Der Krieg, das Wir und das Kind

St. Nikolai

“Was wollt ihr denn Schönes machen?” habe ich die Kinder gefragt und Sohn II wollte die Kirche Sankt Nikolai besuchen und aus der Nähe ansehen. Die Kirche, die keine mehr ist, die Hamburger Gedächtniskirche. Zerstört im Zweiten Weltkrieg, nicht wieder aufgebaut, mühsam in Ruinen erhalten, ein Denkmal. Die hatte er schon ein paar Mal aus der U-Bahn gesehen, die ließ ihm keine Ruhe.

Sohn II wird bald 5, nach meinen Erfahrungen ist es nicht unüblich, dass Kinder etwa in dem Alter nach dem Krieg fragen. Nach dem Krieg an sich, nach dem letzten Krieg in Deutschland, nach dem Krieg, den sie gerade im Radio, im Fernsehen, im Internet zufällig mitbekommen haben, in Israel, in der Ukraine, in Syrien. Warum? Und wie genau? Sterben die in echt? Alle? Auch die Kinder? Was ist mit den Kindern, wenn die Eltern sterben? Wann ist hier wieder Krieg? Hast du Krieg erlebt?

Vielleicht liegt es an den Reaktionen der Erwachsenen, vielleicht liegt es an der Art, wie die Kinder das Wort erwähnt hören, es ist jedem Kind klar, dass Krieg ein Monsterwort ist, ein Begriff für das Grauen schlechthin. Nicht irgendein Wort, nicht irgendein Umstand. Was sie nicht wissen, ist die Art, in der das Wort einen Bezug zu ihnen haben könnte. Das Grauen ist in der Welt, aber wie weit ist es weg in Raum und Zeit? Beruhigend weit weg?

Viele Eltern scheinen das herstellen zu wollen, dieses Gefühl, dass die Welt immer nur am anderen Ende untergeht. In der Annahme, die Kinder seien nicht alt genug für die Erkenntnis der Wahrheit. Ich gehe davon aus, dass ein Kind, das fragt, eine ehrliche Antwort verdient hat. Es gibt Elend in der Welt, es gibt Krankheit, Armut, Krieg, nichts davon ist wirklich weit weg. Die Armen liegen nachts im ganz wörtlichen Sinne vor unserer Haustür, das wissen die Jungs, das sehen sie. Die Kranken sind neben uns, die Opfer des Krieges im Stadtteil. Vielleicht ist die Dame, die gerade neben uns Obst kauft und seltsam entstellt ist, aus Syrien. Ich leugne so etwas nicht, ich wüsste auch keinen geeigneten Zeitpunkt, zu dem man den Vorhang dann doch noch heben sollte. In zwei Jahren, in drei Jahren, wann denn? “Und übrigens, mein Kind, ist die Welt ganz anders, gar nicht so toll…”

Nein, das geht doch nicht. Ich beginne gleich mit der Wahrheit, ich reduziere nur so kindgerecht wie ich kann. Man kann sagen, dass es hier Krieg gab, dass es jetzt anderswo Krieg gibt, man sollte aber ganz sicher bei Fünfjährigen nicht gerade mit den grauenvollsten Aspekten und Details beginnen.

Übrigens verstehen Kinder Krieg, den Vorgang können sie nachvollziehen. Kinder sind keine Friedensengel, sie sind oft genug selber Krieger und sie können sich ganz gut ausmalen, was passiert, wenn man genug funktionierende Waffen zur Verfügung hat und wütend ist, sehr, sehr wütend – und wenn dann keine Erzieherin rettend eingreift und energisch erklärt, dass es jetzt aber mal gut ist.

Die Gedächtniskirche ist jedenfalls so etwas von kaputt, die Kirche ist gar nicht mehr da. Da stehen Reste von Außenmauern, zumindest teilweise, da steht der Turm, der ist gerade komplett eingerüstet. “Wird er wieder aufgebaut?” Nein, er wird nur erhalten, das ist wohl gar nicht so einfach. “Starben hier Menschen bei dem Angriff?” Das beantwortet er sich dann murmelnd selber, denn wenn etwas so Großes wie die Kirche zerschossen wird und zusammenfällt – natürlich.

