Die Gegenwart vor der Haustür

Sie erinnern sich an das Bild von gestern, das mit dem weißen Schriftzug „Love“ an der Mauer? Ich biete noch etwas Kontext, in welchem Umfeld Love hier stattfindet, und Sie werden gleich wieder denken, jetzt übertreibt er aber … nun, dem ist nicht so.

Wir haben da also diese Ziegelmauer im Bild, es ist die Rückseite der Kirche vor unseren Fenstern. Rechts von dem Schriftzug „Love“ und nicht mehr im Bild ist eine metallene Treppe, darauf sitzt ein haltlos wirkender Junkie, in sich zusammengesunken wie ein Mensch ohne Knochen, vor seinen Füßen das übliche Zubehör, das ihm zu diesem Zustand verholfen hat. Links vom abgebildeten Mauerwerk der Backstage-Bereich der wöchentlichen Essensausgabe in der Kirche, es werden gerade gespendete Lebensmittel palettenweise von Freiwilligen verräumt. Auf der anderen Seite der Kirche dann die lange Schlange der Hungrigen und  Bedürftigen, da werden die Lebensmittel an die Wartenden ausgegeben.

Einmal halb um die Kirche herum, auf einer kleinen Fläche neben dem Spielplatz, wo an der Mauer äußerst dekorativer Wein wächst und gerade herbstlich bilderbuchmäßig aussieht, beten fünf Männer gen Mekka. Warum sie das hier draußen tun und nicht in der Moschee um die Ecke, das weiß ich nicht, dass sie es hier aber tun können, ist vielleicht, mit etwas Glück, auch als gutes Zeichen zu sehen, als kleiner Aspekt religiösen Friedens.

Ich weiß nicht, wie es heute ist, vor ein paar Jahren jedenfalls hatte die Gemeinde hier eine gute Beziehung zur Gemeinde der Moschee ein paar Meter weiter, es gab auch gemeinsame Veranstaltungen. Vielleicht ist das immer noch so. Vielleicht gibt es auch eine viel schlechtere Erklärung für das, was ich sehe.

Vor den betenden Männern der Spielplatz, darauf drei Väter mit Kleinkindern, die von ihnen geschaukelt werden, heute sind keine Mütter im Programm. Das kommt vor, wenn es auch der seltenere Anblick ist, aber über die Jahre, und ich habe das gut im Überblick, steigt die Männerquote auf diesem Platz deutlich. Langsam, aber eben auch unübersehbar.

Gegenüber sehen wir ein Plakat in einer Wohnung im ersten Stock, da wird vermutlich eine Mietwohnung in Eigentum umgewandelt, eine Maklerwerbung ist es. Die Preise von so etwas sieht man in meinen Kreisen schon seit vielen Jahren nicht mehr nach, nicht einmal, um darüber zu lachen, sie sind viel zu absurd.

Vor den Fenstern der zu verkaufenden Wohnung eine Zone-30. Sie interessiert kategorisch niemanden, man kann da so schön beschleunigen.

Vor der Kneipe an der Ecke des Platzes stehen einige Männer, rauchen und trinken Bier. Im Fenster des Etablissements hängt wieder der jahreszeitlich obligatorische Grünkohlhinweis, an den ich mich noch aus dem letzten Winter erinnere, und mir kommt es gerade so vor, als ob es neulich erst war. Mit vegetarischer Option gibt es ihn, den Grünkohl.

Zwischen den parkenden Autos an der Kirchenrückwand ein Obdachloser im nassen Schlafsack.

So in etwa das Gesamtbild, einmal um die Kirche herum. Ziemlich viel Gegenwart auf ein paar Metern, denke ich immer wieder, und dabei war ich noch gar nicht im Hauptbahnhof mit seinem trubeligen Leben, dabei war ich nur eben ein paar Meter vor der Tür und einmal um die Kirche herum.

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Ansonsten das Tagebuch von Stefan Zweig durchgelesen. Jetzt die Briefe von Mascha Kaléko, der erste Band, und sie geht da gerade, 1956 ist, in ihren Schilderungen etwa zwei Gehminuten von dem eben Geschilderten entfernt herum, in einem sehr kalten Winter. Hamburg in Eis und Schnee beschreibt sie, wie es meine Söhne kaum noch kennen. Der letzte Eiswinter war in ihrer Kleinkindzeit, danach gab es keinen mehr.

