Ist das noch Punk?

Bei SPON las ich ein Interview mit Bela B, es geht um die selten schwachsinnige Frage “Ist das noch Punk?” und ganz am Ende auch um das nächste Album von den Ärzten. Ich finde es immer seltsam, fast rührend, wenn ich heute Menschen in meinem Alter sehe, die ihre Punkklamotten, ihr Hairstyling, ihre Sicherheitsnadelohrringe etc. nie abgelegt haben, die immer noch so herumlaufen wie damals. Über den ersten Punk, der einen Rollator vor sich herschob, habe ich dann tatsächlich etwas länger nachgedacht, das ist noch gar nicht so lange her. Aber natürlich war dieses Nachdenken nicht ergebnisorientiert, das wäre bei dem Thema ja auch vollkommen abwegig gewesen.

Mir fällt wieder ein, wie ich als etwa Siebzehnjähriger in unserem Travemünder Appartment Besuch von einem meiner Punkfreunde hatte, von einem bemerkenswert gut aussehenden jungen Mann mit prächtigem Iro. Der Typ sah so gut aus, den hätte man vom Fleck weg für einen eher romantischen Film über Punks casten können. So eine Art strahlender Punkprinz, natürlich der Schwarm gar nicht weniger Mädchen, weswegen ich es in seinem Umfeld auch ziemlich interessant fand, ich hatte ja nix. Der stand mit mir also auf dem Balkon in der Strandresidenz, wir lehnten am Geländer und dachten über die Standardfrage nach, also über “Was machen wir jetzt”, als auf dem Nachbarbalkon die Nachbarin Hilde mit einem Glas Sekt in der Hand erschien.

Es war ein früher Abend im Sommer, nüchtern war sie um diese Tageszeit natürlich längst nicht mehr und sie winkte uns gutmütig mit dem Glas zu. Der Punk grüßte lässig mit der Bierflasche zurück, dann sahen wir alle einfach in die Gegend. Hilde hielt sich schwankend mit einer Hand am Balkongeländer fest. Es war seniorenheimmäßig ruhig um uns herum, es fing schon an zu dämmern. Wenn man da lange genug so stehenblieb, konnte man bald die Sonne hinter den Nachbarhäusern untergehen sehen. Die allerletzten Grüppchen von Badegästen gingen vom Strand zurück zu den Autos, luden das übliche Zubehör und die nach dem Tag am Meer furchtbar müden Kinder ein und fuhren zurück nach Lübeck oder nach Hamburg. Wir standen, rauchten, tranken und guckten, es war noch viel zu früh für alles. Hilde rief irgendwann “Is’ schön, nicht?” zu uns herüber. Das war einer ihrer häufigsten Sätze. Wann immer ihr wieder auffiel, dass sie nach all den irrsinnigen Arbeitsjahren in Hamburg nun wirklich jeden Tag in der Seeluft in Travemünde stand und überhaupt nichts mehr machen musste, atmete sie tief ein, so tief es nur irgend ging, bis sich ihr ohnehin nicht gerade zierlicher Körperumfang zu verdoppeln schien. Sie schüttelte breit grinsend den Kopf, sah in die Runde und fragte also “Is‘ schön, nicht?” Es gibt ein Bild der alten Simone Signoret, da steht sie mit glücklichem Gesicht an einer Promenade an welchem Meer auch immer, da ist sie von meiner Hilde praktisch nicht zu unterscheiden. Genau so sah das aus. Das Bild steht hier im Regal, eine alte Postkarte.

“Nee”, sagte mein Punkfreund leise und nur zu mir, “so schön is dat nu wirklich nicht.” Er trank einen Schluck Bier. Wir sahen über die Balkonreihen der Strandresidenz, auf jedem dritten oder vierten hingen bunte und sehr bunte Badetücher in erschlaffter Fröhlichkeit zum Trocknen über das Geländer. Unten auf dem Weg zum Eingang sah man helle Spuren und Häufchen aus dem Sand vom Strand, da hatte man Schuhe und Hosen und Taschen doch noch einmal ausgeklopft. Es roch nach Meer, Sonnenöl und gebratenem Fleisch, es war Zeit für das Abendessen. Das Licht am Horizont wurde mit jeder Minute goldener. Nichts von all dem fanden wir schön.