“Die Bomben wurden aus Ninjaflugzeugen geworfen. Nachts. Sehr viele. Die Menschen sind in so Bunker gerannt.” So erklärt Sohn I das seinem kleinen Bruder, während er über die Ruinen klettert, die er übrigens schön findet. Er redet noch weiter und mir wird beim Zuhören klar, dass sie in der Kita oder in der Vorschule schon Wissen gesammelt haben. Die Kinder haben zusammengetragen, was sie über den Krieg wissen, was sie im Fernsehen gesehen haben, was die Eltern erzählt haben, die Großeltern, sie haben das diskutiert und sich ein Bild gemacht. So etwas wird dann den Eltern nicht erzählt, das merkt man nur zufällig.

“Das sieht gut aus, so wie das hier noch steht.” Sohn I sieht sich um und zeigt auf die Trümmer. Ich zeige nach oben, wo man den Himmel sieht und erkläre, dass da das Kirchendach war. Ich zeige ihnen die Bilder auf den Schautafeln, die zeigen, wie das hier einmal ausgesehen hat. Sohn II sieht zum Turm hinauf und lässt sich die Inschriften auf den Denkmälern in allen Sprachen vorlesen, Gebet für den Frieden, Prayer for peace und so weiter. “Hier ist viel mit Gebet und so”, erklärt Sohn I, “aber nicht, weil es eine Kirche ist. Sondern weil es eine war.” Dann prüft er, wie gut man in den Ruinen klettern kann. Gegenüber wird gebaut, es sieht ein wenig so aus, als würde man heute noch Trümmer wegräumen.

Hopfenmarkt

Die Glocke im Turm schlägt und beide Kinder sind überrascht, mit einer Glocke haben sie nicht gerechnet, schon gar nicht mit einer,die so auffallend schön klingt. Das freut sie, denn von dem etwas unheimlichen Gedenkding einmal abgesehen, hat dieser Kirchturm also noch einen erfreulichen Sinn, das finden sie toll.

“Wer hat den Krieg gewonnen?” fragt Sohn II, “wir?”
Und das ist dann der Zeitpunkt, an dem man mal eben einen Abriss der deutschen Geschichte im Zwanzigsten Jahrhundert herunterleiern müsste, was man natürlich nicht kann, zumindest nicht ad usum delphini. Man ist nie genug vorbereitet, um den Fragen von Fünfjährigen standzuhalten, das kann man vergessen, Aber was man doch sagen kann, weil es nun einmal die Wahrheit ist, an der es nichts zu rütteln gibt, und weil alles andere eine Lüge wäre: dass wir nicht gewonnen haben. Dass die anderen gewonnen haben und dass das auch noch gut so war. Weil das, was die Deutschen damals gemacht haben, nicht gut war, das waren nicht die edlen Ritter, im Gegenteil. Das ist für ein Kind überraschend und schwer zu verstehen, aber das Wir, das große, glückliche Wir, das vor ein paar Tagen gerade noch freudestrahlend Fußballweltmeister geworden ist, dieses Wir hat eben eine lange Geschichte und besteht aus Menschen, die mal schuldig waren und mal nicht. Das Wir besteht aus ganz normalen Menschen, zu allem fähig. Das Wir steht nicht unbedingt immer für die Krone der Schöpfung. Es wäre schön, wenn “wir” auch in der Vergangenheit alles so heiter und sportlich erreicht hätten, wie diesen WM-Titel da, aber so ist es nun einmal nicht. Das ist nicht einfach und auch überraschend, aber der Sohn denkt nach und man soll das Nachdenken der Fünfjährigen niemals unterschätzen. Das mit dem “ mal Schuld haben und mal nicht”, das findet er dann auch vollkommen einleuchtend, das kennt er nämlich ganz gut. Und irgendwo muss Verständnis eben anfangen.

“Gibt es hier wieder Krieg? Wann? Kann den immer irgendwer anfangen?”

Das ist die naheliegende Frage, die sich ihm aufdrängt und ich erkläre ihm, dass es im Moment nicht so aussieht und wir großes Glück mit diesem Land und dieser Zeit haben. Dass es aber andere Kriege gibt. Jetzt gerade, er weiß es ohnehin, was soll ich da verschweigen oder vertuschen. Ich erkläre auch, dass es auf jeden ankommt, dass es immer auch eine Entscheidung der Einzelnen ist, ob etwas zum Krieg führt. Das ist ihm klar, da muss ich gar nicht weiter reden. “Man muss in der Mannschaft der lieben Menschen sein” sagt er und nickt, das kennt er nämlich auch aus dem Kindergarten, “das ist wichtig. Wenn nur genug in der Mannschaft der lieben Menschen sind, dann gibt es auch keinen Krieg.” Und das ist prinzipiell natürlich nicht falsch. Man könnte es ebenso gut bibliotheksfüllend ausformulieren, aber egal, es passt schon. Dann will er ein Eis und sieht sich um,ob in den Trümmern nicht vielleicht ein Kiosk zu finden ist. Kinder neigen nicht zum Pathos und sind oft nur sekundenlang von etwas beeindruckt.