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Und noch eben ein neues Bild, ich lege mal etwas Liebe nach, nicht wahr, der Bedarf scheint doch erheblich zu sein.

Ein Aufkleber "Liebe für alle" (Schriftzug in einem Herz) vor der Rückseite des Maritimen Museums und einem Fleet

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Zwischen Böll und Brecht die Demo

Freitag, der 3. November Gestern am Abend noch weiter in Stefan Zweigs Tagebuch gelesen. Seine Notate zum Kriegsverlauf klingen 1915 etwas atemlos nach Sportberichterstattung, was ich nicht als Kritik meine, natürlich nicht, sondern nur als Feststellung, dass es den Menschen damals auf die denkbar schlechteste, grauenvollste Art auch so vorgekommen sein wird. Immer wieder die Gerüchte und dann das bange Warten auf die Sonderausgaben der Zeitungen, denen auch nur bedingt zu trauen war. Ich glaube, ich kann es mir noch halbwegs vorstellen, meine Söhne allerdings werden es kaum noch können, sie sind ja nicht einmal mehr mit den gewöhnlichen Ausgaben von Zeitungen vertraut. Tempi passati.

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Dann Brahms gehört, Deutsches Requiem. Gut gefunden, aber doch dabei eingeschlafen.

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Im Spam-Ordner sehe ich nun wieder mehr zur spanischen Weihnachtslotterie, so schreitet das Jahr voran.

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Am Nachmittag in der Bücherei. Ich habe allerdings keine Ahnung, was ich eigentlich möchte, ich gehe da nur so zwischen den Regalen herum, entdecke die Möglichkeiten und mag, dass es hier eine so große Bücherei gibt. Bei den Romanen einfach einmal bei A anfangen und nachsehen, was dort so alles herumsteht. Es beginnt mit Aaron, ich habe den Vornamen vergessen, pardon. Zwischen Böll (viele Bände) und Brecht (noch viel mehr Bände) von draußen wieder die Geräusche einer Demoauflösung, vermutlich die geplanten Proteste nach den Freitagsgebeten. Es klingt ein wenig nach Krawall, nur kurz, bei Döblin ist schon alles wieder still. Aber wieder das Blaulicht überall, es ist das Kennzeichen dieser Wochen in der Stadtmitte, und es wird sich heute noch über Stunden hinziehen, alle paar Minuten flackert es auf. Immer wieder auch die unverständlichen Lautsprecherdurchsagen aus Richtung des Bahnhofs, dann Musik, dann auf einmal erstaunliche Stille, sogar ohne Verkehrsgeräusche, dann wieder Krach, über uns ein Hubschrauber. Auf dem Hin- und Rückweg mittlerweile ganz selbstverständlich überall die Polizeitruppen, um den Bahnhof herum, im Bahnhof, man geht da so durch.

Am nächsten Tag werde ich es alles wieder nachlesen können. Grundsätzlich, so sah ich gestern, bleiben propalästinensische Demonstrationen erst einmal weiterhin verboten, es wird mit der Gefahrenlage begründet.

Im Bild heute etwas Liebe, sie scheint doch weiträumig zu fehlen. An dieser Mauer bei uns um die Ecke aber , da ist noch etwas.

Der weiße Schriftzug Love an der roten Backsteinmauer einer Kirche, davor Herbstlaub auf dem Boden

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Die Glühweinkonstante

Mittwoch, der 1. November. Bei einem zufälligen Treffen mit einem Freund auf der Straße die erste Weihnachtsmarktverabredung getroffen. So weit sind wir nämlich schon, die machen in Hamburg in diesem Jahr ungewöhnlich früh auf, diese Märkte, Mitte November schon, und das ist … gleich.

Bratwurst und Glühwein kosten, so lese ich am Morgen, auf den Hamburger Weihnachtsmärkten noch so viel wie im Vorjahr. Eine Konstante, eine Konstante, das gibt es ja heute kaum noch. Beide Produkte finde ich allerdings auch konstant eher wenig attraktiv.

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Und ein weiteres saisonales Bemerknis fällt noch an, In Hamburg fährt ab sofort wieder der Kältebus. Und was es da diesmal für einen Bedarf geben wird, ich mag es mir nicht vorstellen.

