Kleine Anmerkung zu Kleiderordnungen

In der NZZ steht ein Artikel über Kleiderordnungen in der Geschichte, dazu fiel mir etwas ein. Als ich bei der Bundeswehr war, Achtung, Opa erzählt vom Krieg! Da war ich ja übrigens überhaupt nur, weil ich bei der Musterung so dermaßen überrascht war, nicht komplett untauglich zu sein, dass ich danach viel zu spät aufs Verweigern kam und das dann erst nach dem Grundwehrdienst getan habe, eine komplizierte Geschichte, aber eine ganz andere, die will ich gar nicht erzählen. Als ich also vor etwa hundert Jahren den damals in Westdeutschland noch üblichen Grundwehrdienst leistete und bei der Luftwaffe Bürodienst als Fernschreiber schob, eine Berufsbezeichnung, die es auch schon lange nicht mehr gibt und die sich mittlerweile anfühlt, als wäre ich Kutscher oder Eisenbahnbremser oder so etwas Historisches gewesen, da habe ich mir eines Morgens einen pinkfarbenen Gummibärchenanstecker an die Uniform gesteckt und damit dort gegen die Kleiderordnung verstoßen. So ein kleines Plastikgummibärchen in neonpink, das war damals unter Zivilisten gar nicht unüblich, so etwas an der Kleidung oder sogar im Ohr zu tragen, das waren eben die späten Achtziger, pardon, es waren modisch wirklich seltsame Zeiten. Die Dinger waren spottbillig, auffällig und, nun ja, witzig. Besonders an Uniformen, versteht sich.

Ich muss dazu noch erklären, dass der mir bekannte Teil der westdeutschen Luftwaffe zu der Zeit alles andere als ein einsatzbereiter Teil der Landesverteidigung war, es war eher eine entspannte, fast schon niedlich schluffige Truppe, von der in irgendeinem Ernstfall am nächsten Morgen so gut wie niemand mehr zum Dienst erschienen wäre. Das ist im Grunde auch schon genug Stoff für Komödien, aber man kommt ja zu nix. Außerdem ist dieses merkwürdige Lebensgefühl aus dem ganz späten Kalten Krieg schon gar nicht mehr vorstellbar. Und der Herr Regener hat nicht wenig davon bereits äußerst treffend verarbeitet, wenn es bei ihm auch um das Heer ging, aber egal. An Regener kommt man eh nicht ran. 

Ich schildere dennoch kurz das Setting der kleinen Geschichte, man muss sich dazu bitte eine Ansammlung von gar nicht so hässlichen und reihenhausähnlichen Gebäuden in Rotklinker vorstellen, alle nur zwei Stockwerke hoch, die etwas verstreut auf einem weitläufigen Gelände liegen. Um die Häuser herum ist alles sehr grün, fast parkartig, Landschaftsgärtner mähen Rasen und schneiden Hecken, Soldaten fegen hinterher. Das Ensemble strahlt Frieden aus, in der Nähe viel Wald und ringsum nichts als Felder. Es ist ruhig in dieser Gegend, es ist draußen auf dem Land, es ist sogar sehr weit draußen, aus welcher Stadt auch immer betrachtet. Ringsum steht ein hoher Zaun, es handelt sich bei der Anlage dann doch um eine Kaserne, da gehört so etwas natürlich dazu. In diesen recht netten Häusern wohnen und arbeiten also Soldaten und auch viele zivile Angestellte, sie fahren, wenn sie morgens zur Arbeit kommen, an einem Wachhäuschen vorbei, in dem ein sehr verschlafener junger Mann sitzt und alle durchwinkt. Hier verirrt sich so leicht niemand her, wer hier mit dem Auto landet, der wird schon richtig sein, da muss man sich keine Ausweise näher ansehen, nicken und winken, immer nur winken. Gleich neben den Häuschen im Grünen liegt ein kleiner Flugplatz. Auf den Rollbahnen stehen gemütlich aussehende Transportmaschinen mit Propellern, die manchmal, eher selten, hummelhaft brummend abheben. Das kann man sich soweit vielleicht vorstellen, diese Disney-Version einer Kaserne, da hinten steht in diesem Bild gerade ein Spieß vor seinem Gebäude und überlegt, wie der große Waschbetonkübel neben der Eingangstür in diesem Sommer wohl am besten zu bepflanzen ist. Er wird es später in aller Gründlichkeit mit seinen Kameraden besprechen, man hat in dieser Kaserne Zeit für so etwas. Eile kennt man hier nicht. Zwei-, dreimal im Jahr gibt es einen Probealarm, dann geben sich alle einen sanften Ruck und bewegen sich etwas zackiger durch den Tag, man weiß doch nie, wer bei solchen Gelegenheiten vorbeikommt und man will ja keine Schwierigkeiten. Man will seine Ruhe, und die nicht zu knapp.