Friedensforschung für Anfänger, so kann man also auch einen Ferientag verbringen.

Kurz und klein

Guten Morgen

Ich habe irgendwann einmal geschrieben, dass Eltern in der Regel 90% der verfügbaren Tageskraft bereits verbraucht haben, noch bevor die Kinder in der Kita oder in der Schule sind. Das haben viele für einen Spitzenwitz gehalten, und nur Betroffene haben verstanden, dass dieser Satz gar kein Witz war, sondern nichts als die reine Wahrheit.

Das merkt man sehr deutlich in den Ferien, wenn man morgens nirgendwo hin muss, oder wenn doch, dann eben irgendwann, who cares. Es ist ein so dermaßen auffällig anderes Leben, wenn man morgens nicht wie ein Drill-Sergeant hinter dem Nachwuchs herlaufen muss, dozierend, brüllend, streng guckend, ermahnend, belehrend, antreibend, drohend, finster blickend, stöhnend und das endgültige Ende aller Lustigkeit auf Erden vorhersagend. Wenn man also nicht stundenlang so sein muss, wie man ganz bestimmt nie werden wollte. Wenn man nicht gezwungen ist, permanent Sätze von sich zu geben, bei denen der innere Fünfjärhige entgeistert “WAS WAR DAS GERADE?!” fragt. Es ist wirklich phantastisch, wenn man nicht so sein muss und wenn man auch keine Stunden damit zubringen muss, über großartige pädagogische Konzepte nachzudenken, die einen endlich aus dieser Falle führen könnten, in der man unweigerlich jeden Morgen wieder landet.

Jeder schlurft hier in den Ferien irgendwann aus seinem Bett irgendwohin. Die Herzdame ins Bad, Sohn I ans Comicregal, Sohn II ins leere Elternbett, ich an den Computer. Niemand spricht, niemand beeilt sich mit irgendwas, es ist eine friedliche Zeit. Irgendwann entwickelt irgendwer eine vage Idee vom Frühstück und mangels Zeitdruck beginnt eine betont lässige familiäre Meinungsbildung. Ein Konsens wird gebildet oder auch nicht, das macht auch nichts. Wenn Sohn II nur drei Blaubeeren auf Brötchen frühstücken möchte, warum nicht, das ist mir völlig wurscht, wie man neuerdings sagt. Das wäre mir von der Menge und der Qualität her an normalen Werktagen natürlich auch völlig wurscht, bloß kein Stress beim Essen, versteht sich, ich könnte aber normalerweise nicht ignorieren, dass er eine halbe Stunde braucht, um die Beeren ansprechend anzuordnen, der kleine Wahnsinnige. Jetzt kann er das Arrangement meinetwegen bis zum Mittagessen optimieren, das macht nichts.

Und wenn der Tag so entspannt beginnt, dann merkt man gegen zehn, elf Uhr, dass man einfach irgendwas machen kann, ohne fortwährend Visionen von der abendlichen Bettruhe zu haben. Ohne ständig wiederkehrende Tagträume von diesem phantastischen, erlösenden Moment, in dem man im Elternschlafzimmer das Licht ausmacht und für ein paar Stunden Ruhe hat, echte Ruhe. Ich sitze an normalen Werktagen manchmal am Vormittag schwerst genervt vom Tagesstart im Büro und kann in Gedanken meine Hand auf dem Schalter der Lampe an meinem Bett geradezu spüren, ich fühle schon dieses sachte und erlösende Klicken, mit dem es endlich wieder dunkel und friedlich und ruhig wird. Ja, so groß kann die Sehnsucht der Eltern nach dem Feierabend sein.

Das entfällt alles in den Ferien, dafür muss man sehr dankbar sein. In den Ferien kann man am Vormittag an ganz andere Dinge denken. Also zum Beispiel an den Mittagsschlaf. Es ist zu und zu schön.