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Donnerstag, der 2. November. Home-Office, lang und breit, das bringt die Jahreszeit bei mir so mit sich und es wird sich noch steigern lassen. Danach das erste Mal und gewissermaßen programmgemäß novembrig das Tageslicht verpasst, als ich endlich das Notebook zuklappte und rausging zum Einkaufen, da wurde es gerade schon dunkel. Ein kurzer Moment der Irritation, es kommt doch immer recht plötzlich, obwohl es immer so kommt. Der ritualisierte Blick auf die Uhr, das kurze Nachdenken, ob das überhaupt alles so passen kann.

Aber es stört mich nicht weiter, es ist alles recht so. Ich finde es gemütlich, nicht belastend. Die Mehrheit in meinen Timelines scheint das anders zu sehen, die gehören alle eher Frühjahrsfraktion.

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Weiter viel im Tagebuch von Stefan Zweig gelesen: „Ich sollte Gesellschaft meiden, ich bin zu erbittert gegen Verlogenheiten.“ (1914).

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Im Stadtteil hängen die ersten Flugblätter, die sich gegen Israel richten. Sie werden schnell von Passanten wieder abgerissen, soweit ich es mitbekomme. Gleichzeitig beginnen die Jüdischen Kulturtage in Hamburg, die man sich bei der Planung sicher in einem friedlicheren Kontext vorgestellt hat. Die Synagogenbesichtigung sehe ich leider zu spät, die hätte mich interessiert.

Im Bild das Schauspielhaus um die Ecke. Was sie da auf die Bühne bringen, das ist eher nicht mein Fall, was sie draußen aufhängen, das aber meistens doch.

Ein großes Banner am Schauspielhaus: Nein zu Antisemitismus und Terror - ohne wenn und aber

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Arbeit und Alltäglichkeit

Noch Dienstag, der 31. Oktober. Der Titel dieses Eintrags stammt aus dem Tagebuch von Stefan Zweig, ein sehr kurzer Eintrag Anfang 1915 ist es, „Arbeit und Alltäglichkeit.“ Man kann nicht vieles aus diesem Tagebuch in die Gegenwart übernehmen, aber das schon. Solche Tage gibt es sicher quer durch alle Zeiten, seit der neolithischen Revolution und wohl bis ans Ende unserer Geschichte.

Viel in seinem Tagebuch gelesen, seine schnell abklingende Kriegsbegeisterung 1914, die Ernüchterung 1915, die Sorge um den allgemeinen kulturellen Rückschritt.

Außerdem Mozarts Requiem komplett durchgehört, ich vertrage klassische Musik gerade erstaunlich gut. Das mal ausnutzen. Ich verbringe nun wie geplant deutlich mehr Zeit abseits des Computers und ich nutze sie altmodisch, mit Büchern und Musik, mit Spaziergängen, mit Kochen und mit hochkonzentriertem Nichtstun, mit Raufaserbetrachtungen. Zusammensuchen, was einem noch guttut, das wird jetzt wichtiger. Ich nehme an, es geht nicht nur mir so.

Ein Regenfeiertag war es ansonsten, den die Herzdame und ich für Administratives, Organisatorisches und kleinere Werke nutzen. Mit einem Sohn außerdem Philosophie gelernt, Utopie, Eutopie und Dystopie.

Ich gehe am Nachmittag durch Geniesel und durch die Hafencity. Ich sehe nach, ob ich in diesem Stadtteil irgendwo noch nicht war. Das ist selbstverständlich der Fall, da dort immer noch permanent gebaut wird, eine neue Wohn- und Büroschachtel nach der anderen entsteht. Viele Feuerwehrfahrzeuge stehen vor der Großbaustelle, auf der es gerade diesen grauenvollen Unfall mit vier Toten gab, es war wohl auch überregional in den Nachrichten. Sie sind immer noch bei den Bergungsarbeiten im Fahrstuhlschacht.

Ein neues Wandbild sehe ich, vom irischen Künstler Ache zur Erinnerung an Uwe Dierks gesprüht, er war ein beliebter Verkäufer der Hamburger Obdachlosenzeitung Hinz & Kunzt. Autos, die an dem Haus vorbeifahren, verlangsamen einen Moment, Handys werden kurz aus Fenstern gehalten, das Bild hat offensichtlich sein Publikum.

