15 Minuten am Mittwoch

Ich habe in den sechs Wochen ohne Arbeit auch Erziehungsratgeber gelesen, das mache ich ab und zu, denn dann merkt man wieder, was man alles schon falsch gemacht hat, wo man gar nicht so verkehrt lag und wo die Hoffnung vielleicht noch nicht ganz verloren ist, das ist doch alle paar Jahre ganz interessant. In dieser Runde gab es: Nora Imlau mit “So viel Freude, so viel Wut”, Alfie Kohn mit “Liebe und Eigenständigkeit” sowie Katherine Reynolds Lewis mit: “The good news about bad behaviour – Why kids are less disciplined than ever and what to do about it”. Ich fand sie alle drei lesenswert und war wieder beeindruckt, wie überaus einleuchtend Aspekte der Pädagogik in Büchern formuliert sein können und wie grandios man dennoch nur zehn Sekunden nach dem Weglegen des Buches ganz ähnliche Situationen wie die dort beschriebenen komplett vergeigen kann. Großes Kino.

Wobei, auch das noch kurz zur Erziehung, es schon auch beeindruckend ist, wie dramatisch der Stresspegel der Familie sinkt, wenn einer mal eine Weile nicht seinem Job nachgeht. Wenn ich Zeit habe, also richtig, richtig viel Zeit, dann läuft hier nämlich alles super und easy, wenn ich Zeit habe, kriege ich alles lächelnd, harmonisch und friedlich und zur schönsten Zufriedenheit aller geregelt. Na, fast alles.

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Zu einem der Kindergeburtstage waren wir wieder in so einem Fantasy-Rollenspiel-Ding, in dem ich schon wegen meiner seltsam stark ausgeprägten Fantasy- und Spielaversion kategorisch nichts verstehe und, schon klar, auch gar nichts verstehen will, wozu auch, das ist einfach nicht meine Welt. Weswegen eines der Kinder, welches mir das Geschehen dort dennoch sehr bemüht zu erklären versuchte, seine Ausführungen irgendwann entnervt abbrach mit dem wunderbaren Satz: “Es geht hier nicht darum, irgendwas zu werden oder irgendwas zu gewinnen. Es geht einfach nur darum, immer weiter zu spielen.” So findet man überall Perlen der Lebensweisheit, wenn man nur gut aufpasst, ist es nicht zu und zu schön? Den zitierten Satz kann man spaßeshalber mal auf verschiedene Themen beziehen, das ist gar nicht uninteressant, nehmen wir einfach mal die Erziehung oder den Job oder die Liebe, da hat man dann was zum Herumdenken, da kann man sich geistig wieder, um im Kontext zu bleiben, etwas aufleveln. Und dann wieder weiter spielen.

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Und hier eine Gardinenpredigt. Es ist immer wieder ganz erstaunlich und weithin völlig unbekannt oder zumindest doch dramatisch unterschätzt, wie schnell man in diesem Land Einfluss nehmen kann. Man muss nur irgendwo hingehen, man muss nur etwas wollen, man muss nur etwas sagen. Was ich jetzt aber auch nur schreiben darf, weil ich heute noch einen Termin in und mit der Lokalpolitik habe.

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Zeit für ein Kaltgetränk, eine bequeme Sitzhaltung und ein gutes Gespräch. Etwa dieses hier. 

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Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

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15 Minuten am Dienstag

Zu den überraschenden Erkenntnissen, die man unfreiwillig hat, wenn man sechs Wochen wegen irgendwelcher Gebrechen nicht ins Büro geht, gehört es, wie unfassbar self-inflating die ganz normalen Aufgaben im Haushalt sind, wenn man ihnen nur Raum und Zeit lässt. Nehmen wir nur das tägliche Einkaufen, denn essen muss man ja, komme was wolle. Das mache ich sonst auf dem Rückweg vom Büro, dieses Einkaufen, quasi nebenbei, das fällt alles so an. Wenn ich aber gar nicht im Büro bin, dann gehe ich da erst einmal extra hin, also in welchen Laden auch immer, darüber kann ich ohne Büro auch viel länger nachdenken,weil ich ja nicht an meinen Heimweg gebunden bin. Ich kann also z.B. in den Laden gehen, der für ein Produkt genau richtig und nicht nur wie sonst halbwegs passend ist. Ich gehe vielleicht in einen bestimmten Laden, weil es das Zeug da in der genau gewünschten Form gibt, in regional oder in bio oder in billig oder so, wie es hier die Kinder unbedingt haben wollen oder was weiß ich. Plötzlich ist da alles voller Optionen. Ich kann auch nacheinander in drei Läden gehen und dann noch auf den Wochenmarkt. Das dauert viel länger, natürlich, aber warum auch nicht, ich habe ja nichts vor. Schon dauert das Besorgen der simplen Suppenzutaten nicht fünfzehn Minuten wie sonst, schon dauert das anderthalb Stunden und ich habe im Grunde gar nichts gemacht und wenig erreicht, die Suppe jedenfalls schmeckt trotz des Aufwandes so wie sonst auch. Und so geht das quasi mit allen banalen und sonst so mühsam kleingehaltenen Aufgaben im Alltag, sie blähen sich auf, sie wachsen, sie belagern und erobern Stunden, Vormittage, Nachmittage, sie machen sich im Kalender breit wie Bakterien in einer Petrischale. Wer Zeit hat, der wendet auch Zeit auf, das wird am Ende eine nicht leicht zu umgehende Grundregel sein, dazu muss man bis zur Rente also auch eine brauchbare Einstellung finden, merken wir das ruhig schon mal vor.

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Das oben erwähnte self-inflating ist übrigens ein Begriff mit Geschichte für mich, das erzähle ich noch schnell, die Uhr läuft, es wird knapp. Vor vielen, vielen Jahren habe ich mal an einem denkwürdigen Meeting teilgenommen, in dem es um ein Produkt ging, das “self-inflating”war. Ich weiß gar nicht mehr, welches Produkt das genau war, vermutlich waren die ersten self-inflating Isomatten damals gerade neu und wir haben etwas mit der Markteinführung zu tun gehabt, so etwas in der Art. Der Chef der Abteilung war neu in dem Job, er war gerade erst befördert worden und, das ist fast schon historisch interessant, er hatte einen der damals ganz neuen englischen Titel bekommen, Head of irgendwas, in der Unterzeile irgendwas mit Management, diese Bezeichnungen gab es bis dahin noch gar nicht, man war vorher einfach irgendwann Abteilungsleiter geworden, jahrzehntelang, aber das klang jetzt auf einmal muffig und nach Behörde oder bestenfalls nach Karstadt. Die coolen Leute wurden auf einmal Head of irgendwas und machten alle was mit Management und Projects und so. Man diskutierte also in dieser Abteilungsrunde herum, was genau man nun mit diesen self-inflating Dingern machen sollte, als sich nach einer Weile eine ältere Dame, gefühlt seit dem Kartoffelkrieg in der Firma, zu Wort meldete und eine einfache Frage stellte, für die man wiederum wissen muss, dass es einmal Zeiten gab, in denen in Büros gar nicht jeder Englisch verstanden hat, manche Menschen auch nicht ein einziges Wort, doch, das war normal. Englisch war damals eher für die von der Uni, das war aber nicht jeder. Die Dame fragte also, nachdem sie schon eine ganze Weile immer irritierter geguckt hatte, vollkommen berechtigt: “Aber was ist denn nun eigentlich self-inflating?”