Frühstück

Woanders – diesmal mit Hamburg, Giardino, Amazon und anderem

Hamburg: Die Stadt hat ein weiteres Online-Magazin, den Elb-Salon. Von so etwas kann es gar nicht genug geben. In einer Stadt, die man nur noch als Zeitungsbrachland bezeichnen kann, muss etwas anderes wachsen. In diesem Zusammenhang immer wieder auch der Hinweis auf HH-Mittendrin, wo sich die Redaktion weiterhin über Förderer freut. Und auch nicht zu vergessen: die Elbmelancholie.

Blogosphäre: Der Herr Giardino, der schon seit dem Pleistozän in meiner Blogroll steht, ist umgezogen und wohnt online jetzt hier.

Feuilleton: Es ist nicht schwer, etwas gegen Amazon zu haben, aber dieses Argument hier kannte ich noch gar nicht. Nicht zu fassen.

Feuilleton: Die Zeit über das Code-Switching. Und bloß nicht die Kommentare lesen.

 

WM-Ende

Die Weltmeisterschaft wird an diesem Wochenende finalisiert. Und obwohl ich mich überhaupt nicht für Fußball interessiere, sehe ich das Ende doch mit leichtem Bedauern auf mich zukommen. Denn das Leben wird schwerer werden, so ohne WM. Es wird härter und anstrengender, gar keine Frage. Das liegt aber nicht daran, dass wir keine Spiele mehr sehen können, oh nein. Im Grunde haben die Söhne kein einziges Spiel wirklich durchgehend gesehen, so interessant sind die langen Phasen ohne Tore dann doch nicht, wenn man erst 4 oder 6 Jahre alt ist. Beim tatsächlich spannenden Elfmeterschießen haben sie schon friedlich geschlummert. Nein, ich bedauere das Ende der WM nur wegen der Sammelkarten mit den Spielern drauf. Denn nach der WM machen die natürlich keinen Sinn mehr. Die Alben werden, ob vollständig oder nicht, in wenigen Tagen in Vergessenheit geraten. Ist es heute noch die wichtigste Frage der Welt, ob man den brasilianischen Torwart eingeklebt hat oder nicht, ist das morgen schon völlig egal. Aus Kindersicht ist die WM dann schon damals.

Da hat es also gar keinen Sinn mehr, bereits beim Frühstück gutes Benehmen einzufordern und nebenbei mit dem baldigen Entzug des Kartennachschubs zu drohen. Es bringt auch nichts mehr, besondere Leistungen mit drei Karten extra zu belohnen. Die ganze Einfachheit im Alltag ist dahin. Das einfachste Rezept von allen, es wird ungültig. Man muss stattdessen wieder über echte pädagogische Konzepte nachdenken. Das wird anstrengend, wie man sich vorstellen kann. Wenn Sie also in den nächsten Tagen genervte Eltern sehen, die mit ihren renitenten Kindern ganz offenichtlich überhaupt nicht zurechtkommen, seien Sie bitte nachsichtig. Es handelt sich nicht unbedingt um völlig zerrüttete Familien.

Es sind vermutlich nur Eltern und Kinder, die dringend nach einer neuen Währung suchen.

(Dieser Text erschien als Kolumne in den Lübecker Nachrichten und in der Ostsee-Zeitung)

Warm hier

Sohn II

Ich habe jetzt eine Weile darüber nachgedacht, ob ich dieses Bild von Sohn II an einer Kirchentür in den Zusammenhang “Egal, wie man sich reinhängt, manche Türen gehen einfach nicht auf” bringe – oder ob ich es ins Positive drehe und “Wenn man sich richtig reinhängt, kriegt man alle Türen auf” schreibe, denn auf dem Bild sieht man ja nicht, ob die Tür sich bewegt hat oder nicht. Aber die erste Variante klingt so fatalistisch, das liegt mir nicht, die zweite nach Kalenderspruch. Das taugt alles nichts, ich hasse Kalenderspruchglitsch. Lassen wir das. Das Bild bleibt da ohne jeden Zusammenhang stehen.

