Kleine Szenen (2)

Ich gehe morgens mit Sohn II Brötchen holen, er rollt auf dem Longboard neben mir her, wobei er mit einem Bein darauf kniet, während er sich mit dem anderen abstößt. Mit der richtigen Körpergröße kommt man auf diese Art verblüffend schnell durch die Stadt. Wenige Meter vor unserer Haustür stehen an die fünfzig schwarz gekleidete Personen, Springerstiefel, Hoodies, eine mobile Eingreiftruppe in Räuberzivil. Stehen da, sitzen auf Mäuerchen, auf dem Boden, im Weg. Ein schwarzer Block. Schweigen vor sich hin, gucken in die Luft, rauchen. Sohn II bremst scharf und guckt, ich gucke auch. Es ist der Tag der großen Demo “Bunte Vielfalt” in Hamburg, aber, bunt hin oder her, bei Demos tragen heutzutage alle schwarze Klamotten, da muss man erst einmal genau hinsehen, zu welcher Fraktion die da gehören. Punkfrisuren, Glatzen, Springerstiefel, das hilft alles nicht weiter. Ich starre die Leute an, die Leute starren mich an, warum gucken die eigentlich auch so? Erst nach einer Weile entdecke ich an einer der Figuren das “Refugees Welcome”-T-Shirt. “Ist okay”. sage ich zum Sohn, “kannst ruhig durchfahren.” Und die Demonstranten in Warteschleife machen jetzt lachend Platz und lassen uns durch. Da fällt mir erst ein, was ich selbst anhabe, und warum die wohl auch so geguckt haben: schwarze Klamotten, schwarzer Hoodie. Und sehr kurze Haare habe ich auch. Da kann man an solchen Tagen schon mal länger hinsehen und grübeln, wer hier nun was ist. In den Medien war zu lesen, dass sich an diesem Tag im Hamburger Hauptbahnhof zwei Antifa-Gruppen gegenseitig mit Flaschen beworfen haben, weil sie sich jeweils für Rechtsradikale gehalten haben. Keine Ahnung, ob das stimmt. Es kommt mir aber durchaus plausibel vor.

Sohn I guckt in der S-Bahn über meine Schulter, während ich durch die Schlagzeilen scrolle. Er erwischt ausgerechnet die Meldung mit den Kindern, die man aus der Schule zur Abschiebung abgeholt hat. “Was ist da passiert? Erklär mal?” Dinge, die man überhaupt nicht gerade gerne erklärt. Dazu gehören ein paar rechtliche Aspekte, Asylrecht und so, dazu gehört die Sache mit den angeblich sicheren Drittstaaten, es ist zu kompliziert. Die Leute um  mich herum hören interessiert zu, wie kriegt er das nun seinem Kind erklärt? Das mit der Schule da? Gar nicht natürlich. Weil man nicht erklären kann, was vollkommen ungeheuerlich ist, das merkt man dem Sohn auch an. Kinder aus der Schule abholen, rauswerfen, wegschicken? Hallo? Geht’s noch? Das ist doch wohl nicht echt? Und wenn man das so mit einem Kind bespricht, dann merkt man erst richtig, wie komplett irre das ist. Kopfschütteln auch um uns herum. Das geht doch nicht? Und das passiert also wirklich? Ja. Steht ja da. Der Sohn sitzt neben mir und schüttelt den Kopf. In seiner Klasse sind Kinder aus zehn Nationen oder so, ich weiß es gar nicht genau. Seine Klasse ist super.