Woraufhin ein stets schlecht gelaunter Kollege, allseits bekannt für deutliche Worte und eine eigene Meinung, gut hörbar für alle sagte: “Guck dir unseren Chef an.”

Liebe Kinder, Ihr habt es längst geahnt, dieser Chef war ich natürlich selber und dieser Meetingmoment war gar nicht so unwichtig für meine etwas später getroffene Entscheidung, die Karriere im Management trotz der überaus verlockenden Verdienstaussichten doch lieber selbst abzubrechen. Und die Moral von der Geschicht’: Deutliche Worte und eigene Meínungen sind gar nicht so schlecht und bewirken manchmal etwas, merkt Euch das. 

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Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

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Fünfzehn Minuten am Montag

Ich: “Was macht ihr eigentlich in diesem neuen Schulfach da, Naturwissenschaft und Technik?”

Sohn I: “Im Moment geht es da um den Sinn des Lebens.”

Ich: “Ach was? Tatsächlich? Und der wäre? Na? Sag schon!”

Sohn I: “Keine Ahnung, wir sind noch nicht sehr weit.”

Ich: “Aber du sagst mir dann Bescheid! Ja? Nicht vergessen! Das will ich auch wissen! Dringend sogar!”

Sohn I: “Papa, chill your life.”

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Die Herzdame und ich haben heute Hochzeitstag, ist es jetzt eigentlich ein gutes oder ein schlechtes Zeichen, dass wir beide auf Anhieb nicht wissen, welchen genau? Vierzehn oder fünfzehn oder so? Irgendwas mit ganz schön lange schon jedenfalls, man müsste das nachrechnen oder im Blog nachlesen, aber wozu eigentlich, man hat ja keinen Erkenntnisgewinn ob der Zahl. Ab und zu fragen die Söhne, warum wir uns eigentlich nicht trennen, weil nämlich, mit dem Grund der Frage rechnet man vielleicht nicht auf Anhieb, das machen doch sonst alle, wer ist schon noch zusammen? Es ist immer komisch und tendenziell verdächtig, wenn die eigenen Eltern sich irgendwie seltsam verhalten und von der Masse abweichen, am Ende sind die beiden ein wenig wunderlich? Und das wäre dann ja womöglich peinlich. Ich sagen ihnen, dass man nicht jede Mode mitmachen muss, das können sie ruhig so nebenbei von uns lernen, wenn wir das schon so überaus bemüht die ganze Zeit vorleben, außerdem bin ich zu alt, um noch jedem Trend hinterherzujagen, echtjetztmal. Sollen sich doch die jungen Hüpfer trennen und damit hip sein. Ich interessiere mich überhaupt nicht mehr für Trends! Oder wenn, dann höchstens für diese neuen Elektrotretroller oder Hoverboards, die finde ich ja irgendwie ganz cool, so als zeitgemäße Flanierhilfe, die stelle ich mir spaßig vor, damit in den Garten oder so zu fahren, ansonsten sind mir sämtliche Moden ziemlich egal. Prioritäten! Ganz wichtig.

Nebenbei grüße ich an dieser Stelle die Leserinnen und Leser, die schon seit der Hochzeit mitlesen, davon gibt es tatsächlich zwei, drei.

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Und nun ein Lied mit einer schönen Liebesgeschichte. Warum auch nicht. 

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Übrigens bin ich zur sicher großen Überraschung der Leserschaft der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

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15 Minuten am Sonntag

Ich bin ja so alt, in meiner Jugend galt der Stern noch als lesbare Zeitschrift. Und den hatten wir auch tatsächlich im Haus, den Stern für die bunten Bilder und die Aufreger, die Zeit für die langen Texte und das Bildungsgehabe, das war damals so die Mischung. Und wie mein Erdkundelehrer immer sagte: “Ab und zu auch mal die SZ!” Den Stern las ich auch tatsächlich durch, ich glaube fast, sogar bis zu den Hitlertagebüchern. Das ist das eine.

Das andere ist, dass ich etwa im Alter von dreizehn Jahren ein Stockwerk gewechselt habe, und zwar das in der öffentlichen Bücherei. Oben waren die Kinderbücher, da war ich größtenteils durch, unten waren die Bücher für die Erwachsenen, damit fing ich dann mal an. Natürlich völlig planlos und ohne viel zu verstehen, Krimis, Science-Fiction, Thomas Mann, was da eben so stand, wobei Klaus Mann daneben noch viel interessanter war. Einige Namen waren bekannt, in die guckte ich dann eben rein, über die sprachen ja alle, also etwa im Stern oder in der Zeit zum Beispiel, mehr Begriff von “alle” hatte ich damals gar nicht. Aber diese Bücher mussten ja gut sein. Und weil die Bücherei nicht sehr groß war, kam mir die Aufgabe auch überhaupt nicht unlösbar vor, sich in der Literatur auszukennen, das schien durchaus machbar, man würde eben ein paar Winter brauchen, na und, die Winter waren ja lang und öde genug an der Küste. Henry Miller, Stephen King, Balzac, egal, gib her. Auch so ein Name: Alberto Moravia. Den habe ich, wenn ich mich richtig erinnere, bis heute nie gelesen, der landete aber damals auf meiner geistigen Irgendwannmalliste, über den sprach man nämlich, das war so ein Großintellektueller, der sagte und schrieb wichtige Sachen. Im Stern war ein Interview mit ihm, das las ich natürlich auch, Interviews lasen sich schnell weg und zack, war man schon auf der Höhe der Zeit. Interviews waren super, dann wusste man, ach ja, Moravia, das war der mit dem Satz neulich. Und genau so etwas wollte ich wissen, als angehender Bildungshochstapler fand ich solche Formate besonders brauchbar.

Alberto Moravia war jedenfalls in Hamburg, vielleicht sogar wegen des Interviews, das weiß ich nicht mehr. Aber diesen einen Satz von ihm, den habe ich mir dann versehentlich sogar bis heute gemerkt, der besagte nämlich, dass ihn diese typischen Hamburger Mietshäuser aus roten Ziegeln, die Klinkerhäuser, an deutsche Schwarzbrote erinnerten, die in Bäckereien nebeneinander im Regal liegen. Häuser wie Schwarzbrote, dunkel und stabil. Natürlich weiß ich die genaue Formulierung nicht mehr, ich weiß nur das mit den Schwarzbroten. Und seit diesem Interview, das ist ein paar Jahrzehnte her, denke ich jedenfalls immer, wenn ich an dunkelroten Hamburger Wohnblöcken vorbeigehe, besonders an Regentagen, an Schwarzbrot und Moravia. Wobei es Moravia übrigens auch als Pils gibt, dadurch wird es noch besser, Bier und Schwarzbrot und rote Ziegel. Ich weiß sonst keinen einzigen Satz und auch keinen Fakt aus den paar Jahren Sternleserei mehr, aber den dann doch und vermutlich werde ich diese Assoziation auch noch für den Rest meines Lebens behalten, rote Klinker, Bier und Schwarzbrot. Sie dürfen das jetzt gerne übernehmen, wenn Sie mal durch Hamburg gehen. Falls Sie sogar hier wohnen, es fühlt sich herrlich heimatlich an, wenn man mit diesem Gedanken durch Hamm oder Borgfelde oder durch die Schlankreye geht und an den Häusern hochsieht.

Und das wollte ich nur kurz sagen, wie seltsam und wie lange Print wirken kann.

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Andi Almquist!  “We don’t fall in love around here anymore, it all turned out to be – Pornography.”