Es ist heiß und wir wohnen in einer Dachgeschoßwohnung mit Metalldach, meine Denkfähigkeit ist ohnehin schon seit Tagen bedenklich dings, Sie wissen schon. Es wird auch nachts nicht kühler, mehrere Familienmitglieder schlafen mit Kühlakkus auf dem Bauch. Da kann man nicht mehr viel erwarten, auch keine Pointen. Oder die schon gar nicht. Seit heute sind auch noch Ferien, die nächsten drei Wochen sind die Kinder durchgehend zu Hause, Kita und Vorschule sind geschlossen. Wobei die Vorschule für Sohn I eh durch ist, tempi passati, abgehakt. Im August kommt er in die Grundschule. Er freut sich auf einen neuen Lebensabschnitt, ich auf frischen Content, Sohn II auf spannende Sekundärerfahrungen, die Herzdame auf ein Kind, dass morgens alleine losgeht. So ist für alle gesorgt, das wird super.

Seit heute sind also Ferien, die Wohnung – erwähnte ich, dass es heiß ist, hier drin? Richtig heiß? Flimmert eigentlich der Bildschirm oder die Luft? – die Wohnung, sie sieht bereits jetzt aus wie ein Trümmerfeld. Ich google unter tieffliegendem Spielzeug heimlich nach Kinderlandverschickung und gehe der Herzdame aus dem Weg, die seit dem Aufwachen bereits 384 Punkte auf unsere gemeinsame To-Do-Liste geschrieben hat, weil man in den Ferien ja endlich einmal alles machen kann. So viel zu erledigen! Und all diese Zeit! Der Terminkalender füllt sich mit Punkten, als hätte man ihn mit einem Schrotgewehr aus nächster Nähe erlegt. Schlimm.

Es ist eben doch so, dass man in den Ferien anscheinend wegfahren muss, wenn man nicht plötzlich Wände streichen oder neue Holzplatten auf dem Balkon verlegen möchte, und wer möchte das schon. Ich werde das Familienschiff also in Kürze in Richtung Nordostwesfalen und dann in Richtung Eiderstedt an die Nordsee steuern, dazu dann in Kürze mehr in Bild und Text.

Die Spritkosten dazu können wir übrigens, ganz herzlichen Dank, wieder mit den Flattr-Einnahmen dieses Blogs finanzieren, das ist großartig und sehr hilfreich.

Bis zur Abreise sitze ich vielleicht am besten reglos vor diesem Computer, während um mich herum alles zerfällt. Das Kinderzimmer zerfällt wegen der dort hausenden Kinder, die Lebensmittel in der Küche wegen der Hitze, meine Ehe, weil ich hier nur sitze, egal. Es ist zu warm für To-Dos und Aktion, es ist zu auch viel warm für Erziehung und Beziehungen, es ist zu warm für alles. Jedenfalls hier drin.

Eventuell gibt es nachher Regen. Sagt jedenfalls der Regen-Radar, den ich auf den Second-Screen neben meinem Notebook anstarre wie andere den Aktienticker.

Regen. Wissen Sie noch? Regen. Mit kühler Luft und die Welt riecht gut und man kann langärmelige Sachen anziehen und so. Das wird schön.

Woanders – diesmal mit einem Sabbatjahr, Spenden, Hosen und anderem

Schule: Auch wenn man den besten Job der Welt hat, braucht man vielleicht einmal ein Sabbatjahr.

Medien-Klimbim: Von dem Crash bei Blogger.de werden viele gehört haben, da wird noch Geld gebraucht, um mehr Content retten zu können. Ohne Blogger.de wäre die deutschsprachige Blogosphäre eine ganz andere, da kann man ruhig mal etwas spenden, denn da hat man doch sicher in den letzten Jahren auf den Blogs etliche Stunden lesend verbracht? Eben. Dentaku erklärt es genauer.

Film: Den Kurzfilm von dem Jüngling, der seine Hose auszieht, ohne die Hände zu benutzen, der ist so gut wie überall verlinkt worden. Mitlesende Eltern haben ihn hoffentlich dem Nachwuchs gezeigt und wie zufällig zwei Hosen im Kinderzimmer auf den Fußboden gelegt?  Es lohnt sich.  Man ist dann ziemlich lange ungestört.  Besonders wenn die Kinder, so wie Sohn II, die Aufgabe etwas überinterpretieren und erst einmal versuchen, eine Hose ohne Hände auszuziehen. Einfach durch die Kraft des Baucheinziehens. Sohn I dagegen ist lässig in die Hose gestiegen, hat sie hochgearbeitet wie im Film gesehen und dann gefragt, wo das Problem sei. Quasi Wunderkind. Ich selbst sehe von einem Versuch lieber erst einmal ab.  Keine Experimente.

