In der Nostalgiesuhle

Freitag, der 27. Oktober. Ich bin einer aus den letzten geburtenstarken Jahrgängen, und ich habe bisher etwas unterschätzt, wie überaus seltsam dadurch meine letzten etwa neun, zehn Berufsjahre ausfallen werden, in denen ich nun im Posteingang so oft Mails habe, in denen Abschiede in die Rente geplant oder angekündigt werden, Geschenke organisiert oder letzte freundliche Wünsche an die Bleibenden verteilt werden. Es ist in der hohen Frequenz doch etwas seltsam, jedenfalls wenn man in einer großen Firma, in einem Konzern arbeitet, in dem sich übergreifende Trends unweigerlich spiegeln. Wie häufig sich aber parallel auch in meinem freiberuflichen Erwerbsanteil Ansprechpartnerinnen etc. in die Rente verabschieden und guck, zwei, drei meiner Ärzte gibt es auch schon nicht mehr und wie seltsam es nebenbei bemerkt ist, dass sogar meine große Schwester schon in Rente ist …

Ich erinnere mich an mehrere Jahre in Folge, viele waren es sogar, da habe ich keine einzige Verrentung um mich herum erlebt, man kann es sich schon kaum noch vorstellen. Aber das Thema gab es über lange Strecken meines Berufslebens gar nicht. Dann hat doch einmal eine Kollegin die Altersgrenze erreicht, und es war tagelang Firmengespräch, eine Frau ging ganz im Ernst in Rente, wie abgefahren und originell war das denn, ein so überaus seltenes Phänomen. Und jetzt also dieser Hockeystick in der Kurve, es ist wirklich beeindruckend. Ein ganzes Ensemble verabschiedet sich über Jahre hinweg. Der Letzte macht das Licht aus, ich habe den Scherz mittlerweile nicht nur einmal in Bezug auf mich gehört. Die große Boomerdämmerung, und ich sehe das Stück also mutmaßlich ganz.

Ich werde noch eine brauchbare Einstellung dazu finden müssen, merke ich, aber so weit bin ich noch nicht. Es ist für mich noch ein eher mühsames mentales Gebastel, es ist bisher bloßes Stückwerk, ich stehe dem bisher etwas ratlos gegenüber. Aber gut, es ist auch eine Erfahrung, die keine Generation vor uns in dieser Ausprägung gemacht hat, es ist neu für uns alle. Wir üben das noch ein und das Stück, das weiß man, wird danach so schnell auch nicht wiederholt. Es wird also vollkommen ausreichen, nehme ich an, wenn wir das einfach als Improtheater durchziehen.

Im Bild dazu halbwegs passend die Jukebox in der Oldtimertankstelle, in der ich neulich mit der Herzdame war. Eine Tanke, die baulich noch den 50ern des letzten Jahrhunderts entspricht, man kann dort Kaffee und Kuchen bekommen, meist auch alte Autos ansehen und sich wohlig in Nostalgie suhlen. Kompatibel mit den „Weißt-du-noch-Gesprächen“ in den Büros, wenn wir wieder in grauhaarigen Grüppchen von der Schreibmaschinenzeit faseln.

Die Titelauswahl einer Jukebox, mit Songs von Ted Herold und Bill Haley.

Ein Teller mit einem Stück Kalter Hund und einer Tasse Espresso

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Lemna minor

Donnerstag, der 26.10.2023. In den Foodblogs sehe ich längere und sicher unfreiwillige Versuchsreihen zur Unmöglichkeit, Rezepte mit Pilzen auf Fotos attraktiv wirken zu lassen, braunschleimige Gerichte, Herbstmodder, Risottopech. Aber egal, Pilze sind hier eh schwierig, zuverlässig familientauglich kann ich sie nur im Hühnerfrikassee versenken. Alles andere ist weit im Risikobereich, ich kann Pilzrezepte also ohnehin wegklicken.

