung, kurz bevor die Autos verschwinden, kurz vor dem Untergang, muss alles, alles noch einmal gezeigt und vorgeführt werden. Vielleicht ist es das.

In einer Nebenstraße fährt eine Radfahrerin, die Straße ist eine Einbahnstraße, Radfahrerinnen dürfen da aber auch in beiden Richtungen fahren, das ist hier in fast allen Einbahnstraßen so, wenn nicht sogar in allen. Da aber für die Autos die Einbahn angezeigt wird, sehen die keinen Grund, den entgegenkommenden Menschen auf Rädern auszuweichen, nein, keine Handbreit dem Radgelumpe! Sie lassen es also darauf ankommen, sie sind im Recht und wer im Recht ist, der darf andere auch umbringen, das kennt man schon aus Western, das ist richtig so. Ein Auto kommt der Radfahrerin entgegen und weicht also nicht aus, nimmt keine Rücksicht, wie es jetzt Standard ist. Es fährt ihr im Gegenteil sogar in den Weg, weil es in eine Garage gesteuert werden soll, der Fahrer denkt dabei gar nicht daran, die Radfahrerin durchzulassen, die gehört da nicht hin, die soll weg. Die Radfahrerin wird sauer und hat doch irgendwie auch Rechte, meint sie jedenfalls, sie weicht also auch nicht aus und es kommt fast zum Crash, der Autofahrer bepöbelt die Radfahrerin aus dem Fenster als Fotze und die schlägt in höchster Wut im Vorbeifahren aufs Auto, aus dem der Fahrer springt wie ein röhrender Schachtelteufel und die Enteilende am Gepäckträger festhält. Ich stehe am Straßenrand und frage höflich, ob ich vielleicht die Polizei? Der Autofahrer sieht mich an und nickt begeistert, ja, die Polizei, toll! Guter Mann! Ich kläre ihn auf, dass ich die eher für die Dame, nicht aber für einen Verkehrschaoten wie ihn zu holen gedenke, da ist er baff, was mangelt es mir auch an männlicher Solidarität? Hält der Kerl da im Ernst zu der Schreckschraube? Betroffen guckt er mich jetzt an, ja, das beschreibt es am besten, betroffen ob der Ungerechtigkeit der Welt und auch ob meiner Schlechtigkeit. Denn er fuhr doch in der richtigen Richtung, er konnte da also machen, was immer er wollte und die Dame und ich belehren ihn erst einmal, belehren ihn wie die bürgernahen Beamten die Grundschüler auf dem Schulhof. Wisst ihr, was dieses Schild bedeutet, liebe Kinder? Na? Ja, fein!

Am Ende trennt sich alles knurrend und ohne weitere Eskalation, aber wie knapp das immer ist! Wie kurz vor Ohrfeigen und Tritten und purer Barbarei. Es nervt erheblich.

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Musik! Bedouine.

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Kurz und klein

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Grünmantel von Maurenbrecher

 

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Den folgenden Text wollte ich im Mai schreiben, wenn ich das noch richtig erinnere. Ich kam dann gründlich davon ab und erst jetzt wieder dazu, im Zuge meiner andauernden Aufräumarbeiten, die sich übrigens mittlerweile doch langsam dem Finale nähern. Ich kann dann, darauf freue ich mich jetzt schon, wenn ich endlich alle Rückstände in nahezu sämtlichen Lebensbereichen abgearbeitet habe, final feststellen, dass das unterm Strich auch nichts besser machen wird. Also das nehme ich jedenfalls an, bescheiden wie ich bin, aber ich bin auch wirklich gerne bereit, mich vom Gegenteil überraschen zu lassen. 

Ich muss zwei Anmerkungen vorweg schicken, zum Mann und auch zum Land. Denn erstens kenne ich Manfred Maurenbrecher erfreulicherweise persönlich und bin auf eine schon geradezu unhanseatische Art Fan von ihm und seinen Liedern, was also heißt, wenn Sie ihn live irgendwo mitbekommen können, dann gehen Sie da ruhig hin, das lohnt sich. Der Song hier unter diesem Absatz kam schon zweimal im Blog vor. Das macht aber nichts, ich kann den öfter hören, da ist immerhin etwas von dem drin, wie ich selbst schreiben, bloggen und die Welt sehen möchte. So in etwa möchte ich das wahrnehmen, was vor dem Fenster ist, das Lied bedeutet mir also etwas. Zweitens kenne ich das Land Brandenburg, in dem der Roman Grünmantel spielt, nicht einmal ansatzweise und habe überhaupt Ahnung von der Gegend. Was aber nicht an einer Abneigung gegen östliche Landesteile liegt, wie man heute vielleicht schon eilfertig betonen muss, ich kenne auch Rheinland-Pfalz oder Baden-Württemberg nicht, vom Saarland ganz zu schweigen und überhaupt, ich bin kein Kenner dieser Republik, wirklich nicht. Ich fühle mich im Grunde schon in Hamburg-Rahlstedt eher fremd, meine Unkenntnis Brandenburgs beweist also gar nichts. leiten Sie daraus bitte nichts ab. 