Ich saß dort monatelang in einem Büro mit mehreren jungen Frauen. Das entsprach natürlich überhaupt nicht den Vorstellungen, die ich mir vorher von der Bundeswehr gemacht hatte. Ich hatte mit Drill und Stress gerechnet, mit wilden Aktionen im Gelände, stattdessen saß ich stunden- und tagelang völlig beschäftigungslos auf einem uralten Drehstuhl unter Neonbeleuchtung und war schon nach wenigen Tagen in meine Kollegin M. verliebt, das konnte auch nicht anders sein. Denn worauf sollte man in all den leeren Stunden auch kommen, und in M. hätte ich mich vermutlich auch unter anderen Bedingungen verliebt, wenn nicht unter allen, rotgoldene Locken und auch sonst. Ich las zu der Zeit reihenweise Bücher über Zen-Buddhismus und Meditation, ich versuchte in den unendlich langweiligen Stunden in der Schreibstube hartnäckig, meinen eigenen Gedanken nicht mehr zu folgen und sie wie Wolken vorbeiziehen zu lassen, so stand es in den Büchern, so ging das doch und allzu schwer klang das nicht. Ich dachte also, dass ich nichts dachte, ich dachte intensiv auf der Leere herum, auf endlos weiter Leere, auf dem Nichts. Ich dachte himmelweites Blau und dann dachte ich, dass so ein Blau auch nicht das Nichts ist, was aber schon wieder so ein verdammter Gedanke war, den ich eben nicht denken wollte. Ich ging zurück zum Blau und blendete es langsam und mühsam aus, ich dachte “ausblend”. Es war wirklich ungeahnt schwer, überhaupt nichts zu denken, es schien fast unlösbar, Geduld war sowieso noch nie meine Stärke. Und dann beugte sich irgendwann eine verblüffend perfekt imaginierte M. über mich, um mich lachend zu küssen, mir das Buch wegzunehmen und etwas von “Spinnkram” zu sagen. Es dauerte nur ein paar Wochen, bis sie es dann wirklich sagte, sogar wörtlich, woraufhin ich mir doch eine Weile lang etwas auf meine meisterhaften Meditationsphantasien einbildete. So hat sie jedenfalls meine Karriere als Buddhist frühzeitig beendet, so habe ich mich in sie verliebt. Und das war dann auch schon problematisch genug, weiß Gott, da brauchte es gar keine wilden Aktionen im Gelände mehr, um mich für den Rest der Zeit ausreichend zu beschäftigen.

Über die Fernschreiber, die wie hochgezüchtete Kugelkopfschreibmaschinen aussahen und auch so klangen, kamen farbige Lochstreifen mit Meldungen über Autos, die vor anderen Kasernen parkten. Diese Autos waren vollkommen unverdächtig, aber es gab eben nichts zu melden und irgendwas musste doch gemeldet werden, so war die Vorschrift. Also beobachtete irgendwer irgendwo irgendwas, jemand anderes riss es aus der Maschine, stempelte es ab, heftete es ab, übertrug gewisse Teile der Meldung handschriftlich in ein Register, meldete es weiter. Wenn gerade keine unverdächtigen Autos gemeldet wurden, tickerten Ladelisten durch. Die Flugzeuge flogen Hilfsgüter nach Afrika oder Soldaten durch die Gegend, martialisch war daran rein gar nichts.

Die Soldaten in der Kaserne trugen die Uniform betont lässig und mit geradezu gewagt schief sitzender Kopfbedeckung, man wollte um Gottes willen nicht den Anschein erwecken, irgendwas ernst zu meinen. In dieser Gesellschaft trug ich also eines Morgens so ein Plastikgummibärchen an der Brust, direkt unter meinem Namen, der damals noch ein anderer war. Und weil das auf der blauen Luftwaffenuniform wirklich gut aussah, trugen es am nächsten Tag noch ein paar andere Kameraden. Und dann noch ein paar mehr, ich habe mir natürlich gleich ein paar Bären zum Weiterverkauf besorgt, wie unter Hanseaten üblich. Ich habe mir dann auch noch, als Urheber der Idee musste ich unbedingt vorne bleiben, ein paar andersfarbige Bären besorgt und sie mir so angesteckt, dass sie wie Ordensreihen auf Generalsuniformen aussahen, das war wirklich schick und das machten auch nicht mehr alle nach.