Gelesen in Richard Ovenden: Bedrohte Bücher – Eine Geschichte der Zerstörung und Bewahrung des Wissens“, aus dem Englischen von Ulrike Bischoff, hier eine Rezension dazu bei Spektrum. Der Autor ist der Leiter der Bodleiana. Ein probibliothekarisches Buch mit aktuellen Bezügen, versteht sich, denn es werden immer und gerade jetzt wieder irgendwo Bücher verboten und Daten gelöscht, es wird immer im Interesse finsterer Vorhaben oder auch in vermeintlich guter Absicht Wissen verhindert. Das Buch geht ab und zu auf das Internet ein, eher am Rande. Also auf die Frage, was da wie gespeichert werden kann, wofür Bibliotheken zuständig sein können etc.

Wobei ich es nach etlichen Jahren intensiver Internetnutzung immer faszinierender finde, welche Radikalisierung des Gegenwärtigen das Netz mit sich gebracht hat, wie weitgehend bedeutungslos Erinnerungskultur online ist. Wir lesen alle kaum alte Texte an unseren Bildschirmen, und alt heißt, sie sind von vorgestern oder von letzter Woche. Alles, was noch älter ist, klicken wir kaum noch an, machen wir nicht mehr auf, lesen wir nicht mehr durch, finden wir sogar abwegig, veraltet, wer weiß denn schon, ob das noch stimmt. Wen interessieren Texte von 2021, Memes von 2018 etc., das ist alles kategorisch nicht mehr von Interesse oder relevant – während in der Buchkultur ausdrücklich das Alte interessant ist, das Bewahrte, Überlieferte. Wir lesen immer noch Texte aus der Antike und legen sie sogar neu auf.

Der Bruch zwischen der Wertschätzung von Gegenwart und Vergangenheit ist viel größer, als es mir jahrelang aufgefallen ist, und mittlerweile bin ich skeptisch, ob in der Entwicklung etwas Positives zu sehen ist. Es ist doch eher eine rasende, besinnungslose Gegenwärtigkeit als ein reflektiertes Hier und Jetzt. Wenn man versucht, ganz weit zurückzutreten, aus dem aktuellen Bild hinaus, in einen weiten, geschichtlichen Überblick, sieht man womöglich auf einen Abstieg, nicht wahr, auf einen kulturellen Rückschritt. Zumindest würde ich das nicht ausschließen.

Aber hey, was haben wir für einen Spaß daran gehabt. Jedenfalls einige Jahre lang. Im Moment, Sie merken es vermutlich auch, haben wir den nicht mehr so recht.

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Im Bild ein Fleet an der S-Bahn-Haltestelle Hammerbrook, man sieht, was gerade alle Gewässer dieser Art in Hamburg reichlich zu bieten haben: Entengrütze,die kleine Wasserlinse, Lemna minor. Ein Nährstoffanzeiger, der die Wärme der letzten Wochen super fand. Man kann das Zeug auch essen, lese ich, aber es drängt mich nicht zu Versuchen.

Davon abgesehen sehen wir im Laub der Bäume einen etwas deutlicheren Herbsteintritt. Immerhin.

Ein FLeet in Hammerbrook, Bürobauten am Ufer, Hausboote, herbstliche Bäume und grasgrünes Wasser

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Festspiele der schlechten Laune

Dienstag, der 24. Oktober. Ein ausgesprochen grauer Tag, Festspiele der schlechten Laune im Spiegel, in der Wohnung, in den Timelines, in den Nachrichten sowieso. Home-Office der zähen Art. Das Wetter passend dazu arrangiert, Großstadtgrau in der bleiernen Standardversion. Ich organisiere am Nachmittag meiner nicht mehr sehr beweglichen Mutter neue Glühbirnen für zwei Lampen, das war das vermutlich Erhellendste des Tages.