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Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

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15 Minuten am Sonnabend

Die Kommentare via Twitter werden übrigens gerade mal wieder nicht angezeigt. Also ich sehe sie zwar im Backend, aber Sie sehen sie nicht. Das ist hier jetzt wieder oldschool, nur die auf der Seite eingegebenen Kommentare erscheinen. Warum auch immer, wer hat schon Lust, dem hinterherzuschrauben. Dreckstechnik.

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Zwei Buchempfehlungen für Menschen mit Angst vor gar nichts, nicht vor der eigenen Art, nicht vor den Zeiten, nicht vor dem Herbst. Philipp Blom: “Was auf dem Spiel steht” und Karen Duve: “Warum die Sache schief geht” – in dieser Reihenfolge zu lesen, auch wenn sie andersherum erschienen sind. Gerade jetzt, wo der Herbst gerade übers Land kam wie bestellt und per Express geliefert, gerade jetzt, wo man endlich wieder bei anhaltendem Regen und also mit korrektem Heimatgefühl lesen kann, hier werde ich nass, hier bin ich zuhause, gerade jetzt eine erfrischend runterziehende Lektüre, das kann auch mal gut sein, das kennt man ja von trauriger Musik und so, unfroh aber heimelig, dunkelhygge. Draußen kommt Sturm auf, Eicheln und Kastanien knallen auf Autos, Bauzäune kippen um, die Einschläge kommen näher, das passt alles so dermaßen gut. Und wenn man dann noch am offenen Fenster leicht zu frieren beginnt, das allererste Frösteln der Saison, dann möchte man sich zu diesen Büchern dringend etwas öffnen, das man feierlich trinken kann. In die Bücher sehen, aus dem Fenster sehen, hin und her, wehende Blätter, schwarz droht es von West, traurige Absätze, vernichtende Gedanken und irgendwann ein fast voller Mond hinter jagenden Wolken, die wie im Horrorfilm an ihm vorbeiziehen, so schnell, so unwirklich, so gespenstisch. Am Fenster stehen und sich das besehen, selig deprimiert und das Herz voll Herbst: “Herr, ich bin breit, die Flasche war sehr groß.”

Also ich hatte Spaß.

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Ich wurde mehrfach gefragt, wie es ist, wenn man nicht schreibt, nachdem man jahrelang quasi immer geschrieben hat. Das ist so: Es ist etwa drei Wochen lang noch ganz nett, es ist erst einmal ein wenig wie Urlaub, man kann herumliegen und lesen. Dann wird es schnell merkwürdig, dann wird es unschön, denn ohne die Schreiberei fehlt mir die Struktur und die Erkenntnis, was ich eigentlich denke, wie soll ich das denn wissen, wenn es nicht irgendwo steht, ohne Buchstaben vor mir bin ich unsortiert wie die Legoabraumhalde im Kinderzimmer. Eventuell denke ich längst gar nicht mehr, denke ich zwischendurch. Da ich auch nichts machen kann, lebe ich mehr so haustiermäßig, nur ohne den Niedlichkeitsaspekt, versteht sich, und auch ohne Spaß, Petplay für Freudlose, nur essen und schlafen. Ab und zu fallen mir Sätze ein, die sollte ich aufschreiben, das geht aber nicht. Ich habe einen Gedanken, ich schreibe ihn nicht auf, vielleicht habe ich ihn also gar nicht gehabt, wo sind die Beweismittel? Ich franse geistig aus und schön ist das nicht. Darüber später mal ein Buch schreiben! Zerfaserland!

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Zack, 15 Minuten um. Musik.

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Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

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15 Minuten am Freitag

Um mich langsam wieder warm zu spielen, schreibe ich einfach morgens mal kurz los, nur so rund fünfzehn Minuten, mal sehen, ob es geht. Fünfzehn Minuten, ein Prozent des Tages, das klingt doch nicht überambitioniert. Ich fange einfach irgendwo wieder an, ganz egal, mitten rein.

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Vor dem Supermarkt steht einer, groß, breitschultrig, Sportkleidung, Format Türsteher. Neben ihm steht noch einer, ähnliches Format. Und ohne viel hineindeuten zu wollen, aus dem gleichen Land kommen sie nicht, das hört man auch, der eine kann kaum Deutsch, der andere hat es sicher als Muttersprache gelernt. “Ich bin in nichts besser als du”, sagt der dem anderen langsam und überdeutlich vor, der wohl diesen Satz braucht, warum auch immer. “Ich bin in nichts besser als du”, wiederholt der mit starkem Akzent, guckt fragend und freut sich dann, dass es alles richtig war. Schulterklopfen, er wiederholt das noch zweimal, schneller werdend, dann geht er mit dem neuen Satz, und wo und wie er ihn anwendet, dass werden wir nicht erfahren, aber hey, der Satz ist okay.

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An der Alster steht einer und guckt ratlos, der sieht aus wie ein älterer Herr aus dem Land’s-End-Prospekt, so ein gepflegter Freizeitamerikaner, bei dem das lilafarbene Polohemd und die Silberhaare in einer Weise gut sitzen, die man selbst nie erleben wird, denn man selbst altert ja nicht edel, man selbst verlottert nur schleichend. “Do you speak English?”, fragt er mich und guckt freundlich und hat dann gleich noch eine Frage: “Can you tell me where your lake is?” Eine Frage, als wäre ich in einem Sketch gelandet. Der Lake ist einen Meter neben ihm, groß wie immer, algengrün und attraktiv ins Stadtbild eingefügt, so wie es in den allen Reiseführern steht. Die Wahrscheinlichkeit ist sogar ziemlich hoch, dass der Herr aus Amerika gerade dort herumgejoggt ist, selbstverständlich ohne zu schwitzen, man schwitzt nicht in Land’s-End-Prospekten. Das macht man nun einmal an der Alster, man läuft um sie herum. Auch wenn sie, wie der empfindsame Hamburger im Normalfall sofort zwanghaft erklären muss, natürlich gar kein Lake oder See ist, sondern ein gestauter Fluss. “It is stowed!” hat ein ehemaliger Chef von mir das ausländischen Gästen immer ganz aufgeregt und mit zweifelhafter Vokabelwahl erklärt, das war ihm wichtig, wirklich wichtig, das musste auch unbedingt von jedem verstanden werden. Für einen dieser Gäste, einen Herrn aus Kanada, der besonders gerne in unserer Kantine Kohlrabi and Bratwurst aß („we don’t have kohlrabi in Canada, it’s so good“), hat er das auch mal ans Whiteboard gezeichnet, ein angedeuteter Flußlauf und unten ein großer Klunker dran, so ein Tafelbild, dass Pubertierende brüllend komisch gefunden hätten, it is stowed! Denn niemand darf die Alster einfach für einen See halten, vergleiche auch Elbphilharmonie – Opernhaus, das ist ähnlich, es zerreißt einen förmlich, jedenfalls wenn man Hamburger ist. Oder Hamburgerin, eh klar.

“Well”, sage ich, denn was soll man auch sagen, und gucke sinnend auf die Alster, wobei ich versuche, so spockmäßig eine Augenbraue zu heben, um etwas Zeit zu gewinnen. “Where’s your lake?” Was sagt man denn da? “Isch abe gar keinen See.” Es wäre zweifellos nett, einen See zu haben, aber wenn ich’s recht bedenke, soweit habe ich es einfach nicht gebracht, da muss man auch mal ehrlich mit sich sein. Ich bin über fünfzig, da muss man gewissen Wahrheiten allmählich ins Gesicht sehen. Kein See, kein Haus am See, nichts. Oder bezieht sich “your” auf mich als Hamburger? Hat der Mann vielleicht so eine Oliver-Sacks-Thematik und sieht nicht, was direkt neben ihm ist? Dann sagt er: “I mean the smaller one”, da wird alles klar, er sucht die Binnenalster und ist, wie sich dann herausstellt, schon eine Runde zu viel gelaufen, weil er nicht aufgepasst hat, wo es wieder zum smaller lake geht, der eigentlich auch gar kein lake ist, aber wo jedenfalls sein Hotel ist. Shit happens, wie wir in Hamburg sagen, eine ziemlich große Ehrenrunde war das, a lap of honor, ich habe das gerade für Sie nachgeschlagen, bitte sehr.