Hilde hat sich viel gründlicher aus dem bürgerlichen Leben ausgeklinkt, als wir es in den nächsten Jahrzehnten jemals tun sollten. Hilde hat sich konsequent totgesoffen, dabei Kette geraucht, sich einen Dreck um etwaige Pflichten geschert und das alles über weite Strecken auch noch großartig gefunden. Hilde hat alles gemacht, was ihr Spaß gemacht hat, sie hat regelmäßig Geld im Spielcasino verlottert und wenn sie am Morgen danach keine Lust auf das Aufstehen hatte, dann blieb sie eben liegen. Lag im Bett, trank und sang Lieder mit frivolen Texten aus ihrer Jugend und machte nebenbei Kreuzworträtsel. Es war ihr vollkommen egal, was andere über sie dachten, das interessierte sie nicht mehr, das Thema war durch, seit sie keine Firma mehr leiten musste. Konventionen, da lachte sie aber, und wie erstaunlich dreckig sie da lachte. Sollten andere doch denken, was sie wollten. Sie stand bei der Abendrunde mit dem Pudel an der Promenade, das Gesicht im Wind, den Blick auf das Meer, sie atmete tief durch, ganz tief. “Is’ schön, nicht?”

Mein Punkfreund ist wenig später abgehauen. Er hat die gerade erst begonnene Ausbildung geschmissen, er hat Schulfreunde zum Mitkommen überredet. Sie sind nach ungeheuer dramatischem Abschied von nicht gerade wenig weinenden Mädchen los und ab auf die Autobahn, Ziel unbekannt, Ziel auch egal, bloß weg, bloß raus aus diesem Kaff. Nach zwei Tagen kamen sie wieder, Getriebeschaden, kein Geld. Darüber sprach man dann besser nicht. Und irgendwann, nur ein paar Jahre später, wurden sie natürlich alle irgendetwas, hatten irgendeinen Beruf, irgendeine Familie, wie das so ist.

So war das damals mit dem Punk. Na, das ist nun auch schon über dreißig Jahre her.

Beifang vom 11.03.2017

Das hier sieht zwar aus wie ein speziell hamburgischer Link, denn es geht um den Autoverkehr in dieser Stadt, es ist aber für jeden interessant, der ab und zu über Verkehrspolitik und soziologische Entwicklungen nachdenkt. Mehr Einwohnerinnen, weniger Autos, nanu. Aber man staunt nur kurz, im Grunde ist es alles nachvollziehbar. Was in Hamburg für mich noch fehlt, ist eine bessere Erreichbarkeit der Ausflugsziele an den Küsten. Also etwa die S-Bahn nach Travemünde. Dieses Umsteigen in Lübeck ist doch wirklich albern.

Schon einmal zur seelischen Vorbereitung: Am 18. März ist Indiebookday. Mitmachen.

Ich habe keine einzige Folge von “Game of thrones” gesehen, fand dieses Interview aber dennoch interessant, es geht um die Bezüge zwischen aktuellen Fragen, dem echten Mittelalter und der Fantasy-Literatur.

Kulturgeschichte in der Zeit, ein Artikel über die allererste Jazzaufnahme

Und nun Musik. Das Stück fängt langsam an, bleibt langsam und hört langsam auf – und wenn man dennoch immer weiter zusieht, sitzt man irgendwann grinsend vor dem Bildschirm, weil man sich einfach darüber freuen muss, was die da können, fast neun Minuten lang. Jay McShann (Klavier) mit Plas Johnson (Sax) und Milt Hinton (Bass). Wer Spotify nutzt, findet dort übrigens auch eine großartige Version von ‘Taint nobody’s biz’ness if I do von Jay McShann. Sehr empfehlenswert.

Timm Thaler

Timm Thaler, das Kinderbuch von James Krüss, ist neu verfilmt worden, man kann sich das Ergebnis gerade im Kino ansehen. Der Film ist glänzend besetzt, im Grunde hat man schon deswegen Spaß, weil man dauernd jemanden erkennt, das geht übrigens auch den Kindern schon teilweise so. Wir waren mit vier Erwachsenen und fünf Kindern im Kino. Fünf Kinder fanden den Film langweilig bis “so mittel”, vier Erwachsene fanden ihn ganz nett bis „sehr gute Unterhaltung“. Ich setze die Geschichte von Timm Thaler unter uns Möchtegernbildungsbürgern mal als bekannt voraus, Rezensionen kann man woanders nachlesen, ich möchte nur kurz schildern, was mir am Rande auffiel.