Feuilleton: Durch eine Diskussion auf Twitter kam ich auf Bilitis,  einen Filmtitel der nur noch meiner Generation und den Älteren etwas sagt. Ich habe dann etwas über David Hamilton nachgelesen und kam von da auf die Hauptdarstellerin des Films. Und das diese Dame die Lady D’Arbanville gleichen Namens von Cat Stevens war und Mick Jagger auch etwas damit zu tun hat, das wusste ich gar nicht. Faszinierend. Hier die Geschichte dazu. Ich habe mir die anderen Geschichten da auch angesehen, interessant fand ich aber nur noch die von Billy Idols Sweet Sixteen.

 

Szenen aus Sankt Georg (3): Mach mal Hymne

Nach dem Spiel Deutschland gegen Frankreich bin ich mit Sohn II zum Park gegangen, um die Herzdame und Sohn I vom Public Viewing abzuholen. Die Familie ist, was Fußball angeht, im Moment etwas geteilt. Vor den Kneipen und Cafés saßen noch Menschentrauben mit Blickrichtung auf die großen Fernseher, auf denen teils gar nichts mehr lief oder nur noch Sportlerinterviews ohne Ton zu sehen waren. Bei dieser WM ist es so, dass nahezu jeder Laden einen Fernseher aufstellt, auch die kleinen Imbisse und die Kioske, alle paar Meter kann oder muss man Fußball sehen. Es sind so viele Fernseher, dass man hier und da sogar noch einen Platz vor einem bekommen könnte, einfach so. Das hat sich nach der letzten EM noch einmal deutlich gesteigert. Man könnte die Spiele jetzt auch bequem verfolgen, während man einfach die Straße auf und ab geht.

Erregte Bienenstockstimmung, ein wildes Gesumme von Stimmen, Expertenmeinungen überall. Verschmierte schwarzrotgoldene Schminkspuren und reichlich leere Gläser, die Runden für den gemütlichen Teil des Abends wurden gerade geordert. Jetzt hatten alle gewonnen, da konnte man doch noch einen? Oder zwei? Na sicher doch. Drei Männer mit Bierbäuchen in den Trikots der deutschen Mannschaft saßen schunkelnd auf ihren Stühlen, vor ihnen ein Akkordeonspieler vom Balkan: Que sera, sera.

Die Männer in kurzen Hosen, Sandalen und durchgeschwitzten T-Shirts, der Akkordeonspieler in Wollpullover und Lederjacke, eine Cordmütze auf dem Kopf. Wie warm mag es da sein, wo er herkommt?

Die Männer sangen laut mit, “what will be, will be”. Sie kramten in ihren Taschen nach Kleingeld und steckten dem Musiker Münzen zu, klopften ihm auf die Schultern. “Warte mal”, riefen sie ihm dann hinterher, als er weiterziehen wollte, “warte mal, warte mal.” Ein Zeigefinger wies auf den Boden vor ihrem Tisch, der Akkordeonspieler ging zurück und stellte sich gehorsam dort hin. Fragende Blicke. “Kannst du Hymne?” fragte einer der Männer und beugte sich vor, “kannst du unsere Hymne?” Er sah die anderen Männer zwinkernd an. “Deutsche Hymne, weißt du? Na? Deutschland?”

Er kramte noch einmal in seinen Taschen und suchte nach Münzen, die anderen machten es ihm nach. Der Akkordeonspieler nickte lächelnd, schob seine Mütze hoch und hielt die Hand auf, sagte aber nichts. Ob er die Männer verstanden hatte, war seinem Gesicht nicht anzusehen. Er sammelte die Münzen ein, die Männer lehnten sich zurück: “So, jetzt mach mal die Hymne hier, los, los. Hört mal alle zu jetzt. Deutschland!”

Der Akkordeonspieler schob die Münzen in seine Jacke, richtete das Akkordeon und knipste das Straßenmusikerstrahlemannlächeln, mit dem er den ganzen Abend von Tisch zu Tisch unterwegs war, wieder an.

Dann fing er an zu spielen und es klang nicht nach der Hymne. Aber es war doch etwas, das jeder nach sehr wenigen Tönen erkannte, es war ein Lied zum Mitsingen, ein Lied für Männer vor sehr vielen leeren Biergläsern. Ein Lied für Hamburger an warmen Sommerabenden, die noch lange nicht genug haben. Vielleicht war es aber auch das Lied, das er sowieso als nächstes Stück gespielt hätte, weil zwei, drei Lieder eben auch reichen, für so einen Abend. Mehr braucht es gar nicht, um hier und da ein paar Münzen von angetrunkenen oder verliebten oder einfach freundlichen Deutschen zu bekommen. Oder von schwerst genervten Menschen, die ihn nach zwei Stücken endlich loswerden wollen, weil ihnen zum fünften Mal an diesem Abend Que sera, sera vorgespielt wird. Er spielte und strahlte und nach Sekunden erkannte man es: “Auf der Reeperbahn nachts um halb eins.”