Der Amerikaner wendet dann jedenfalls, ich sehe Leslie Nielsen von hinten, eine weitere Pointe findet jedoch nicht statt, es ist fast schade. Aber wie gesagt, ich schreibe einfach irgendwo los, denn was den Fluss der Ideen betrifft – it is stowed.

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Egal. Musik!

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Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

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Sie können hier Geld in den nur virtuell vorhandenen Hut werfen, aber wie damals, als ich noch viel und oft geschrieben habe, die Älteren erinnern sich – Sie müssen gar nichts.

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Im Bild sein und stehen

(Die Fortsetzung zu diesem Artikel, der ist mittlerweile etwas länger her, es geht nach wie vor um die Wanderung mit Sohn II an der Ostsee.)

(Kurz vorweg: Ich bin nach wie vor nicht recht schreibfähig und werde damit allmählich zu einem Fall für die Reihe “Der interessante Patient”. Nun, das kann man sich nicht aussuchen. Aber alle zwei Wochen setze ich mich ans Notebook und tippe los, denn ich muss ja mal prüfen, was dann passiert, wenn ich eine Weile getippt habe. Es könnte ja funktionieren. Das tut es nicht, sagt der Eellenbogen, immerhin einen neuen Text gibt es auf diese Art aber dennoch, auch nett. Und weil ich nicht gut schreiben, aber immer noch Leute treffen kann, habe ich mir für den Schluss des Artikels etwas Verstärkung gesucht.)

Am nächsten Morgen bin ich wie immer sehr früh wach, alle anderen auf der Zeltwiese scheinen noch zu schlafen. Der Sohn macht kurz nach mir die Augen auf, springt auf und baut umgehend das Zelt ab, hier haben wir nichts mehr zu tun. Zum Frühstück gibt es nur nebenbei ein paar Kekse, die ich am Vorabend noch bei der Tankstelle neben dem Campingplatz besorgt habe, Kekse mit Schokolade, die müssen eh dringend gegessen werden, bevor es wieder zu heiß wird, dann versauen die uns das ganze Gepäck. Wir rollen Matten und Schlafsäcke ein, verstauen alles in meinem Rucksack und gehen wieder zum Strand zwischen Haffkrug und Scharbeutz.

Da ist noch kein Mensch, zumindest nicht in unserer Nähe. Weiter hinten sehen wir nur einige wenige Spaziergänger, die sich ab und zu nach Steinchen oder Muscheln bücken, aber die sind weit weg, winzige Figuren. Vor uns keiner, neben uns keiner. Die Ostsee liegt im allerfeinsten Morgenlicht, glitzernd wie Glasbruch, Unmengen von Scherben, die man lässig über das Meer gestreut hat, und zwar breitwürfig, wie es oft auf den Packungen von Gemüse-. oder Blumensamen heißt. Es ist zweifellos ein schönes Meer, diese Ostsee, wie sie so geschmückt im Morgenlicht vor uns liegt. Sie erscheint gestandenen Seebären und Nordseefreunden bekanntlich eher als Fake-Meer, um es zeitgemäß auszudrücken, als ein bloßer und bestenfalls kindgemäßer Abklatsch der richtigen Ozeane. Aber andererseits ist sie immerhin da und nicht dauernd mit sich selbst und der Tide beschäftigt, wie ein gewisses anderes Meer. Und wie sie da ist.

Der Sohn steht schon wieder bis zur Hüfte im silbern funkelnden Wasser, ein einzelner kleiner Mensch in der ganzen Weite der Bucht, niemand sonst im Wasser, weit und breit nicht, es sind nicht einmal Segel draußen zu sehen, auch die Möwe vom Dienst schläft wohl noch. “Das ist mal ein Bild”, sage ich. Und der Sohn, der manchmal gerne länger nachdenkt, sagt, dass es schon besonders schön sei, so menschenleer, dass es aber in dem Moment, wo man das feststelle, auch zwingend nicht mehr menschenleer sei. “Denn wir sind ja auch Menschen”, sagt er, “wir stehen hier also im Bild.” Womit er präzise erkannt hat, was daran falsch ist, in unberührte Natur reisen zu wollen, damit ist er immerhin weiter als so mancher semiberufliche Traveller auf Instagram. Im Grunde versaut man als Mensch schon alles, während man es nur betrachtet. Mehr Philosophie ist am frühen Morgen aber beim besten Willen noch nicht zu leisten, wir stehen und sind jetzt erst einmal soweit im Bild. Der Sohn schwimmt natürlich auch eine Runde durchs Bild, denn man schwimmt nicht oft so alleine und zu so einer Uhrzeit im Meer, das muss ausgenutzt werden. Und es wird dann recht lange ausgenutzt.

Danach sitzt er frierend im Sand und guckt sich noch ein wenig den Morgen an, das ist auch so etwas, dass man im Alltag eher nicht macht. Im Alltag findet der Morgen einfach jeden Tag statt und passiert so nebenbei, hier ist der Morgen dagegen eine erlesen schöne Vorführung und will ausdrücklich gewürdigt werden, deswegen sitzen wir da und gucken. Was aber irgendwann auch gewürdigt werden muss, das ist unser Hunger, weswegen wir kurz darauf trotz aller Schönheit vor uns aufbrechen. Es wird ja irgendwo eine Bäckerei geben. Das denke ich zumindest, aber nach ein paar hundert Metern merke ich schon, dass ich das nur als Hamburger routinemäßig denke, weil es in der Großstadt in jedem Häuserblock einen Bäcker oder zwei gibt, die Franchise-Läden sind mittlerweile überall. In Küstenorten ist das aber anders, da gibt es verlässlich nur alle paar hundert Meter einen anderen Strandkorbvermieter, andere Gewerbe sind deutlich spannender. Wir ziehen suchend durch den noch schlafenden Ort umher, aber einfach so herumzugehen, das ist heute ganz und gar nicht nach dem Geschmack des Sohnes, das merke ich schnell, da wirkt die lange Tour von gestern doch nach nach.

Als wir endlich eine Bäckerei finden, stehen dort Menschen in langer Schlange an, bis weit vor die Tür sogar. Der Sohn setzt sich fluchend an einen Tisch auf der Terrasse, lange Wartezeiten vor blöden Läden hatte er heute auch nicht im Programm. Ich stehe an, und zwar ausdauernd. Es dauert wirklich enorm lange, weil die Bedienung alle Brötchen erst auf Zuruf schmiert, es liegen keine fertigen herum, warum auch immer, vielleicht ist das Konzept hier nicht bekannt. Ein Stöhnen bei jeder Bestellung, das jetzt auch noch! Es ist brutal heiß im Verkaufsraum, es muss eine Zumutung sein, da zu arbeiten, ich verstehe immerhin die Laune, mir wäre das auch zu heiß für alles. Andere Kunden verstehen das nur bedingt und äußern das auch, die Stimmung ist gereizt. Zwei Kundinnen weigern sich, für ihre Getränkeflaschen Pfand zu zahlen, das müssen sie ja auch sonst nie, sie kommen doch öfter! Lange Diskussionen, man merkt, es geht um Gewohnheitsrechte, die sind bei allen Touristen enorm wichtig, denn die Gewohnheitsrechte belegen den mühsam erworbenen Stammkundenstatus, und an dem hängt viel. Ich bin hier öfter, ich kenne mich aus, ich darf das, das ist mein Revier. 