Ein großes Mural, ein Porträt eines Hin-und-Kunzt-Verkäufers

Einige Bäume auf dem Spielplatz vor unserem Haus verlieren heute ihr Laub in einer Geschwindigkeit, als müssten sie zwingend pünktlich zum 1. November kahl sein, es regnet bei jedem Windstoß Hunderte Blätter herunter und es sieht überzeugend so aus, als sei der goldene Herbst für uns in diesem Jahr nur für einen einzigen Tag buchbar gewesen. Es wird schon alles wieder abgeräumt, Kulissenwechsel, nächstes Bild Winter.

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Dunkelkalendarisches

Dienstag, der 31. Oktober. Ich gebe mir an diesem Tag noch mehr Mühe als sonst, heute nicht zu versterben, weil es mir als Pointe nach dem letzten Text mit der Sargerwähnung doch etwas zu billig und abgeschmackt wäre. Immer alles mitdenken, stets bemüht bleiben.

Ich habe dann, wo ich schon bei dem Thema bin, das mit Totensonntag, Volkstrauertag, Halloween, Allerseelen, Allerheiligen, auch das mit den Raunächten und was es da noch so alles Dunkelkalendarisches gibt, noch einmal in der Wikipedia nachgelesen, wie fast in jedem Jahr. Ich kann es mir nicht gut merken, was davon wann ist, was bedeutet und sich woraus ableitet. Es hatte auch keiner dieser Tage in meiner Kindheit einen nennenswerten Inhalt, glaube ich. Das kam alles kaum vor, abgesehen vom Reformationstag, bei dem man zu Grundschulzeiten mit der Klasse in die Kirche ging und sich dort dann fürchterlich langweilte. Aber nicht einmal dabei bin ich mir sicher. Eine verwehte, vage Erinnerung habe ich noch, dass meine Großmutter in Lübeck am Totensonntag auf den Friedhof ging, aber es kommt mir nicht wie eine besonders vertrauenswürdige Erinnerung vor und ist vielleicht nur ein Fantasiegespinst.

In diesem Jahr werden wir zum Totensonntag wohl ins Heimatdorf der Herzdame fahren, weil ihr verstorbener Vater dort in der Kirche abgekündigt wird. Ich kannte weder den Begriff noch den Brauch, mir ist so etwas bisher nicht begegnet. Danach werde ich mich dann auskennen, nicht jedes Lernen ist erfreulich.

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Gesehen: Die sehr empfehlenswerte Doku über Sixto Rodriguez in der ARD-Mediathek: Searching for Sugar Man. Eine Geschichte mit Moral, will einem scheinen, aber man darf sie sich Gott sei Dank selbst ausdenken, und das ist immer erfreulich.

Gehört: Ein musikalisch in ein deutlich anderes Genre fallendes Werk, nämlich die Winterreise, und zwar, das habe ich vielleicht noch nie gemacht, am Stück und komplett. Nebenbei habe ich auch sämtliche Texte nachgelesen, um neben dem Schubert auch den Müller angemessen zu würdigen, also auch die Texte der Lieder, die keine allfälligen Gassenhauer auf den Klassiksendern sind. Herr Quasthoff sang für mich, Herr Barenboim spielte dazu Klavier, es war hervorragend. Ich war am Morgen eher zufällig darauf gekommen, denn es ist natürlich noch keine Zeit für die Winterreise, aber es war ein freier Tag, es interessierte mich gerade, und ich blieb dann doch hängen und genoss lange.

Ein kleiner Vorgriff auf den November war das, besonders gegen Ende der Sammlung hin und dann natürlich beim finalen, so finsteren Leiermann, aber weit weg von dieser Stimmung sind wir jahreszeitlich ohnehin nicht mehr.

Ein verstörendes Lied, denke ich immer wieder, und auch ein irritierendes, bewegendes Gedicht.

Ich höre jetzt ganz anders, weil es draußen endlich kühl genug ist, um die guten Over-Ear-Kopfhörer wieder zu benutzen, die mich im Sommer in den Wahnsinn treiben würden, weil sie wärmen wie eine dicke Wollmütze. Jetzt also viel besserer Sound als im Sommer und auch das in der Stadt so oft rettende Noise-Cancelling.

Es ist eine Wohltat und trägt entscheidend dazu bei, dass ich klassische Musik fast nur in den dunkleren, kälteren Jahreszeiten höre.

