Hungrige Wölfe und junge Hüpfer

Ich übe mit Sohn II Deutsch, unbegreiflicherweise nehmen sie in der 5. Klasse gerade Märchen durch, dabei sind die Kinder da in einem Alter, in dem sie garantiert alle Märchen völlig bescheuert finden, das ist dann doch ein wenig schade. Aber egal, Lehrplan ist Lehrplan, da nützt kein Lamento. Wir machen einen Quiz zu Märchen, es gibt immerhin für alles eine App, und mit einer App macht vieles mehr Spaß. Wen hat der Wolf also zuerst gefressen, den Jäger, das Rotkäppchen oder die Großmutter? Der Sohn überlegt kurz, ich mache nebenbei eine Nachrichtenseite auf, da steht diese Schlagzeile aus Norddeutschland: “DNA-Analyse – Kein Nachweis für Wolfs-Attacke”.

Ich muss über diese Sache mit den Zufällen noch mehr nachdenken. Viel mehr.

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Erinnern Sie sich noch, als das Kind Kind war, nein, pardon, das war Handke, um Gottes willen, als Sie Kind waren, meinte ich, da sind Sie doch auch manchmal in diesem hüpfendem Gang eine Straße entlang kapriolt, jeder Schritt ein Hüpfer, nicht wahr? Oder war es jeder zweite Schritt? Ich müsste einmal probehüpfen, aber ich habe gerade gegessen und sitze so gut, lassen wir das. Egal, dieser Hüpfgang jedenfalls, Sie wissen schon. Erinnern Sie sich noch an das Körpergefühl, an diese Hops gewordene gute Laune?

Die Herzdame ist gestern am Nachmittag um die Alster gelaufen, Sohn II ist neben ihr hergehüpft, womit wir jetzt auch wissen, dass so ein Kind tatsächlich über sieben Kilometer durchgehend hüpfen kann, das ist doch auch interessant und aus erwachsener Sicht ziemlich schwer vorstellbar. Die Herzdame fand es natürlich ein klein wenig enervierend, zumal der Sohn hinterher im Gegensatz zu ihr nicht ansatzweise außer Atem war, sondern in die Wohnung stürmte und mich fragte, ob ich nicht auch noch etwas mit ihm machen könne?

Vielleicht war ich ja auch einmal so. Wahrscheinlich doch. Aber ich kann mich nicht mehr an das Gefühl erinnern, so dermaßen viel Energie zu haben, das habe ich gründlich verlebt.

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Und hier noch ein Buchtipp von Jojo (Sohn I), geeignet als Weihnachtsgeschenk für Kinder ab etwa neun oder zehn Jahren, die auf Actionbücher stehen- Moment, ich reiche die Tastatur mal an ihn weiter:

“Die Bücher wurden geschrieben von Fabian Lenk, der erste Band heißt “Darklands – Im Reich der Schatten” und der zweite “Darklands – Höhle des Schreckens”. Im Frühjahr 2019 soll auch noch Band III erscheinen, der wird dann “Darklands – Himmel in Flammen” heißen. Der erste Band beginnt, nachdem eine Naturkatastrophe die ganze Erde geschrottet hat. In Blackpool haben sich mehrere Gruppen aus Teenagern zusammengeschlossen, jede Gruppe hat ihr eigenes Revier. Raven, das ist die Hauptperson, ist ein Gruppenchef, er leitet die Deserts. Er hat seine ganze Familie verloren. Auf einmal stürmt eine andere Gruppe ihr Revier und die ganze Gang ist gezwungen, sich in einen Schutzbunker zurückzuziehen. Dann schafft es ein Mann namens Mysticon in den Bunker, obwohl überall Wachen der feindlichen Gang stehen. Mysticon erzählt, dass er Ravens Vater kannte und auch seine Zwillingsschwester, von der Raven gar nichts weiß. Das kommt Raven natürlich komisch vor, aber er hat die ganze Zeit einen Traum, in dem ein Mädchen eine Rolle spielt, ein Mädchen im Meer … Raven hat nur eine einzige Sache von seinem Vater, ein Metallröhrchen, Mysticon sagt, er weiß, wie man es öffnet und was darin ist. Er überzeugt Raven, mit zu seiner Schwester zu kommen – so fängt die Handlung an.

Die Bücher sind sehr kreativ geschrieben, es gibt immer wieder neuen Spannungsaufbau , so dass man immer wieder Lust hat, noch weiter zu lesen. Manchmal wird es auch ziemlich traurig, mir standen einmal sogar die Tränen in den Augen. Es endet aber nicht traurig, eher so, dass man den nächsten Band lesen will. Was natürlich für mich etwas blöd ist, da ich den dritten Band noch nicht lesen kann. Die Bücher sind aber als Geschenk auf jeden Fall empfehlenswert und auch gut, um Kinder zum Lesen zu kriegen. Ich finde, man muss sie haben. Sie sind einfach cool.”

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Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

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Sie können hier Geld in den nur virtuell vorhandenen Hut werfen, heute natürlich wieder für Jojo. Herzlichen Dank!