Auf der Terrasse des Laden essen wir Brötchen und trinken Kakao und schlechten Kaffee, denn das mit dem guten Kaffee, das ist an der Küste nach wie vor nicht ganz einfach. Aber ich will da nicht als verwöhnter Großstädter herummäkeln, denke ich, was für eine blöde Attitüde. Ich trinke schlechten Kaffee, mit dem wir immerhin alle groß geworden sind, der  ging doch damals auch und wenn wir ehrlich sind, es hat ja gar keiner gemerkt, das mit dem etwas nicht stimmte. Filterkaffee aus Maschinen, so war das eben. Und nur weil irgendwelche besonders coolen Bevölkerungsgruppen in den letzten paar Jahren Spezialwissen und Sondergeschmack erworben haben, ist der Rest noch lange nicht ins Banausentum abgerutscht, der ist einfach nur normal geblieben, der hat einfach nur eine Modewelle ausgelassen, und es ist nichts falsch daran, normal zu sein und sich normal zu verhalten. Wobei dieser Gedankengang am Beispiel des Kaffees allerdings kein gutes Ende nimmt, denn dann ist normal gleichbedeutend mit ziemlich bitter, das kann man so auch nicht stehen lassen. Aber eine andere Kurve bekomme ich gedanklich noch nicht hin, es ist nach wie vor zu früh und der Koffeinpegel ist beklagenswert niedrig. Mit einem anständigen Espresso wäre ich natürlich längst weiter. 

Danach diskutieren wir, ob wir Sierksdorf in Richtung Norden verlassen, um heute noch etwas zu schaffen. Oder ob wir doch eine längere Pause einlegen? Wir gehen unschlüssig am Strand entlang. Es klingt sehr gut, etwas zu schaffen, man könnte immerhin hinterher damit angeben. So weit sind wir gekommen! 25 Kilometer oder mehr wären das dann insgesamt. Das können wir uns gut vorstellen, das so zu erzählen, und der Gedanke gefällt uns auch beiden. Andererseits beziehen rechts neben uns jetzt die ersten Touristen ihre Strandkörbe, das ist auch nicht schlecht, findet der Sohn. In einem Strandkorb war er schon lange nicht mehr, das ist an der Nordsee auch etwas ganz anderes und an der Ostsee waren wir eben in den letzten Jahren viel seltener. Also so ein Ostseestrandkorb mit dem überaus verlockenden Meer in nur ein paar Metern Entfernung … es ist wirklich nicht einfach, sich zu entscheiden. Währenddessen macht die Sonne deutlich, dass es auch heute unfassbar heiß werden wird, wir nehmen das als Argument zur Kenntnis und grübeln im Gehen immer weiter.

Der Weg macht unerwartet einen Knick vom Strand weg, es sieht so aus, als könne man direkt am Meer nicht weitergehen. Das, was da wegknickt, das sieht außerdem nach Landstraße aus und geht auch noch eindeutig bergauf. Ich könnte auf dem Handy nachsehen, wohin welche Wege führen und wie lange man wo braucht, aber das Handy ist nicht geladen, das Handy nützt heute gar nichts und ist einfach nur ein Stück Gewicht. Wir könnten unten am Meer entlang eine Weile durch den tiefen Sand laufen und nachsehen, ob da wieder ein Weg kommt, wir könnten auch ein paar hundert Meter lang nachsehen, was es mit dieser Landstraße auf sich hat, aber eigentlich ist uns so gar nicht nach womöglich sinnlosen Versuchen zumute. Der Rucksack ist zu schwer, der Vortag war zu anstrengend, die Sonne ist schon zu hoch, das passt alles nicht. Ich miete uns einfach an der nächstbesten Bude einen Strandkorb, den ich sofort so drehe, dass ich im Schatten sitzen kann. Die anderen Badegäste gucken mich an, als sei ich nicht ganz bei Trost, man sonnt sich hier noch wie 1985, bronzebraun jeder Rücken. Das ist mir egal, ich bin froh um jede Schattenminute, ich hätte auch nichts gegen den ruckartigsten Herbsteintritt aller Zeiten, mit Hitze bin ich bedient. Der Sohn ist da toleranter, der Sohn ist schon wieder im Meer verschwunden.

Ich gehe doch noch einmal los und suche mir eine Zeitung, wobei ich die Damen, die vorhin das Pfand aufgrund ihrer Privilegien nicht zahlen wollten, statusmäßig locker überholen kann – ich kaufe eine Zeitung, in der eine Kolumne von mir steht. Da ich das im Laden selbstverständlich nicht laut verkünde, ist es zwar ein eher stilles Vergnügen, aber es ist doch eines.

Der Sohn schwimmt, der Sohn steht am Meer, der Sohn sammelt Steine und setzt sich kurz neben mich. Der Sohn macht Strandjugenddinge, denke ich, es ist ganz schön, dass er das einmal so kennenlernen kann. Frierend aus der Ostsee kommen und in der prallen Sonne langsam wieder warmglühen. Auf dem Bauch im Sand liegen und in die Gegend sehen, sonst nichts. Am Meer stehen und Schiffe ansehen, wie sie von Travemünde aus nach Norden fahren. Und immer wieder auch ins Meer gehen, einmal, zehnmal, zwanzigmal an nur einem Vormittag. Er kommt zwischendurch zu mir und will wissen, ob es hier Feuerquallen gibt, die Frau aus dem Nachbarstrandkorb hört das und verneint: “Hier gibt es gar nichts. Also außer Tang.” Sie sagt es, als sei das eine gute Nachricht, dass es im Meer nichts gibt, nicht nur keine gemeingefährliche Feuerquallen, sondern auch keine Krebse oder andere Untiere, im Meer ist einfach nur Wasser. 

Soweit die erste Tageshälfte in Sierksdorf, die Fortsetzung wird wieder etwas dauern, hat dafür aber auch etwas mit Sergio Leone zu tun, das ist doch was. Das leere Meer hat mir aber keine Ruhe gelassen, dazu also noch zwei Fragen an Hannah Sophia Weber (Foto: Rainer Kant), sie ist Meeresbiologin und arbeitet bei dem Umweltschutzverein Baltic Environmental Forum für den Meeresschutz. Gerade koordiniert sie im Rahmen des Projektes ResponSEAble die internationale Kampagne #KeepTheBalticBlue, um auf das Problem der Eutrophierung der Ostsee aufmerksam zu machen. Die Kampagne läuft über 18 Umweltschutzorganisationen, in 10 Ländern und in 7 Sprachen.

Hannah Sophia Weber, Foto Rainer Kant

Was siehst Du, wenn Du auf die Ostsee siehst?