Die von den Kindern wahrgenommene Langeweile liegt an einem etwas ruhigen Fluss der Erzählung. Dafür kann der Film eigentlich nichts, die Ruhe ist schon in Ordnung und auch passend, dafür können aber alle anderen Filme etwas. Denn die meisten oder doch sehr viele Kinderfilme sind nun einmal eher hektisch. Ich finde das natürlich schade, ich kann mit langsamen Erzählungen und weniger als -zig Schnitten pro Minute noch umgehen, aber ich bin ja auch nicht die Zielgruppe. Oder doch nur sekundär. Anders ausgedrückt – ohne Kinder wäre mir die Langsamkeit des Films gar nicht aufgefallen. Ich fand ihn am Ende sogar etwas zu schnell. Wie die Kinder von heute wohl später einen grandios langsamen Filmanfang wie in “Spiel mir das Lied vom Tod” oder ähnlichen Klassikern finden? Vermutlich schlafen sie nach zehn Minuten ein.

Für Menschen, die viel Wert auf Ausstattung und Kostüme legen, also für Menschen wie mich, geht es bei Timm Thaler etwas sehr durcheinanderig zu. Die Mode und die Kulissen meinen die Zwanziger, zwischendurch driftet es aber, besonders wenn es teuflisch zugeht und die Hilfskräfte des Bösen nachts auf Motorrädern durch die Szene brausen, recht deutlich plötzlich in die Achtziger oder in beliebige James-Bond-Filme, das habe ich nicht verstanden. Aber ich bin auch im Kino und im Theater ein krückstockfuchtelnder Ausstattungsspießer.

Die Kinder wiederum haben über die Sache mit der Wette gestaunt, dafür kann der Film wieder nix. Wenn nämlich Timm sein Lachen beim Teufel persönlich dagegen eintauscht, künftig jede Wette garantiert zu gewinnen – dann ist es doch pappeinfach, auf eine Wette zu kommen, mit der man diesen Plan durchkreuzen kann? Und nicht nur diesen einen Plan, sondern gleich noch ein paar andere? Sie kamen gleich auf mehrere Optionen, da hätte es dann übrigens auch keinen toten Vater mehr gegeben, wenn man schon dabei ist, logisch. Und nun weiß ich gar nicht recht – kam ich da als Kind damals auch drauf, als ich das Buch gelesen habe? Als ich später die Serie gesehen habe? Oder hab ich alles eher einfach so hingenommen? Hat das Buch da eine erhebliche Schwäche in der Konstruktion oder sind Kinder heute schlauer, pragmatischer, einfach weniger leicht zu beeindrucken, als wir es wohl noch waren? So leicht würde der Teufel den Nachwuchs heute mit einem so simplen Trick jedenfalls nicht reinlegen können.

Wobei, das wurde mir dann erst im Gespräch nach dem Film klar, meine Generation mit dem Teufel selbst noch mehr Inhalt verbunden hat. Da müsste man vermutlich kulturgeschichtlich weit ausholen, aber offensichtlich ist es so, dass der Teufel als Inbegriff des Bösen, als höllisches Drohszenario und Fürst der Finsternis, als Gottseibeiuns mit Heulen und Zähneklappern einfach nicht mehr recht zieht. Wir entfernen uns immer mehr von der Zeit, in der Märchen und andere uralte Geschichten noch abends am langsam ausgehenden Kaminfeuer erzählt oder vorgelesen wurden, während draußen die Wölfe am Waldrand heulten und der aufbrisende Wind mit den klappernden Fensterläden am Haus spielte, die im Licht des Vollmonds gespenstische Schatten an die Wand über dem Bettchen warfen, in dem die Kinder bebend lagen, Stoßgebete murmelnd und sich aneinander klammernd. Das war in meiner Kindheit schon weit weg, es rückt natürlich mit jeder Generation immer weiter von uns. Mittlerweile haben sich so viele Horrorfilmbösewichte in Zeichentrick-, Sammelkarten- oder Plüschpuppenversionen in den Kinderzimmern angesiedelt, da muss man schon etwas auffahren, um noch wohliges oder wirklich furchtsames Schaudern zu erzeugen. Der Teufel jedenfalls ist heute eher eine der Figuren aus dem Kasperletheater, und das ist nun einmal albern und etwas für kleinere Kinder. Da hat sich etwas verschoben, das Böse ist heute anderswo, es ist nicht mehr unten in der Hölle. Auch interessant. Wenn im Film klar wird, was dann mit gesenkter Stimme zögernd geraunt wird, nämlich dass der Baron Lefuet ja rückwärts gelesen – oha! Dann ist das bei heutigen Kindern einfach kein nennenswerter Effekt mehr.