Im Bild heute, ohne jeden Zusammenhang, die Cap San Diego, also schon wieder etwas für den Freundeskreis Nostalgie. Warum auch nicht. Im Hintergrund der Katamaran nach Helgoland, der hatte gestern seine letzte Fahrt. Winterpause, Sturmsaison.

Die Cap San Diego im Hamburger Hafen

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Durch den Bahnhof, durch den Park

Beim NDR eine Meldung über unseren Stadtteil, über unsere Nachbarschaft, es sind unruhige Wochen und der Hass greift weit um sich und sammelt weltweit erfolgreich Leute ein, auch vor der Haustür. In einer anderen Meldung sagt unser Verteidigungsminister heute, Deutschland müsse kriegstüchtig werden und wenn man sich nicht sehr und permanent auf andere Gedanken konzentriert, könnte man meinen, wir leben in deutlich finsterer werdenden Zeiten.

Aus dem Fenster sehen und wieder auf den Eichelhäher warten, auf die Krähe, auf die Elster. Nüsse zählen.

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Dennoch findet aber alles statt wie immer, also Tag für Tag und auch nach dem Kalender. Am Wochenende abends noch der übliche Spaziergang durch den Hauptbahnhof, in dem es, müssen Sie sich vorstellen, immer übervoll ist, auch zu den Zeiten, die man für unverdächtig hält. Diese groben Zeitpläne, die man für so etwas früher im Kopf hatte, sie kommen nicht mehr recht hin, es hat sich etwas verändert. Immer der große Andrang jetzt, zu jeder Zeit und an jedem Tag, die Massen, das Gedrängel, man schiebt sich so durch. Man hat daher nach einem Gang durch die Wandelhalle zuverlässig alle Arten von Menschen und Moden gesehen, viele Situationen auch, kurze Interaktionen, Stadien der Zweisamkeit, des Beisammenseins und auch der Familiensituationen, alles nur fragmentarisch und in Sekundenbruchteilen, wahnsinnig eng getaktet, ein gesellschaftliches Stakkato der Möglichkeiten, und da vorne übrigens schieben gerade zwei Männer einen Sarg auf einem Gestell durch die Menge.

Das allerdings ist sogar hier ungewöhnlich, wo doch sonst kaum noch etwas auffällt. Nun ist aber bald Halloween, das wird also sicher irgendwie Deko sein, man kann das schnell abtun und die Männer erregen auch kaum Aufsehen. Nur wenige Menschen gucken kurz und etwas irritiert, Kinder sind es vor allem. Ich sehe die beiden im Vorbeigehen, ich denke Deko, ich denke nicht interessant, aber ich könnte doch, fällt mir dann gerade noch ein, eben nachsehen, wo und wofür diese Deko eigentlich aufgebaut wird. Und ich drehe mich also um, kaum dass ich diesen Schauertransport passiert habe, zehn Schritte hinter ihnen vielleicht, um ihnen noch etwas nachzugehen, denn wer weiß, am Ende fällt bei so etwas auch Erzählbares ab – aber da sind keine Männer mit einem Sarg.

Ich gehe ein paar Schritte in die Richtung, in der sie verschwunden sein müssen, ich finde sie nicht mehr. Vielleicht ist es möglich, dass die wogende Besucherinnenmenge im Bahnhof auch etwas so Ungewöhnliches wie einen Sargtransport in zwei Sekunden vollkommen spurlos verschluckt, vielleicht waren da aber auch gar keine Männer mit Sarg. Es ist immerhin die passende Jahreszeit für seltsame Vorkommnisse und unerklärliche Geschichten. Um mich herum nur enorm viele Menschen, die zu Zügen gehen, in Imbisse, in Souvenir- und Blumenläden.

Business as usual, die übliche Betriebsamkeit.

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Obwohl der Wetterbericht nur noch aus Regenwetter besteht, scheint die Sonne am Sonntag stundenlang. Ich gehe mit der Herzdame die große Runde durch Planten & Blomen, bis runter nach St. Pauli und zurück, und es ist der Tag, an dem die Blätter leuchten und die Farben stimmen, es ist der Tag der überaus festlichen Herbstbilder.