Im Hamburger Hauptbahnhof kaufe ich auf dem Heimweg von der Arbeit schnell ein paar Lebensmittel für die Durchreisenden aus Syrien und Gottweißwo, die verwirrt, totmüde, ratlos und angespannt in der Wandelhalle stehen. Wenn man schon keine Zeit zum Helfen hat, das kann man dennoch im Vorbeigehen erledigen, das schafft wirklich jeder. Helfer organisieren gerade die Weiterreise nach Schweden, Dänemark, Norwegen, Schilder in verschiedenen Sprachen werden hochgehalten, Menschen rufen arabisch, englisch, deutsch, wer wann wie wohin und mit wem, es geht sehr durcheinander und wirkt nach einer Weile doch verblüffend gut organisiert. Die Helfer haben es drauf, nicht nur in den Messehallen. Familien, die sich an den Händen festhalten. Sitzende Menschen, die vielleicht auch schon da geschlafen haben, leere Blicke, das Warten, das Warten. Ein kleines Mädchen, das sofort jeden Niedlichkeitswettbewerb haushoch gewinnen würde, sitzt inmitten seiner Familie und kichert. Dreijährig vielleicht. Es ist nicht ersichtlich, warum das Mädchen kichert, niemand um sie herum findet irgendwas witzig, um sie herum ist ziemlich sicher überhaupt nichts witzig. Sie lacht und lacht, glucksend, perlend, ein kleines, wunderhübsches Mädchen mit einer Laugenbrezel in der Hand, am Ende ist die ja so komisch? In dieser drolligen Form? Das Mädchen war vielleicht vor ein paar Tagen noch auf einem dieser Schlauchboote, der Gedanke ist eigentlich ganz naheliegend. Und wie man den aushalten soll, den Gedanken, das weiß ich allerdings auch nicht. An dem Stand der Helfer kleben Zettel “Bitte keine Fotos”, das interessiert aber niemanden. Hier wird hemmungslos von vielen Passanten handygefilmt und geknipst. Auch oben von der Galerie, von wo man alles so toll im Blick hat, das kann man sich bequem über die Brüstung lehnen und gleich das ganze Spektakel aufnehmen. Nachrichtenbilder selbstgemacht, der Brennpunkt vor der Haustür. Das hat man auch nicht jeden Tag, dass die Bilder aus der Tagesschau sich mit dem täglichen Pendeln kreuzen, das ist unheimlich und verunsichernd, man sieht es den Beobachtern manchmal an. Es ist so ein kollektives Kopfschütteln um die Geflüchteten herum, ein fassungsloses Kopfschütteln. Eine Familie ruft auf Arabisch laut und etwas ängstlich Namen, sammelt sich, sie sind heilfroh, alle zusammen zu haben, da hat vielleicht ein paar Minuten jemand gefehlt, man merkt ihnen die Erleichterung an. Sie setzten sich wieder hin, auf den Boden, wo soll man sich auch sonst hinsetzen. Kleines Gepäck bei ihnen, nur sehr kleines Gepäck. Weniger als für einen Wochenendausflug, viel weniger. Und nur ein weiteres irres Detail in all dem Irrsinn ist, dass über der ganzen Szene ein zuckersüßer, mehlschwerer, wohlig wabernder Waffelduft hängt. So ein heimatlicher Kindheitswohlgeruch nach Oma und Küche und Sonntag. Deutschland in nett und lecker und molligwarm und pappsatt. Das kommt von einem Waffelstand direkt neben den Geflüchteten, der natürlich dennoch immer weiter verkauft, ganz egal, was daneben passiert, wer daneben schläft, ankommt oder aufbricht, das ist hier business as usual. Ein Bahnhof eben.

Zur Lage im Bahnhof siehe auch hier in der Welt.

Der qualifizierte Mitarbeiter

Wir haben Urlaub auf einem Bauernhof gemacht, der Bauer hielt Schafe. Da konnten die Söhne Lämmer aus der Flasche füttern und ausgewachsene Schafe zwischen den Ohren kraulen, sie konnten durch Schafschiet stolpern und zahme Schafe an der Leine herumführen, das war so ein naturnaher Erlebnisurlaub. Auch mal schön. Vor allem für die Kinder, versteht sich. Aber als Erwachsener kommt man dabei auch auf seine Kosten, wenn die Kinder beschäftigt sind, so ist es ja nicht. Man kann zwischendurch minutenlang ungestört lesen, das ist nach etlichen Jahren mit kleineren Kindern eine geradezu verstörend schöne und höchst ungewohnte Erfahrung. So ungewohnt, dass man das Buch nach drei Seiten doch wieder weglegt und lieber mal schnell nach den Kindern sieht.