Schön war aber, dass man im Kinosaal genau merkte, wer wie alt ist. Als nämlich Thommy Ohrner einen kurzen Auftritt hatte, hörte man von den Plätzen der Älteren ein gezischtes “Ha, da isser doch!” Und als Antwort der Jüngeren natürlich ein komplett ratloses “Hä? Wer?”

Schön auch, dass der Gruselfaktor mit Kostüm- und Bühnenzauber und filmischen special effects für Sieben- bis etwa Zehnjährige dann doch genau richtig war. Als der Teufel sich am Schluß der Handlung endlich doch noch zu Horrorfilmhöhen aufschwang und so ernsthaft böse wurde, wie es sich für den Herrn nun einmal standesgemäß gehört, da waren es die genau richtigen Effekte für das Alter der Zielgruppe, das muss man auch anerkennen. Denn leicht zu treffen ist das sicher nicht. So gruselig, dass dann doch ein deutlicher Nervenkitzel entsteht und der eine oder andere sich lieber etwas am Kinositz oder an den Eltern festhält, aber nicht so gruselig, dass die Kinder wochenlang von finsteren Träumen verfolgt werden und abends doch lieber wieder bei den Eltern schlafen gehen. Perfekt.

Schade schließlich, da bin ich bei eigenem Verschulden, dass wir es hier nicht geschafft haben, das Buch vorher zu lesen. Andere Krüss-Bücher waren in den letzten Jahren im Bettkantenprogramm dabei, dieses leider nicht. Wobei die Handlung des Films dann doch so stark abweicht (für Kenner – es fehlt der Reiseteil, es fehlt Hamburg, es fehlt der spätere Timm), man könnte fast noch einmal darüber nachdenken. Oder wetten, dass man es noch liest ….

(Regie: Andreas Dresen, mit Arved Friese, Justus von Dohnanyi, Jule Hermann, Charly Hübner, Axel Prahl, Nadja Uhl, Fritzi Haberlandt und anderen)

„Was machen die da“ ist zurück

Es war Isa und mir gestern ein Fest, ein großes Fest sogar, eine neue Folge von “Was machen die da” zu veröffentlichen. Nach immerhin einem Jahr Pause hatten wir schon fast vergessen, was für einen Spaß die Arbeit an diesem Projekt macht, wie wohltuend gut wir zusammenarbeiten können und wie interessant diese Interviews sind (und was die Passwörter zum Blog waren).

Wir haben Regula Venske in der Hamburger Zentralbücherei getroffen, sie ist Generalsekretärin des PEN Deutschland. Das ist eine dieser Einrichtungen, die man im Moment eher mehr als weniger braucht, was in diesem Fall leider kein gutes Zeichen ist.

Es war Zufall, dass der Text wegen Deniz Yücel ganz besonders aktuell wirkt, wir hatten den Termin lange vor der Eskalation geplant. Aber das Beispiel zeigt natürlich gut, worum es bei all dem geht.

“Was machen die da” wird in diesem Jahr einen wesentlich entspannteren Rhythmus als in den Anfangszeiten haben, es geht aber weiter – wir haben eine sehr feine Liste von Personen, die wir befragen möchten, wir laufen uns jetzt langsam wieder warm.

St. Georg hilft – ein ausgezeichnetes Update

Wer schon etwas länger hier liest, erinnert sich noch an die Spendenaktion “St. Georg hilft”. Zu dieser Hilfsaktion gibt es noch einmal etwas Neues, es ist erstaunlich und erfreulich. Und es ist nicht nur für die interessant, die großzügig gespendet oder sich sonst irgendwie beteiligt haben, es ist wohl am Rande auch für die interessant, die sich beruflich mit Blogkooperationen und dergleichen beschäftigen. Denn während man bei dem Reizwort Kooperation meist nur an Werbung und PR im kommerziellen Sinne denkt, ging es hier um eine Blogkooperation für einen guten und ziemlich klar definierten Zweck, es ging um eine Kooperation mit der Kirche.

Deswegen waren die Herzdame und ich gerade als Gäste der Synode in Travemünde, wir haben dort mit der Kirchengemeinde St. Georg-Borgfelde den Fundraisingpreis der Nordkirche gewonnen – von dem ich natürlich bis vor kurzer Zeit nicht einmal wusste, dass es den überhaupt gibt.