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Abendliche Figuren auf ersten Seiten

Noch etwas weiter im Charles-Dickens-Kontext, ich hatte bisher nämlich erstens noch nicht genug Zeit, die Szene von neulich bis zum Ende zu schreiben, man kommt ja zu nix. Ich habe da also abends diese beiden Herren in viktorianischer Kleidung gesehen, ich berichtete. Dann bog ich um eine Ecke und sah eine Szene, die ein heute lebender Charles Dickens vermutlich auch mit großem Interesse beobachtet hätte. Es hatte sich ein Unfall ereignet, ein Krankenwagen stand auf der Straße vor einer Ampel, blinkende Warnlichter und vorsichtig heranfahrende Autofahrer, erst einmal die Lage einschätzen, was ist da passiert? Fußgänger blieben stehen und machten lange Hälse, Radfahrer stiegen ab. Auf der Straße lag flach auf dem Rücken einer dieser Restaurantlieferfahrer in farbiger Dienstkleidung, sein Rad lag neben ihm, einen Meter dahinter die fröhlich-bunte Lieferbox, die solche Fahrer gewöhnlich auf dem Rücken haben. Die Box war nicht einmal aufgegangen, die lag da wie unversehrt, der Verschluss der Dinger taugt etwas. Ein Sanitäter kniete neben dem Fahrer, hielt eine Hand auf seine Schulter und sprach mit ihm.

Am Straßenrand stand ein Obdachloser in fortgeschritten desolatem Zustand, er zitterte und wankte, auch neben ihm stand ein Sanitäter, hielt eine Hand auf seine Schulter und sprach mit ihm. Ich bleibe bei solchen Szenen nicht stehen und starre die Leute an, ich sah das alles nur im Vorbeigehen, vermutlich war es aber so, dass der Radfahrer mit dem durch den Abend schwankenden Obdachlosen zusammengestoßen ist. Oder fast zusammengestoßen ist. Und wenn man sich fragt, welche Figuren heute bei Charles Dickens vorkommen würden, die beiden wären sicher Kandidaten für eine gegenwärtige Geschichte von ihm, diese beiden und genau dieser Moment ihres Zusammentreffens, der soziale Aspekt war ja kaum zu übersehen, und aus einem Blick auf so eine Szene konnten und können Bücher entstehen. Die zwei Männer würden bei ihm natürlich sofort Namen bekommen, Vornamen und Vorgeschichten und Schicksale, und nach drei, vier Seiten würden sie schon jeweils für eine Gruppe stehen, wären Typen geworden, mit denen es später noch spannend werden würde. Das würde man dann beim Lesen schnell erahnen, nach wenigen Seiten schon, auch wenn die Herren Hauptfiguren in diesem Augenblick, also auf genau dieser Seite des Buchs, noch lediglich herumliegen und -stehen, während rings um sie die Szene erst langsam mit Worten ausgemalt wird und auch sie selbst erst allmählich Konturen und Merkmale bekommen.

Der alte Obdachlose mit dem wirren Haar, der gar nicht sprach, der nur mit weit aufgerissenen Augen entsetzt in den Abend guckte, auf die Lichter des Krankenwagens an der Ampel vor ihm, der da immer weiter den Verkehr aufhielt. Der Mann trug eine Decke über den Schultern, vielleicht hatte der Sanitäter sie ihm gerade gereicht, vielleicht trägt er sie aber auch den ganzen Winter über. Der junge Kurierfahrer, der im Liegen probeweise ein Körperteil nach dem anderen bewegte, der schließlich vorsichtig aufstand und wie ungläubig an sich hinuntersah, alles noch heil, alles noch dran, der dann hinüber zum Obdachlosen sah. Wie gesagt, ich weiß nicht, wie es da weiterging, aber als ich ein paar Minuten und ein paar hundert Meter später das Ende der Straße erreichte, in der die Szene passiert war, überholte mich ein Restaurantkurierfahrer und sah von hinten genauso aus wie der, der da eben noch gelegen hatte, er wird es wohl auch tatsächlich gewesen sein. Der strampelt also schon weiter, dachte ich, ohne Licht und verdammt schnell über eine große Kreuzung zum nächsten Kunden, wie irre ist das denn.

Aber in einer Geschichte würde man das dann selbstverständlich genau verstehen, warum das so weiterging und nicht anders. Das ist nämlich das Gute an Geschichten, man versteht so viel. Wenn man aber einfach nur durch die Straßen geht – man versteht im Grunde überhaupt nichts.

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Zweitens finde ich es gerade sehr schön, dass wir die Weihnachtsgeschichte von Dickens hier ganz ungeplant multimedial im Familienkreis durchgehen, erst als Kinofilm, dann zuhause noch einmal in einer alten Disneyverfilmung mit Dagobert als Scrrooge, dann natürlich als Buch, vor Jahren haben wir das auch schon einmal im Theater gesehen, fällt mir gerade ein. Gestern haben wir die Geschichte in der Bücherei noch als Comic gefunden und Sohn I hat beim abendlichen Vorlesen die passenden Bilder zum Kapitel herausgesucht und Textstellen verglichen, einfach so, aus Neugier, da braucht es überhaupt keinen pädagogischen Ehrgeiz.

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Ich habe den Huxley wieder weggelegt, sein erster Roman war, bei allem Respekt, wirklich nicht sein bester. Ich lese jetzt zur Erholung wie bereits angekündigt Keyserling, “Feiertagsgeschichten”, sehr winterliche Geschichten sind da übrigens dabei. Es gibt wohl wenig Autoren, die den Winter in deutscher Sprache so nebenbei und treffend beschrieben haben wie Keyserling. Drei Sätze und man weiß ganz genau, welches Licht da war, als sie mit dem Pferdeschlitten in den Wald … Ich freue mich da immer wieder drüber. Als ob es einfach wäre, Licht zu beschreiben oder auch nur zu sehen.