Und die Männer an den Tischen sangen lachend und klatschend mit und prosteten ihm mit neu gefüllten Biergläsern zu und als er weiterging sagte einer dann aber noch kopfschüttelnd, weil es doch einfach nicht in Ordnung war: “Hymne hat er jetzt aber nicht gemacht.”

 

Weiße Tiere und wilde Fragen für die Sommerferien

Ein Gastbeitrag von Rochus Wolff:

Der Sommer ist fürs Kinderkino – daheim wie in den Lichtspieltheatern – meist eher saure-Gurken-Zeit (obwohl: am 10. Juli startet im Kino Rico, Oskar und die Tieferschatten, den sollte man sich unbedingt ansehen, wenn die Kinder das Buch schon gelesen haben – womöglich der Kinderfilm des Jahres! Ausführliche Rezension hier).

Aber ein paar gute Filme gibt es dann eben doch, und hier ein paar Vorschläge für die hoffentlich seltenen Regentage während der Sommerferien – beginnend mit einem Thema, das sich zu Zeiten von viel Sonnenlicht sowieso besser behandeln lässt als im finsteren Herbst, wo es traditionell hingehört.

Mich beschäftigt nämlich immer wieder die Frage, wie man eigentlich vor allem etwas sensibleren Kindern die klassischen Themen des Horrorfilms nahebringen kann. (Die robusten werden sich ihre Figuren selbst suchen und schneller, als es uns Eltern lieb ist, mit Freunden gemeinsam heimlich mit einer vom großen Bruder des besten Freundes ausgeliehenen DVD vor dem Fernseher zittern. Und das ist gut so, denn das Horrorgenre braucht natürlich genau das: Das Heimliche, Verbotene, die eigene Entdeckung der knarzenden Holzbohle da ganz hinten im dunklen Zimmer.)

Dass das mit ganz jungen Kindern noch nicht richtig funktioniert, liegt in der Natur der Sache; damit stößt aber ein Film wie Hotel Transsilvanien ins Leere, der in seiner kindertauglichen Parodie aller klassischen Monster kulturelles Wissen voraussetzt, dass die Kinder eigentlich noch nicht haben können, weil sie selbst für die klassischen Universal-Monsterfilme von Frankenstein bis Dracula eigentlich noch zu jung sind. (Und wenn sie sie kennen, muss ihnen Hotel Transsilvanien im Vergleich unendlich fade erscheinen.)

In diese seltsame Leere hinein fällt Alfie, der kleine Werwolf, der das eigentlich Unmögliche versucht, eine Horrorfilmfigur schreckensfrei für fünf- bis achtjährige Kinder aufzubereiten – und das außer ein paar leicht gruseligen Verneigungen in Richtung des Genres, ganz gut hinbekommt. Daraus wird letztlich eine Geschichte vom Anderssein (da ist dem Horror nie fern), von Akzeptanz und Elternliebe – die Eltern des Titelhelden sind nämlich ein Elternpaar, selbstbewusst gleichberechtigt und ironisch-gelassen –, wie man es sich im deutschen Kinderfilm nur wünschen würde. (Empfohlen ab 5 Jahren, ausführliche Rezension hier.)

https://www.youtube.com/watch?v=JA2TMhmI058

Die Themen Anpassung und Selbstbewusstsein verhandelt Trommelbauch von einer sehr viel realitätsnäheren Perspektive – und dennoch ist er eigentlich der phantastischere von den beiden. Hier geht es um den kleinen Dik Trommel, der mit seiner Familie von Dicksleben nach Dünnhausen zieht, weil seine Eltern dort ein Restaurant eröffnen wollen. Und wie die Namen schon sagen, ziehen hier also stramm übergewichtig-lebensfrohe Menschen in einen Ort, in dem Fitnessstudios und kalorienarme Gemüseshakes regieren.