Im Herbst 2015 strandeten Hunderte, später Tausende Transitflüchtlinge am Hamburger Hauptbahnhof, die Lage der Leute war der Stadt in den ersten Wochen herzlich egal – und so lief es dann auch dort ab. Es gab keinen Strom, kein Wasser, keine Nahrung, Kinder schliefen nachts auf dem nackten Boden in der Bahnhofshalle, die Lage war ziemlich bedrückend. Im Stadtteil, dem hier immer so genannten kleinen Bahnhofsviertel, entstanden schnell Hilfsgruppen, etwa die außerordentlich erfolgreiche Welcome Soup, die den einzigen Zweck hatte, diesen durchreisenden Menschen wenigstens eine warme Mahlzeit zu geben. Tausende Portionen wurden ausgegeben, quasi über Nacht entstand eine erstaunlich leistungsfähige Infrastruktur der Hilfe, der Stadtteil vernetzte sich auf eine neue und bis dahin gar nicht gekannte Art und machte vieles möglich. Auch die Herzdame und ich fragten uns, wie wir am besten beitragen konnten.

Und dann kam es so: Die Herzdame hatte die Idee einer Spendenseite, hat diese “mal eben” aufgesetzt und “mal eben” die richtigen Leute kontaktiert, vor allem Joschi Neu vom Kirchenbüro. Denn wir dachten uns, dass es sinnvoll ist, die Spenden über eine seriöse und äußerst vertrauenswürdige Institution laufen zu lassen. Joschi hat das “mal eben” zu einem Projekt der Kirche gemacht, “mal eben” die Spendeninfrastruktur für genau diesen Zweck aufgebaut, die Herzdame hat das dann mit der Seite verdrahtet. Und ich habe das getan, was ich sowieso dauernd mache – ich habe gebloggt. Über die Situation am Hauptbahnhof, über die Möglichkeit, mit einer Spende zu helfen, über das, was mit den Spenden möglich wurde, in der Welcome Soup und anderswo. Über Helfer und Schicksale, über das, was hier los war. Ich habe also im Blog und in den sozialen Medien geschrieben und verlinkt, die Herzdame hat mit einem ernannten Spendengremium mit Bewohnern aus dem Stadtteil das Geld verwaltet, Joschi hat Spendenquittungen und Dankschreiben verschickt – und das lief. Es lief über Nacht an, es lief sensationell gut und es lief, solange es notwendig war, also bis zum dem sogenannten Türkei-Deal.

Das brachte erhebliches öffentliches Interesse, es kamen deutlich über 25.000 Euro an Spenden zusammen. Es trug dazu bei, dass die über 200 Helfer im Stadtteil monatelang ihre Arbeit machen konnten. Es machte natürlich auch deutlich, welche Weltklasseleserschaft hier mitliest, noch einmal vielen Dank an alle, die irgendetwas gespendet haben – es waren sehr viele von Ihnen.

Und dass wir dafür jetzt diesen Preis gewonnen haben, liegt wohl vor allem daran, dass wir alle genau das gemacht haben, was wir eh schon konnten. Die Herzdame konnte Technik und Vernetzung, Joschi konnte Gemeindebüro, und ich habe eben einfach nur geschrieben, ich kann nämlich sonst leider nichts. Aber das ist wohl der richtige Ansatz – wenn niemand sich verbiegt, geht es am besten. Wobei ich vermute, dass es auch deswegen gut war, weil wir so schnell waren. Wir haben die erste Idee genommen, nichts zerredet und es bei genau einem Zweck belassen. Aus diesem Grund hat nämlich auch die Welcome Soup so gut funktioniert und das war eine wichtige Lehre aus dieser Zeit – sich auf die Sachen zu beschränken, die man vermutlich richtig gut hinbekommen kann. Und darin dann immer besser werden.

Durch den Preis der Nordkirche kommen jetzt noch einmal 2.500 Euro für die Aktion dazu, das Geld wird hier nach wie vor sinnvoll eingesetzt, Integrationsarbeit ist so leicht nicht fertig

Die Preisverleihung fand übrigens im Maritim Travemünde statt und Travemünde und ich – da war doch was. Dazu muss ich dann separat noch einen Beitrag schreiben, das war, wie soll ich sagen, in dieser Hinsicht ein sensationell bemerkenswerter Abend. Aufklärung in Kürze.

Joschi Neu (rechts), die Herzdame als Zeugsvorzeigerin und ich im Maritim Travemünde.

