Kleine Szenen (5)

Auf dem Bahnhofsvorplatz steht eine geflüchtete Familie, der kleine Sohn ist etwa drei, vier Jahre alt. Sie sind alle müde und verfroren, der Sohn ist aber so müde, dass er kaum noch stehen kann. Er gähnt unentwegt, die Auge fallen ihm dauernd zu, er steht schwankend und taumelnd hinter seinem Vater. Dabei hält er sich an einem der Riemen fest, die von dessen Rucksack herabbaumeln. Seine Hand klammert sich an diesen Riemen, der Vater steht und spricht mit einem der Helfer vor den Versorgungszelten. Er tastet ab und zu nach hinten, ob der Junge noch da ist, streicht ihm kurz übers Haar. Der Junge lehnt den Kopf an den zum Vater hochgereckten Arm und macht die Augen kurz zu, wieder auf, wieder zu, dann bleiben sie erst einmal zu. Der Winterjackenärmel ist weich wie ein Daunenkissen, er würde so gerne schlafen, sicher hat er schon viel zu lange nicht mehr geschlafen. Er schreckt zusammen, wenn sein Arm sinkt, wenn seine Finger sich vom Riemen lösen, den er immer weiter umklammert, ganz, ganz fest. Der Vater geht weiter, hinten auf dem Platz wird Kaffee ausgegeben. Der Kleine trottet hinterher, immer dem Vater nach, dem Rucksack nach, dem Riemen nach, dem eigenen Arm nach, dabei muss man die Augen gar nicht lange aufmachen, immer nur hinterher, er kann mit geschlossenen Augen gehen, er ist so unendlich müde. Es ist schlimm, nicht schlafen zu können, aber es ist noch schlimmer, diesen Riemen loszulassen, durch den er mit seinem Vater verbunden ist, mit den Geschwistern, mit der Familie. Wer weiß, was alles weg ist, wenn er auch nur kurz loslässt.

Ich gehe mit Sohn I am frühen Morgen aus dem Haus, er muss zur Schule, ich ins Büro, wir gehen ein Stück gemeinsam. An einer Hauswand sehen wir ein neues Graffiti, es ist ein ungelenk gesprühter Schriftzug PKK, daneben Hammer und Sichel in der gekreuzten Version, an die man sich als Erwachsener noch dunkel erinnert. Der Sohn fragt etwas erstaunt, ob das Zeichen da ein Buchstabe sei, den würde er ja gar nicht kennen. Ich erkläre ihm die Sache mit dem Hammer und den Arbeitern, mit den Bauern und der Sichel. Er fragt weiter und weiter nach, wir kommen irgendwie auf Monarchie und Revolution und Republik und Kommunismus, auf absolute Herrscher, hungernde Weber und Arbeiter, reiche Fabrikanten und Gutsherren. Es ist ganz erstaunlich, wie viele Themen auf wenige Meter Schulweg passen, wenn jede Antwort immer noch eine Frage erzeugt. Im baufälligen Gemäuer meiner Allgemeinbildung zieht es bei dem Gespräch allerdings eiskalt durchs morsche Gebälk, hier und da wackelt ein Ziegel, und es wird reichlich Staub in lange verschlossenen Kammern aufgewirbelt. Ich denke hektisch nach, wer war wann und was, was kam wovon und seit wann ist das eigentlich so und wie kann ich das erklären, kann ich überhaupt irgendwas erklären? Wie war das denn damals noch im Schulbuch? Und was hat das mit heute zu tun, mit der PKK in der Türkei, mit den Parteien in Deutschland? Der Sohn und ich landen kurz vor dem Schultor bei den Rechten und den Linken, ich erkläre ihm, wieso die so genannt werden und dass es damals, als das alles in Frankreich anfing, um ganz andere Themen ging, zumindest auf den ersten Blick. Auf den zweiten vielleicht schon nicht mehr. Oder? Europa diskutiert gerade wieder über Grenzen und es ist der Tag mit dem Beschluss zur Vorratsdatenspeicherung in Berlin, das Volk im Generalverdacht. Im Grunde ist es ein schlechter Witz, wie alles zusammenhängt. Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten, man möchte direkt lossingen. Ich höre mich über geschichtliche Zusammenhänge reden, ich müsste aber selbst mal wieder dringend darüber nachdenken. Vielleicht wäre es angebracht, wieder in ein Geschichtsbuch zu sehen, man sollte sich nichts auf sein Halbwissen einbilden. Der Sohn fragt nach den Rechten und den Linken, er findet es blöd, dass die Rechten böse sind. Denn als Rechtshänder findet er rechts eigentlich okay. Es wäre ihm lieber, wenn man die Rechten die Linken nennen würde.

Die Söhne reden beim Einschlafen über Flüchtlinge, über die Spendenaktionen bei Edeka und Budni. Die Lage am Bahnhof ist hier dauernd Gesprächsthema, weil man die Menschen vor unserer Haustür nun einmal nicht übersehen kann. Sohn II sagt: “Man kann für die Flüchtlinge Sachen kaufen und dann spenden. Aber wenn man alles klauen würde, das wäre mehr Robin Hood.”