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Kleine Anmerkung zur Adventszeit

“Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da sollen sie eine Weihnachtsfeier ausrichten, eine Nikolausfeier und auch eine Adventsfeier. Und sie sollen Adventskalender alle Art verfertigen und sich des Wichtelns erfreuen und viele sonstige Aktionen ersinnen.”

So oder so ähnlich muss es in irgendeiner heiligen Schrift stehen, ich kenne mich da ja kaum aus, ich erlebe nur die Auswirkungen und habe einen Vorschlag dazu, nämlich den Vorschlag eines fünfjährigen Neins. Die Idee kam mir gestern am aus Kindersicht schon späteren Abend, als ich gegen halb neun noch mit dem Online-Mathe-Adventskalender, kein Scherz, aus dem Gymnasium kämpfte. Die Seite lief nicht richtig und als sie dann doch lief, erschien uns eine elend lange Textaufgabe, die nicht in zehn Sekunden zu lösen war, nein, für die man sich auch noch erst einmal hinsetzen musste, mit Zettel und Stift und allem. Kurz davor war die ichweißnichwievielte Einladung zu irgendeinem Feierding per Mail gekommen, zu irgendeinem weiteren Besinnlichkeitsbooster eben, man guckt ja kaum noch genauer hin, so viele kommen davon.

Deswegen möchte ich vorschlagen, dass wir allen Menschen, die eine vermeintlich originelle Idee für einen weiteren Adventskalender haben, für eine wie auch immer geartete Weihnachtsaktion, für eine wie auch immer benannte Feier im Dezember, dass wir also allen, die auf irgendetwas in der Art kommen und dann an uns mit diesem leicht irren Leuchten der Organisationsfreude in den Augen eine Frage richten à la “Könnten wir nicht …”, gefolgt von ihrer wunderbaren Prachtidee, dass wir diesen Menschen ihre Fragen bitte alle kategorisch, laut und deutlich mit Nein beantworten. Etwa fünf Jahre lang.

Und dann, wenn diese fünf Jahre vergangen sind, dann macht eine dieser Ideen vielleicht wirklich mal wieder Spaß. Aber bis dahin – nein. Einfach nein. Zu viel ist zu viel.

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Zwei Herren mit Zylinder

Würde der Dichter heute leben, er wäre gewiss auch Blogger.” Über die Fontanisierung Brandenburgs. Im Rahmen des Wiederleseprojektes komme ich dann im Laufe des Winters auch noch bei Fontane vorbei, nächste Ausfahrt Stechlin. 

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Auch in Australien schwänzen die Schüler fürs Klima. Das wird weltweit noch größer werden, nehme ich an.

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Der Dickens von gestern beschäftigt mich noch etwas, auch das Gespräch mit Sohn I über den Nebel in der Weihnachtsgeschichte, denn da kriege ich doch glatt Lust, wieder mehr zu beschreiben. Wofür ich allerdings erst einmal das Haus verlassen müsste, ich sehe ja sonst nichts von der Stadt und der Welt. Da fangen die Probleme also schon an, kaum dass ich einen halben Satz gedacht habe. Schlimm.

Aber wissen Sie was, ich bin am Abend nach dem Kinofilm über Charles Dickens noch etwas durch unser kleines Bahnhofsviertel gestrolcht, ziellos und nur aus Prinzip, der Mensch braucht ja angeblich Bewegung – da kommen mir in einer kleinen Seitengasse zwei Herren in viktorianischer Kleidung entgegen. Also im Ernst jetzt, nicht zum Zwecke einer Pointe ersonnen und auch nicht dem Alkohol geschuldet, ich war stocknüchtern. Die beiden waren also aus weiß der Kuckuck welchen Gründen kostümiert, mit Zylinder und Weste und Uhrenkette und allem. Selbstverständlich denke ich so etwas augenblicklich mit dem gerade konsumierten Film zusammen, das geht ja gar nicht anders, das drängt sich auf, das wäre Ihnen auch so gegangen. Ich gehe die zehn Schritte an diesen Herren vorbei also auf einmal durch ein historisches London, so fühlen sich Dimensionslöcher an, auch interessant. Denn es ist ja so, wie in diesem Blog schon mehrfach festgestellt: Es gibt gewiss gar keine bedeutungsvollen Zufälle, das wissen wir im Freundeskreis Aufklärung und Logik ganz genau, aber man kann sie mit Geschichten doch geradezu erschreckend gut herbeizaubern.

Ich hätte den Herren nachgehen sollen, was? Zu spät.