Zwischendurch wurden die Schafe aus irgendwelchen Gründen, die sich Nichtbauern wie mir nicht unbedingt erschließen, von Weide zu Weide getrieben, quer durch den Ort und über die Straßen. Die Bäuerin bat mich, mich mal eben auf eine Kreuzung zu stellen, damit die Schafe dort nicht falsch abbogen. Ich habe mich also auf der Straße aufgebaut, quasi wie eine Vogelscheuche, nur zweibeinig und etwas besser angezogen. Die Herde kam auf mich zu, mit viel lautem „Mäh!“, in erstaunlicher Geschwindigkeit und eingehüllt in eine beeindruckende Staubwolke. Ich stand ihnen stoisch im Weg und guckte, die Schafe blieben abrupt stehen und guckten auch – und bogen dann richtig ab. Genau wie geplant!

Und da war ich der Bäuerin doch sehr dankbar. Weil sie mir eine Aufgabe gegeben hat, für die ich anscheinend genau richtig qualifiziert war. Schafen im Weg stehen – das kann ich. Wenn alle Vorgesetzten meine Begabungen immer so intuitiv erkannt hätten – meine Karriere wäre womöglich ganz anders gelaufen.

(Dieser Text erschien als Kolumne in den Lübecker Nachrichten und in der Ostsee-Zeitung)

Kleine Szenen

Es ist ja nicht immer so, dass die Timelines viel mit der Wirklichkeit um einen herum zu tun haben. Beim Thema Netzpolitik neulich etwa, diese Sache mit dem angeblichen Geheimnisverrat, das hat in meinem Real-Life-Umfeld keine Sau interessiert, die allermeisten werden es nicht einmal mitbekommen haben. Absurdes Außenseiterthema. Beim Thema Griechenland war das schon etwas anders, darüber sprachen nahezu alle. Und faszinierenderweise hatte auch jeder irgendeine Meinung, was zu dem Thema gar nicht unbedingt passte. Immerhin VWL für eher weit Fortgeschrittene, ich blicke da nach wie vor überhaupt nicht durch. Aber doch, da waren sich alle einig, dem Thema war meinungsstark zu begegnen, wir sind ein Volk von Wirtschaftsexperten. Der Grieche, der Deutsche, das Geld. Klare Sache und damit hopp.

Beim aktuellen Thema Flucht, Migration und Fremdenfeindlichkeit und was in diesem Land gerade los ist, da passiert nun etwas, das ich so vermutlich selten erlebe – die Szenen passen sich komplett an. Ob ich auf Twitter bin, auf Facebook, in Blogs, ob ich auf dem Spielplatz stehe, mit Kollegen in der Küche bin oder in der S-Bahn fahre oder zum Tanzkurs gehe, alle reden über ein Thema, über das Thema. Und sehr viele, höchst ungewöhnlich viele machen auch noch irgendwas. Sie fahren Spenden irgendwohin, spenden selbst Geld und Kleidung, sie helfen hier und da, sie organisieren, schreiben, teilen, es fällt wirklich vielen etwas ein. Einige beschränken sich natürlich auf Bedenken und Ängste und Abwehr, das aber auch permanent und kaum zu überhören. Ganz egal was und wie – das Thema ist überall.

Vier Szenen eines einzigen Tages, alle vom Dienstag dieser Woche. Plakativ wie sonstwas, aber so ist es eben tatsächlich gerade.

In der S-Bahn nach Hammerbrook unterhalten sich zwei alte Herren, beide sicher weit über siebzig. Sie reden über Fussball, vermutlich über das Spiel St. Pauli gegen Dortmund am Vortag, das ihnen gut gefallen hat. “Und dann hat der Ne…, ach nee, das darf man ja nicht mehr sagen. Na, ist ja auch in Ordnung, dann hat also der mit der dunklen Haut da, also der hat ja wohl saugut gespielt, der Junge.”