Ich gehe mit der Herzdame auf den verregneten Wochenmarkt und frage Händler mit wetterbedingt novembriger Laune nach Gemüsespenden für die Suppenaktion. Für die Welcome Soup St. Georg, die hier von Eltern und anderen jeden Tag hundertliterweise zubereitet wird, damit die durchreisenden Flüchtlinge am Bahnhof etwas Heißes essen können. Da muss man sich schon ein wenig überwinden, einfach so fragen zu gehen, das macht man sonst nicht. Können wir den Chef sprechen? Können Sie noch einmal etwas spenden? Für die Suppenküche? Bitte? Lächeln, weiter lächeln, fragende Blicke aushalten, die Herzdame kann das viel besser als ich, das ist nichts für mich. Aber die Händler machen mit.

Ich gehe abends über den Steindamm, ich habe hier schon einmal über diese Straße geschrieben, die nicht wie andere Straßen ist. Es ist kalt und es regnet, ich habe eine Mütze und eine Kapuze auf, ich sehe wie durch einen Tunnel, immer nur einen schmalen Ausschnitt der Straße im Blick. Nasses Gemüse und Obst in Auslagen ziehen durchs Bild, viel mehr Sorten als in jedem deutschen Supermarkt, die Schilder daran handgeschrieben in verschiedenen Sprachen, etliche versteht man nicht, einige sind längst im Regen verlaufen. Es gibt in diesen Läden Gemüse, das ich noch nie gegessen habe, eingeflogen aus Afrika oder Indien oder woher auch immer. Riesige Früchte, auf deren Namen ich nicht komme, und seltsames Grünzeug, was ist das, Tang? Irgendwelche Schlingpflanzen? Keine Ahnung. Türkische Imbisse, einer nach dem anderen, immer noch einer, Läden nur für türkisches Gebäck, Regalmeter um Regalmeter nichts als Kekse und Kuchen. Dann ein afghanisches Restaurant, ein indischer Laden, es gibt noch kein Restaurant mit syrischem Essen. Das wird aber sicher nicht mehr lange dauern, und die syrische Küche soll gut sein. Diese Straße ist wohl das, wovor die Demonstranten in Sachsen und anderswo solche Angst haben, diese Straße sieht nicht aus wie die durchschnittliche Einkaufsstraße in einer deutschen Kreisstadt. In dieser Straße kann man gut einkaufen.

Im Drogeriemarkt im Hauptbahnhof stehen drei vermutlich arabische Männer vor dem Regal mit den hundert Sorten Zahnpasta. Einer hält eine Packung in der Hand, die anderen sehen ihm über die Schulter, während er das Ding hin und her dreht und versucht, etwas darauf zu entziffern. Sie sprechen kein Englisch und kein Deutsch und kein Französisch, helfen kann ich ihnen nicht, wobei ich auf Französisch auch nur sinnlose Sätze wie etwa “es ist kalt heute” und “der Bahnhof ist groß” sagen könnte. Die Männer sehen auf die Packung, schütteln den Kopf, sie wissen nicht recht. Einer greift nach der nächsten Packung. Die ist genauso rätselhaft. Sie diskutieren leise, sie sehen alle Packungsseiten an, sie sehen sich an, sie kommen zu keinem Schluss. Es ist schwer. Alles ist schwer.

Für die diversen Hilfsgruppen in unserem kleinen Bahnhofsviertel kann man weiterhin spenden. Geld für eine heiße Suppe, für ein Nachtlager im Stadtteil, für etwas Versorgung der Menschen auf der Flucht.

 

Kleine Szenen (4)

Eine Szene aus der Vergangenheit der Herzdame. Als sie nach der Schule nach Hamburg zog, machte sie hier ein Freiwilliges Soziales Jahr, dabei arbeitete sie in einem evangelischen Altersheim. Eine der dementen Bewohnerinnen dort gab immer wieder denselben Satz von sich, immer wieder und wieder, tagelang: “Ach nein, ach nein, muss es denn ein Flüchtling sein!” Ob sich der Satz auf eine selbsterlebte Liebesgeschichte in der Nachkriegszeit bezog oder ob es eine ganz andere Erklärung dafür gab, das hat man nie erfahren.

Eine Szene aus der jüngeren Vergangenheit, es ist vielleicht vier Jahre her. Irgendeine Kinderparty auf einem Spielplatz in einem Nachbarstadtteil. Der Spielplatz ist umzäunt, ein halbhoher Metallzaun, über den man als Erwachsener mit etwas Anlauf auch springen könnte. Es ist ein privat betriebener Platz, wir können ihn an diesem Nachmittag nutzen, wir haben den Schlüssel für das Tor im Zaun und auch für das kleine Haus mit den Toiletten, Spielsachen, Bobbycars. Die Kinder spielen, die Erwachsenen stehen am Grill und am Bierkasten, es ist ein ziemlich entspannter und sonniger Nachmittag, jedenfalls bis Sohn II das Karussell mit dem Gebiss bremst, aber das ist eine andere Geschichte, darum geht es nicht. Kinder, die nicht zu unseren Kindern gehören, kommen zwischendurch vorbei, sie sind etwas größer als die in unserem Rudel. Sie klettern über den Zaun und gehen zur Schaukel, ohne sich um uns zu kümmern. Das wird hier ihr Revier sein. Der Mann neben mir, ein türkischer Vater, fragt mich, ob die das denn dürfen. Die würden ja nicht zu uns gehören und der Platz sei doch für uns reserviert. Ich sage, dass hier nun einmal ein Spielplatz sei, dass es doch völlig egal sei, ein paar Kinder mehr. “Pardon”, sagt der türkische Vater, “aber da ist ein Zaun und das Tor ist geschlossen. Und ich bin hyperintegriert, ich kann so etwas nicht ab.”