Wenn ich auf das blaue Nass blicke, wie es manchmal sanft, manchmal tosend die Küste umspielt, dann sehe ich die Grundlage allen Lebens auf diesem Planeten. Das erste Leben entstand in den Meeren und seitdem haben diese eine unfassbare Fülle und Vielfalt an Lebensformen hervorgebracht. Die Ostsee ist ein ganz besonders Meer. Es ist klein und relativ jung, vor allem aber: nur über eine einzige Verbindung tauscht die Ostsee Wasser mit der Nordsee aus und steht so mit den restlichen Weltmeeren in Verbindung. Das kleine Meer ist also tatsächlich eines der größten Brackwasserssysteme der Erde. Salzwasser aus der Nordsee trifft auf gewaltige Süßwassermengen, die über die großen Flüsse der Ostseeländer fließen. Die westliche Ostsee ist also salzhaltiger als die östliche. Dieser Gradient und die Schwankungen der Salzkonzentrationen sind echte Herausforderungen für Flora und Fauna. So ist die Ostsee ein fragiles Ökosystem mit einer relativ geringen Artenvielfalt.

Doch ich sehe noch etwas anderes. Lasse ich meinen Blick Richtung Horizont schweifen, da kommt da nicht die unendliche Weite, die mich bei anderen Meeren abenteuerlustig und freiheitssüchtig macht. Bei der Ostsee stößt mein Blick stets auf Land, überall Land. Und dieses meist dicht beackert, landwirtschaftlich genutzt. Der Ostseeraum ist die Kornkammer Europas. Wie passt das zusammen: ein sehr sensibles Ökosystem inmitten menschlicher Aktivitäten? Gar nicht gut! Die Ostsee ist stark verschmutzt. Dünger fließt in großen Mengen von den Feldern in das Wasser und nährt die Algen, die zuhauf wachsen und uns im Sommer die grünen, oft giftigen Algenblüten bescheren. Der Prozess heißt Eutrophierung. Haben wir schon so oft auf grünes Wasser geschaut – statt auf blaues – dass wir es als Normalzustand empfinden? Aber auch Algen sterben irgendwann und der grüne Teppich verschwindet – und die Katastrophe geht weiter: Mikroorganismen auf dem Grund verspeisen die herunter rieselnde Nahrungsquelle und zehren dabei Sauerstoff, bis er nicht mehr vorhanden ist. So entstehenden Todeszonen: weitläufige Gebiete, in denen Tiere nicht überleben können. Und so wird die sowieso schon geringe Artenvielfalt noch weiter dezimiert. Und was ist eigentlich mit dem Klimawandel? Oder dem Plastik, welches mittlerweile in den entlegensten Meeresräumen gefunden wird? Beides setzen auch der Ostsee stark zu, wieder zu Ungunsten der Lebensräume und Artenvielfalt….die Ostsee braucht unsere Hilfe!

Wer ist zuständig, um einen besseren Zustand herzustellen?

Wir alle, jeder einzelne von uns! Der Mensch und das Meer sind eng miteinander verwoben, wir stehen ständig miteinander im Austausch. Und so sollten wir uns genauso für die Gesundheit der Meere einsetzen, wie wir unsere eigene. Wie? Konsumverhalten hinterfragen, das eigene, ganz individuelle und das globale. Sich bewusst mit der Frage auseinandersetzen: wieviel und was brauche ich für ein erfülltes Leben? Was die Ostsee betrifft: 70% der Ernte wird an Zuchtvieh verfüttert, nur 30% essen wir Menschen direkt. Das heißt konkret: den Verzehr von Fleisch- und Milchprodukten zu verringern (Gesundheitsinstitutionen empfehlen sowieso nicht mehr als 300 – 500 g Fleisch pro Woche zu essen) hilft, die Eutrophierung in der Ostsee einzudämmen und ist gleichzeitig gut für das Klima.

Leider reicht das aber nicht. Wir leben in einer globalisierten Welt, in der es normal geworden ist Waren und Lebensmittel permanent um den ganzen Erdball zu schicken. Dahinter stecken politische und wirtschaftliche Entscheidungen, die wir als Bürger und Bürgerinnen in Frage stellen sollten. Und Entscheidungsträger und -trägerinnen, die wir daran erinnern müssen, dass auch unsere Kinder und Enkel noch eine Lebensgrundlage brauchen.

Banner BEV "Keep the Baltic blue"

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Sie können hier Geld in den nur virtuell vorhandenen Hut werfen, ich gehe dann demnächst mal weiter, ob mit Schreibvermögen oder ohne. Irgendwann klappt das wieder alles, wie es sich gehört.

Hier die Fortsetzung der Wanderung.

 

 

Trinkgeld August 2018 – Ergebnisbericht

Von der Herzdame im Auftrag vom Buddenbohm. An sich war der Bericht schon so gut wie fertig, der Gatte wollte nur noch die letzten Augusttage abwarten und den Post dann online stellen. Leider kam dann, wie bereits erwähnt, der Bildungsellenbogen dazwischen. Und bevor der Bericht jetzt noch länger wartet, habe ich beschlossen ihn kurzer Hand stellvertretend online zu stellen, das Folgende also von ihm:

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„In Berlin gab es im August ein leserinnenfinanziertes Familienfrühstück im Kuchenrausch, spatzenumflattert, wie es sich gehört. Außerdem ein Frühstück bei La tazza d’oro, das war sehr mein Fall. Ferner den Eintritt ins Freilichtkino Friedrichshain.

Für die Wanderung habe ich mir noch einen Wanderhut gekauft, den ich allerdings nicht tragen darf, weil mich die ganze Familie damit als peinlich empfindet und sich mit Grauen abwendet. Ich trage den auf der Wanderung also nur, wenn die Begleitperson vorgeht. Mir doch egal. Gekauft habe ich von dem Geld ferner die Fahrkarten von Hamburg nach Travemünde und von Sierksdorf nach Hamburg, sowie zwei leichte Isomatten. Ich habe davon auch die spottbillige Übernachtung auf dem Campingplatz bezahlt und gar nicht mal so wenig Proviant, wir brauchten immerhin viele kalte Getränke und viel Eis. Sohn II hat ein Wandertagebuch erworben. In Planung und noch nicht geliefert sind eine neue Powerbank und ein besseres Zweipersonenzelt für die nächste Saison. Es gab bei einem Einzelbetrag auch den Betreff “Für Brötchen”, das wurde auch auf der Wanderung erledigt. Der Rest der Ausrüstung war zwar alt, aber gar nicht mal so schlecht, das kann alles so bleiben.

Für den Garten fielen nur vier Sack Kompost an, für den Garten war es durchgehend zu heiß.

Es gab außerdem eine Summe mit dem Betreff “Etwas Schönes für die Herzdame”, sie hat sich ein Portemonnaie bei Paprcuts in Berlin gekauft.

Ferner gab es Buchgeld, das wurde ausgegeben für die Moselreise von Ortheil.“

Portemonnaie von Paprcuts

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Soweit der Gatte. Jetzt im September werden wir wieder vermehrt in den Garten investieren. Uns sind so viele frisch gepflanzte Stauden und Büsche durch die Dürre eingegangen, da muss jetzt einiges nachgekauft werden. Geplant sind Büsche als Sichtschutz mit Nutzwert, auf jeden Fall wird Aronia dabei sein, dann mindestens zwei Säulenapfelbäume und einige Stauden. Auch Rasen muss dringend nachgesät werden. Und der Gatte hat eine neue Vorliebe für Ziergräser entwickelt. Dem wollen wir auch noch nachgehen.

Wie weit ich überhaupt ohne die gesunden Ellenbogen des Gatten komme, muss ich dann mal sehen.

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Hier darf gerne Geld in den Hut geworfen werden, um den Gatten anzufeuern, schnell wieder gesund zu werden. Auf Dauer nervt mich das schon sehr.