Wofür ich dann aber nach ein paar Tagen ein Gespräch mit dem Kommodore gewann, also mit dem Chef von allem dort. Das war ein betont unnahbarer Mann, der so gut wie nie sprach, schon gar nicht mit Menschen ohne Offiziersrang. Man sah ihn nicht oft, aber wenn, gab man sich doch etwas Mühe, nicht aufzufallen, man hielt sich etwas gerader, man wusste nicht recht. Er war so unnahbar, dass man nicht einmal gerüchtehalber wusste, ob er auch vernünftig und lässig war oder nicht. Man wusste einfach gar nichts über ihn, es war daher nicht gerade angenehm, sein Büro zu betreten.

Er sah mich missbilligend an und wies mich darauf hin, dass das jetzt aber. Er beendete den Satz nicht und starrte stattdessen intensiv auf seine maßgeschusterten Stiefel, in der klaren Erwartung, auch so verstanden zu werden. “Können Sie nicht”, sagte er und rieb den Stiefelschaft. “Nicht hier. Nicht übertreiben.” Dann sagte er nichts mehr. Ich sah ihn an, er sah seine Stiefel an. Er war der einzige Mann in der Kaserne, der Maßstiefel trug, sie glänzten immer ein wenig zu viel und sie schienen mir auch ein wenig zu lang zu sein. Er war groß langbeinig und dünn, die Stiefel sahen gut aus an ihm, vielleicht ein wenig zu gut, wie in amerikanischen Militärfilmen.

“Wegtreten?” fragte ich. Er nickte und sagte nur noch: “Nicht mehr. Kein einziges. Können Sie jetzt.“ Er zeigte auf meine Brust. Ich nahm die Gummibärchen ab, er nickte, damit war ich aus seinem Amtszimmer entlassen. Und das war bisher das einzige Mal in meinem Leben als Erwachsener, dass ich hochoffiziell auf eine Kleiderordnung hingewiesen worden bin, glaube ich. Es ist eben traditionell ein eher liberales Land, zumindest in den letzten Jahrzehnten. Eine wirklich schöne Tradition.

Kurz und klein

Jetzt. Sofort. Sonst. Der Sound der Familie

Es gibt viele Apps, mit denen man Musik oder Geräusche mixen kann, ab und zu sehe ich mir so etwas mit den Söhnen genauer an. Mixen ist eine Kulturtechnik geworden, das können Kinder ruhig kennenlernen, genauso wie etwa Bildbearbeitung und Videoschnitt etc., das kann man mittlerweile alles über simple Apps recht gut vermitteln. Ich finde es einigermaßen wichtig, den Kindern zu erklären, wie das alles da in den Medien gemacht wird, zumindest in etwa.

Daher haben wir uns gerade Keezy – the simple sampler (nein, keine bezahlte Werbung) näher angesehen, mit etwas überraschenden und sehr interessanten Nebeneffekten. Das ist eine angenehm einfach gehaltene App, mit der man bis zu acht Soundhäppchen durcheinandermischen kann. Musik oder Geräusch, was man eben alles aufnehmen kann. Ein paar Sounds sind schon drin, damit kann man kurz herumspielen, um das Prinzip zu verstehen – aber dann! Dann wird es erst interessant, und an dieser Stelle nimmt der Text eine plötzliche Wendung zum deutlich Elternbloghaften. Denn wir kamen spontan darauf, typische Familiensätze aufzunehmen und die acht Kacheln damit zu belegen, also diese typischen und im Grunde schrecklichen Befehlsbrocken, die man mutmaßlich in jeder Familie findet, weil sich die Dialoge am Abend und am Morgen gnadenlos immer wiederholen, in Endlosschlaufe bis etwa zur Pubertät. Wo sie dann gegen andere Dialoge ausgetauscht werden, die dann womöglich eher Monologe sind, weil der Nachwuchs eh nicht mehr antwortet. Aber noch sind die Kinder bei uns halbwegs klein, noch steht man also abends im Bad und weist das Zähneputzen an. “Könnt ihr bitte die Zähne putzen” also auf Kachel 1, dann muss man das nicht mehr sagen, dann kann man das einfach antippen, zehnmal, zwanzigmal. Und man kann auf die anderen Kacheln so etwas wie “Jetzt!” und “Los!” und “Sonst!” legen und alles zusammen oder in welchem Rhythmus auch immer abspielen, wieder und wieder. Man kann das unheilvolle “Sonst!” so oft antippen, dass die Sinnlosigkeit der konsequenzlosen Erwähnung in geradezu dadaistischer Manier klargestellt wird. Man merkt so wunderbar deutlich den ganzen Wahnsinn des Familienlebens, ich kann das empfehlen, das ist wirklich erhellend.