Pardon, erst der Song, dann geht es gleich weiter.

Manfred Maurenbrecher beschreibt in dem schmalen Band das Leben in einem brandenburgischen Dorf, ganz hinten kurz vor Polen liegt es. Wobei er so dicht webt, dass man das Personenregister ganz hinten im Buch gut gebrauchen kann. Ich möchte Autor und Verlag dafür ausdrücklich lobpreisen, denn ich bin ein flüchtiger und unregelmäßiger Leser und weiß das sehr, wirklich sehr zu schätzen, wenn man Orientierungshilfen gibt und wäre äußerst angetan, wenn möglichst alle Romane mit vernünftigen Registern erscheinen würden. Ich habe Kinder und Berufe, ich lese also nicht am Stück und habe nach zwei Tagen mit großer Sicherheit vergessen, wer denn nun wieder die Nebenfigur Klaus aus dem vorigen Kapitel war. Aber mit Register – großartig. 

Der Autor webt also dicht und auf zweihundert Seiten erstaunlich handlungsreich, dabei beschreibt er Figuren, die so unwahrscheinlich sind, dass sie fast schon echt sein müssen. Denn fiktive und auch echte Personen können sich selbst in ihrer Unwahrscheinlichkeit sozusagen umrunden und stehen dann auf einmal glaubwürdig wie nur je ein Max Mustermann vor uns. Was natürlich daran liegt, dass die Wirklichkeit de facto skurriler ist als die von uns permanent hochgerechnete Normalität, was übrigens eine Tatsache ist, die sich jedem erzählenden Menschen sofort erschließt, nehme ich jedenfalls an. Und es gibt Autorinnen und Autoren, die diese Abwegigkeit des Alltags so exakt und nuanciert treffen, dass man sie glaubt und mit den entstandenen Bildern gerne weitermacht – so wie in diesem Buch also stelle ich mir jetzt brandenburgische Dörfer vor, zumindest bis ich selbst einmal dahin fahre.

Leicht abzubilden ist die Skurrilität des Echten dabei ganz und gar nicht, es ist eher schwierig, das so anzupeilen, dass man das Buch nach der Lektüre zuklappt und sich denkt, ja, so in etwa wird es sein. Wenn es zu brüllend komisch ist, dann klappt das nicht, wenn es zu sehr Karikatur ist, dann klappt es nicht, wenn es zu bitter satirisch oder zu niedlich und grinsepitttoresk ist, dann klappt es auch nicht. Es braucht dafür vermutlich einen Erzähler, einen Beobachter, der das mag, was er sieht, und der seinen Figuren, allen seinen Figuren, genug Würde lässt. Ohne Würde werden alle nur zu Abziehbildern, und von denen liest man nicht gerne.

Na, das ist nur meine Sichtweise. Sie können das natürlich ganz anders bewerten. Aber dazu müssten Sie das Buch lesen, was ich sehr empfehlen möchte. Ausgesprochen gerne zweimal gelesen.

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Und außerdem bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte. 

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Drei Stunden nach Mitternacht

Die Natur ist nicht mehr die zeitlose Bühne, auf der die Zivilisation ihren Fortschritt inszeniert, im Gegenteil: Sie konfrontiert die grenzenlose Welt nun mit deren Endlichkeit.

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Nicole Seifert über das Werk der Sagan, die ich auch sehr schätze.

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Es macht mich traurig, wie dumm wir sind. Kollektiv verhalten wir uns wie ein Schwarm dämlicher Goldfische.” 

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Dicke Bretter bohren

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Das Tagebuch von Renia Spiegel

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Da spricht ja mein Vater!

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Bitte nur noch 5 Minuten

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Was vom Tage übrig bleibt

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Den Fahrer geht das Außen nichts an, er ist nicht mehr von dieser Welt.