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Im Übrigen hat sich an der Meinung des Gatten nichts geändert, sagt er, der Innenminister sollte nach wie vor zurücktreten und zwar einigermaßen dringend.

Die Herzdame liest: We love Schrebergarten

Den Sommer über war ich sehr mit der Laube beschäftigt: planen, einrichten, werkeln, streichen. Und mindestens wöchentlich in den Baumarkt fahren. Inzwischen ist der Gatte armbedingt so invalide, dass ich auch noch seine Beete übernehmen musste. Und nachdem wir die letzten Wochen mehr oder weniger ununterbrochen unterwegs waren, bestehen die fast nur noch aus Unkraut und welkem Gestrüpp.

Ich bin also sonst zu nichts gekommen, weder zum Lesen noch zum Schreiben. Dabei habe ich schon so lange das Buch „We love Schrebergarten“ von Martin Rist und Angelika Feiner, erschienen im blv-Verlag, hier liegen.

We love Schrebergarten - Cover

Ich gebe zu, ich habe es noch nicht ganz gelesen, sondern immer nur da rein gelesen, wo mich gerade etwas interessiert hat. Und dann bin ich immer an diesen gezeichneten Plänen hängen geblieben. Die liebe ich. Die habe ich schon als Kind geliebt und stundenlang mit der aktuellen „Mein schöner Garten“ von meiner Mutter, wo die immer drin waren, auf Klo gesessen.

We love Schrebergarten - Skizzen

Das Buch ist eingeteilt in die drei Bereiche Kleingarten als Nutz-, Öko- und Kreativgarten und es ist angeblich nicht nur für Schrebergärten, sondern auch Reihenhausgärten anwendbar.

Neben Ideen für die Gestaltung eines Gartens, gibt es viele Grundlagen für Obst- und Gemüseanbau sowie für Zierpflanzen. Da mein Fokus aber bisher auf dem Laubenbau lag und ich keine Ahnung vom Gärtnern habe, wird es langsam Zeit, mich damit mal auseinanderzusetzen. Aber auch hier werde ich wieder abgelenkt von den Kapiteln über Gehwege und Terrassen, Pergolen oder Dachbegrünung.

Das Buch enthält etliche Tabellen über die besten Beerensorten, über Obstbaumsorten für kleine Gärten, samenfeste Gemüsesorten, Kräuter, Fruchtfolgen, beliebte Kletterpflanzen, Rosensorten und Stauden, geeignete Gehölze für Kleingärten und sogar Wildobstsorten. Und ich liebe Tabellen, da ist alles so schön übersichtlich und man kann vergleichen.

We love Schrebergarten - Tabelle

Am Ende gibt es noch einen Arbeitskalender, der stichpunktartig erläutert, in welchem Monat was zu tun ist.

Das Buch geht aber eher nicht so ins Detail, sondern es verschafft einen Überblick über die verschiedenen Kleingartenthemen. Und wenn man ganz genau wissen will, wie man eine Terrasse anlegt, gibt es ja immer noch Google, Youtube und Co. Für Menschen wie mich, mit wenig Zeit und nicht ganz so exzessivem Schnelllesevermögen wie der Gatte, ist das für den Anfang aber tatsächlich genau das richtige Buch.

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Im Übrigen soll ich vom Gatten ausrichten, dass er immer noch der Meinung ist, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

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Und wer mag kann hier gerne Geld in den virtuellen Hut werfen, auch wenn der Text heute nicht von Herrn Buddenbohm persönlich ist.

Bildungsellenbogen

Das im letzten Artikel (also vor mittlerweile einigen Wochen) erwähnte Problem mit den nicht einsatzwilligen Gräten besteht dummerweise weiterhin, dieser Text hier wurde daher größtenteils diktiert. Aber Texte zu diktieren, das wird keine Dauerlösung sein können, ich gehöre zu den Menschen, die mit den Händen denken, ich weiß leider so gar nicht, was ich sagen möchte, bevor ich es getippt und in Form gebracht habe. Es besteht überhaupt Anlass zur Sorge, dass ich beim Reden nur Unsinn von mir gebe, die Familie nickt an dieser Stelle unangenehm kenntnisreich.

Vor einiger Zeit gab es in Bloghausen einmal eine Bildungsbandscheibe, das Wort ist damals bei mir hängengeblieben und guck, das ist also tatsächlich schon wieder fünf Jahre her. Ich lege da jetzt die Bildungsellenbogen an, denn während der letzten drei Wochen habe ich mir große Mühe gegeben, größtenteils nichts zu machen, schon gar nicht etwas mit Tasten, nicht einmal am Handy. Wenn man aber mit den Händen und Armen nichts machen soll, dann bleiben nach etwas Nachdenken Bücher und Audioformate und der Blick aus dem Fenster übrig. Natürlich hätte ich auch noch Serien gucken können, wie es fast alle so begeistert machen, aber die interessieren mich einfach nicht genug. Und da ich hier gerade einen Sohn mit Schulwechsel zum Gymnasium habe und deswegen in letzter Zeit eh viel über das Thema Lernen gelesen und geredet habe, habe ich direkt Lust bekommen, selbst mal wieder etwas zu lernen. Man soll nicht immer nur von anderen etwas verlangen, man soll auch selber mal ran, nicht wahr, Führungskräfte kennen das.

Am ersten Tag mit Krankschreibung und ohne Aufgabe habe ich morgens und am Vormittag noch lange überlegt, was ich machen soll, wenn ich tatsächlich nichts machen soll, denn so einfach ist das nicht, das klingt nur so. Der Computer blieb tatsächlich aus. Es ist oder war mir aber vollkommen selbstverständlich, in der Wohnung vor dem Computer zu sitzen, zumindest alle paar Minuten mal kurz, mal eben etwas nachsehen, mal eben etwas notieren oder twittern, mal eben etwas lesen oder korrigieren, irgendwie schriftlich weiterdenken. So ganz ohne, das war schon eine höchst irritierende Situation. Ich irrlichterte ziemlich ratlos durch die Räume und setzte mich sogar ins Wohnzimmer, da bin ich sonst eher selten. Ich legte mich aufs Sofa und versuchte, mich erst einmal zu entspannen und gründlich nachzudenken, Zeit dafür hatte ich ja endlich einmal genug. Ich schlief wie immer dabei ein.

Dann war ich mittags mit der Herzdame essen, denn das Kochen geht leider auch eher schlecht ohne den Einsatz von Armen und Händen. Auf der Speisekarte stand “Business-Lunch”, da fühlte ich mich gleich wie ein Hochstapler. Sitzt der da wie ein anständig arbeitender Mensch zwischen den ganzen Büropausenleuten und tut in Wahrheit gar nichts, ich bin einfach zu norddeutsch-protestantisch geprägt für so etwas. Wie es sowieso bemerkenswert dämlich ist, an einzelnen Gelenken zu erkranken, man fühlt sich irgendwie dabei gar nicht ausreichend krank, obwohl man es doch ziemlich eindeutig ist. Aber dennoch, dieses gewisse Tagediebgefühl – eher unangenehm.