Letzte Woche. Vor dem Hamburger Hauptbahnhof spielt die Tochter einer deutschen Helferin mit den zwei Töchtern einer geflüchteten Familie, sie sind alle drei etwa fünf Jahre alt. Sie hüpfen über die Palettenstapel, die man dort aufgebaut hat, damit man sich darauf etwas ausruhen kann, es sind Behelfsmöbel in einem etwas grotesken Loungestil.  Es ruhen dort gerade keine Menschen, es gibt nur diese drei Kinder, die kreischend über die Paletten hüpfen, rauf und runter und rüber von Stapel zu Stapel. Wenn man eine Weile zusieht, so wie Sohn I und ich, dann sieht man, dass dieses Spiel irgendwelchen Regeln folgt. Es geht wohl um eine Reihenfolge, in der man von Palette zu Palette muss, ohne die anderen Kinder zu berühren. Oder muss man sie gerade berühren? Und darf man zwischendurch mit den Füßen auf den Boden oder nicht? Das ist dem Sohn zunächst nicht ganz klar, und den Mädchen ist das vielleicht auch nicht ganz klar, jedenfalls stoßen sie ab und zu wild kichernd zusammen, weil die Choreografie doch noch nicht ganz klappt. Dann rufen sie sich aufgeregte Sätze zu und lachen sich kaputt, weil sie überhaupt nichts verstehen und so komisch fremd klingen. “Die können nicht miteinander reden”, sagt Sohn I, “aber man muss ja auch nicht reden, um zusammen rumzuhüpfen.” Die Mädchen liegen japsend auf den Paletten und kichern, dann kitzeln sie sich laut lachend und hüpfen wieder los und jagen sich über die Holzstapel.

Die Herbstmode sorgt seit ein paar Wochen dafür, dass die Frauen Ponchos tragen. Ponchos in allen denkbaren Größen, Materialien und Farben. Wenn man eine Weile am Hauptbahnhof steht und in das Menschengewirr sieht, sind die Silhouetten der zur Arbeit eilenden Frauen in modischen Ponchos und die der geflüchteten Frauen in übergeworfenen Decken manchmal ganz ähnlich.

Die Herzdame hilft in den Messehallen, wo immer noch gespendete Kleidung empfangen und sortiert wird. Von hier werden jetzt alle Unterkünfte in Hamburg beliefert, von hier wird auch eine mobile Kleiderkammer am Hauptbahnhof versorgt, aus der man den Durchreisenden nach Skandinavien die notwendigsten Dingen gibt, Winterjacken, feste Schuhen, warme Pullover. Immer noch kommen Syrer und andere in Flipflops und T-Shirts an, immer wieder sieht man erbärmlich frierende Menschen. Die Herzdame sortiert in den Messehallen einen Tag lang Damenoberbekleidung für Frauen, die in Europa auf Asyl hoffen, darunter auch dieses bemerkenswerte Stück:

T-Shirt: Hinterm Horizont gehts weiter

 

Zwischendurch fahren wir für ein Wochenende ins Heimatdorf der Herzdame in Nordostwestfalen. Es ist ein kleines Dorf in der Nähe einer nicht ganz so großen Stadt. Wir sehen drei Tage lang keinen einzigen ausländischen Menschen, also zumindest keinen, dem man die Herkunft ansehen würde. Man läuft immer Gefahr, den kleinen Ausschnitt Deutschlands, den man bewohnt, für das Land zu halten, man läuft immer Gefahr, das da vor der Haustür für die allgemeine Lage zu halten. Das kleine Bahnhofsviertel in Hamburg und das kleine Heimatdorf in Nordostwestfalen sind so absurd verschieden, dazwischen könnten auch Kontinente liegen. Und doch reden alle gerade dauernd über Deutschland, als ob das eine vollkommen klare Sache sei, was das nun ist und wie es da zugeht. Aus dem Ausland kommen im Heimatdorf der Herzdame nur ein paar Vögel bei der dörflichen Geflügelschau. Sie sind bestens integriert, wenn man die kleinen Schilder an den Käfigen nicht lesen würde, man käme gar nicht auf die Herkunftsländer. Vögel eben, Tauben oder Hühner. In einigen Nachbardörfern in der Gegend leben viele Russlanddeutsche, Spätaussiedler, wie auch immer sie korrekt benannt werden, ich weiß es gar nicht. Die kamen damals in den Neunzigern. Und die erkennt man auch nicht, nur einige ganz alte Frauen mit bunten Kopftüchern sehen manchmal so aus, dass man Großmütterchen zu ihnen sagen möchte, wie in russischen illustrierten Kinderbüchern. Gegen die Kopftücher dieser alten Damen hat man nie etwas gehabt, glaube ich.

Für die diversen Hilfsgruppen in unserem kleinen Bahnhofsviertel kann man weiterhin spenden. Geld für eine heiße Suppe, für ein Nachtlager, für etwas Versorgung.