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Neulich haben wir Termine nachgerechnet und wieder überlegt, was wann sein kann, und die Herzdame sagte, als sei das ganz selbstverständlich: “Das ist dann also um 27 Uhr.” Was, wenn man etwas länger drüber nachdenkt, gar kein lustiger Versprecher ist, sondern eher ein Symptom.

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Apropos Symptom, mir ist ein Symptom des Älterwerdens aufgefallen. Es hat nichts mit körperlichem Verfall oder irgendwelchen seniorigen Gebrechen zu tun, es geht da eher um Erfahrung und Zeit. Es erfordert recht bedacht auch gar kein bestimmtes Alter, es könnte tatsächlich auch bei Menschen auftreten, die viel jünger viel sind als ich, es war mir bisher einfach nur noch nicht aufgefallen. Um es zu schildern, muss ich etwas tun, was ich bei anderen hasse, nämlich einen Traum erwähnen. Ich weiß nicht recht warum, aber ich kann Schilderungen von Träumen nicht ausstehen, vielleicht ist es noch ein Folgeschaden der damaligen Dallas-Serie, die Älteren verstehen schon. Allerdings geht es auch gar nicht um ein Geschehen, das en detail zu berichten wäre, es geht nur um ein Gefühl. Um das Gefühl nämlich, das man hat, wenn man einen Menschen, den man seit Ewigkeiten nicht gesehen hat, im Traum überraschend wiedersieht und alles ganz außerordentlich gut und erfreulich ist. Also richtig, richtig nett, gesteigert natürlich noch durch den nostalgischen Touch der Begegnung, denn man war sich doch einmal schon nahe, über eine lange Zeit auch, man weiß also im Prinzip sehr gut wie Vertrautheit geht und kann in diesen altbekannten Zustand nach einem kleinen Moment sogar zurückfinden, und dann gehen die Erinnerungen und die Gegenwart ineinander über, das ist ein Gefühlsakkord der besonderen Art. Und weil es schon einmal so vertraut war, so jahrelang geübt und alltagserprobt, ist die Begegnung selbst bei einer eher zahmen, aber doch nicht ganz zu leugnenden erotischen Komponente auch nicht wild und ungestüm, sondern fast schon beruhigend und tröstlich. Es passiert auch eigentlich gar nichts weiter, es erinnert alles nur irgendwie an eine Zeit, die zumindest in einer Hinsicht, nämlich bezogen auf genau diesen Menschen und die Situationen mit ihm, dann doch besser war als heute und im Aufwachen noch kommt kurz der Gedanke, warum das eigentlich nicht so geblieben ist, wo ist man da eigentlich abgebogen und hätte man nicht? 

Das ist dann aber ein Gedanke, der schnell vom plötzlich wieder einsatzbereiten Geist revidiert und korrigiert wird, denn es hätte so ja gar nicht bleiben können, bei aller Verbundenheit nicht, ist dieser andere Mensch da doch schon seit vielen Jahren tot.

Auch das gehört zum Älterwerden also dazu, dass man so aufwacht. 

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Musik! Glenn Close mit “Send in the clowns”, also mit einem der schönsten und bittersten Lieder überhaupt. Ein anbetungswürdiger Auftritt, echtjetztmal. 

 

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Und außerdem bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte. 

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Die Sache mit dem Brett

Allmählich drängt es, endlich vom Urlaub zu erzählen, bevor der Anblick da draußen ganz ins Herbstliche kippt und mit meinen Sommermomenten niemand mehr etwas anfangen kann. Also mitten rein und einfach mal die Sache mit dem Brett erklärt, es ist eine Geschichte speziell für den Freundeskreis Zufall. 

Exkurs: Mein Verhältnis zum Zufall ist ein seltsames. Ich habe schon mehrfach erzählt, dass die Arbeit damals im Antiquariat für so dermaßen viele hochgradig sinnvolle Zufälle gesorgt hat, es hätte vom Grad der geschickten Verwicklung her gleich für mehrere Fantasy-Romane gereicht, und ich bin mir recht sicher, dass andere Menschen in der Branche dies sofort unterschreiben würden. Gleichwohl ist das Leben gemeinhin kein Fantasy-Roman und alle Schul- und Allgemeinbildung verweist selbstverständlich in ebenso großer wie zweifelsfrei überzeugender Klarheit auf die Tatsache, dass es sinnvolle Zufälle nicht geben kann – oder doch nur im Rahmen der Wahrscheinlichkeitsrechnung, und so groß ist dieser Rahmen nun nicht. 