In meiner Kindheit wären übrigens andere Sätze im Soundfile gelandet, so etwas wie “Sitz gerade” gebe ich gar nicht von mir, fiel mir im Zuge dieser Spielerei auf. Da hat sich schon etwas geändert, die Prioritäten verschieben sich. “Sitz still” war so ein ewiges Eltern-Mantra in meiner Kindheit, das kommt bei uns aktuell nicht sehr oft vor. Nicht weil die Söhne so vorbildlich stillsitzen, versteht sich, sondern nur weil es heute andere Schwerpunkte gibt: “Leg das iPad weg.”

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Wer gar nicht weiß, was er dauernd von sich gibt, fragt einfach die Kinder, die wissen das sehr genau und es ist überhaupt kein Problem, acht Sätze oder Begriffe zu finden, die verblüffend deutlich typische Familiensituationen wiedergeben. Ergänzend kann man selbstverständlich ein anderes Set mit den üblichen Antworten der Kinder auffüllen, mit den ewigen Begründungen, warum sie jetzt gerade genau das eher nicht usw.: “Warte kurz!” “Lass mich” “Schön für dich!” “Nur noch ein Level!” “Sorry, ey!”

Und vielleicht sollte man die besten Mixe dieser Art tatsächlich abspeichern und aufbewahren und in etwa zehn Jahren noch einmal anhören, vielleicht sagt einem so ein Mix dann wesentlich mehr über den Zustand des damaligen Familienalltags als irgendein Foto. Vielleicht kann man sich, wenn man die Soundschnipsel viel später noch einmal antippt und mischt, plötzlich unerwartet deutlich an diese Zeit erinnern. Ein Jahresfamilienmix also. Und dann sagt man irgendwann kichernd: “Hier, hör mal, ab 2020 war das “Hast du etwa geraucht” mit dabei.”

Spiele und die Folgen

Da gab es doch wieder Diskussionen über böse Spiele, die von der Jugend auf dem Computer, dem Handy oder worauf auch immer gespielt werden. Spiele, die unseren Nachwuchs entweder komplett verblöden oder aber aggressiv machen, zumindest gerüchtehalber, Stichwort Killerspiele, Sie kennen das. Darüber denke ich nach, weil mich das Thema etwas verunsichert. Aber nicht als Vater, wie man zunächst denken könnte, nein, eher als erwachsener Durchschnittsbürger. Denn es ist doch so: wir haben ja auch einmal gespielt. Wir alle. Und wenn es tatsächlich so ist, dass die heutigen Spiele die Kinder dermaßen beeinflussen, dass sie dabei ihre Intelligenz einbüßen oder sonstwie durchdrehen – müssen wir uns dann nicht fairerweise fragen, was die Spiele unserer Kindheit mit uns gemacht haben? Erklärt das nicht auch etwas? Warum sollte es denn so sein, dass unsere Spiele sich nicht auf uns ausgewirkt haben, das ergibt doch keinen Sinn. Spiel ist Spiel, ob nun digital oder mit handgeschnitzten Holzfiguren, alle Kinder spielen zu allen Zeiten hochkonzentriert, hingegeben, begeistert, engagiert, die Zeit vergessend. Mit was auch immer.

Vermutlich müssen wir also nur einmal überlegen, was wir gespielt haben, und uns dann fragen, wie wir sind, vielleicht hilft das tatsächlich weiter. Ich z.B. habe damals, ich bin noch Generation Brettspiel, stundenlang Mensch ärgere dich nicht und Malefiz gespielt. Das klingt so nett und harmlos, aber was heißt das bei näherer Betrachtung? Ich habe als Kind intensiv gelernt, andere komplett in den Wahnsinn zu treiben und ihnen Steine in den Weg zu legen. Ich müsste wohl meine heutigen Kollegen fragen, ob sich das tatsächlich bis heute spürbar auswirkt – aber die reden nicht so gerne mit mir. Komisch eigentlich.