Beifang vom 04.03.2017

Hier hätte eigentlich ein Text über den gestern gewonnenen und in Travemünde entgegengenommenen Preis stehen sollen, der ist ja erstaunlich und seltsam genug, aber da die gesamte Familie heute sowohl im Park, im Kino und dann noch bei der Hamburger Großmutter war, verschiebt sich das dezent. Ich bin außerdem danach frühlingsbedingt und Krokusse zählend quer durch die Stadt zu Fuß nach Hause gegangen und habe daher einen schweren Frischluftschock, ich brauche Ruhe. Ein paar Links gibt es dennoch, eh klar.

Was Mensch und Mörderwal gemeinsam haben – das Thema ist die Rolle der Frauen in der Frühgeschichte der Menschheit.

Ein Artikel über den “Mann ohne Eigenschaften”, mit dem ich irgendwie nie warm geworden bin. Aber nach solchen Lobeshymnen gucke ich dann doch nochmal hinein. Das ist wie mit Wein – ab und zu probiere ich mal wieder. Vielleicht schmeckt er mir ja im Rentenalter endlich. Oliven habe ich auch erst mit etwa vierzig Jahren plötzlich gemocht, man weiß nie.

Geschichten per Crowdfunding. Das wird noch mehr aufleben, glaube ich.

Bei der GLS Bank habe ich wieder drei Links zum Wochenende. Beim mittleren Link geht es um das Arbeiten in der eigenen Wohnung, also um Varianten der Home-Office-Übung. Das betrifft mich auch persönlich gerade, da in meinem beruflichen Umfeld diskutiert wird, was denn nun richtig und angemessen und optimal oder gottweißwas ist. Wer wann wohin? Mit bisher unklarer Gemengelage im Ergebnis. Bis auf weiteres gilt – ich gehe ganz gerne ins Büro und mag den Wechsel zwischen den Orten, um im Kopf umzuschalten.

Bei der Suche nach Stücken für die neue Playlist mit Arbeitsmusik, Schreibmusik, Denkmusik habe ich gemerkt, dass es kaum Videos von Vince Guaraldi gibt, hier ist er mit dem Trio und Bola Sete zu sehen. Der Clip ist dann wohl eine Rarität. Das ist so überaus gepflegte Musik, man möchte sich direkt einen Anzug anziehen, sich nach einem Cocktail umsehen und dann mit einer Dame im Abendkleid ein hochgeistiges Gespräch anfangen, über Casual Jazz auf Playlists oder so.

Kurz und klein

Beifang vom 28.02.2017

Anne Schüßler über die Benachrichtigungen auf dem Handy. Ich habe da vor einiger Zeit fast alles abgestellt, ich bekomme nur noch Blogkommentare von WordPress und Mitteilungen über Naturkatastrophen und Großbrände angezeigt, das kommt alles nicht so wahnsinnig häufig vor. Alles andere schweigt – und das war tatsächlich eine erstaunlich große Befreiung, das hätte ich viel früher so einstellen sollen. Es gibt überhaupt keinen Grund, auf irgendetwas sofort zu reagieren.

Es gibt jetzt eine Ausgabe “Sämtliche Gedichte” von Peter Rühmkorf.

Ich lese gerade “Alle Eulen” von Filip Florian. Aus dem Rumänischen von Georg Aescht. Es gibt hier eine wunderbare Rezension dazu. Ich bin noch im ersten Drittel, es kommt mir aber jetzt schon empfehlenswert vor.

Ein Interview mit Madeleine Albright über ihren Lebensweg und natürlich auch über den so-called President.

Ein Nachruf kann auch lesenswert sein, wenn man die Person überhaupt nicht kennt (via Claudine auf Twitter).

Außerdem habe ich gestern etwas gelernt, und Sie wissen das ja vielleicht auch nicht, deswegen breite ich das mal kurz aus. Der Song “Killing me softly”, den man vermutlich am ehesten in den legendären Versionen von Roberta Flack und The Fugees kennt, bezieht sich auf den Sänger Don McLean. Die Sängerin Lori Lieberman, die die Idee zum Song hatte, hat ihn das folgende Lied singen hören, das man unten im Clip sieht. In Zusammenarbeit mit dem Texter Norman Gimbel, der wiederum auch “The girl from Ipanema” geschrieben hat, entstand dann daraus “Killing me softly”.
Das Stück von Don McLean klingt zwischendurch manchmal so, als würden seine großen Erfolge darin anklingen, “Vincent” (das Lied über Van Gogh) und natürlich “American Pie”, es sind sehr ähnliche Tonfolgen darin. Und wenn man erst einmal soweit ist, kann man sich auch gleich das ganze Album “American Pie” noch einmal anhören, das ist dann ziemlich interessant.