 

Zwischendurch ein Dank …

… an die Leserin A.H., die den Jungs eine Cro-CD geschickt hat. Darauf ist sogar ein Lied für mich, sagt Sohn I, es trägt den überaus sinnigen Titel “Papa schüttelt den Kopf”. Keine Ahnung, was das mit mir zu tun hat, sie dürfen Cro hier eh nur hören, wenn die Kinderzimmertür geschlossen ist. Aber selbstverständlich sollen sie ruhig ihren eigenen Geschmack haben, gar keine Frage. Ich höre ja auch Musik, die sie nicht mögen, das ist alles vollkommen in Ordnung so, es ist auch zu erwarten, dass man sich irgendwann auseinander entwickelt.

Und sie freuen sich sehr über die CD und haben sie bereits tausendmal gehört. Was womöglich nur ein von mir gefühlter Wert ist, mag sein.

Vielen herzlichen Dank! Sohn I sagt, ich habe super Leserinnen. Recht hat er.

Terminhinweis: Manfred Maurenbrecher in Hamburg

Nächste Woche Mittwoch, das ist der 14.10.: Manfred Maurenbrecher gastiert solo im Polittbüro auf dem Steindamm in unserem kleinen Bahnhofsviertel. Wenn jemand Manfred versehentlich nicht kennt, hier ein Wikipedia-Artikel über ihn, besonders schön unten die Zitate zu ihm und seinem Schaffen.

Manfred am Klavier, das sollte man erlebt haben, wenn man sich für Lieder interessiert, für Texte mit ordentlich Kawumm und Abgrund, wenn man sich für Lyrik interessiert. Wenn man es etwa mag, dass jemand aus dem Fenster guckt, wo gar nichts ist, nichts außer einem alten Mann mit einem Fahrrad im morgendlichen Nieselregen, und dass dann aus diesem tristen, banalen Anblick ein Lied von Format wird (hier im Video ab 2:13). Das ist wunderschön. Und ebenso beeindruckend ist es, wenn der Sänger wütend wird, weil er an der Lage verzweifelt, was man in seinem Beruf selbstverständlich ein Leben lang tun kann, wer würde das nicht verstehen. Er kann es eben nur wesentlich besser ausdrücken als wir. Da lebt einem jemand am Klavier etwas vor, es geht dabei nicht zimperlich zu, die Texte und die Lieder reißen einen rauf und runter und mittendurch, und so gehört es auch.

Manfred Maurenbrecher solo im Polittbüro – sehr große Empfehlung von mir. Ich bin auch da und ich freue mich riesig auf den Abend.

Manfred Maurenbrecher

 

Foto: Christian Biadacz

 

Kurz und klein

 

Anmerkung zum Straßenbau

Ich bin neulich durch die Gegend gefahren, in der meine erste Ehe spielte. Das war nicht Absicht, das war eher wie bei Degenhardt, einige werden das noch kennen: “Du wirst umgeleitet, von der großen Straße musst du ab, fährst kreuz und quer durch die Landschaft, und dann bleibst du stehen …” Ein schönes Lied, kann man ruhig mal wieder hören, es heißt “Umleitung”.

Ich fuhr an dem Gericht vorbei, in dem diese Ehe vor vielen Jahren endete, ich habe in dem Buch mit der Marmelade im Titel eine Geschichte über diesen Tag geschrieben. Ich fuhr da vorbei, ich sah das Landgericht – hieß es Landgericht? – aus dem Augenwinkel, und die Straßenführung war etwas anders als früher. Das bog nicht da ab und schwenkte nicht dort herum, wo ich es erwartet hatte, das lief irgendwie anders, ich habe es gar nicht recht verstanden. Der Weg zu der Wohnung damals, der war nicht da wo er hingehörte, rechts war links und alles seltsam vertauscht. Das geht mir übrigens auch in Travemünde so, da passt auch nichts mehr zusammen, meinen Jugendort gibt es teilweise gar nicht mehr. Aber der Strand ist immerhin noch da, wo er hingehört.

Und dann merkt man doch, wie sehr Geschichten, wie sehr die eigene Geschichte zumindest auch an kartografierter Gegend hängt, wie man immer “hier war das” und “dort war jenes” denkt, das fällt plötzlich auf. Weil da nicht mehr dort ist. Wie fest man doch die Kurven und Kreuzungen abgespeichert und mit Inhalt verbunden hat. Wie irritierend das ist, wenn man aus dem einen Bild der Erinnerung nicht mehr nahtlos ins andere Bild gehen kann, weil dazwischen nichts mehr ist oder die Ränder einfach nicht mehr richtig aneinanderliegen. Wenn das alles nicht mehr passt, dann kommen nämlich all diese Geschichten ins Rutschen, da fallen plötzlich Inhalte durcheinander und haben keinen Halt mehr, die neuen und gerade gesehenen Bilder stehen quer im Hirn wie grelle Umleitungswarnungen. Und im halb unterbewussten Denken versucht man vergeblich noch tagelang, die Gegend wieder geradezubiegen, die Straßen zurück zu verlegen, alles wieder ins Lot zu bringen und Wege freizuschaufeln. Wo ging es denn bloß von da nach da? Wie war das noch? Unwillkürlich geht man doch die alten Wege wieder im Geiste ab, steht grübelnd an den Kurven und Kreuzungen. Die Erinnerungen sollen nicht schief im Rahmen hängen, da war doch alles so schön aufgeräumt und gerade gerückt, an dieser Wand da hinten im Eck. Da purzeln sonst noch Inhalte raus, aus diesen alten Bildern, die einem dann durch die Tage spuken wie nicht geschriebene und unerlöste Kurzgeschichten. Und ich habe weder die Zeit noch überhaupt die Absicht, diese Geschichten zu schreiben.