Im ganzen Park machen die Menschen Selfies und Familienbilder vor rotem oder goldenem Laub, vor den hohen, wippenden Federbüscheln der großen Ziergräser, vor den letzten blühenden Staudenbeeten, vor überaus opulenter Prachtkulisse. Die Büsche, die Bäume und die Menschen posieren im Licht dieses Nachmittags, und es liegt ein edler Glanz über der Stadt, der sogar die Hochhäuser jenseits der Parkgrenzen mit prächtigem Schimmer auf den Fenstern adelt. Die Oktobersonne scheint, und alles ist erleuchtet.

Von der gestern eröffneten Eisbahn wehen leise Musik und Gelächter heran.

Blick aus Platen & Blomen auf den Fernsehturm, Herbstlaub, im Vordergrund das japanische Teehaus

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Währenddessen in den Blogs

 

Über Portale und ein A

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Anna über den organisatorischen Aspekt des Desasters bei den Linken im Bundestag

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Nils Minkmar über die Stimmung in Frankreich. Bitte auch den Link zum Atlantic im Text beachten.

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Kid37 war im Museum und hatte Geburtstag, wir gratulieren!

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Bei der Frischen Brise zwei Zeichen der Zeit, erst erwähnt sie die Flut in Wismar, dann hat sie einen dazu passenden Termin im Rathaus. Und apropos Sturmflut, ich sehe drüben beim NDR gerade den angemessenen Anglizismus, der mir noch nicht geläufig war: Managed Retreat. Das vielleicht mal merken. Wobei ich seit Jahren finde, dass in meiner gesamten norddeutschen Heimat bemerkenswert gelassen mit dem Thema umgegangen wird, und ich bin mir ganz und gar nicht sicher, ob das so passt.

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Garrulus glandarius

Ich mache Tiktok auf, wo ich mir normalerweise nur noch Filmchen von Leuten ansehe, denen ich schon länger folge, der Rest ist mir einfach zu schrecklich und politisch längst in zu wahnsinnige Richtungen abgedreht. Heute lande ich versehentlich doch einmal auf der „For you“-Page und sehe nach der üblichen Werbung für die Nazipartei filmisch dargestellte Judenwitze, eine Bildsprache wie aus den 30ern. Und das reicht mir dann auch, ich lösche die App.

Ich möchte da nicht mitmachen, nicht einmal als Klickvieh, und ich denke, man hat die Wahl. Und falls Sie übrigens Kinder haben und glauben, Tiktok sei diese App mit den netten, lustigen Filmchen – Sie liegen dermaßen falsch.

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Der Eichelhäher, Garrulus glandarius, kommt jetzt viel öfter auf den Balkon, er sieht fast stündlich nach den Erdnüssen. Ich habe also mehr Gelegenheit, ihn mir anzusehen, es ist immerhin ein besonders schöner Vogel, diese blauschwarz schillernden Applikationen an den Flügeln sind doch wahnsinnig apart. Der Oktober ist seine Hauptsammelzeit, lese ich online nach, er legt jetzt seine Vorräte für den Winter an. Mehrere Kilos an Nüssen und Eicheln sind es, die er versteckt und auch zuverlässig wiederfindet, bis in den Frühling hinein. Und elf Eicheln auf einmal kann er in Kropf und Schnabel transportieren, das hätte ich aus seinem Verhalten auf dem Balkon allerdings nicht ableiten können, nimmt er doch stets nur in großer Ungeduld eine einzelne Erdnuss mit.

17 Jahre kann er alt werden, lese ich noch. Vielleicht kennt dieser Vogel auf dem Balkon, der jetzt gerade durch das Fenster prüfend zu mir hereinsieht, ob ich nicht vielleicht bald mal aufstehe und freundlicherweise endlich Nüsse nachlege, die Söhne schon ihr ganzes Leben lang. Stark.

Im Bild heute noch einmal ein herbstlicher Blick über die Binnenalster, in Richtung Jungfernstieg. Nicht zu erkennen ist auf dem Foto das Blaulicht vor den Häusern, da lief in dieser Stunde nämlich gerade schon wieder eine Demo durch. Diesmal allerdings ohne Nahost-Bezug, es waren vielmehr die letzten Versprengten der Querdenker, die nun mit Putin nett verhandeln wollen, vermutlich weil er als so überaus kooperativer, friedliebender Mensch bekannt ist.