Dazwischen hängt man dann mit der Summe seiner Jahre und merkt, wie sich in einem Erfahrung und Verstand kopfschüttelnd gegenüber stehen, sie stehen da so herum and agree to disagree. Und da wir manchmal eben doch nur für die Schule und nicht fürs Leben lernen, verbleibe ich für den Moment mit nur einer mir möglichen Erkenntnis zum Thema Zufall – es gibt solche und solche. Oder sagen wir, um es doch lieber etwas zurechnungsfähiger aussehen zu lassen: Es gibt solche, die für Geschichten taugen, und es gibt die anderen, die niemanden interessieren. Exkursende.

Wir haben zu Beginn der Sommerferien den Söhnen einen Wunsch erfüllt und einen Dreierkajak gekauft, zwar nur einen aufblasbaren, den aber doch in guter Qualität. Das ist natürlich auch schon wieder erklärungsbedürftig, merke ich gerade, wieso denn nun ein Dreier für vier Buddenbohms? Es hat sich bei den vorhergehenden Testfahrten ergeben, dass vier Buddenbohms in einem Boot keine gute Idee sind, denn vier Dickköpfe, die steuern und herumkommandieren wollen, das ergibt keine sinnvolle Mannschaft, kein Kapitänspatent und leider auch keine zurückgelegte Strecke. Das gilt bei uns sowieso, wir sind in jeder Kombination zu zweit und zu dritt wirklich gut einsetzbar, wer auch immer mit wem, zu viert aber eher nicht. Es hat uns auch nur ein paar Jahre gekostet, das erstens einzusehen und zweitens auch einigermaßen alltagstauglich umzusetzen, allmählich läuft es immerhin. Daher also die vielleicht seltsam anmutende Idee, ein Dreier würde für uns schon reichen. Einen Dreier kann man auch gut zu zweit fahren, dann hat man mehr Platz für Gepäck und Zuladung, ein Dreier ist natürlich auch billiger als ein Vierer, es gab nichts als Vorteile.

Ich habe diesen Kajak gekauft und nach Hause geschleppt, er ist zusammengefaltet als klobiges Paket so schwer, dass man nach dem Transport wochenlang keine Lust mehr auf Wassersport oder irgendeine andere Bewegungsart hat, aber egal. Wir haben ihn in den Garten verfrachtet und uns darauf gefreut, mit den Kindern spaßige Touren die Bille entlang zu machen. Ja, mach nur einen Plan!

Währenddessen hatten andere Kinder in der Gartenkolonie Stand-Up-Paddle-Boards geschenkt bekommen. Die Söhne waren mit denen auf der Bille und hatten Spaß, nein, sie hatten enorm viel Spaß. So viel Spaß hatten sie mit den Brettern, dass es für sie schon nach wenigen Stunden gar nicht mehr vorstellbar war, auch in einem Kajak Spaß haben zu können. Wie konnten sie denn überhaupt nur jemals so etwas haben wollen? Einen konservativen, total spießigen und oberlangweiligen Kajak, auch noch mit stets rechthabenden Eltern darin, also wirklich, alleine der Gedanke! Was hatte sie bei diesem Wunsch bloß geritten? So ist das, wenn Wünsche durch neue und natürlich viel bessere Wünsche überlagert werden und Vorsicht, wer da jetzt voreilig die Stirn runzelt, denn entweder erinnert man sich an so etwas auch aus der eigenen Kindheit oder man war womöglich nie Kind. Was interessieren mich meine Wünsche von gestern, es soll auch Erwachsene geben, denen das nicht ganz fremd ist, habe ich gehört.