(Dieser Text erschien als Kolumne in den Lübecker Nachrichten)

Kippwoche

Der Stadtsommer war wie eine schlechte und langweilige Party, die erst in der letzten Stunde, kurz bevor man wirklich, wirklich gehen muss, um den letzten Zug gerade noch zu bekommen, unerwartet Fahrt aufnimmt – und wie. Plötzlich Bombenstimmung, plötzlich alles richtig, plötzlich Spaß und dieses selten schöne Gefühl, zur richtigen Zeit am richtigen Ort mit den richtigen Menschen zu sein, weder zu betrunken noch zu nüchtern. Und man weiß, es hört gleich auf, noch zwei Bier, noch eines, vorbei, jetzt los. Genau so dieser Spätsommer, noch drei Tage, noch zwei Tage, noch einen Tag. Die Regenfront, von der der Wetterbericht seit Tagen raunt, sie kommt am Donnerstag, am Freitag, am Sonnabend, sie kommt, sie wird schon kommen, aus Südwest wird sie kommen. Und danach ist dann Herbst. Aber jetzt ist die Stadt noch heiß und die Abende sind sattwarm wie in den großen Städten des Südens. Die Menschen sitzen vor den Cafés und Bars, und je später am Abend man vor die Tür geht, desto mehr Menschen sitzen da, es werden immer noch mehr. Sie sitzen nicht nur auf den Stühlen, sie sitzen auch in den Hauseingängen und auf den Mauern, Treppen, Stromkästen und auf den Spielplatzschaukeln, sie sitzen einfach irgendwo und überall.

Niemand möchte drinnen sein, es sind nur noch drei Tage, es sind nur noch zwei Tage, es regnet bald, frischt der Wind nicht schon auf, es raschelt so in den Bäumen und einen trinken wir noch. Das drängende Gefühl, noch etwas Sommerliches tun zu müssen, heute noch, jetzt sofort, hier, was könnte man verpassen, man muss doch. Es ist so ein seltsam drängendes und unverständlich wehes Gefühl, es ist so ein Gefühl, als müsse man sehr viel in sehr kurzer Zeit erledigen, und dabei aber auf keinen Fall etwas tun. Es ist so warm, wir bleiben noch. Die Kinder wollen nicht ins Bett, die Kinder müssen nicht ins Bett, wer die Kinder ins Bett bringt, muss in die Wohnung, da kann man noch den ganzen Herbst über sein, wer jetzt ein Haus hat, will dort nicht hinein. Die Kinder spielen immer noch im Park, es ist schon spät, es ist dunkel, ein räudiges Stadtdunkel ist das, es hängt von Autoscheinwerfern zerzaust zwischen den Büschen im Park.

Der Wind frischt nicht auf, nichts ist frisch, gar nichts. Warm weht es durch die Straßen, ganz warm, umarmungswarm. Und ein wenig muffig ist es auch, was da weht. Diese Böe hat schon die halbe Stadt passiert und ist müde, diese Böe hebt nur noch ein paar Papierservietten auf den Tischen vor den Restaurants hoch und ein wenig auch den Rocksaum der Frau an der Bushaltestelle, die da eben einfach stehenblieb, obwohl doch der Bus kam, obwohl die Tür sich vor ihr öffnete und den Blick auf einen Busfahrer freigab, der sie kopfschüttelnd ansah und dann weiterfuhr. Sie steht da noch und lehnt am Fahrplanhalter und guckt ins Nichts und will vermutlich auch nicht nach Hause. Niemand will nach Hause, es ist noch schön, jetzt gerade ist es noch schön, gleich noch, ein wenig noch und so warm. Obwohl das Licht seltsam ist, ein fahler Filter über dem Straßenabend, die Spinnweben sehen in diesem Licht aus wie von Menschen an die Laternen und an die Ränder der hellen Schaufenster gesponnen, abgefahrene Herbstdeko überall und viel zu groß die Netze. Die jugendlichen Basketballspieler im Park stehen und spielen nicht, warum spielen die nicht, der eine hält den Ball im Arm. Die stehen da nur und einer zeigt zum Mond, der hängt groß und fast voll knapp über dem Dach der Schule, und das Flutlicht am Korb und das Mondlicht vermischen sich, dass die T-Shirts leuchten wie an einem falsch eingestellen Bildschirm. Es riecht nach Grill und nach Abgasen und Zigarettenrauch und Dope, aus allen Richtungen hört man Gemurmel und Gläserklingeln und Lachen.