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Am Morgen des Montags ist es unziemlich warm für Dezember, dazu schüttet es unaufhörlich, ein fast vergessener Anblick und ein ungewohntes Geräusch. Regen, der Blasen wirft, das gibt es ja heute kaum noch. Wenn der Regen Blasen wirft, so hieß es in meiner Kindheit immer, dann hört er gleich wieder auf. Das hat schon damals nicht gestimmt, das stimmt auch heute nicht, es regnet immer weiter, und wie es regnet. Die Menschen steigen nass, fluchend und schwitzend in die S-Bahn zum Arbeitsplatz, feuchte Winterjacken, tropfende Schirme und zerstörte Frisuren, dazu ein Geruch wie seit drei Wochen nicht gelüftet. Mir gegenüber löst ein Mann mit einem Kugelschreiber Kreuzworträtsel in einer Zeitschrift, das Blatt ist nass und die Schrift daher kaum zu lesen, verlaufende Spuren von blauen Buchstaben. “Großer Rätselspaß” steht über der Seite und der Mann sieht überhaupt nicht, also wirklich nicht im allergeringsten so aus, als hätte er auch nur ansatzweise Spaß, er sieht eigentlich auch nicht so aus, als hätte er jemals irgendeinen Spaß gehabt, nicht an diesem Morgen, nicht gestern, nicht in den letzten Jahren. Unglücksrabe mit elf Buchstaben senkrecht: Werktätiger.

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Im Büro steht ein Kollege in der Küche am Fenster, sieht hinaus auf den dunklen Hof und schimpft über das Wetter, weil er dabei keinen Sport machen kann. Ich lobe das Wetter, weil man so gut dabei lesen kann. Dann sehen wir uns an und respektieren freundlich unsere Fremdheit, wozu wir sehr schlechten Kaffee trinken.

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Im Supermarkt am Nachmittag:

Kundin: “Stehen sie an der linken oder an der rechten Kasse an?”

Ich: “Ich stehe links. Immer schon.”

Kundin: “Und zu Weihnachten besonders? Das ist recht so, junger Mann!”

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Beim Kinderarzt gehört:

“Ich möchte auch wie du von Ast zu Ast springen, sagte der Elch.”

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In einer U-Bahn sitzt mir ein Rentnerpaar gegenüber. Er redet unaufhörlich leise schimpfend vor sich hin, sie legt ab und zu eine Hand auf sein Knie und lächelt verbindlich. Als ich mich zu ihnen setze, erklärt er gerade, dass sie das – was auch immer, das habe ich verpasst – zu DDR-Zeiten noch in Mülltonnen verbrannt hätten. Er spuckt jedes Wort aus, so wütend ist er. Verbrannt hätten sie das! Verbrannt! Wie den anderen Müll! Er hat ein Problem mit dem Magen, er muss dauernd aufstoßen, es klingt ein wenig so, als würde er seine Wut hinausrülpsen. Also regelrecht verpönt war das jedenfalls – was auch immer, ich erfahre es nicht – damals in der DDR. Verpönt! Er sagt, dass jetzt ja alles ein Saftladen sei, ein elender Saftladen! Und der könne ruhig zusammenbrechen, alles könne ruhig zusammenbrechen, oder nein, noch besser, es solle sogar ruhig zusammenbrechen. Er nickt jetzt heftig und bäuert mehrmals nacheinander. In dieser Stadt hier, so sagt er, seien genau eine Million Menschen über, eine Million! Er sieht mich dabei an und ich habe das unangenehme Gefühl, dummerweise auch zu dieser Millon zu gehören, nicht zum auserwählten Rest, der sich durch was auch immer auszeichnet, vielleicht durch Magenprobleme.

Die Frau sieht mich ebenfall an, lächelt und schüttelt ganz sacht den Kopf. Nett sieht sie aus.

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Der richtige Nebel

Die ganze Familie war im Kino, “Charles Dickens – der Mann, der Weihnachten erfand”, ein Film über die Entstehung seiner Weihnachtsgeschichte. Wer schon jemals Geschichten geschrieben hat, wird an dem Film mit Sicherheit einen ganz eigenen Spaß haben, alleine die Szene, in der die Figuren des Buches unzufrieden im Arbeitszimmer des Dichters sitzen, ihn kritisch ansehen und an der Handlung herumnörgeln – schon schön. Und Christopher Plummer als Scrooge ist eine hervorragende und äußerst passende Besetzung.

Sohn II: “Ich fand den Anfang des Films gut und das Ende und alles dazwischen. Dass mit dem kleinen und kranken Tim fand ich bewegend, und dass mit den Armen war sehr traurig. Es ist aber richtig, so etwas in Filmen zu zeigen, damit man auch an die Armen denkt und sich Mühe gibt, gut zu sein. Oder besser zu sein. Ich war noch nie in einem so traurigen Film, aber ich finde es jetzt sehr toll, dass ich ihn gesehen habe.”

Sohn I: “Ich fand das auch gut, dass Charles Dickens sich für Arme engagiert hat und ich sehe gerne Filme, die in älteren Zeiten spielen, mit den Kostümen und Kulissen und so, das finde ich interessant. Der Film ist ab etwa zehn oder elf Jahren geeignet, für Erwachsene ist er aber auch gut.”

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Den Band von Orwell lese ich nicht zu Ende, der ist mir gerade zu negativ. Die Wiederlesewahrscheinlichkeit ist außerdem gering, der kann also weg. Jetzt kommt ein nicht ganz so bekannter Huxley, sein erster Roman: “Eine Gesellschaft auf dem Lande”. Aus dem Englischen von Herbert Schlüter.

Nebenbei wird auf vielfachen Wunsch abends im Kinderzimmer die Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens vorgelesen, das ist nach dem Film natürlich naheliegend. Und wie Sohn I ganz richtig feststellt: “Der konnte ja mal richtig gut beschreiben.” Wir haben uns darüber noch etwas unterhalten und gemeinsam festgestellt, dass etwa Nebel, der in einem Buch beschrieben wird, nur richtig gut dargestellt ist, wenn man beim Lesen die Decken unwillkürlich fester um sich zieht. Und es nebelt sehr in der Weihnachtsgeschichte.

