Bei SPON las ich ein Interview mit Bela B, es geht um die selten schwachsinnige Frage “Ist das noch Punk?” und ganz am Ende auch um das nächste Album von den Ärzten. Ich finde es immer seltsam, fast rührend, wenn ich heute Menschen in meinem Alter sehe, die ihre Punkklamotten, ihr Hairstyling, ihre Sicherheitsnadelohrringe etc. nie abgelegt haben, die immer noch so herumlaufen wie damals. Über den ersten Punk, der einen Rollator vor sich herschob, habe ich dann tatsächlich etwas länger nachgedacht, das ist noch gar nicht so lange her. Aber natürlich war dieses Nachdenken nicht ergebnisorientiert, das wäre bei dem Thema ja auch vollkommen abwegig gewesen.
Mir fällt wieder ein, wie ich als etwa Siebzehnjähriger in unserem Travemünder Appartment Besuch von einem meiner Punkfreunde hatte, von einem bemerkenswert gut aussehenden jungen Mann mit prächtigem Iro. Der Typ sah so gut aus, den hätte man vom Fleck weg für einen eher romantischen Film über Punks casten können. So eine Art strahlender Punkprinz, natürlich der Schwarm gar nicht weniger Mädchen, weswegen ich es in seinem Umfeld auch ziemlich interessant fand, ich hatte ja nix. Der stand mit mir also auf dem Balkon in der Strandresidenz, wir lehnten am Geländer und dachten über die Standardfrage nach, also über “Was machen wir jetzt”, als auf dem Nachbarbalkon die Nachbarin Hilde mit einem Glas Sekt in der Hand erschien.
Es war ein früher Abend im Sommer, nüchtern war sie um diese Tageszeit natürlich längst nicht mehr und sie winkte uns gutmütig mit dem Glas zu. Der Punk grüßte lässig mit der Bierflasche zurück, dann sahen wir alle einfach in die Gegend. Hilde hielt sich schwankend mit einer Hand am Balkongeländer fest. Es war seniorenheimmäßig ruhig um uns herum, es fing schon an zu dämmern. Wenn man da lange genug so stehenblieb, konnte man bald die Sonne hinter den Nachbarhäusern untergehen sehen. Die allerletzten Grüppchen von Badegästen gingen vom Strand zurück zu den Autos, luden das übliche Zubehör und die nach dem Tag am Meer furchtbar müden Kinder ein und fuhren zurück nach Lübeck oder nach Hamburg. Wir standen, rauchten, tranken und guckten, es war noch viel zu früh für alles. Hilde rief irgendwann “Is’ schön, nicht?” zu uns herüber. Das war einer ihrer häufigsten Sätze. Wann immer ihr wieder auffiel, dass sie nach all den irrsinnigen Arbeitsjahren in Hamburg nun wirklich jeden Tag in der Seeluft in Travemünde stand und überhaupt nichts mehr machen musste, atmete sie tief ein, so tief es nur irgend ging, bis sich ihr ohnehin nicht gerade zierlicher Körperumfang zu verdoppeln schien. Sie schüttelte breit grinsend den Kopf, sah in die Runde und fragte also “Is‘ schön, nicht?” Es gibt ein Bild der alten Simone Signoret, da steht sie mit glücklichem Gesicht an einer Promenade an welchem Meer auch immer, da ist sie von meiner Hilde praktisch nicht zu unterscheiden. Genau so sah das aus. Das Bild steht hier im Regal, eine alte Postkarte.
“Nee”, sagte mein Punkfreund leise und nur zu mir, “so schön is dat nu wirklich nicht.” Er trank einen Schluck Bier. Wir sahen über die Balkonreihen der Strandresidenz, auf jedem dritten oder vierten hingen bunte und sehr bunte Badetücher in erschlaffter Fröhlichkeit zum Trocknen über das Geländer. Unten auf dem Weg zum Eingang sah man helle Spuren und Häufchen aus dem Sand vom Strand, da hatte man Schuhe und Hosen und Taschen doch noch einmal ausgeklopft. Es roch nach Meer, Sonnenöl und gebratenem Fleisch, es war Zeit für das Abendessen. Das Licht am Horizont wurde mit jeder Minute goldener. Nichts von all dem fanden wir schön.
Hilde hat sich viel gründlicher aus dem bürgerlichen Leben ausgeklinkt, als wir es in den nächsten Jahrzehnten jemals tun sollten. Hilde hat sich konsequent totgesoffen, dabei Kette geraucht, sich einen Dreck um etwaige Pflichten geschert und das alles über weite Strecken auch noch großartig gefunden. Hilde hat alles gemacht, was ihr Spaß gemacht hat, sie hat regelmäßig Geld im Spielcasino verlottert und wenn sie am Morgen danach keine Lust auf das Aufstehen hatte, dann blieb sie eben liegen. Lag im Bett, trank und sang Lieder mit frivolen Texten aus ihrer Jugend und machte nebenbei Kreuzworträtsel. Es war ihr vollkommen egal, was andere über sie dachten, das interessierte sie nicht mehr, das Thema war durch, seit sie keine Firma mehr leiten musste. Konventionen, da lachte sie aber, und wie erstaunlich dreckig sie da lachte. Sollten andere doch denken, was sie wollten. Sie stand bei der Abendrunde mit dem Pudel an der Promenade, das Gesicht im Wind, den Blick auf das Meer, sie atmete tief durch, ganz tief. “Is’ schön, nicht?”
Mein Punkfreund ist wenig später abgehauen. Er hat die gerade erst begonnene Ausbildung geschmissen, er hat Schulfreunde zum Mitkommen überredet. Sie sind nach ungeheuer dramatischem Abschied von nicht gerade wenig weinenden Mädchen los und ab auf die Autobahn, Ziel unbekannt, Ziel auch egal, bloß weg, bloß raus aus diesem Kaff. Nach zwei Tagen kamen sie wieder, Getriebeschaden, kein Geld. Darüber sprach man dann besser nicht. Und irgendwann, nur ein paar Jahre später, wurden sie natürlich alle irgendetwas, hatten irgendeinen Beruf, irgendeine Familie, wie das so ist.
So war das damals mit dem Punk. Na, das ist nun auch schon über dreißig Jahre her.