Aber hier galt es natürlich, dem Drängen des Nachwuchses freundlich und bestimmt Einhalt zu gebieten. Das Leben ist kein Wunschkonzert und was es da noch so an großmütterlich anmutenden Sätzen gibt. Diese Sätze hat auf irgendeine Weise jeder in seiner Kindheit erlebt und erlitten. Auch Verzicht und Geduld müssen eben gelernt werden, Erziehung ist mitunter ein äußerst mühsames Geschäft. Die Herzdame und ich verkündeten also ohne lange Bedenkzeit den elterlichen Richterspruch, pädagogisch wertvoll wie ein Schulbuch und in felsenfester Überzeugung ausgedrückt, ganz wie es sein soll ohne jede Verhandlungsbereitschaft: “Nein, wir kaufen kein SUP-Board, ganz sicher nicht, es sei denn, das Geld fällt vom Himmel.”  Denn so ein Board kostete im Sommer immerhin so ziemlich überall dreihundert Euro. Da hört der Spaß finanziell auf, so etwas kauft man nicht einfach so und nebenbei und die Spardosen der Söhne gaben das auch nicht her. “Ich bin ja nicht Krösus”, da ist man schon wieder bei solchen Sätzen, manchmal entkommt man denen über Tage nicht mehr. Die Botschaft fanden die Söhne ganz und gar nicht gut, das kann man sich leicht vorstellen. Ich sah daher allmählich schwarz für unsere lustige Kajakfahrten. Wie vertrackt kann so etwas sein? Immerhin, so dachte ich, wenn die Söhne erst ausgezogen sind, dann können die Herzdame und ich zu zweit und ganz in Ruhe … Na, man hat so Illusionen.

Am nächsten Tag kam ein Brief mit einem unerwarteten Honorar, es waren genau dreihundert Euro. Ich bin froh, dass der Rest der Familie das so bezeugen kann, es waren alle dabei. Man könnte natürlich fragen, wie es so etwas wie ein unerwartetes Honorar überhaupt geben kann, aber das ist eine andere Geschichte. Da kamen also tatsächlich, darauf kommt es nur an, dreihundert überraschende Euros, die wir selbstredend, man soll sich an seine eigenen Verkündungen unbedingt halten, umgehend in ein SUP-Board umgewandelt haben, auf dem die Söhne dann tagelang Spaß hatten. Wobei ihr Spaß übrigens gar nicht darin besteht, auf dem Brett elegant Strecken zurück zu legen. Der Spaß besteht eher darin, mit dem Ding absichtlich zu kentern, wieder aufs Brett zu gleiten und dann wieder runter und noch einmal rauf und dann zu zweit noch einmal, zu dritt, zu viert, wie viele Kinder auch immer gerade da sind. Es macht schon Spaß, ihnen dabei nur zuzusehen.

Später habe ich es dann auch probiert, runter vom Brett und wieder rauf, es sah bei den Kindern so gut aus und einladend aus, das war aber im Ergebnis etwas überraschend. Denn das geht gar nicht leicht, das sieht nur bei kleinen Menschen leicht aus. Wenn man aber ausgewachsen ist und so im Wasser herumschwimmt und dann versucht, auf ein treibendes Brett zu kommen – erinnern Sie sich noch an Antje, das Fernsehwalross? So in etwa. 

Wie ich immer sage, kein Tag ohne Demütigung. 

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Und außerdem bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte. 

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Hundert fröhliche Kinder

Lang und detailreich über SUV

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Die Tagebücher von Victor Klemperer als Hörspiel

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Währenddessen findet schönster September statt, hier etwa das Katzengold der Herbstsonne auf dem früh gefallenen Laub an der Mauer des Spielplatzes. In echtere und weitere Natur habe ich es in letzter Zeit leider nicht geschafft. 

 

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Abends fährt ein Auto unsere Straße hoch, ein Cabrio, aufgemotzt und frisiert wie sonst etwas. Die Autoposer werden seit Wochen in der Innenstadt immer auffälliger, da fahren jetzt vermehrt auch Ferraris, Maseratis etc. herum, es gibt hier immer wieder Beschleunigungsangebereien in den 30er-Zonen ringsum und vor allem vor dem Hauptbahnhof, wo es schön viele Leute nervt. Dieses durchgestylte Cabrio hier fällt aber vor allem durch laute Musik auf, nicht durch den überstarken Motor. Das ist natürlich nicht irgendeine Anlage, die wurde vermutlich von Profis entwickelt und verbaut und kann wirklich etwas, die kann, wie man hört, etwa ein ganzes Stadtviertel beschallen. Allerdings hört der Fahrer nichts mit viel Bass, Bass, Digger, er hört auch keinen hochgradig versauten Rap oder irgendeine abgefahrene Form des Aggro-Speed-Metals, der Fahrer hört vielmehr in unfassbarer Lautstärke gregorianische Gesänge. Und dabei auch nicht eine der weichgespülten instrumentalisierten Versionen, die man heute auch ab und zu in Hotelfahrstühlen oder auf Spotify-Playlists findet, die irgendwas mit “Chill-” im Titel haben, nein, da läuft der wahre Stoff, das alte Zeug. Und zufällig sehe ich in der Sekunde der Vorbeifahrt gerade aus dem Küchenfenster, sehe Kirchturm und Mond und Wolken und eine eilig vorbei fliegende Krähe in immerhin halber Dunkelheit und höre dazu also einen Choral oder was auch immer das genau war, ich kenne mich da gar nicht aus, aber für eine Sekunde passt das jedenfalls alles unfassbar gut zusammen. Immerhin. 