Und man muss ja auch nicht alles erzählen. Auch wenn einiges noch in Geschichten gepasst hätte, so ist es ja nicht. Die Wirtin in dem Imbiss neben dem Supermarkt, die furchtbar schlechtes Essen servierte, aber mit mütterlicher Anteilnahme an meiner Beziehung interessiert war und immer besorgt nach der Lage fragte, die wäre eine gute Nebenfigur. Die Geschichte aus dem einzigen Hotel im Ort, diese Geschichte mit dem Vorfall beim Schützenfest damals, die habe ich tatsächlich nie aufgeschrieben, warum eigentlich nicht? Und all die Geschichten vom kleinen Pendlerbahnhof, auf dem an jedem Morgen dieselben Typen rauchend in der Morgenkälte standen und sich standhaft jahrelang norddeutsch ignorierten, bis der Zug einmal bei Orkan mitten im Wald stehenblieb und man gemeinsam überlegte, ob man nicht zu Fuß, wie ein Trupp Pioniere … solche Geschichten. Von damals. Will ich wirklich nicht schreiben, nein.

Ich wollte nur sagen: ich finde es furchtbar unsensibel und rücksichtslos, die Straßenführung in Orten einfach zu ändern.

 

Apfelernte im Alten Land

Apfelernte

Das ist auch schon Ritual geworden, dass wir im Herbst ins Alte Land fahren, und uns Äpfel von den Bäumen holen. In den letzten Jahren waren wir auf einem der kleineren Höfe, jetzt waren wir auf einem ganz großen, auf dem Herzapfelhof in Jork.

Apfelernte

Ein großer Hof hat den Vorteil, dass es dort auch ein Hofcafé und also auch Apfelkuchen gibt, er hat aber auch den Nachteil, dass an einem sonnigen Wochenend- und auch noch Feiertag die ganze Metropolregion Hamburg dorthin fährt. Und da auf dem Hof keine S-Bahn hält, fahren alle mit dem Auto, Idylle geht wirklich anders. Aber man verschuldet das natürlich selbst, schon klar.

Apfelernte

Auf dem Hof kann man auch Sorten finden, die einem nicht gerade im Discounter begegnen werden, das ist natürlich erfreulich.

Apfelernte

ApfelernteApfelernte

ApfelernteApfelernte

Apfelernte

Die Kinder mögen diese Ausflüge sehr, ohne Apfelernte ist es kein Herbst.

Apfelernte

Und es tritt auch wieder der seltsame und ausgesprochen lehrbuchmäßige Effekt ein, dass die Jungs plötzlich Unmengen Obst essen.

ApfelernteApfelernte

Sie nagen sich durch diverse Sorten, sie probieren links und rechts, vom Boden und von ganz oben, es ist so, wie man sich das Essverhalten der Kinder immer wünscht und sonst nie erlebt. Offen, interessiert, neugierig.

Apfelernte

Kein Kind fragt nach geschälten Äpfeln, niemand verlangt geschnittene Stückchen in Tupper, alles läuft ganz natürlich ab. An immerhin einem Tag im Jahr, da muss man auch dankbar sein, erntedankbar.

Apfelernte

Und wenn man sich komplett mit Äpfeln vollgefressen hat, dann kann man sich landlustmäßig ausruhen, das passt da alles zusammen.

Apfelernte

Die Eltern pflücken weiter, wobei man da übrigens leicht in einen gewissen Erntewahn gerät und sich am Ende fragt, was genau man eigentlich mit einer Schubkarre voller Äpfel vorhat.

Apfel

Aber egal, man kann ja nichts hängen lassen, was so gut aussieht.

Apfelernte

Und sie schmecken eben auch so, wie sie aussehen.

Apfelernte

Zwischendurch singt man pflichtgemäß die alte Hamburger Hymne vom Äpfelklauen, allerdings sind weit und breit keine Zäune, über die man ruckzuck könnte. Egal.

Apfelernte

Nächstes Jahr wieder. Eh klar.

Apfelernte

Gelesen, vorgelesen, gesehen, gehört im September

Gelesen

Ich habe verblüffend wenig gelesen im September, ich hing nur noch vor Nachrichtenseiten und las permanent Updates zur Situation der Geflüchteten in Südosteuropa, in Deutschland und natürlich vor unserer Haustür. Das lässt mich immer noch nicht los, ich komme dadurch wirklich seltener zu Büchern.