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Zur optimalen Nutzung des Dezembers, heute der Stimmungspart. Ich war mit Sohn I an einem Abend in der Hamburger Innenstadt, Weihnachtsmärkte gucken. Die Straßen waren noch brechend voll, ungeheure Menschenmassen in den Läden und an den Ständen. Wir hatten uns vorher gegen die sauteuren Verlockungen der Buden immunisiert, indem wir uns höchst clever schon zuhause mit Lebkuchen vollgestopft haben, danach geht man ganz entspannt sogar an Crêpeständen vorbei, an denen die Preise übrigens um teils zwanzig Prozent im Vergleich zum Vorjahr gestiegen sind, man kann nämlich überall Mathe üben.

Weder der Sohn noch ich sind große Freunde von Menschenmassen, er sieht aufgrund noch mangelnder Größe zwischen all den Leuten nichts, ich bekomme im Geschiebe Rückenschmerzen und wilde Sehnsucht nach der Hegloländer Düne im Winter oder nach irgendwelchen anderen Flecken, die weitgehend frei von menschlichen Besuchern sind. So schoben wir uns also so schnell es nur ging durch die Spitaler Straße, warfen einen Blick auf den Gerhart-Hauptmann-Platz und auch auf die Buden vor der Kirche in der Mönckebergstraße, was da alles so am Weg lag. Wir gingen an den religiösen Spinnern vorbei, die mitten im Gedränge versuchten, die Massen zu missionieren, immerhin wurden sie dafür nicht mit Pfeil und Bogen erlegt wie auf gewissen Inseln.

Die ersten Geschäfte waren schon geschlossen, in den Eingängen bauten Obdachlose sorgsam ihre Betten aus Isomatten und Kartons und Schlafsäcken, während Menschen mit prallvollen Einkaufstüten buchstäblich noch über sie hinüber stiegen, da wurde wieder kein Klischee ausgelassen, reiche Stadt, arme Stadt, die Themen von Charles Dickens laufen immer noch. Am Rande der Weihnachtsmärkte saßen Menschen mit neongelben Westen auf den großen Lastwagensperren aus Beton. “Security” stand hinten auf ihrer Dienstkleidung, sie saßen da und rauchten und sahen auf ihre Handys. “Schön”, sagten wir, “sehr besinnlich hier!” Dann eilten wir weiter, denn wir mussten noch zum Rathausmarkt, vor dem wir dann Hand in Hand stehenblieben und eine ganze Minute lang auf das großflächige Gewimmel und das vielfältige Leuchten und Blinken sahen und auch auf den Klangbrei aus den besten Weihnachtsliedern der 60er, 70er, 80 usw. lauschten.

“Ungeheuer stimmungsvoll”, sagte ich. “Voll schön”, sagte der Sohn und dann gingen wir wieder nach Hause.

Die Sache mit den Weihnachtsmärkten haben wir dann jetzt erledigt, ich vermute sogar in Bestzeit.

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Noch einmal vielen Dank für die Zusendung des Saatgutadventskalenders, der ist ja auch noch richtig dekorativ! Stark.

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In freier Natur

Obwohl es in den letzten Wochen viel zu wenig regnete, blieben uns doch immerhin die Dunkelheit und auch das große Grau, die lieferte der November verlässlich wie eh und je. Und die beiden reichten mir dann auch, um nicht rauszugehen, um noch mehr zu lesen als sonst, um einfach sitzenzubleiben. Ich finde, das gehört im November so, das ist quasi die saisonale Leitkultur. Gegen Ende des Monats fiel mir dann wieder auf, was mir in jedem November irgendwann auffällt, nämlich dass ich von der Natur und dem anderen Zeug da draußen nicht viel mitbekam. Eine Denkfalle, da kann ich noch so alt werden, jedes Jahr falle ich auf diesen Unsinn herein und denke, ach, denke ich, du könntest ja mal in die Natur. Am Ende ist es schön da, du könntest dich in den Vorjahren ja getäuscht haben oder mittlerweile empfänglicher für gewisse subtile Reize sein, für Zwischentöne im Grau und im Matsch oder so, man entwickelt sich doch weiter.

In diesem Jahr habe ich aber eisern durchgehalten und war erst am 1. Dezember in der Natur. Der 1. Dezember ist allerdings vom letzten Tag des Novembers anhand der Signale in der Natur nicht zu unterscheiden, der 1. Dezember ist im Grunde auch nur ein weiterer Novembertag mit mehr Lichtern und Deko.