Im Supermarkt steht ein stark angetrunkener Mann in Jogginghose vor der Kassiererin, unwillkürlich guckt man da gleich nach dem Pissfleck vorne, da war aber keiner. Er pöbelt auch keine rechten Parolen, er versucht, menschliches Interesse an der Kassiererin zu zeigen und vermutlich irgendwie nett zu sein. Die Kassiererin ist allerdings schon sichtlich genervt, denn der Mann versucht zum wiederholten Male herauszufinden, wie anders denn ihr Heimatland sei, so im Vergleich zu Deutschland. Denn das muss ja ziemlich anders sein. Da in Afrika. Echt anders, was? So ganz anders? Aber hallo? Muss ja, nech? Oder? Also das muss da ja wirklich wahnsinnig anders sein. So alles. Und die Kassiererin sagt wieder und wieder, was bei ihm aufgrund ihrer Hautfarbe aber einfach nicht ankommen kann, dass sie von hier sei. In Hamburg geboren. Verständnislose Blicke: “Aber ich meine doch in Afrika.”

Vor dem Hauptbahnhof hält ein Auto, eine Familie steigt aus, Vater, Mutter, Kind, Kind, Kind. Sie sehen aus, wie die syrischen Familien aus den Nachrichten aussehen, natürlich können es aber auch einfach Touristen sein, Migranten der xten Generation, wer weiß das schon, man liegt da auch schnell falsch, gerade in diesem multinationalen Bahnhofsviertel. Aber das zerschlissene Gepäck, die ratlosen Blicke, die übernächtigten Gesichter. Es würde schon passen. Am Dienstag waren durchreisende Flüchtlinge hier am Bahnhof noch gar kein großes Thema, das hat sich gerade erst geändert. In den Nachrichten ging es bis dahin eher um München, um Dortmund, um Wien. Die Familie steht also da und sie sehen sich um, das Auto fährt weiter. Gleich mehrere Passanten gehen sofort auf die Familie zu, bieten Hilfe an, zeigen auf den Bäcker an der Ecke, auf den Bahnhof, suchen nach Englischvokabeln, machen Gesten für Essen und Trinken. Fragen, ob sie etwas für die Familie tun können, ob sie etwas brauchen. Eine Szene, die noch vor wenigen Tagen völlig undenkbar war. Fremde ansprechen, in Hamburg! Auf der Straße! Einfach so. Und dann noch in nett.

In der S-Bahn fahren junge und ziemlich vergnügte Menschen, Studenten vielleicht, eine Reisegruppe kann es natürlich auch sein, sie reden Spanisch. Ich kann nicht unterscheiden, ob es eine südamerikanische oder die europäische Version ist. Es sind acht, sie besetzen zwei Vierersitzgruppen. Sie unterhalten sich in bester Stimmung, einer holt Kaugummi aus der Jackentasche, bietet den anderen etwas an. Ein Kaugummipapier fällt in den Mittelgang und liegt da, leuchtendes Grün auf grauem Boden. Die jungen Leute sehen sich an, sehen auf das Kaugummipapier. Reden, grinsen. Gucken wieder. Schließlich hebt es einer doch noch auf, sagt lachend, und dafür reicht dann sogar mein Spanisch: “Wir sind in Deutschland.”