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Eine kleine Begebenheit noch, geradezu unglaubwürdig gleichnishaft, aber wie ich immer sage, so isse eben, die olle Wirklichkeit, die hat es nicht so mit den Regeln der Ästhetik und des Stils, die haut plump einfach rein und überzeichnet, wie es ihr passt, da sind Karikaturisten gar nichts dagegen. Ich bringe einen Sohn zur Schule, da ist Treffpunkt für die Klassenfahrt. Herumtobende Kinder, Kofferberge, eine kreischende Aufgeregtheit in der Luft, man möchte auf gar keinen Fall Lehrer sein. Dem Sohn fliegt etwas ins Auge, das ist ein natürlich saublöder Zeitpunkt für so etwas. Er hat nun wirklich anderes vor, aber es ist dann doch ein einigermaßen dringliches Vorkommnis, darum müssen wir uns kümmern. Ich sehe nichts im Auge, aber das beweist nichts, weil Nahbereich und Alter. Ich bitte also andere Menschen um Begutachtung, die sehen dann schon etwas, die Beseitigung gelingt ihnen aber nicht, das Ding ist hartnäckig. Das Auge tränt und tränt und wird rot. Ich erkläre, dass dieses auch richtig sei, Tränen spülen so etwas irgendwann raus und schlimm sei das alles ja nicht, spätestens mit einem Wasserhahn sollte man es in den Griff bekommen können, oh Fülle der Lebensweisheit. Das nützt dem Sohn natürlich überhaupt nichts, denn das Auge tränt immer weiter und es ergibt sich dabei dummerweise folgendes Bild – hundert Kinder tollen fröhlich herum und freuen sich auf die Reise, eines sitzt neben seinem Vater am Rand und heult. Das heult in Wahrheit zwar gar nicht, wie ich jederzeit gerne bezeugen kann, das hat nur etwas im Auge, aber jede vorbeigehende erwachsene Person nähert sich mit lebhaften Ausdrücken des Bedauerns und des Mitleids, einige sind dabei auch noch so halb amüsiert, ach Gott, was hat das arme Kerlchen denn? Das Kerlchen wird, wer könnte es nicht verstehen, allmählich immer wütender, das hat ja immerhin auch einen Ruf zu verlieren, aber die Wut sieht man ihm leider auch gleich an und diese Mischung aus Tränen und Wut sieht in der Folge eher noch problematischer aus und es dauert eine Ewigkeit, bis sie endlich alle abfahren und er das Problem dann irgendwann alleine löst. So etwas löst sich ja immer nach einer Weile und ist dann gar keine Erinnerung mehr wert.

Aber auf dieses eindrückliche Bild – hundert fröhliche Kinder, eines heult – wäre ich vermutlich selbst auch reingefallen und ich habe mich zumindest kurz gefragt, wie oft man wohl auf eine ganz ähnliche Art völlig kenntnislos in seiner Einschätzung scheitert. 

Na, man muss es nehmen, wie es kommt, das gilt auch für die banalen Belehrungen aus dem Alltag mit Kindern. 

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Musik! Thelonious Monk.

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Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte. 

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ICE München – Hamburg, abends vor vier Jahren