Dann bin ich in die Bücherei gegangen, ich hatte keinen Plan und keinen Wunschzettel dabei, ich dachte, ich gucke einfach mal nach Sachbüchern, was mich da so anspricht, querbeet. Wozu ich erklären muss, dass ich gerade aus heiterem Himmel eine literarische Umkehrphase habe, was bei mir alle paar Jahre einmal vorkommt und dann länger anhält. Ich finde gerade Romane und Geschichten, ich finde gerade einfach alles Ausgedachte doof und möchte bitte Bücher mit vernünftigem Inhalt lesen. Also Sachbücher. Das ist insofern merkwürdig, als ich Ihnen in der umgekehrten Phase mühelos und länglich erklären könnte, warum Sachbücher doof sind und letztlich zu geistlosem Spezialistentum führen, warum also nur das Lesen von Romanen und Geschichten einen menschlich wirklich weiterbringt, was ich jetzt gerade natürlich vollkommen abwegig finde, denn Romane bringen rein gar nichts, Romane sind eigentlich sogar unerträglich. Es soll Menschen geben, die beide Phasen gleichzeitig leben können, die lesen heute einen Krimi und morgen ein Bändchen über die Herrenmode im ausgehenden Spätmittelalter, warum auch nicht. Mir ist das nicht gegeben, ich mache das mehr so Jekyll-Hyde-mäßig zeitversetzt, und die beiden Herren schätzen sich dummerweise nicht, wie man weiß.

Es fällt mir also, wenn man es recht bedenkt, schon schwer, die Meinungsvielfalt in meinem eigenen Kopf zu tolerieren, das ist immer wieder verblüffend. Wie dumm ich doch gestern war, wie abwegig ich gedacht habe, wie seltsam ich Prioritäten gesetzt habe. Wenn sich aber mein gestriges und mein heutiges Ich schon prima über so banale Fragen wie die der einzig richtigen Literaturwahl heillos zerstreiten können, wie absurd schwierig ist es dann bitte, die komplett irren Meinungen anderer Leute auszuhalten? Womit wieder bewiesen wäre, dass man über Meinungen am besten überhaupt nicht streiten sollte, zumindest nicht im Ernst. Es sind nur die Haltungen, die zählen, bei allem anderen sollte man sich entspannen.

So gönnerhaft und mühsam beherrscht tolerant ging ich also mit mir selbst und meinen drolligen Zuständen um, dazu las ich nach dem Büchereibesuch erst einmal einen schmalen Axel Hacke: “Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen.” Eine hervorragende Lektüre, passend zum tobenden Konflikt in mir und selbstverständlich auch passend zur Zeit, wie man sicher nicht weiter erklären muss, das wurde dann ein paar Tage später am Beispiel einer Stadt in Sachsen noch dramatisch viel deutlicher. Empfehlung also! Überhaupt eine Empfehlung, viel länger über solche Dinge nachzudenken. Anstand, Moral, Sinn, so etwas. Feine Themen, man müsste mehr Zeit dafür haben. Oder sich nehmen. Bei Axel Hacke wird u.a. Yuval Noah Harari zitiert, den ich auch gerade gelesen und gerne empfohlen habe, das ist immer schön, dann fühlt sich das alles so an, als läge man irgendwie richtig mit der Wahl seiner Bücher und würde thematisch halbwegs vernünftige Kreise ziehen. Was auch immer da vernünftig sein mag, einer längeren Betrachtung hält das auch wieder nicht stand, schon klar.

Ich las ferner einen Zufallsfund, so ein Buch, in das man nur kurz im Vorbeigehen hineinsieht und an dem man dann ebenso unerwartet wie gründlich hängenbleibt, das ist das Schöne an großen Büchereien oder Buchhandlungen. Es ist von Stefan Weiler und heißt: “Letzte Lieder – Sterbende erzählen von der Musik ihres Lebens”. Er hat Menschen in Hospizen besucht und sich etwas über ihre Lieblingsstücke erzählen lassen. Es sind viele Geschichten darin, auch ein paar, die man nicht ganz so leicht verdauen wird, da sterben auch jüngere Menschen, auch ganz junge. Es sind Menschen dabei, die gerne gehen, es sind aber auch Menschen dabei, deren Zustand einem das Herz bricht, so etwas kommt vor. Es ist nicht einfach, wirklich nicht. Aber ich habe es in einem Rutsch durchgelesen und lange kein Buch so interessant gefunden, was für eine gute Idee. Man muss danach natürlich auch etwas über seine eigene Musik nachdenken und was eigentlich auf der Beerdigung laufen soll, aber warum nicht. Draußen herbstelt es heran, zumindest wenn man etwas fantasiebegabt ist, und man kann das mit Genuss zelebrieren, wenn man den Termin der eigenen Trauerfeier noch in der weiten Ferne vermutet jedenfalls. 

Da man ohne Arme auch Podcasts hören kann, abonnierte ich, altmodisch wie ich bin, Radiosendungen von Deutschlandfunk etc. Und hörte z.B. eine lange Sendung über den Tod von Benno Ohnesorg und die Umstände der Demonstrationen damals, wobei ich meiner eigenen Allgemeinbildung zum Thema 68 ein paar Mängelrügen erteilen musste. Aber gut, man kann ja daran arbeiten.

Nachmittags zeigte ich Sohn I, wie er vom Gymnasium mit der U-Bahn zur Parkour-Halle kommt – und freute mich wie Bolle über die wachsende Selbständigkeit und sein Größerwerden und überhaupt. Ich sah eine Weile beim Parkour zu und merkte, dass ich diese Übungen da dauernd kategorisierte in “Hätte ich damals auch gekonnt” und “Hätte ich nie gekonnt”. Bei den größeren Jugendlichen überwog die zweite Kategorie – und zwar deutlich! -, da sah ich Bewegungsabläufe, die waren zu meiner Zeit quasi noch nicht erfunden. Ich war auf eine vergnügte Art neidisch, das Gefühl war gar nicht so unangenehm. Aber Himmel. was hätte ich mit dem Sport als Kind für einen Spaß gehabt, es ist wirklich schade.

Am nächsten Tag las ich “Welt im Zwiespalt” von Edgar Wolfrum durch, ein Buch, in dem ich den roten Faden nicht gefunden, also vermutlich schlichtweg überlesen habe. Das machte aber nichts, es war auch in Einzelkapiteln interessant und eignete sich hervorragend, geschichtlich noch einmal etwas mehr Überblick zu bekommen und ein paar weitere Lücken zu schließen. Wobei mir deutlich auffiel, dass ich mir die Geschichte Europas nach 45 sowieso noch einmal genauer ansehen müsste. Die kam damals in der Schule nicht mehr vor, weswegen ich etwa in den Fünfzigern eher schwach bin, schon gar bezogen auf den Rest von Europa. Über die 70er weiß ich wieder mehr, warum eigentlich? Und alles nach 89 könnte gut etwas angereichert werden, so etwas versäumt man allzu leicht, wenn man dauernd als erwachsener Zeitzeuge dabei ist. Als ob man als Zeitzeuge jemals von selbst zum Überblick kommen würde.

Abends hörte ich eine längere Radiosendung über Einstein und die Relativitätstheorie und schlief völlig überfordert aber stets bemüht ein. Und so schläft es sich ja am besten, finde ich.

Demnächst mehr, ich muss das hier langsam angehen lassen, zu viele Tasten, zu wenig heile Sehnen. Im Laufe der nächsten Woche kriege ich aber irgendwie die Fortsetzung der Wanderung hin, hoffe ich.

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Was noch? Musik!

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Und übrigens bin ich nach wie vor und mittlerweile womöglich noch überzeugter denn je der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

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Sie können hier Geld in den nur virtuell vorhandenen Hut werfen, ich danke sehr. Und ich danke übrigens ganz besonders den lieben Menschen, die hier zwischendurch Geld eingeworfen haben, obwohl gar keine neuen Texte erschienen sind. Stark! Den Trinkgeldbericht für den August reiche ich noch nach. Wenn es wieder geht, als wenn alles wieder geht.

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