Wir haben einen Tannenbaum geschenkt bekommen, das war eine Werbeaktion aus dem Kontext meines Bürojobs, wie auch schon im letzten Jahr. Einen Tannenbaum, den wir selber absägen oder umbeilen konnten, letzteres die Wortwahl von Sohn II, stolzer Beilinhaber. Das fand statt auf einem Erdbeerhof vor den Toren der Stadt, was nicht unmittelbar einleuchtet, aber gut, die müssen da auch sehen, wie sie im Winter über die Runden kommen, deswegen verkaufen die da Tannen und Weihnachtsdeko und das ganze Zeug. Und zwar verkaufen sie das, um noch eben eine alte Frage aufzuklären, die sicher viele Menschen beschäftigt, aus diesen erdbeerförmigen Erdbeerverkaufshäuschen heraus, womit wir jetzt also wissen, was mit denen im Winter passiert. Man schiebt einen Grill hinein und verkauft dann Bratwürste aus ihnen, man hängt Glitzerkugeln in sie und verkauft Dekoklimbim mit Winterbezug. In einem Erdbeerhäuschen saß einfach nur ein Mann und wartete darauf, die frisch gefällten Tannenbäume der Kunden einzunetzen, in einem anderen saß jemand und kassierte irgendwas. Es gab mal diesen berühmten Tweet von irgendwem, in dem gefordert wurde, dass alle Artikel des täglichen Bedarfs aus Erdbeerhäuschen heraus verkauft werden sollten – man muss nur einen großen Erdbeerhof im Winter besuchen, um sich ein Bild davon zu machen. Die Erdbeerhäuschen aber, die trotz aller Kreativität und Marketingraffinesse nicht gebraucht wurden, die hatten sie hinter dem Hof schräg an eine Scheunenwand gestellt, schräg, damit Regenwasser aus ihnen ablaufen konnte. Sie sahen aus wie die ausrangierten Gondeln einer riesigen Jahrmarktattraktion, ein wirklich schlimmer Novemberanblick, trost- und hoffnungslos, lieblos abgeräumte Spaßbuden, ausrangierte Reste des Sommers.

 

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Auf der Fahrt zum dem Erdbeerhof, ich habe etwas ausgelassen, pardon, kamen wir am Ahrensburger Schloss vorbei, dem die Söhne zu meiner Überraschung sofort attestierten, nicht schön zu sein. Das haben wir eine Weile diskutiert, denn ein garstiges Gebäude ist es nun auch nicht gerade, finde ich, da würden mir ganz andere Beispiele einfallen. Das mündete dann in der bemerkenswerten Feststellung der Söhne, die Herzdame und ich würden eindeutig besser aussehen als das Schloss da. Ein vielleicht etwas anstrengender Vergleich, aber man nimmt doch gerne alle Komplimente mit, die man noch kriegen kann.

Was ich aber eigentlich sagen wollte, auf diesem Erdbeerhof stand ich also eine Weile unter freiem Himmel in der Natur herum, vor mir Wiesen und landwirtschaftliche Nutzgebäude, junge Tannen und abgeerntete Felder unter einem wie immer grauen Himmel, in der Ferne Streusiedlungen, über den Bäumen zwei, drei Saatkrähen, das war ein beliebiges Stück Schleswig-Holstein in der Nebensaison. Und schön war das nun nicht, Natur hin oder her. Sondern einfach ziemlich farblos und tendenziell fürchterlich langweilig, sogar das Grün der jungen Tannen wirkte eher schmuddelig als attraktiv, es war insgesamt ein Anblick, der nicht zu stundenlangen Spaziergängen verlockte, es war insgesamt ein Anblick, nach dem man sehr gut wieder irgendwo reingehen konnte, etwa um in Ruhe zu lesen. Was sollte man verpassen?

Und so habe ich dann doch noch zumindest im Nachhinein die Bestätigung bekommen, den November richtig verbracht zu haben. Auch nett.

Wie man aber den Dezember richtig verbringt, das erarbeiten wir uns dann in Kürze.

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Genug vom Land. Jetzt herumhängende Musiker in Berlin.

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Alte Tricks und Rituale

Die Rede vom Herrn Meyerhoff zum Jonathan-Swift-Preis, ich mochte die Stelle mit den Katzenklos (via Isa).

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Ich finde es bemerkenswert, dass die Schlagzeile bei diesem Artikel nicht “Da hängt ein Pferd auf dem Flur” lautet. Sicher war es ganz knapp, ich kann es mir einfach nicht anders vorstellen.

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Was Greta macht, das ist richtig und wichtig. Sagt Sohn I, dessen Meinung dabei viel wichtiger als meine ist.

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Dirk von Gehlen hat Thomas Bauer gelesen, das habe ich auch vor einiger Zeit, der Herr Bauer war der mit der Mehrdeutigkeit. Gutes Buch. Und guter Artikel darüber.

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Ertüchtigung.

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Im Vorbeigehen gehört: “Mama hat einen Job und wieder genug Taler, Mama kauft dir jetzt einen Burger.”

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Ich lese weiter in George Orwells Erzählungen, die finde ich aber wegen des schon wieder grauenvollen Inhalts – gerade wird ein Elefant erschossen, und das dauert auch noch seitenlang, gleich danach wird dann ein Mann gehängt – etwas anstrengend, allmählich könnte ich ein entspannteres Setting vertragen, in dem seelisches und sonstiges Leid bitte weniger hingebungsvoll zergliedert werden. Mal sehen, was ich mir da nach diesem Buch zur Erholung aussuche. Etwas Keyserling vielleicht?

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Wir haben Weihnachten aus dem Keller geholt und den Söhnen gesagt, dass hier nur dekoriert wird, wenn die Wohnung in jedem Winkel allerschönstens aufgeräumt und geputzt ist. Und siehe, es kam ein großer Fleiß über sie, dass es den Eltern eine helle Freude war. Sie sind manchmal immer noch gut, die alten Tricks.