Trommelbauch

Foto: Tiberius-Film

Das ist natürlich völlig überzeichnet und macht es sich in seiner direkten Kritik am Schlankheitswahn auch ein wenig einfach – aber da der Film jede Menge Komik aus der Konfrontation der unterschiedlichen Lebensstile mitbringt und die Figuren nicht nur als Strohmänner und -frauen für diesen Konflikt entwickelt, bringt er dann doch jede Menge Charme auf die Waage. (Empfohlen ab 7 Jahren, ausführliche Rezension hier)

Eine wesentlich dramatischere Geschichte bietet Belle & Sebastian: ein Junge wächst in zur Zeit der deutschen Besatzung als Waise in den französischen Alpen heran. Dort soll ein wilder Hund sein Unwesen treiben – aber Sebastian freundet sich schon bald mit dem nur vermeintlich wilden Tier an. Diese Freundschaft wird später dann lebenswichtig, als einige der Dorfbewohner wieder Flüchtlingen helfen wollen, über die Berge in die Schweiz zu fliehen.

Das Kinderbuch Belle & Sebastian von Cécile Aubry wurde bereits in den 1960er Jahren als Fernsehserie verfilmt, die Geschichte ist bekannt; die Verfilmung von Nicolas Vanier bietet das Ganze nun noch einmal verdichtet auf etwas mehr als 90 Minuten und eingebettet – das wird vor allem die Eltern freuen – in wahrhaft atemberaubende Naturaufnahmen der Berglandschaft. (Empfohlen ab 9 Jahren.)

Wen das ob der Erinnerung an die Fernsehserie womöglich ein wenig nostalgisch macht, dem kann geholfen werden. In den letzten Wochen hat es nämlich noch eine ganze Reihe von Fernsehserien gegeben, die neu, zum Teil erstmals, auf DVD erschienen sind, zum Schwelgen in Erinnerungen und vielleicht auch dafür geeignet, den Kindern zu zeigen, dass früher nicht alles schlechter war.

Da gäbe es zum Beispiel, ich werde Feuerwehrmann!, den ganzen, vollständigen Grisu in einer DVD-Box. Wahrscheinlich ist der so en bloc und aus der Gegenwart betrachtet gar nicht mehr so toll, wie man denkt. Auf jeden Fall ist es allerdings, wie auch Als die Tiere den Wald verließen von der guten alten Tante BBC, jetzt in Gänze als DVD-Box erhältlich, noch sehr beruhigend old school. Während es vermutlich noch ein bisschen dauern wird, bis die Kinder uns von den Qualitäten aller zeitgenössischen Fernseh-Trickserien überzeugt haben werden. Ahem.

Geographisch am nächsten an Belle & Sebastian dran, gibt es da noch Die schwarzen Brüder, die in den 1980ern vom deutschen Fernsehen vielleicht ein wenig brav, aber nah am Buch verfilmte Geschichte über Mailänder Kaminkehrerjungen, die ihren Eltern im Tessin in großer Not abgekauft worden waren – im Grunde eine Sozialschmonzette ohnegleichen, aber zugleich ein schöner Blick in eine andere Welt.

Und wer wirklich in echte andere Welten schauen mag, für den ein letzter Tipp, ein wenig ein Geheimtipp, aber ganz wunderbar: Die Geolino-Reportagen, Ausgaben eins bis drei sind bereits erschienen, liefern hochfokussierte, sehr konzentrierte und aufregende Einblicke in das Leben von Kindern und Tieren rund um den Globus – entstanden oft als „Abfallprodukt“ von großen Reportagen, aber deswegen keinen Deut schlechter gemacht. Von Katzenkindern in der Petersburger Eremitage über minensuchende Ratten bis hin zu der Frage, wie man am Polarkreis in die Schule geht – das taucht alles auf. Wenn man sich das anschaut, sollte man sich anschließend noch ein wenig Zeit nehmen für die vielen tollen Fragen, die da noch gesprudelt kommen mögen. Und ganz nebenbei wird für die Kinder sehr sichtbar, wie vielfältig dieses Ding Leben wirklich ist.

Und das soll man im Sommer ja auch feiern, nech.

Rochus Wolff

Rochus Wolff ist Filmkritiker, Feminist und Vater, nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Seit Januar 2013 beschäftigt er sich im Kinderfilmblog am liebsten mit dem schönen, guten, wahren Kinderfilm. Er lebt mit seiner Familie in Berlin und arbeitet hauptberuflich als PR-Mensch und Konzepter für eine Online-Agentur in Süddeutschland.