Ich schaffe es an diesem Tag nicht einmal, bei Tageslicht etwas zu fotografieren, ich bin auch gar nicht sicher, ob es zwischendurch wirklich hell war, daher gibt es nur die abendliche Spiegelung der Uhr am Turm des Hauptbahnhofs in lackschwarzer Pfütze auf dem Vorplatz. Man nimmt, was man kriegen kann.

Uhren am Turm des Hauptbahnhofs spiegeln sich in einer abendlichen Pfütze auf dem Bahnhofsvorplatz. ein sehr dunkles Bild

Am Abend lese ich noch ein wenig in Bukowskis Briefen, während mir Spotify ein Lied von Bill Callahan zushuffelt, und er singt da gerade:

„Well the only words I’ve said today

Are “beer” and “thank you”

Beer

Thank you

Beer

Thank you”

Und wie passend zur Lektüre ist das denn. Allerdings habe ich kein Bier im Haus, um den Moment weiter harmonisch auszugestalten. Irgendwas ist immer, und zu viel Bukowski ist auf Dauer auch nicht gut. Man möchte irgendwann gerne wieder jemanden lesen, der nicht in jedem zweiten Satz seinen Suff betont.

Mittwoch, der 25. Oktober. Ich sehe am Morgen, dass einer der großen Kioske im Hauptbahnhof neuerdings erst um 10 öffnet, also wenn der Andrang in die Büros etc. schon durch ist. Ein merkwürdiger Anblick, dieser dunkle Kiosk, jahrelang habe ich da früher, also ganz früher, morgens Zeitungen gekauft, es war ein Kiosk, der zu meinen Zeiten, wenn ich da vorbeikam, immer offen war, eine verlässliche Sache. Jetzt aber der Personalmangel, direkt neben den neuen Öffnungszeiten wird auf einem weiteren Aushang nach Mitarbeiterinnen gesucht.

Dann Office-Office. Hin- und Rückweg durch Oktoberpostkarten, jetzt doch einmal, es geht zweifelsfrei als schöner Herbsttag durch, was die Szenerie heute zu bieten hat.

In der Bäckereikettenfiliale auf dem Weg gibt es nun wieder Baumkuchen, mit weihnachtlich dunkelrot eingefärbtem Preisschild. Direkt daneben Kuchenstücke, auf deren weißem Zuckerguss mit Schokolade lustig sein sollende Halloween-Fratzen gekleckst wurden. Mit Backwaren durch das Jahr.

Die Krähe kommt jetzt auch zu den Erdnüssen im Blumentopf, wenn ich noch auf dem Balkon sitze, nur gerade eine Armeslänge entfernt, ich merke es am Nachmittag. Ein prüfender Blick aus tiefschwarzen Vogelaugen, lange. „Nimm ruhig“, sage ich leise, und das macht sie dann auch. Drei, vier Nüsse auf einmal, kunstvoll und mit System in den Schnabel geschichtet. Eichelhäher und Elstern machen das nicht, die picken jeweils nur eine Nuss im kaum gestoppten Vorbeiflug hektisch auf, mehr auf Eile und ihre maximale Sicherheit als auf alles andere bedacht. Während die Ringeltaube immer wieder lange vor den Nüssen sitzt, diese schräg und wie verwundert ansehend, als würde sie sich permanent fragen: „Wie ging das noch, wie ging das noch?“ Und die Kohlmeisen können sowieso nicht mehr als eine Erdnuss auf einmal tragen, es ist für mich ein Wunder, dass sie das überhaupt schaffen, ein immer wieder erstaunlicher Anblick.

Die Krähe aber legt sich die Nüsse sorgsam zurecht, überlegt, versucht, sortiert sie wieder um, erarbeitet sich ein System. Und fliegt dann mit maximiertem Ergebnis davon, auf das Dach der Kirche, um in Ruhe zu essen.

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Gelesen: Brandenburg trocknet aus.

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Währenddessen in den Blogs

Hier die Erwähnung des mehrdimensionalen Product-Placements. Faszinierender Gedanke, und technisch dummerweise schon gut vorstellbar.

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Kinskification.