Die Menschen bestellen noch eine Runde, denn es ist immer noch warm und es wird einfach nicht kühl, wann war es denn zuletzt kühl, es ist schon Tage her oder sind es Wochen, man weiß es gar nicht mehr genau. Der ganze Sommer war kühl, das weiß man noch. Das wird jetzt bis zur Neige wettgemacht und weggetrunken und die Menschen lachen und seufzen und lehnen sich zurück und sehen nach oben, wo man keine Sterne am Großstadthimmel sieht, keinen einzigen. Der Himmel ist bedeckt und vielleicht ist das schon der Regen, guck mal, da kommt doch was, da braut sich etwas zusammen. Vielleicht haben wir nur noch morgen, vielleicht noch zwei Tage und dann aber auf jeden Fall. Aus dem Park hört man das Auftippen des Balls, auf den Bänken am Rand sitzen Paare und halten Hände und küssen Schultern und flüstern und hoffen. Es ist so warm, da könnte man doch. Zu ihren Füßen das Herbstlaub, es raschelt, wenn sie die Beine bewegen. Ein Hund schnüffelt vorbei und überhört jemanden zwischen den Bäumen, der ihn immer wieder ruft. Mitten auf dem Rasen schläft einer, der sieht nicht aus, als hätte er keine Bleibe.

Morgen ist ein Werktag, aber dieser Abend ist ein Urlaubsabend, das Gefühl kann kaum täuschen, genau so geht Urlaub doch, so warm und so leicht und so egal, wann man was macht. Erst einmal wird noch etwas bestellt, das kann nicht falsch sein, man sitzt so gut, man braucht keine Jacke, man braucht überhaupt nichts, noch stundenlang könnte man so sitzen und man macht es auch. Es wird immer noch nicht kühler, wann es in dieser Nacht wohl kühler wird. Vielleicht in the wee small hours, vielleicht auch erst am Morgen, und kurz darauf führt die Sonne dann doch noch einmal den Hochsommer auf, wegen des großen Erfolges, dann aber endgültig letzter Vorhang und last order. Die Stadt wird noch einmal glühen, und alles wird viel langsamer sein als sonst. Wenn man sich nur wenig und nur zögerlich bewegt, geht die Woche vielleicht nicht so schnell vorbei. Morgen Abend kommen alle wieder. Wenn es nicht regnet. Sie sehen zum Himmel und riechen die Luft und nicken. Einmal noch.

Ganz sacht ist er, der Wind aus Südwest, ganz sacht.

Gelesen – J.L. Carr: Ein Monat auf dem Land

Deutsch von Monika Köpfer.

Das Buch ist überall schon besprochen worden, ich sah gerade eben diese freundliche Rezension und möchte nur schnell etwas anfügen, nämlich ein dezentes “Husch, husch!”

Weil man sich etwas beeilen muss und dann gerade noch etwas hi  nbekommt, was sich vermutlich lohnt. Dem aktuellen Wetterbericht nach ist es noch etwa eine Woche lang Hochsommer, ist es nur noch ein paar Tage lang August im September. Und dieses Buch ist ein Augustbuch, ein ausgesprochenes Spätsommerbuch, im Park zu lesen, im Garten oder am Waldrand, zur Not auch auf einem Balkon mit ein paar Blumentöpfen.

Wenn der Sommer mit jedem Tag etwas mehr kippt, wenn die ganze Pracht schon gilbt und die Vögel längst ziehen, obwohl die Sonne noch brennt, wenn es abends manchmal schon strickjackenkühl wird und es morgens nach Herbst riecht, und wenn der Sommer bald nur noch erinnert wird, aber nicht mehr wärmt, dann ist dieses Buch aber so etwas von perfekt.

Ich bin ja ein großer Freund des situativ korrekten Lesens, und bei diesem Wetter, mit etwas Ruhe und zumindest ein wenig Grün – es ist ein ganz dünnes Buch, man schafft es leicht in den wenigen Tagen oder Stunden, die uns noch bleiben, bevor man im September schon den Oktober fühlt und dann reflexmäßig gleich den November mitdenkt und für ganz andere Bücher bereit ist. Das wollte ich doch schnell noch empfohlen haben.

Vorgelesen – Dave Shelton: Bär im Boot

Übersetzt, und zwar saugut übersetzt, wirklich fluffig übersetzt von Ingo Herzke. Ein höchst bemerkenwertes Kinderbuch, ich werde es ein wenig lobpreisen müssen.