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Apropos Weihnachten, der Dezember besteht bei mir mittlerweile aus einer ganzen Reihe von durchritualisierten Posts und Tweets. Jedes Jahr überlege ich, ob das einfach mal lassen sollte, ob es nicht mal gut ist? Dann wieder denke ich, dass Rituale oft unterschätzt werden, sie geben immerhin Halt und Sicherheit und manche Menschen freuen sich tatsächlich etwas wiederzuerkennen, wenn es noch etwas gibt, das bleibt. Der Beschluss für dieses Jahr lautet also erst einmal, dass noch eine Weile weiter mache, Sie und ich wissen damit natürlich jetzt schon, was ich am letzten Tag des Monats posten werden – wenn uns nicht vorher der Himmel auf den Kopf fällt.

Stellen Sie sich bitte einfach vor, wie ich am Morgen des 1. Dezembers den obligatorischen und nun theatererfahrenen Bademantel zurechtrücke, die Schultern durchdrücke und dem Monat dann durchseelt von einem ganz besonderen Pflichtbewusstsein entgegenblicke.

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Trinkgeld November 2018, Ergebnisbericht

Jojo hat von seinem Geld Pokémonkarten – die hier plötzlich wieder en vogue sind – gekauft und außerdem einen Kugelschreiber in Kaktusform. Die Söhne können von ihrem Geld übrigens kaufen, was immer ihnen beliebt, also abgesehen von Drogen usw., nach denen es aber ohnehin noch keine Nachfrage gibt, ich rede ihnen da jedenfalls nicht hinein. Sollen sie ihr Geld ruhig für vollkommen sinnlose Kaktuskugelschreiber und dramatisch überteuerte Karten verschleudern, wer wäre ich, da zu urteilen, das ist okay. Doch, doch.

Johnny hat sich mehrere Level-Updates zu der App Birdcage gekauft, die ich übrigens für empfehlenswert halte, das ist ein sehr hübsch gemachtes Rätselspiel, das können Sie Ihren Kindern ruhig auch mal zeigen. Oder selber spielen, schon recht. Außerdem kaufte der Sohn Kuchen in größeren Mengen. 

Beide Kinder haben auf dem Hamburger Dom diverse Fahrgeschäfte leserinnefinanziert besucht und lassen dafür ganz besonders danken, während ich übrigens dem Himmel danke, dass die beiden seit diesem Jahr bei allen Fahrgeschäfte ohne erwachsene Begleitung mitfahren können. Ein großer Entwicklungsschritt.

Jojo und ich haben ferner den Eintritt in “Johnny English – Man lebt nur dreimal” von dem Hutgeld bezahlt und für die ganze Bande gab es noch den Eintritt zum Barcamp Hamburg, dieser Besuch gehört für die Söhne fest zur Jahreszeit.

Das Buchgeld verwendete ich in diesem Monat für den Kahneman: “Schnelles Denken, langsames Denken”, und das war eine gute Wahl. Ich lese immer noch darin, es ist eine lehrreiche Lektüre, wie bereits berichtet.

Die Herzdame hat, so sagt sie, so dermaßen viel gearbeitet, dass sie gar keine Zeit zum Geldausgeben hatte, das macht sie jetzt im Dezember. Da wir anderen drei die Herzdame im November auch kaum gesehen haben, ist das vermutlich sogar die reine Wahrheit.

Noch einmal, herzlichen Dank!

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Über die Herkunft

Ich hatte bei den Wanderberichten einmal erwähnt, wie aus meiner Sicht mit der Herkunftsfrage im Alltag umzugehen ist, das war eine Thema, das im Sommer kurz in den sozialen Medien eine Rolle spielte. Und ich schrieb da, dass man Reisende immer fragen darf, wo sie herkommen, aber alle anderen lieber nicht. Ganz einfach. Weil, falls das noch einmal erklärt werden muss, auch der Mensch, der irgendwie vermeintlich so aussieht, als sei er ferner Herkunft, seit zwei oder drei Generationen aus Bochum kommen kann – und wenn das so ist, dann ist die Frage nach der Herkunft natürlich ebenso abwegig wie nervtötend wie ausgrenzend, das kann man sich leicht vorstellen, das kann man leicht lernen und auch anwenden, etwas gute Absicht vorausgesetzt, und die haben wir ja alle.

Wie leicht man dennoch in alte Denkmuster zurückfällt, habe ich bei diesem Grundschulfest gestern gemerkt. Da stand ein kleines Mädchen auf der Bühne, ich werde gleich mal einen neuen Namen für sie erfinden. “Ich bin Lucy, sagte sie, “ und ich komme aus …” woraufhin sie sich vor Aufregung etwas verhaspelte und erst einmal Luft holen musste. Das war nur eine ganz kleine Pause, einige wenige Sekunden, aber ich merkte doch, wie mein vorschnelles Hirn schon einmal passende Länder in den Satz einsortierte, Vietnam oder so, passend zu ihrem Aussehen eben, man glaubt gar nicht, wie schnell das Hirn da sein kann, nach nur einem einzigen Blick. Das Mädchen holte dann noch einmal Anlauf und Luft: “Ich bin Lucy, und ich komme aus der 4b.”

Woher man eben so kommt, wenn man in einer Hamburger Grundschule auf der Bühne steht. Normal. 