 

Kurz und klein

Auf den Punkt

Es fällt oft schwer, einen Menschen mal eben zu beschreiben. So ein Mensch ist immerhin eine ziemlich komplizierte Angelegenheit mit etlichen Charaktereigenschaften, das ist nicht mit zwei, drei Sätzen erledigt. Manchmal ist es auch mit einem ganzen Roman noch nicht umfassend erledigt, gar keine Frage. Deswegen gibt es Anekdoten. Kurze, äußerst prägnante Geschichten, in denen man den Kern einer Persönlichkeit zu erkennen meint. Eine Anekdote kreist immer um eine erztypische Angelegenheit, die sinnbildlich für einen Menschen stehen soll. Als Alexander der Große den Philosophen Diogenes fragte, ob er etwas für ihn tun könne, war dessen heute noch berühmte Antwort: “Geh mir aus der Sonne.” Zack, ein Satz für die Ewigkeit. In diesem kurzen Satz liegt sein ganzer Charakter, sein ganzes Wesen. Meint man jedenfalls.

Ich habe gerade etwas mit der Herzdame erlebt, darin liegt auch ihr ganzes Wesen, ihr ganzer Charakter. Meine ich jedenfalls. Sie kommt bekanntlich aus Nordostwestfalen, einer trotz ihrer verwirrenden Bezeichnung bemerkenswert schnörkellosen Gegend, in der man zur Direktheit und zum geraden Denken neigt. Das könnte ich seitenlang beschreiben, dieses sehr klare Denken, dieses umweglose Handeln dort, diese charakterliche Geradlinigkeit. Aber ich kann jetzt auch einfach erzählen, wie ich sie neulich einmal fotografieren wollte, im Garten ihrer Eltern. Und wie ich sie während der Aufnahmen bat, sich etwas weiter ins Licht und nach rechts zu stellen, noch weiter, noch weiter – “Stell dich doch bitte mal eben dahin, wo diese Blume da ist!” Rief ich ihr so zu, denn der Standort schien mir sehr passend. Und dann hat sie sich ohne das geringste Zögern genau auf die Blume gestellt.

So ist sie. Doch, das beschreibt sie wirklich ganz gut.

(Dieser Text erschien als Kolumne in den Lübecker Nachrichten und in der Ostsee-Zeitung)

Essen in Südtirol

Zmailerhof Schenna Kaiserschmarrn

Das ist natürlich auch so etwas, das man vorher dauernd gesagt bekommt, wenn man da hinreist: “Oh, Südtirol – sehr gutes Essen da!” Wobei dieser Ausruf manchmal mit einem Nachsatz versehen wird, der ein warnendes “Aber nicht ganz billig!” ist. Um die Erkenntnis unserer Reise vorwegzunehmen, der erste Satz stimmt, der zweite nicht. Wobei man das mit den Preisen vielleicht relativieren muss, was ich auch gleich noch machen werde, das mit dem Geschmack kann man aber komplett und ohne Einschränkungen stehen lassen. Wir haben nichts gegessen, was nicht ziemlich gut war, und vieles war wirklich hervorragend. Über die Preise können wir anhand dieser Tafel etwas besser nachdenken, es handelt sich um die Mittagskarte auf dem Zmailerhof in Schenna. Zmailerhof

Wobei die Anfahrt zum Zmailerhof etwas speziell war. Der liegt nämlich hoch, aus Hamburger Sicht möchte man fast sagen, er liegt unsinnig hoch, man könnte es auch spektakulär hoch nennen. Also wenn man aus dem Flachland kommt jedenfalls. Man kann allerdings noch mit dem Auto hinfahren, es ist keine Hütte an einem einsamen alpinen Wanderweg, das nun auch nicht. Wenn man ein Navi oder eine gute Karte hat, wenn man keine Höhenangst hat, dann kommt man da gut hin. Wenn man sich da oben dezent verfährt, so wie wir, und wenn man deswegen einmal kurz wenden muss, dann kann es allerdings passieren, dass rechts neben dem Auto plötzlich überhaupt nichts mehr ist, davon aber sehr, sehr viel.