Ein Junge steigt zu einem Bären in ein Boot, er möchte auf die andere Seite – und der Bär rudert los. Und herrlich kinderbuchuntypisch wird das nicht weiter erklärt. Man erfährt nicht, warum der Junge wohin will, was auf der anderen Seite ist, wovon das überhaupt die andere Seite ist, wieso der nicht sehr große Junge alleine unterwegs ist, warum es normal ist, dass der Bär reden kann, nichts, nichts, nichts wird erklärt. Der Junge setzt sich hin, der Bär rudert. Er rudert ein kleines, altes, nicht eben vorzeigbares Boot, die Harriet. Und bald ist links Meer, rechts Meer, hinten Meer, vorne Meer, unten Meer und obendrüber ein endloser blauer Himmel, und mehr ist da nicht, rein gar nichts.

Im Boot liegt nicht allzu viel herum, da sind auch keine reichlichen Vorräte, da ist nur eine verdächtig gleichmäßig blaue Seekarte mit einem unbestimmten Fleck darauf, und unter einer Sitzbank gibt es noch ein paar äußerst befremdlich belegte Sandwiches. Und ein wenig ruderboottypischer Kram, aber das ist nicht viel. Der Bär und der Junge sind sich zunächst nur mäßig sympathisch, aber da sind ja nur die beiden, also reden sie manchmal miteinander. Und bald müssen sie auch etwas mehr machen, als nur rudern und reden, denn sie kommen einfach nirgendwo an, obwohl der Bär äußerst empfindlich auf den Vorwurf reagiert, sich womöglich verirrt zu haben. Auch ein Bär hat eine Kapitänsehre.

Und weil im Boot nicht viel passiert, aber die Situation doch irgendwie bedrohlich ist, bekommt der Autor das einigermaßen spektakuläre Kunststück hin, die Handlung gleichzeitig ermüdend und spannend zu gestalten, was ich für eine starke Leistung halte. Für Jungs, die in Kürze einschlafen sollen, ist das die ideale Mischung, das schraubt einen durch die immer gleiche Szenerie in den Schlaf – und durch die unklare Aussicht auf das Ende in Träume von Möglichkeiten. Perfekt.

Und das Buch bekommt es außerdem ganz wunderbar und ohne jede Zeigefingerheberei hin, dass es schon bald nicht mehr um das Ankommen geht. Ganz wie im richtigen Leben, nicht wahr, man lebt ja in aller Regel nicht freudig dem Ende entgegen und ist begeistert, dort möglichst früh anzukommen (ja, es gibt Ausnahmen, schon klar, wir alle wissen das, aber wir reden hier von einem Kinderbuch). Man lebt so vor sich hin, man rudert so vor sich hin, man kümmert sich um das Essen und um seinen Schlafplatz, ob nun mit oder ohne einen Bären. Und wenn ein Bär dabei ist, dann lernt man den mit der Zeit eben besser kennen und kommt irgendwann schon darauf, warum das eine ziemliche gute Idee ist, das geht einer gewissen Bloggerin übrigens ganz ähnlich [Link kaputt].

Das war ein Buch, mit dem wir plötzlich in einer erzähltheoretischen Diskussion landeten, weil die Söhne dann doch wissen wollten, wieso der das so erzählen kann, so ganz ohne etwas zu erklären, das ist doch ungeheuerlich. Als vorlesender Vater möchte man da leise lächelnd den Satzanfang “Als der kleine Junge eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte …” irgendwo einbauen, so schön ist das, über dergleichen mit den Kindern reden zu können. Was kann man erzählen, was darf man als ErzählerIn, wieso ist etwas spannend, das gar nicht klar ist und kann man Realität und Phantasie wirklich einfach beliebig mischen und immer wieder anders arrangieren, wo bleibt da die Logik und ist die eigentlich zwingend in Büchern – das Vorlesen war mir wirklich ein Fest, und zwar ein großes.

Wir haben bei Büchern jetzt ein neues Kriterium, wir bestimmen Anfänge nach “Das ist ein Bär-im-Boot-Anfang” oder eben nicht, und das ist eine sehr gute und weise Unterscheidung. Und ich freue mich noch im Nachhinein, dass mein aktuelles Manuskript so einen “Bär-im-Boot”-Anfang hat und die Hauptfigur außerdem von bärenhafter Figur ist, was allerdings reiner Zufall ist. Wenn man denn an Zufälle glaubt.