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Präsent, alltäglich und gewöhnlich

In der Grundschule gab es eine Feier, das bringt die Jahreszeit so mit sich, es gibt überall gerade Feiern. Da war auch ein Vater anwesend, der sonst noch nie da war. Es ging ein Raunen durch die Kinderschar, schon  als er hereinkam, das ist er, das ist er. Denn der Herr ist nicht irgendwas, der Herr ist Profifußballer. Also ganz in echt, wie die Kinder jetzt ergänzen würden. Also so richtig! Der spielt für Geld. Das muss man sich mal vorstellen! Es bildete sich sofort eine kleine Schlange von Kindern, die ein Autogramm haben wollten. Das sahen wiederum andere Kinder, die dann, logisch, auch ein Autogramm haben wollten, was wiederum andere Kinder sahen – und immer so weiter. Der Mann lachte, als es mehr und mehr Kinder wurden, der Mann lachte und unterschrieb, was man ihm alles hinhielt, Hefte, Zettel, Arme, T-Shirts, frisch gebastelte Weihnachtssterne und Servietten und Mitteilungshefte. Es kamen immer noch Kinder, die erst in der Schlange erfuhren, worum es überhaupt ging, aber wenn da alle Kinder stehen, dann wird das ja schon einen Grund haben.

Ich fragte irgendwann, für welche Mannschaft der Herr denn überhaupt spielt, das konnte mir allerdings niemand beantworten, das war in der Schlange gar nicht bekannt, und das war auch nicht so wichtig, irgendein Profifussballer eben. Aus dem Ausland! Es wurden drei Länder genannt, eines von denen! Oder aber ein anderes! Ich fragte den Sohn des Sportlers, den strahlenden Sohn, der endlich auch einmal seinen Papa dabei hatte, seinen Papa, der doch sonst immer weg ist, richtig weit weg und auch richtig lange weg. Der Sohn brachte es dann vor lauter Aufregung auch nicht raus, aber egal, ein Profifußballspieler eben. Und sowieso egal – sein Vater! Guck mal! Der Vater lachte und schrieb und lachte und schrieb.

Die anderen Väter und ich waren erst einmal abgemeldet. Wir überlegten dann, ob wir uns nicht vielleicht auch lieber einen Job im Ausland suchen sollten, um wenigstens einmal solche spektakulären Beliebtheitswerte beim Auftauchen zu erreichen. Allerdings sind wir größtenteils schon aus dem Profifußballeralter raus und ein beliebiger anderer Beruf wird es wohl nicht bringen, wenn man es realistisch betrachtet, das wird also dummerweise nichts.

Wir bleiben einfach weiter präsent, alltäglich und gewöhnlich. Ab und zu freuen sich die Kinder trotzdem über uns.

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Sohn II liest gerade ein Buch, über das Sohn I schon einmal geschrieben hat, und nach seiner Begeisterung zu urteilen – ich musste ihn heute zur Schule bugsieren, weil er auf dem ganzen Weg weiterhin stoisch gelesen hat – ist das auch für andere Kinder nach wie vor als Weihnachtsgeschenk brauchbar. Falls Sie noch auf der Suche sind, ich bringe hier in den nächsten Tagen noch ein paar Tipps unter.

Nach dem gerade verlinkten Artikel von Sohn I habe ich eben übrigens mit “Kürbis Zombie Buddenbohm” gegoogelt, manchmal klingt es ja etwas seltsam, was man da so eingibt.

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Kurz mal zwischenbilanziert – das Wiederleseprojekt hat jetzt schon einen Stapel von immerhin sieben Büchern ergeben, das ist ja nicht nichts. Ich stelle mir die mal extra in ein Regal, dann kann ich im weiteren Verlauf von denen aus eine neue und sinnvolle Sortierung einführen. Nein, ich sortiere sie auch hier schon.

Aktueller Stand:

Die Kinderbibel

Emily Brontë: Sturmhöhe

Graham Greene: Der dritte Mann

Novalis: Werke

Iwan Turgenew: Väter und Söhne

Paul Zech: Vom schwarzen Revier zur neuen Welt – gesammelte Gedichte

Peter Rühmkorf: Aufwachen und Wiederfinden – Gedichte

Der Paul Zech ist also schon erledigt, so ein Lyrikband ist ja doch eher Snack-Content, wie man heute sagen würde. Jetzt habe ich mir George Orwell vorgenommen, ein Band “Meistererzählungen” aus dem Diogenes-Verlag. Die erste Geschichte hat den bemerkenswert uneleganten Titel “Ein Hamlet ohne Poesie?” und demonstriert tatsächlich schön erzählerische Meisterschaft. Ein heißer Tag in Burma, Birma, Myanmar, wie auch immer, da blickt ja keiner durch. Aber man merkt jedenfalls die Hitze, die Schwüle, man sieht die Pflanzen, man sieht irgendwie sogar die Vögel, die man nicht sieht: ”Oben in dem Bobaum erhob sich eine Unruhe und ein blubberndes Geräusch wie von kochenden Töpfen. Eine Schar grüner Tauben saß dort oben und fraß die Beeren. Flory blickte in die große grüne Wölbung des Baums hinauf und versuchte, die Vögel zu unterscheiden; sie waren unsichtbar, so vollkommen war ihre Farbe dem Laub angepaßt, und doch war der ganze Baum von ihnen belebt und schimmerte, als würde er von Vogelgeistern geschüttelt.”

Ansonsten sind alle Scheußlichkeiten und die ganze Menschenverachtung der Kolonialzeit in der Geschichte, eh klar.

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Noch schnell ein Schluss. Ja, es war ein großer Film.

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Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

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