Und jene Lori Lieberman, die erste Interpretin und Ideengeberin von “Killing me softly”, ist diese Dame hier.

Beifang vom 27.02.2017

Bereits am Wochenende hatte ich bei der GLS Bank vier Links, darunter der älteste, den ich überhaupt noch  auf Vorrat hatte. Das ist der über die Straßenbäume und ich finde das Thema großartig. Ein wunderbares Beispiel für völlig unerwartete Komplikationen.

Hier geht es ausführlich um die erste LP von George Harrison nach dem Ende der Beatles. Ich mag solche gründlichen Besprechungen historischer Platten, ich mag sie sogar dann, wenn mir die Namen der Beteiligten reihenweise gar nichts sagen, was hier allerdings gar nicht der Fall ist. Das Album “All things must pass” ist auch auf Spotify verfügbar. Ich mochte das eher schlichte “Beware of darkness” und glaube, ich kannte es überhaupt nicht.

Noch einmal eine ganze Reihe Podcastempfehlungen. Ich mache fleißig Bookmarks – für was weiß ich wann.

Elisabeth Rank über das Herumliegen

Frédéric Valin über das Herumfahren in Taxis .

Bei Kiki wird es Frühling.

Ich habe neulich über ein Stück von George Michael geschrieben, danach habe ich natürlich, Junkie der ich bin, auf Youtube weiter herumgeklickt und das hier gefunden. George Michael covert Roberta Flack, deren Version, eh klar, auch schon ein Cover war. Die erste Version des Liedes war von Peggy Seeger und ist, wenn man die Coverversionen kennt, nicht mehr gut zu ertragen. Wobei das Stück wohl keiner jemals so endgültig gesungen hat wie Johnny Cash, aber das war eben auch eine Frage des Alters. Hier jedenfalls die Version von George Michael.

Was schön war

Ich war mit den Söhnen im Kino, bzw. im und doch nur vor dem Kino. Denn mittlerweile sind sie so groß, dass man nicht mehr zwingend mit reingehen muss. Man kann sie einfach hinbringen, ihnen Karten kaufen und Popcorngeld geben und sie dann später wieder abholen. Das ist bei manchen Filmen auch sehr gut so, diese Lego-Filme etwa interessieren mich überhaupt nicht. Demnächst gehen wir in die neue Verfilmung von Timm Thaler, da gehe ich dann auch gerne wieder mit rein, aber es ist doch befreiend, es nicht mehr in jedem Fall zu müssen. Die Interessen, sie sind eben verschieden.

Allerdings schien mir Sohn II vor Beginn der Vorstellung etwas müde zu sein, und bei müden Kindern weiß man nie. Ich fand es daher sicherer, direkt vor dem Kinosaal zu warten und mich nicht allzu weit zu entfernen. Das war in einem großen Kino mit -zig Sälen. Direkt vor dem Raum, in dem der Film für die Söhne lief, war der Einstieg zur großen Röhrenrutsche, durch welche die zahllos herumwuselnden Kinder etliche Meter abwärts rutschen konnten, um dann laut johlend die Treppen wieder hochzurasen, noch einmal zu rutschen und immer so weiter, bis auch ihr Film irgendwann anfing und sie so viel Sport getrieben hatten wie ich in einem Monat. Ich saß da also auf einem Barhocker, ich kaufte mir kein Getränk, ich kaufte mir kein Popcorn. Ich stand nur eine Weile kopfschüttelnd vor den Preisen und fühlte mich alt, das war doch früher alles nicht so flughafenbaselmäßig teuer? Und dann saß ich da eben einfach herum, so ein Spielfilm dauert eine Weile, mit der ganzen Werbung davor und all den Trailern.