Kristine Bilkau: Die Glücklichen

Auf dem Schutzumschlag geht der Blick über eine Wohngegend, Dächer und Zimmer an einem blaudunklen Winterabend, es wird einem schon kalt vom Bild und die Kälte passt natürlich zu dem, was dann kommt. Die beiden Hauptfiguren wohnen in gentrifizierter Gegend, sie haben gerade ein Kind bekommen und gehen kreativen Berufen nach, er in den Medien, sie als Cellistin. Man lebt auf hohem Niveau, es ist alles goldrichtig oder fast. Dann verliert er seinen Job, wie das bei den Medien mittlerweile so ist, sie hat plötzlich ein Zittern in der Hand, die doch souverän den Bogen führen soll. Das wird dann geradezu grausam detailliert geschildert, wie sie langsam aus dem Netz der wohligen Sicherheit und der feinen Gewohnheiten fallen, wie sie merken, dass es nicht sofort fröhlich weitergeht, dass es womöglich überhaupt nicht weitergeht. Oder nur ganz anders. Wie sie allmählich realisieren, dass sie sparen müssen, dass sie über Geld nachdenken müssen, dass sie vielleicht wegziehen müssen, dass die Situation die Beziehung ruiniert, dass all die anderen um sie herum ganz normal weiterleben. Exzellent dargestellt, wie sie nicht miteinander reden oder aneinander vorbei, wie sie sich Gedanken über den anderen machen, die nicht treffen, wie das Gemeinsame jeden Monat mehr zerfällt. Die Sprache unprätentiös und ohne jede Ausschweifung, das kann man so auch mal wieder gut vertragen. In der Wohnung der beiden findet sich unter den alten Tapeten ein Tresor, den man nicht öffnen kann, man sieht die armen Germanistikstudentinnen geradezu vor sich, die sich an diesem Bild in den nächsten Jahren abarbeiten werden. Ich habe das Buch hier überall empfohlen, feine Lektüre. Ein Horrorroman für die Bewohner der Szeneviertel, es wird einem Angst und Bange bei der Lektüre und ab und zu überlegt man, ob man selbst auch so … Wirklich schlimm. Also ja, ein wirklich gutes Buch. Über uns und unsere Ängste.

Die Glückklichen

Thomas Meyer: Wolkenbruchs wundersame Reise in die Arme einer Schickse

Mordechai Wolkenbruch, ein Züricher Jude aus sehr traditionsverbundener Familie, entzieht sich den Verkuppelungsversuchen seiner Mame, also seiner Mutter. Das hat natürlich fatale Folgen, wie immer, wenn man nicht auf seine Mutter hört. Zumindest in diesen eng geschnürten Traditionsgeflechten. Der Humor des Buches ist vorhersehbar und etwas flach, es finden sich dennoch etliche schöne Szenen. Es ist wie bei einem lustigen Film im Kino, bei dem man alle 15 Minuten lacht – wenn man alle fünf Minuten lachen würde, wäre er eben besser. Mir hat das Buch dennoch Spaß gemacht, weil es in einem Gemisch aus Jiddisch und Deutsch geschrieben ist. Man entdeckt Wortperlen wie etwa Blizbrif für E-Mail, alleine diese Vokabel hat schon die Lektüre gerechtfertigt. Blizbrif, wie schön ist das denn. Außerdem ist es faszinierend, sich in diesen Tonfall einzulesen. Am Ende des Buches ein langes Glossar mit jiddischen Begriffen, man kommt aber auch ohne dauerndes Nachschlagen recht weit.

Mordechai wird von seiner Mutter von einem der endlos vielen erfolglosen Dates abgeholt, sie fragt ihn, wie es gewesen ist. Er will nicht sagen, dass er die Frau abstoßend fand, weil sie genau wie seine Mutter aussah.

Also sagte ich: “Da war nischt kejn funk zwischen uns, mame.”

“Kejn funk!” rief die mame. “Was brauchst du a funk! Du brauchst a froj!”

Doch, die Sprache ist schon wirklich schön.

Wolkenbruchs wunderliche Reise

Türkei vegetarisch

Ich gehöre ja zu den Leuten, die Kochbücher durchlesen, auch dann, wenn ich gerade nicht auf Rezeptsuche bin. Kochbücher sind beruhigend, in Kochbüchern ist alles gut, es wird wieder einen Morgen geben, es wird wieder Essen geben, es wird aus der Küche gut riechen und alle werden satt. Kochbücher sind super. Demnächst wird hier im Blog auch wieder gekocht, und zwar z.B. aus “Türkei vegetarisch”, dem nächsten Band in der herausragend guten Serie der Herausgeberin Katharina Seiser. Diesmal in Kooperation mit Orhan und Orkide Tançgil. Die türkische Küche wird eh immer unterschätzt, für mich ist sie eine der besten – ich freue mich sehr aufs Nachkochen.

Türkei vegetarisch

Claudia Seifert, Gesa Sander, Nelly Mager und Julia Hoersch: Kinder an den Herd: Wir kochen, experimentieren und staunen

Kinder an den Herd

Das ist der Fortsetzungsband von “Kinder kocht!, den hatten wir hier im Blog auch schon. Nelly, eine der Autorinnen, ist eine Mutter aus unserem kleinen Bahnhofsviertel, das hat den Nebeneffekt, dass die Söhne hier einige der im Buch abgebildeten Kinder kennen. Immer schön, wie ein Buch dann plötzlich sehr, sehr interessant wird. Auch aus diesem Buch gibt es dann demnächst etwas.

Vorgelesen

Heinz Janisch und Aljoscha Blau (Bilder): Rote Wangen

Rote Wangen

Das Buch ist ein Wunder, es ist nämlich pädagogisch wertvoll und funktioniert tatsächlich. Ein Großvater erzählt seinem Enkel Geschichten aus seiner Jugend er wird dabei immer älter und durchsichtiger, irgendwann ist der Enkel gar nicht mehr so sicher, ob der Großvater noch da ist, die anderen sagen, er sei schon vor einem Jahr … Das ist ein Buch, das hier tatsächlich und programmgemäß zu ganz wunderbaren Gesprächen geführt hat. Große Empfehlung.