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Stellvertretend für eine umfassende Diskussion in den sozialen Medien: Über Abo-Kündigungen und Umverteilungen. Hätte ich ein Spiegel-Abo gehabt, es wäre jetzt gekündigt worden, und zwar mit deutlichen Worten. Wie auch bei einigen anderen Medien gilt, ich habe es schon mehrfach erwähnt – ich folge etlichen ihrer Autorinnen in den sozialen Medien und schätze sie sehr, finde aber ihr gemeinsames Produkt oft schier unerträglich. Ich hätte auch schon längst kein Zeit-Abo mehr, keines der SZ, der FAZ eh nicht. Unvorstellbar, dass ich einmal die NZZ im Abo hatte, in einem Land vor unserer Zeit, und was fand ich die damals gut. Siehe in diesem Zusammenhang auch SPD und Grüne, nach wie vor sind so viele vernünftige, großartige Menschen in diesen Parteien, aber in der Gesamtheit, im Ergebnis – nein danke. Und das gilt sogar schon auf der lokalen Ebene.

Überhaupt zahle ich beim Medienkonsum, apropos Abos, lieber für Einzelnes, auch wenn ich Abos wirtschaftlich natürlich verstehen kann. Ich finde aber die Methode, die hier auch im Blog seit Jahren anwende, dass man also mal eben etwas einwerfen kann, wenn man gerade möchte und kann, klar am sympathischsten. Das ist allerdings nur mein Geschmack, keine Abwertung anderer Lösungen, und das Schreiben ist auch nicht mein Brot-, sondern mein Butterjob. Ich habe also gut reden, schon klar.

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Robin Detje über die Lage, Mastodon und Bluesky

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Der Roland kommt

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Und dann noch Lars Fischer über das Verschwinden der Kastanien:

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Pilze bewundern, Bücher lesen

Am Morgen gelesen: Patrick Breitenbach über den Journalismus und seinen „Purpose“ in dieser Zeit.

In Hamburg bleiben propalästinensische Demonstrationen verboten, und was mich daran gerade interessiert, ist die Begründung. Denn der Schutz der Meinungs- und Versammlungsfreiheit ende, so sagt es ein Sprecher der SPD, „wo das fundamentale Menschenrecht und die Würde des Menschen verletzt werde“, so lese ich es beim NDR. Nach der Logik müssten dann wohl demnächst auch rechte Demos mit entsprechenden Parolen verboten werden können, wenn nicht gleich der ganze Wahlkampf der rechtsauslegenden Parteien, also mittlerweile fast aller. Ich habe keine durchdachte Meinung zum Demonstrationsverbot, ich weiß nicht, was da richtig ist, ich weiß nur, nur dass es dünnes Eis ist, aber die Argumentation der Stadt und der SPD dazu sollte man sich vielleicht mal merken.

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Am Montagmorgen im Garten gewesen und dort Wasser abgestellt. Das ist ein schwieriges Unterfangen, jemand muss dafür in einen schmalen Schacht auf einem Nachbargrundstück steigen, der halb unter Wasser steht und von zahlreichen verschiedenen Kleinlebewesen mit gar keinen oder entschieden zu vielen Beinen bevölkert wird, und dieser jemand ist stets ein davon nicht so begeisterter Sohn, der also vorher überredet, bestochen oder wie auch immer genötigt werden muss. Es ist kompliziert, aber es ist auch diesmal wieder gelungen und wir können das Thema nun bis etwa April vergessen, wenn wir das Wasser für den nächsten Sommer wieder anstellen.

Nebenbei stellten wir fest, dass die Fliegenpilze auf unserer Parzelle malerischer denn je ausfallen. Man möchte sich auf den Rasen vor den Pilzen werfen und sie innig bewundern, allerdings ist der Rasen gerade herbstlich nass und kalt, man lässt es also dann doch lieber und macht nur wieder ein Foto aus der Hocke.