Das Buch ist für Kinder ab etwa acht Jahren. Und ganz ausdrücklich ist es auch für Mütter, Väter, Patentanten und -Onkel, Großeltern und andere Erwachsene mit oder ohne verfügbare Kinder.

Eltern! Blog Award

Kurz nachdem ich diesen Text hier veröffentlicht hatte, bin ich auf den Blog-Award von Scoyo gestoßen. Und da ich den Text ausnahmsweise mal richtig mochte, was mir bei eigenen Produktionen eher selten passiert, habe ich ihn da eingereicht – obwohl das hier nur teilweise ein Elternblog ist, obwohl es im Artikel um ein eher ernstes Thema geht, obwohl Humor bei so etwas meistens das leichtere Spiel hat – ganz ähnlich wie bei Lesungen.

Nun hat die Jury dieses Blog Awards den Text von mir freundlicherweise in die Endrunde befördert (herzlichen Dank!), und jetzt können LeserInnen weiter abstimmen (bitte hier entlang), wer dort gewinnt. Und die Preise können sich sogar sehen lassen, das ist auch schön und keineswegs der Normalfall, wenn es um Blogtexte geht.

Ich freue mich also, wenn Sie da mitmachen und abstimmen, wobei es natürlich auch andere großartige Texte gibt, etwa von Patricia. Aber natürlich sollte man sich alle ansehen, eh klar.

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So …

… und nun ist auch erst einmal Schluss mit den Feiereinträgen, die fast nur aus einem Bild bestehen, weil ich einfach zu nix komme, schon gar nicht zu einem Text.

Aber es ist vielleicht besonders für langjährige LeserInnen interessant zu sehen, dass auch Sohn II jetzt ein Schulkind ist. Wir Eltern zumindest kommen aus dem Staunen gar nicht mehr heraus – und das gilt vermutlich auch für die Großeltern und die Patentante, denen für die Betreuung des Sohnes in den Ferien und in den letzten Tagen übrigens ganz besonderer Dank gebührt. Es gibt noch eine weitere Patentante, der auch zu danken ist, aber die kann man mangels Blog leider nicht verlinken. Stimmt gar nicht, fällt mir gerade ein, sie kam ja bei mir einmal vor – merci Patricia.

Mehrere Gründe

Ich wollte ein Dokument am Computer öffnen, einen normalen Text, gar keine technische Besonderheit. Die Datei ging nicht auf, die Meldung am Bildschirm sagte: “Diese Datei kann nicht geöffnet werden. Das kann mehrere Gründe haben.” Das ist eine dieser Fehlermeldungen aus der Hölle, ein Hinweis, der einem absolut nichts sagt. Es ist ein Gipfel der Nullinformation, eine Veralberung erster Klasse, eine Verhöhnung der Menschen vor den Geräten, vermutlich überhaupt nur zu dem Zweck geschrieben, Anwender zielgerichtet in den Wahnsinn zu treiben. Wer auch immer den Satz einmal kichernd geschrieben und im Programm verewigt hat, er lacht vermutlich immer noch, wenn er sich die Gesichter der Lesenden vorstellt, wie sie zornbebend mit der Faust auf den Schreibtisch hauen und irgendwann den Kopf auf die Tastatur sinken lassen. So ziemlich alles im Leben “kann mehrere Gründe haben”, danke, wir wissen das. Man liest es, man flucht, man nimmt es hin, was soll man auch sonst machen. Man startet neu.

In einem anderen Kontext wird dieser Satz noch auffälliger, man könnte sich ja versuchsweise auf diese Art im Büro krankmelden: “Ich kann heute nicht kommen. Das kann mehrere Gründe haben.” Das klingt nicht, als sei der Satz gut für die Karriere, man könnte es aber noch steigern und das dranhängen, was Computermeldungen auch als Ergänzung hinterherschieben, die so unschuldig klingende Frage: “War diese Information hilfreich?” Wenn man sich das so als Telefonat am Morgen vorstellt, dann wird einem erst klar, wie irre diese Dialoge mit der Software sind. Man sollte sich das ab und zu bewusstmachen, bevor sich diese Formulierungen irgendwann noch in unser Leben schleichen: “Ich liebe dich. Das kann mehrere Gründe haben. Möchtest du abbrechen?”

(Dieser Text erschien als Kolumne in den Lübecker Nachrichten)