Mit anderen Worten, die Herzdame ist gefahren, das mit der Höhenangst ist nämlich gar nicht so einfach, wenn man in den Bergen am Steuer sitzt. Ich habe mich während der Fahrt einfach in den Beifahrersitz gekrallt, das Leder des Mietwagens durchlöchert und krampfhaft etwas von schöner Landschaft gemurmelt, währen der Blick enorm weit über Wälder und Dörfer hinweg ging, direkt in die Wolken. Der Blick ging dabei angestrengt über das Nichts hinweg, das neben mir immer wieder sein Maul aufriss und nach dem Auto und der Familie schnappte. Als Wanderer hätte mich das gar nicht so erschüttert, glaube ich, aber aus dem Auto heraus vertrage ich diesen Blick definitiv nicht so gut.

Ich würde jederzeit wieder nach Südtirol fahren, aber vor den Straßen dort habe ich großen Respekt. Der Herzdame geht es da ganz ähnlich, sie gibt es nur nicht so offen zu wie ich.

Wenn man von Meran nach Schenna fährt, ist die Straßenführung jedenfalls, Höhenangst hin oder her, beeindruckend. Hat man ein Navi, auf dem man die Straßenkarte vor sich sieht, sieht man auf dem Display irgendwann eine höchst unwahrscheinlich anmutende Route vor sich, die aussieht, als hätte ein Kleinkind mit ruckartigen Bewegungen etwas auf Papier gekritzelt. Eines dieser Bildchen, die man als Elternteil dankend entgegennimmt und irgendwann dann klammheimlich wieder entsorgt. Es sieht nach einem Fehler aus, was man da auf dem Display sieht, es kann kaum ernstgemeint sein, irgendein Softwareproblem. Bis man an der nächsten Kurve merkt, dass die Straßenbauingenieure offensichtlich genau wie ein Kleinkind gekritzelt haben. Es wird selbstverständlich gute Gründe dafür gegeben haben. Nein, es sind nicht irgendwelche Kurven, durch die man da fährt, es sind nicht irgendwelche Brücken und es sind auch nicht irgendwelche Über- und Unterführungen. Man versteht plötzlich, dass ein Teil von Südtirol noch gar nicht so lange für den Verkehr erschlossen ist, wenn man es geschichtlich betrachtet. Sogar Sohn I, der übrigens während der Fahrt auf einem Handy spielte und nur ab und zu gelangweilt hochsah, als sei er schon weit in der Pubertät, fand es zwischendurch doch spannend, aus dem Fenster zu sehen. Und er murmelte nach einer der vielen Kurven anerkennend zu seiner Mutter: “Cool, haste noch ein Level geschafft.”

Zmailerhof Schenna Knödel

Auf der oben abgebildeten Karte also einige Südtiroler Spezialitäten, keine einzige davon ist ausgesprochen teuer, wie man auf den ersten Blick sieht. Am meisten kostet “Schöpsernes”, dabei handelt es sich um Schaffleisch. Der Herr vom Roten Hahn, mit dem wir uns dort zum Mittagessen verabredet hatten, sprach das Wort aus wie etwas Religiöses, er hatte sich offensichtlich seit Tagen darauf gefreut. Schöpsernes, das war mehr geseufzt als gesprochen, das Wort wurde gefolgt von einem ganz unironischen “das gibt’s ja heute kaum noch”. Ich habe es probiert, ich konnte seine Begeisterung nachvollziehen. Und vielleicht versuche ich einmal, es auch nachzumachen, das entsprechende Kochbuch dafür liegt hier schon vor.

In der Küche stand eine Frau mit weißer Schürze, die so dermaßen nett und herzlich wirkte, als sei sie einem Kinderbuch entsprungen, eine dieser Köchinnen, bei denen traurige Gestalten wie Klara aus Frankfurt oder das schwindsüchtige Nesthäkchen dann doch noch erfolgreich wieder aufgepäppelt werden.