Mehrere schöne Fliegenpilze im Rasen, etwas Herbstlaub

Wir könnten demnächst einmal Laub harken, zum späten ersten Mal in dieser Saison, aber es hat noch keine Eile, so viel liegt da bisher nicht. Ein paar Blätter von Weide und Birke nur wurden locker eingestreut. Die Luft ist an diesem Tag angenehm in den Gärten, ein wenig Nebel hängt am Morgen noch über der Insel und über der Bille, es ist ein ausgesprochen schöner Herbsttag und die letzten Äpfel und Birnen leuchten dekorativ in den Ästen über den Hecken, wie für ambitionierte Landschaftsmaler arrangiert. Vereinzelte Schmetterlinge fliegen immer noch die letzten verblühenden Büsche an, und eine Handvoll Himbeeren fällt für uns auch noch ab.

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Ansonsten fällt doch sehr auf, dass alle möglichen Infekte in ungemein schneller Folge durch die Gesellschaft rauschen, in der Familie, im Bekanntenkreis, bei den Kolleginnen. Man ist kurz krank, man ist nächste Woche schon wieder krank, jeden Morgen Symptomlotterie, wer hat heute Hals. Und die Pandemie war so dermaßen gründlich in der Verwüstung der Normalität, ich weiß gar nicht mehr, ob das im Herbst immer schon so war oder doch etwas anders, etwas leichter, milder. Wie mir auch sonst manchmal auffällt, dass ich mir bei einigen Themen nicht mehr ganz sicher bin, wie das früher war, also damals, vor den Coronajahren.

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Ich mache am Nachmittag Tiktok auf, ich sehe sofort Werbung für das Bündnis Sahra Wagenknecht. Ich habe dann keine Lust mehr auf Weiteres in dieser App, auf der ohnehin viel zu viel Propaganda aus finstersten Richtungen läuft. Aber auch sonst, merke ich, lässt die Lust am Onlinesein bei mir deutlich nach, ich bin immer öfter offline. Etwas anderes machen, wieder mehr Bücher lesen, mit der Hand schreiben, rausgehen, Musik hören. Doch mal kurz etwas posten, aber auf jeden Fall deutlich weniger online lesen als früher. Es ändert sich gerade, und es ist ekelbedingt.

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Es kam Geschenkpost ohne beiliegenden Zettel, ganz herzlichen Dank für die Tagebücher von Stefan Zweig!

Das Buch Stefan Zweig: Tagebücher

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Teile der Wirklichkeit

Sonntag, der 22. Oktober. Gesehen: Diese Dokumentation über Otfried Preußler. Seine Bücher spielten in meiner Kindheit keine große Rolle, ich kann nicht sagen, warum das so war. Krabat habe ich erst kennengelernt, als es die Söhne es in der Schule gelesen haben und beide dann sogar gut fanden, was mir ungemein beachtlich vorkam. Keine andere Schullektüre hat das geschafft, hat diesen Test bestanden, die anderen Autoren (es kamen nur Männer vor, glaube ich) haben ziemlich gründlich verloren. Der Herr Preußler muss da also etwas getroffen haben.

Er schrieb zehn Jahre lang an einem Buch, das dann nie erschienen ist, und auch das ist eine gute Geschichte.

Einen Sonntagsspaziergang durch die Hafencity und die Speicherstadt gemacht. Es ist immer noch wenig Wasser da, man sieht hier und da den aufgetauchten Müll im Schlick, allerdings weniger, als ich vermutet hätte. Hier und da ragen Stühle und dergleichen aus dem Grund, und werden bald wieder von der Elbe zugedeckt. Noch staksen Möwen durch den Schlamm.

Eine ausländerfeindliche Parole an einer Wand, frisch hingesprüht, und groß ist sie geworden, ich zitiere sie nicht. Vorbeigehende Menschen schütteln mehrheitlich den Kopf, immerhin. Das ist auch ein Teil der Wirklichkeit. Nichts in dieser Stadt würde ohne Menschen ausländischer Herkunft funktionieren, gar nichts, es gäbe nicht einmal die Wand, auf die da jemand geschrieben hat.