Ein paar Meter weiter bedrängten Kinder ihre Eltern, weil sie unbedingt die allergrößten Popcorneimer haben wollten, noch eine Limo, noch mehr Weingummi, noch ein Eis. Direkt neben mir versuchten Mütter und Väter den Rutschverkehr zu regeln, Schuhe an- und auszuziehen und Kinder zu trösten, die auf der Rutsche mit anderen Kindern kollidiert waren. Überall verstreutes Popcorn in rauen Mengen auf der Auslegeware, darüber jagten ab und zu Kinder, die aus einem der Kinosäle geschossen kamen und zu den Toiletten rannten, so schnell es nur irgend ging. Bloß nichts verpassen! Nach kurzer Zeit, nach einer Minute allerhöchstens, jagten sie schon wieder zurück in die Filmvorführung. Die Söhne waren nicht zu sehen, kamen nicht heraus, ich wurde nicht gebraucht.

Ich hatte ein Buch dabei, ich las ein paar Seiten. Ich guckte kurz aufs Handy, dann steckte ich Handy und Buch doch wieder weg. Draußen fing es an zu regnen, die Passanten wurden schneller. Die Schillerstatue vor dem Kino wurde nass und verfärbte sich. Sohn II hatte vor Beginn der Vorstellung zu Füßen des Dichters die Schätze versteckt, die er auf dem Weg zum Kino gefunden hatte: Kastanien, eine große Schraube, ein altes eisernes Türscharnier, den Holzstab einer Feuerwerksrakete. Schiller sah stoisch darüber hinweg, dass da einer vor ihm im Grünzeug herumwühlte.

Ab und zu leerte sich das Foyer des Kinos und alle verschwanden nach und nach in Vorführungen, aber dann kam bald schon wieder eine neue Welle von Besuchern. Rutschende Kinder, kauende Kinder, kreischende Kinder, weinende Kinder, lachende Kinder. Bezahlende Eltern, herumkommandierende Eltern, scheuchende Eltern, da rein, hier entlang, weg da, komm her, was hast du denn jetzt schon wieder?

Das ging mich alles nichts an. Das störte mich auch nicht. Neun Jahre mit Kindern haben auch Vorteile, ich kann so etwas mittlerweile gut ausblenden. Ich saß da einfach nur, guckte in die Gegend und machte überhaupt nichts. Ich machte mir nicht einmal schlau sein sollende Gedanken, ich sah auch nicht genau hin, um irgendetwas mitzubekommen und später vielleicht darüber zu schreiben. Ich sah einfach nur in die Gegend, durch das Fenster und auf den unfassbar vollgekrümelten Boden, ich wartete darauf, dass die Zeit sich ein wenig ausbeulte. Das tat sie nach einer Weile tatsächlich, wenn auch nicht mehr so deutlich wie früher. Wenn man sich  an die lähmende Kinderlangeweile erinnert, die meine Generation ja noch gründlich kennt – wie unfassbar lang, grau und betondick die Zeit damals manchmal wurde! Wie unüberwindlich ewig mir da manchmal eine Schulstunde schien, in der ich vor den Blicken der Chemielehrerin in Deckung ging. Und wie grotesk lang erst ein vollkommen ereignisloser Sonntag im November an der menschenleeren Ostseeküste war. So lang, dass ich alle Schallplatten im Regal der Mutter gleich mehrfach durchhören konnte, von Percy Sledge zu Degenhardt und Elvis und zurück, und jedes verdammte Lied dauerte endlos lange. Solche fantastischen Längen bekomme ich heute natürlich nicht mehr hin, das ist auch eine Frage des Alters.

Aber ein ganz wenig langsamer wurde die Zeit dann doch endlich, nach etwa einer Stunde. Ich brauche heute etwas Anlaufzeit dafür, ich bin etwas ungeübt, und natürlich wirkte das auch nur eine halbe Stunde, wenn überhaupt so lange, vielleicht waren es nur magere zehn Minuten. Das war aber immerhin ein schönes Gefühl, kurz mal die Zeit anzuhalten. Ich habe mich nicht vom Fleck bewegt und sicherheitshalber gleich überhaupt nicht mehr gerührt, auf diesem Kinofoyerbarhocker direkt vor dem Riesenfenster, über das quer Tausende Regentropfen liefen, neben der rege genutzten Rutsche, hinter der Ausgabestelle für maßlos teures, zu süßes oder zu salziges Popcorn und neben dem Kinosaal, in dem sich die Söhne vermutlich prächtig amüsierten.

Dieser Moment hat mich jedenfalls wieder daran erinnert, dass ich schon seit geraumer Zeit gerne mal einen ganzen Tag lang nichts machen möchte. Also nichts im Sinne von gar nichts. Höchstens zugucken, wie sich das Tageslicht verändert, mehr wirklich nicht. Wie seltsam schwer das einzurichten ist.