Simon Mason: Die Quigleys, Band 1. Bilder von Susann Opel-Götz, Deutsch von Gabriele Haefs

Geschichten über das irrsinnige Familienleben der Quigleys, das auch nur so irrsinnig ist, wie bei uns allen. Die Geschichten, pro Band sind es vier, sind nicht in der typischen Vorleselänge, sie sind deutlich länger, darauf muss man sich einstellen. Bei den Jungs kam das Buch sehr gut an, ich fand die Schlusspointen der Geschichten etwas unterwältigend. Aber um mich geht es dabei ja nicht unbedingt.

Die Quigleys

Astrid Lindgren: Die Brüder Löwenherz. Bilder von Ilon Wikland, Deutsch von Anna L. Kornitzky

Die Brüder Löwenherz

Da fehlte beim Vorlesen immer noch das Ende, ich hatte da gewisse Hemmungen, das Ende vorzutragen. In Erinnerung an meine eigene Kindheit, das Ende hat mich damals doch etwas mitgenommen. Für die Söhne allerdings ist dieses Ende heute nur die Ankündigung eines weiteren Levels. O tempora o mores!

Otfried Preußler: Der Räuber Hotzenplotz

Der Räuber Hotzenplotz

Das kennen die Jungs jetzt als Theaterstück, Film, Hörbuch, Hörspiel und Buch – und es funktioniert in allen Varianten. Da hat er sich schon eine ziemlich tolle Geschichte ausgedacht, der Herr Preußler.

Daniel Napp: Schnüffelnasen an Bord

Schnüffelnasen an Bord

Eine ziemlich spannende Geschichte für Kinder ab 6, das Buch kam sehr gut an und die Fortsetzungen wurden mit einer gewissen Dringlichkeit eingefordert. Sohn I sagt: „Das war aufregend und lustig, von dem können wir mehr lesen.“

Sebastian Lybeck: Latte Igel reist zu den Lofoten. Mit Bildern von Daniel Napp

Latte Igel

Noch ein Fortsetzungsbuch, Latte Igel ist hier mittlerweile sehr beliebt. Sohn I sagt: „Das ist auch sehr spannend und lustig und mehr muss man dazu ja nicht sagen. Gut ist eben gut.“ Und wir Eltern haben klammheimlich nachgesehen, wo denn noch einmal diese Lofoten genau liegen. Schlimm!

Gesehen

Nichts. Macht nichts.

Gehört

Harry Belafonte: September

Ich bin musikalisch ja Traditionsmensch durch und durch. Und im September hört man eben September, gerne auch öfter. Wobei ich von diesem sanften, schönen, melancholischen September in diesem Jahr tatsächlich überhaupt nichts gespürt habe. Draußen war eben irgendein Wetter und für Melancholie war überhaupt keine Zeit. Goldener Oktober anyone?

Ansonsten höre ich natürlich viel Musik, die zu meinem Tanzkurs passt, also ziemlich altes Zeug. Wobei ich nach bisher nur vier Stunden bisher natürlich immer noch bei “I can’t dance” bin. Aber es wird.

Eines der besten Stücke um Lindy Hop zu üben ist übrigens das textlich gar nicht mal so vergnügliche Sixteen Tons. Den Song kennt jeder, die Geschichte vielleicht nicht – die gibt es hier.

Saisonal und regional

Ich habe schon diverse Male über die hohe Kunst der Essensplanung im Familienhaushalt gesprochen, aus aktuellem Anlass ein Update dazu. 

Immer noch ist es prinzipiell so, dass ich am Sonntag in stundenlanger Kreativ- und Recherchearbeit einen Plan für die kommende Woche mache, den ich dann von Montag bis Sonnabend mit teils beachtlicher Erfolglosigkeit gegen die Launen des Schicksals, der Herzdame, der Söhne und eventueller Gäste verteidige. Wobei die Herzdame, das ist neu, plötzlich ein Faible für regionale und saisonale Produkte entwickelt hat. Weswegen sie jetzt, gänzlich ungeachtet meiner detaillierten Pläne, irgendwo auf einem Wochenmarkt steht, Kürbis sieht und Kürbis kauft, denn der ist ja dran. Sonst würde er ja da nicht liegen. Er ist natürlich nicht dran, weil er nicht auf meinem Plan steht, aber da sind wir noch ganz am Anfang der Kompromissfindung.

Die Herzdame geht dabei auch geschickt vor, sie geht nämlich morgens zum Wochenmarkt, wenn ich schon im Büro bin und mich nur schlecht wehren kann. Sie steht auf dem Markt vor dem Stand mit dem Zeug aus der Region, vom Hof vor den Toren der Stadt. Sie steht und überlegt, dann schickt sie mir eine Nachricht: “Was essen wir heute?”

Ich antworte, was auf dem Plan steht, also etwa Süßkartoffelcurry. Die Herzdame schickt mir ein Bild eines Hokkaidos und schreibt triumphierend : “Über Nachhaltigkeit schreiben aber nicht wissen, was Saison hat. Ja, ja.”