In den Medien die mit dem Hamburger Niedrigwasser korrelierenden Bilder der Zerstörung von der Ostseeküste. Es sind Bilder aus Gegenden, die ich gut kenne, daher kann ich sicher sagen: So etwas habe ich damals nicht erlebt. Schlimme Stürme gab es, seltene Sturmfluten auch, aber so etwas nicht, nicht einmal annähernd.

Und apropos kenne ich nicht – es gibt weiterhin keine leuchtende Herbstfärbung an den Bäumen, es ist Ende Oktober. Bei Kästner etwa, ich bemühe Zeugen aus der Lyrik, sind die Bäume in Oktober bunt und blumenschön, „Buketts für sanfte Riesen.“ Tatsächlich werden die Blätter vorm Balkon und im Garten zusehends blasser und gelber, aber die kräftigen Farben bleiben noch aus, das sattsam bilderbuchbekannte Illustrationsmaterial zum klischeehaft goldenen Oktober, es kommt in diesem Jahr einfach nicht hin oder doch erst auf den letzten paar Tagen des Monats.

Vielleicht gibt es dann einen goldenen November, und alle nachfolgenden Monatsstimmungen verschieben sich entsprechend, Störungen im Betriebsablauf, man kennt das von der Bahn.

Ansonsten gewinnen in der Schweiz die Rechten Wahlen, es ist leider wenig originell. Ich zähle nach wie vor mit, welche Regionen in den sozialen Medien, also in meinen Timelines, als Auswanderungsziel genannt werden, für den Fall, dass die Nazis hier den Laden übernehmen, da ist die Schweiz auf Platz 2 der Nennungen, knapp hinter Dänemark. Na ja.

Im Bild heute etwas dazu Passendes, ein Straßenschild. Ein kleiner Gang ist es nur, der hier so betitelt ist, ein Durchgang, nicht die beste Ecke des Stadtteils, eher im Gegenteil. Ein Pissgang, wie meine Mutter abfällig sagen würde. Aber immerhin benannt nach einem wenig bekannten Widerstandskämpfer, der hier um die Ecke gewirkt hat, im Bieberhaus, in dem heute das Ohnsorg-Theater ist: Helmuth Hübener, das ruhig mal nachlesen. Oder im neu gelernten Kohortativ: Lasst uns des Widerstandes gedenken. Helmuth war zu jung für das Todesurteil durch den Volksgerichtshof: „Da die Todesstrafe für Minderjährige nicht vorgesehen war, hatte der Richter Hübener für volljährig erklärt.

Das Straßenschild zum Helmuth-Hübener-Gang in St. Georg

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Also hier ist nichts

Um auch mal einen anwendbaren Tipp zu geben, bei dem ich oft überrascht bin, wie viele schreibenden Menschen ihn nicht anwenden: Wenn man niemanden hat, der für einen Texte Korrektur liest, ist es ungemein hilfreich, sich die Texte von Word (etc.) einmal vorlesen zu lassen. Man hört jeden Grammatikfehler, man hört viele sonstige Fehlleistungen und auch Wortwiederholungen, wenn man sie schon hartnäckig nicht sieht. Ich mache das oft, wenn ich denn die Zeit und die Gelegenheit dafür habe, es wären sonst sicher noch viel mehr Fehler hier zu finden. Es kommt so gut wie nie vor, dass ich beim Hören mit einem Text voll einverstanden bin und ihn ohne weiteren Eingriff abnicke. Ich höre und finde immer etwas.