Blick durch Hwerbstlaub über die Binnenalster auf den Jungfernstieg, im Hintergrund das Rathaus, auch im Bild die Alsterfontäne

Sie sehen auf dem Bild auch diese Zweige vorne – die erinnern mich an eine Szene aus der Zeit, als ich gerade erst nach Hamburg gezogen war, damals. Da stand ich einmal am Ufer der Außenalster und fotografierte mit neu erworbener Kamera die blaue Fläche vor mir, als ein älterer Mann auf einem Rad neben mir kurz anhielt, nur gerade eben so lang, wie er brauchte, um mich im denkbar unfreundlichsten Lehrertonfall äußerst herablassend anzuschnauzen: „Vordergrund macht Bild gesund!“ Einen Zeigefinger mahnend erhoben, versteht sich, mit dem er dann auch noch verdeutlichend auf die Alster und auf mich zeigte. Stieg dann auf und fuhr kopfschüttelnd und Unverständliches pöbelnd weiter.

Was ich nur erzähle, um daran zu erinnern, dass es so ein Kommentarverhalten auch schon vor dem Internet gab. Es fiel nur wesentlich seltener auf.

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Postkarten ohne Blau

Das Wetter kommt mir entgegen, ich mag es so. Es ist diesig-nebelig, nieselig herbstfarben, ich finde es schön und auch fotogen, es steht der Stadt und auch vielen Menschen, die Herbstmode ist doch klar die beste aus der Reihe der vier saisonalen Möglichkeiten. Die Menschenmengen an Alster und Elbe werden deutlich lichter, die Spaziergangslust ist nicht mehr allgemein, ich habe wieder etwas mehr Platz um mich herum auf meinen Runden, auf den jetzt schlammigen, nassen Wegen.

In der Innenstadt wird schon die Weihnachtsbeleuchtung gehisst, an den Laternen im Stadtteil sehe ich die Hinweise auf die üblichen Laternenumzüge. Mein Licht ist aus, ich geh nach Haus, das müsste in den Zeiten des Smartphones eigentlich umdeuten: Mein Akku ist leer, ich mag nicht mehr. Rabimmel, rabammel, rabumm.

Immer befremdlich gefunden, diese letzte Zeile.

Blick über die Binnenalster Richtung Jungfernstieg, Rathaus. Im Vordergrund ein Mann auf einer Bank, man sieht ihn von hinten.

Ich gehe viel herum. Ich habe, wie gesagt, im Moment wenig Freude am Internet und zuhause aber auch keine Ruhe für Bücher. Ich höre Musik, ich gehe dabei durch die Stadt und an den üblichen Postkartenbildern entlang, die jetzt ohne strahlend blauen Himmel auskommen müssen. Es ist wenig von der Nachrichtenlage zu sehen, abgesehen von der anhaltenden Omnipräsenz der Polizei auf den Straßen, versteht sich. Es gab auch wieder aufgelöste Demos im Stadtteil, nach Hassparolen gegen Israel, die Auflösungen verliefen nicht eben friedlich. Ich habe es aber nicht mitbekommen, obwohl das alles auf meinem Einkaufsweg stattfand. Ich lese nur in den lokalen Medien davon.

Dann einmal ein einzelner Mensch, der am Bahnhof steht und ein selbstgeschriebenes Pappplakat etwas zaghaft hochhält, der es den vorbeifahrenden Autos zeigt. Aber es ist alles so klein notiert, ich erkenne nicht einmal, wofür oder wogegen er ist. Es waren, wenn ich es richtig gesehen habe, im Text auch die Flaggen von Israel und Palästina abgebildet, aber nicht einmal dabei bin ich mir sicher. Was erkennt man schon im Vorbeifahren.

Bei einem Kiosk mit einem vermutlich arabisch gedeuteten Inhaber wird die Schaufensterscheibe beschmiert, man solle Israel vertrauen, nicht „euch“, so steht es jetzt da, und der Inhaber fragt sich auf Facebook, was er denn nun mit einem „euch“ zu tun habe.

Auf dem Steindamm, der besonders internationalen Straße im Stadtteil, die manchmal in einem Zug mit der Sonnenallee in Berlin genannt wird, sehe ich keine Besonderheiten, sehe ich Obst und Gemüse und sehr bunten Kuchen, wie immer. Verstünde ich Arabisch, ich schriebe vielleicht anderes.

Soweit ich es mitbekomme, äußert sich in meinem näheren Umfeld niemand antisemitisch, weder online noch offline, und das ist wohl in einem Torbergschen Sinne noch ein Glück. Ich kann nicht davon ausgehen, dass das so bleibt.