Ich sehe gerade, ich habe 2016 etwas von alten Notizen geschrieben, die ich noch verbloggen wollte, das habe ich aber vermutlich nie gemacht, ich kann mich zumindest nicht daran erinnern. Und wenn ich es doch gemacht haben sollte, dann macht das auch nichts, das weiß ja schon wieder kein Mensch mehr. Diese Notizen verarbeite ich also jetzt. Sie merken, ich ziehe das Aufräumjahr nach wie vor durch, und wie ich das durchziehe. Auch aus den letzte Ecken der Regale fallen mir dabei noch alte Notizbücher entgegen, halb gefüllt, dreiviertel gefüllt, mit nur einem Satz darin, in allen Varianten. Es sind in diesem Fall Notizen, die vielleicht trotz der verstrichenen Zeit nicht schlecht geworden sind, es geht da um eine Zugfahrt von München nach Hamburg. Das ist eine Zugfahrt, die bei uns ein jährliches Ritual ist, immer nach dem Südtirolurlaub fällt die an, und wie das bei Ritualen und Traditionen so ist, wenn man darüber in dem einen Jahr etwas schreibt, dann ist es drei oder vier Jahre später nicht zwingend ungültig und entwertet, siehe auch Weihnachten, Sie kennen das. In diesem Jahr war das weiter unten erwähnte Bier zur Abwechslung und kraft neuerer Beschlüsse alkoholfrei, das schon – aber sonst? Die Zugfahrten geraten mir in der Erinnerung ohnehin durcheinander wie die Gedanken kurz vorm Wegdösen irgendwo in der Mitte des Landes, während man im ICE an Städten vorbeifährt, die man gar nicht recht kennt, und deren Namen nicht immer so klingen, als sei es überall besser, wo ich nicht bin. Aber was weiß man schon als Durchreisender?

Die Reisenden dämmern langsam weg, jeder auf seine Art. Hände an Wangen, Stirne auf Fäusten, verrutschte Brillen und derangierte Frisuren, sinkenden Zeitungen, Bücher auf Halbmast und auf den Tischen nicht zu Ende gegessene Brötchen, die nach zwei, drei weiteren Stationen allmählich nicht mehr gut aussehen oder sogar auf dem Boden liegen werden. Der Zug wackelt sacht und das Land rauscht in der Dämmerung vorbei, es ist sehr ermüdend. Einer liest Zeitung, einer liest etwas auf dem Handy, eine macht ein Kreuzworträtsel. Einer erstellt eine Powerpointpräsentation über Schlagbohrmaschinenmarketing, das ist wohl sein Beruf und er sieht gar nicht unglücklich dabei aus, denn dem Menschen ist wirklich fast alles möglich. Eine liest einen Krimi, der in Bozen spielt, das sieht man auf dem Titelbild. Eine im Teenageralter guckt etwas auf Youtube, lacht sich bemüht leise kaputt und sieht ab und zu auf die Eltern, die ihr gegenüber sitzen und sie die ganze Zeit todernst ansehen. Zwei Kleine gucken Bernard und Bianca auf einem Tablet. Einer hört Element of Crime über Handy und Kopfhörer und schreibt dabei einen Blogeintrag mit Kuli in ein Notizbuch, und das geht auch. 

Element of Crime schrammeln von Kaffee und Karin und der Zug schaukelt im Takt oder doch immerhin fast im Takt, das ist eine der kleinen Freuden. Draußen wird es dunkler und die Landschaft wird flacher, im Waggon wird es kälter. Die Klimaaanlage hat da wohl etwas nachzuholen, sie ist vehement bemüht und hier und da werden Strickjacken und Pullover herausgekramt. Im Speisewagen ist es noch viel wärmer und es riecht nach Kantinengulasch, am Tresen im SB-Bereich trinken Männer mit Köfferchen neben sich Bier. Die reisen beruflich und machen mit der weiblichen Servicekraft Witzchen, die nicht zünden. “Komm mit mir woanders hin”, singt Sven Regener und ich nehme das Bier mit zum Platz.

Der Zug hält und die Reisenden wachen halb auf, strecken sich, ändern knurrend die Lage und beobachten schläfrig, wie sich die Zugestiegenen auf die letzten freien Plätze verteilen. Der Zug rollt wieder an, Hochhäuser, dann Landschaft, irgendeine Landschaft, man sieht schon gar nicht mehr hin, dann ein Tunnel und die Augen fallen auch wieder zu, das Land ist weg und alles rollt vorbei, wie in meinem Lieblingsgedicht von Heine, das Geld und die Welt und die Zeiten, und Glauben und Lieb und Treu. Die beiden Kleinen schlafen jetzt auch, Kopf an Kopf, während doch Bernard und Bianca auf dem Bildschirm noch in wilder Aktion sind, der Tag war sicher anstrengend. 

Der Zugbegleiter geht lächelnd durch den ruhigen Zug und besieht sich die Schlafenden wie ein freundlicher Herbergsvater. Vielleicht mag auch er seinen Job, das kann ja sein, thank you for travelling, das muss ja nicht immer nur als Scherz taugen.”

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Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

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