Man sieht, das ist ein konfliktträchtiges Thema, das auch nicht besser wird, wenn ich mich in vorauseilendem Gehorsam orientiere, was nun gerade nach saisonalen und regionalen Gesichtspunkten dran ist und sogar noch vor ihr morgens über den Wochenmarkt schleiche, um im Bild zu sein. Denn dann kommt man auf schräge Lebensmittel, die man vielleicht noch gar nicht kennt, was übrigens einigermaßen erstaunlich ist. Ich werde bald fünfzig Jahre alt und habe immer noch nicht alles gegessen, was hier wächst und nach der Erfahrung meiner Vorfahren als essbar gilt. Verblüffend! Aber auch diese noch unbekannten Produkte bergen Risiken, die teilweise schon in der Bezeichnung liegen.

Morgendlicher Dialog per Nachricht auf dem Handy:

Die Herzdame: “Was essen wir heute?”

Ich: “Fette Henne.”

Wobei die Fette Henne, es handelt sich um einen Speisepilz, auch Krause Glucke genannt wird, was den Dialog aber auch nur ansatzweise verbessert hätte.

Das ist jedenfalls ein Pilz, ein essbarer Pilz, der ganz hervorragend schmecken soll, wohl ähnlich wie die Morcheln, wobei er allerdings ganz und gar nicht so aussieht. Er sieht eher aus wie ein todesbleicher Naturschwamm. Man steht also nicht gerade vor dem Marktstand und denkt “Hei, das wird lecker!” Nein, man denkt eher wie im Büro an Challenges, denen man einsatzbereit und hochmotiviert begegnen muss.

Kurz auf dem Handy nachgesehen, gibt es dazu auch einfache Rezepte? Natürlich, man kann die Fette Henne so vernudeln, wie in Deutschland sowieso alles zu Pasta gereicht wird, also mit Zwiebeln angebraten und mit Sahne angesuppt. Das geht mit nahezu jedem Gemüse, das geht auch mit Pilzen, das geht dann auch mit Fetten Hennen. Foodblogger, die ja auch humorige Autoren sein können, schreiben zu den Rezepten gerne noch etwas von stundenlanger Reinigung des Pilzes, na, so schlimm wird das schon nicht werden.

Wurde es dann aber doch. Das versteht man erst, wenn man sich den Pilz genauer ansieht, der quasi als aufgefalteter Schwamm durch den Waldboden kommt, weswegen sich auf jedem Quadratzentimeter Pilz eine ordentliche Portion Waldboden und Waldbodenbewohner befindet, die sich weder durch Schütteln, Baden, Brausen oder Übergießen mit kochendem Wasser entfernen lässt. Was daran liegt, dass der Sand teils eingewachsen ist, aber darauf kommt man erst nach sehr gründlicher Betrachtung der Pilzproblemzonen. In einem Blog finde ich den Hinweis eines Pilzfreundes, dass er die Fette Henne schließlich mit seiner Munddusche gereinigt habe, das habe zwei Stunden gedauert und es sei dann gar nicht mehr sooo viel Sand übrig gewesen. Was man nicht findet: irgendwelche Abkürzungen oder Tricks.

Es ist also ein Produkt aus der Region, das Besinnung erfordert. Da muss man das Handy einmal weglegen, sich konzentriert dem Pilz und damit auch seiner Gegend widmen, da muss man wieder einmal mit dem Boden in Kontakt kommen, mit dem Pilz und, was weiß ich, dem Universum in jedem Sandkorn oder wie das heißt, das ist eher so eine meditative Nummer. Ich kraule konzentriert die Fette Henne, Sand bröselt ins Spülbecken. Ich kratze mit dem Fingernagel, ich erforsche sorgsam die Furchen und Ritzen der Pilzoberfläche. Sand bröselt ins Spülbecken. Ich sehe genauer hin, ich atme durch, ich sammele mich, ich kratze ruhig und entschlosssen am Pilz herum. Sand bröselt ins Spülbecken. Ich stehe wie ein fleißiger Küchenmönch konzentriert mit dem Pilz in der Hand, es ist ruhig um mich herum, man hört nur ganz leise den Sand rieseln. Das mache ich lange, sehr lange. Also mindestens fünf Minuten, Geduld ist eher nicht meine wichtigste Stärke. Ich habe in dieser Zeit immerhin einen etwa centgroßen Teil des Pilzes oberflächlich vom Sand befreit. Ich starre den Pilz an und rechne hoch. Dann beschließe ich, eher nicht bis Mitternacht Zeit zu haben. Ich entsorge die Fette Henne im Mülleimer, was ihre Zubereitung natürlich dramatisch vereinfacht. Dann improvisiere ich mit dem, was sonst noch in der Küche herumliegt, irgendwas muss man ja essen. Ich schnippele grüne und saisonal korrekte Bohnen, koche sie zehn Minuten, schwenke sie etwas in einer Pfanne mit saisonal auch völlig okayen und geschmolzenen Tomaten, die auf roten Zwiebeln und frischem Knoblauch gerade in sich zusammengesackt sind, ich werfe noch etwas Bohnenkraut und ein paar Feta-Trümmer locker über die Pfanne. Ein ausgezeichnetes Abendessen, schnell gemacht, gesund und köstlich. Da wäre ich ohne die Fette Henne gar nicht drauf gekommen!

Es hat also durchaus Sinn, sich saisonal korrekt durch alle regionalen Lebensmittel zu testen, wir wollen das jetzt weiterhin so halten.