Aber das Wetter, wie gesagt – sehr gut, keine Klagen. Beim Haus gegenüber ist das Fallrohr kaputt, das Regenwasser vom Dach verschwindet nun nicht mehr lautlos im Boden. Es pladdert aus großer Höhe auf den Fußweg, und es spritzt dabei dermaßen weit im Kreis, dass niemand mehr auf dieser Straßenseite geht, und es ist auch laut, wildbachlaut. Ein starker Herbsteffekt im Soundtrack der Straße ist das, man kann hervorragend dabei einschlafen, und auch damit bin ich ganz und gar einverstanden.

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Matthew Perry stirbt, sein Buch liegt hier noch ungelesen auf dem Stapel neben dem Bett. Obenauf liegt es sogar, ich sehe sein Gesicht in den Nachrichten und auf dem Cover. Beim Lesen dieses Ende dann später mitdenken.

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In der Nostalgiesuhle

Freitag, der 27. Oktober. Ich bin einer aus den letzten geburtenstarken Jahrgängen, und ich habe bisher etwas unterschätzt, wie überaus seltsam dadurch meine letzten etwa neun, zehn Berufsjahre ausfallen werden, in denen ich nun im Posteingang so oft Mails habe, in denen Abschiede in die Rente geplant oder angekündigt werden, Geschenke organisiert oder letzte freundliche Wünsche an die Bleibenden verteilt werden. Es ist in der hohen Frequenz doch etwas seltsam, jedenfalls wenn man in einer großen Firma, in einem Konzern arbeitet, in dem sich übergreifende Trends unweigerlich spiegeln. Wie häufig sich aber parallel auch in meinem freiberuflichen Erwerbsanteil Ansprechpartnerinnen etc. in die Rente verabschieden und guck, zwei, drei meiner Ärzte gibt es auch schon nicht mehr und wie seltsam es nebenbei bemerkt ist, dass sogar meine große Schwester schon in Rente ist …

Ich erinnere mich an mehrere Jahre in Folge, viele waren es sogar, da habe ich keine einzige Verrentung um mich herum erlebt, man kann es sich schon kaum noch vorstellen. Aber das Thema gab es über lange Strecken meines Berufslebens gar nicht. Dann hat doch einmal eine Kollegin die Altersgrenze erreicht, und es war tagelang Firmengespräch, eine Frau ging ganz im Ernst in Rente, wie abgefahren und originell war das denn, ein so überaus seltenes Phänomen. Und jetzt also dieser Hockeystick in der Kurve, es ist wirklich beeindruckend. Ein ganzes Ensemble verabschiedet sich über Jahre hinweg. Der Letzte macht das Licht aus, ich habe den Scherz mittlerweile nicht nur einmal in Bezug auf mich gehört. Die große Boomerdämmerung, und ich sehe das Stück also mutmaßlich ganz.

Ich werde noch eine brauchbare Einstellung dazu finden müssen, merke ich, aber so weit bin ich noch nicht. Es ist für mich noch ein eher mühsames mentales Gebastel, es ist bisher bloßes Stückwerk, ich stehe dem bisher etwas ratlos gegenüber. Aber gut, es ist auch eine Erfahrung, die keine Generation vor uns in dieser Ausprägung gemacht hat, es ist neu für uns alle. Wir üben das noch ein und das Stück, das weiß man, wird danach so schnell auch nicht wiederholt. Es wird also vollkommen ausreichen, nehme ich an, wenn wir das einfach als Improtheater durchziehen.

Im Bild dazu halbwegs passend die Jukebox in der Oldtimertankstelle, in der ich neulich mit der Herzdame war. Eine Tanke, die baulich noch den 50ern des letzten Jahrhunderts entspricht, man kann dort Kaffee und Kuchen bekommen, meist auch alte Autos ansehen und sich wohlig in Nostalgie suhlen. Kompatibel mit den „Weißt-du-noch-Gesprächen“ in den Büros, wenn wir wieder in grauhaarigen Grüppchen von der Schreibmaschinenzeit faseln.

Die Titelauswahl einer Jukebox, mit Songs von Ted Herold und Bill Haley.

Ein Teller mit einem Stück Kalter Hund und einer Tasse Espresso

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