Zmailerhof Schenna Knödel

Wir haben Brennessel- und Käseknödel und Speckknödel und Kaiserschmarrn gegessen, das war alles sensationell. Ich habe noch nie vorher Brennesselknödel gegessen, ich möchte das sehr dringend empfehlen, das ist eine großartige Sache. Man verzeiht den Brennesseln plötzlich alles, wenn man erst weiß, wie sie in Knödeln schmecken. Für 8,50! Das ist aus Hamburger Sicht lachhaft günstig, das würde hier umgerechet mit Hipster-, Regio-, Bio- und Szene- und Veggie-Zuschlag etwa vier bis sechs Euro mehr kosten, und dann wäre die Portion immer noch deutlich kleiner als beim Original in den Bergen – und man ginge nicht pappsatt nach Hause. Zmailerhof Schenna Knödel

Nichts auf dieser Karte war teuer, aber alles war sehr gut. Das ist ein Satz, den man als Hamburger ganz gewiss nicht nach jedem Restaurantgang notieren möchte (es sei denn, man war z.B.im Trific, wie wir neulich wieder gemerkt haben). Ich fand angenehm, dass die Auswahl klein war, dass sie äußerst fein war, dass mir alle Preise ausgesprochen fair erschienen. Also entweder leben wir hier in Hamburg auf einem absurd hohen Preisniveau, was natürlich gut sein kann, oder Südtirol ist längst nicht so teuer, wie man dauernd hört. Denn viel besser als auf diesem Hof wird die regionale Küche dort auch anderswo nicht sein, dazu schmeckte das einfach zu perfekt.

Und auch an den anderen Tagen ist uns dort nirgendwo etwas begegnet, das mir überteuert erschien. In keinem Restaurant, keiner Pizzeria, keinem Imbiss. Bis mir hier bei uns etwas überteuert vorkommt, muss ich allerdings nur etwa hundert Meter gehen. Ganz egal, in welche Richtung.

Zmailerhof Schenna

Roter Hahn

Die kleinen Tierfreunde

Die Söhne wollen immer noch ein Haustier, ich bin immer noch strikt dagegen. Sie gehen immer wieder alle nur denkbaren Tierarten durch. Hätten Sie Brehms Tierleben greifbar, sie würden mir wohl einfach das Register daraus vorlesen. Kakadu? Koala? Kuh? Bis Zwergwiesel, und dann wieder zurück zu Aal und von vorne. Sie schwärmen mir von den Vorteilen der Tiere vor, sie lassen die Nachteile sorgsam aus. Sie stellen sich als aufopferungsvolle Tierpfleger dar, sie sind heilig entschlossen, jederzeit alle Freuden des Lebens und jegliche freie Zeit dem Haustier unterzuordnen. Sie bitten und betteln, sie denken unentwegt über Strategien nach, wie man den unbarmherzigen Vater herumkriegen kann. Und verstehen gar nicht, wieso es bei diesem Thema nicht klappt. Was hat er denn nur? Er ist doch sonst ganz nett?

Tatsächlich habe ich bei Haustieren diese Blockade, die alle Eltern bei irgendeinem Thema haben. Die einen erlauben keine Comics, andere keine Spielzeugwaffen oder Süßigkeiten, ich möchte keine Tiere in der Wohnung. Und weil Kinder heute verhandlungsstark aufwachsen, erkläre ich es immer wieder. Gefühlt verbringe ich etwa eine Stunde des Tages mit der schon ritualisierten Haustierargumentation. “Du, Papa?” “Nein, und zwar weil …” Das läuft ganz von alleine ab, darüber muss ich nicht mehr nachdenken.

Ich habe auch gar nicht vor, mich umstimmen zu lassen, wirklich nicht. Aber ich bewundere die Söhne doch für ihre Argumente, es ist schon verblüffend, worauf der Mensch kommt, wenn er etwas dringend haben möchte. Und neulich war ich sogar kurz davor, ihnen so etwas wie den Gewinn der Hinrunde zuzugestehen. Und zwar für folgenden Satz, über den sie sicher lange, lange nachgedacht haben:

“Papa, können wir nicht doch ein Haustier? Wir möchten nicht immer nur mit Spinnen und Insekten spielen.”

(Dieser Text erschien als Kolumne in den Lübecker Nachrichten und in der Ostsee-Zeitung)