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Es wurden wieder Pro-Palästina-Demos um die Ecke aufgelöst, da alle Veranstaltungen dieser Art bis Sonntag in Hamburg verboten sind. In den Medien sehe ich kritische Kommentare dazu, es ist kompliziert. Von den Einsätzen bekommen wir nichts mit, obwohl es hier wieder überall von Polizei nur so wimmelt, Wagen an jeder Ecke, aber der Geräuschkulisse nach zu urteilen, wird es nicht fürchterlich hoch hergegangen sein. Wobei es hier auch den Effekt geben kann, den einige vielleicht von anderen Nachrichtenlagen kennen – in irgendeiner Gegend ist Weltuntergang, die Medien verteilen schreckliche Bilder, man ruft besorgt den einen bekannten Menschen an, den man dort hat, der sieht aus dem Fenster und sagt: „Also hier ist nichts.“ Das beweist dann keine Lüge, das beweist auch keine Propaganda, das beweist nur, was die Entfernung von einem Block, von ein paar Metern ausmachen kann. Ein leicht unterschätzter Effekt.

Am Bahnhof Hammerbrook, ich sah es im Laufe der Woche, hat jemand klein an eine Wand „Free Palestine“ geschrieben, es ist eine vereinzelte Wortmeldung. Sonst fiel mir nichts Neues in den Straßen auf. Aber wie bei jedem dieser Themen gilt, dass die allfälligen Sticker, Flyer etc. dazu auch erst einmal designt, bestellt und geliefert werden müssen. Sie werden sicher bald zu sehen sein, mit Ausprägungen in die eine und in die andere Richtung.

Am Abend auf einer Tanzveranstaltung, die Musikauswahl ist schlecht, sehr schlecht. Die Herzdame tanzt mühsam und engagiert dagegen an, aber es ist doch ein wenig so, als hätte man auf einer Fahrt durch Niedersachsen versehentlich einen Oldiesender mit einem berufsmäßig fröhlichen Boomer-Moderator eingestellt, der sogenannte Partykracher spielt, die in seiner Jugend schon alt waren. Man kann nicht immer Glück haben, und es ist auch okay.

Immerhin wird einmal die Tanzfläche spontan voller, als eine Discoversion von Hava Nagila läuft, ein kleiner Soli-Moment, und wenn ich schon dabei bin, zeige ich hier noch einmal die bemerkenswerte Version, die in diesem Blog bereits einmal vorkam:

Ich lese später den Text des alten Liedes in der Wikipedia nach, und dort steht, dass die Aufforderung in der ersten Zeile, Hava nagila, lasst uns glücklich sein, ein Kohortativ sei, den Begriff habe ich noch nie gehört. Faszinierend.

Lasst uns immer alles nachlesen, auch Kohortative.

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Im Bild die Außenalster. Die Aufnahme ist schon 11 Tage alt, aber die Färbung der Bäume hat sich seither nicht bedeutend geändert.

Segelboote unter Planen an einem Steg an der Außenalster. nebliges Licht, Herbststimmung

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Währenddessen in den Blogs

Vanessa über Südtirol und Menschen im Gebirge

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Im Zoo von Shanghai

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Jasmin Schreiber über Biodiversität und Endlinge und alles.

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Es ist wirklich keine Neuigkeit mehr, dass es mit der Bahn nicht so läuft bei uns, auch ausländische Medien berichteten bereits ausführlich und staunend darüber, aber da ich die Verkehrswende in den Blogs weiter beobachten möchte, muss leider auch vorkommen, was klemmt. Schlimm.

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Enid Blyton revisited

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Die Kaltmamsell über ihren letzten Einsatz als Schöffin

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Nichts mehr reinlassen

Freitag, der 20. Oktober. Am Morgen so ein Wetter, bei dem man kurz den Kopf testweise aus dem Fenster hält, und ihn dann sofort und einigermaßen eilig wieder einzieht, das Home-Office und die Ferien preist und sich weiter fragt, ob man wirklich noch einmal zum Einkaufen raus muss oder ob nicht doch noch irgendwo eine Dose, Erbseneintopf vielleicht … Ja so war das am Morgen. In den norddeutschen Medien währenddessen die Newsticker zur Flut an der Ostseeküste, die Bilder der untergehenden Häfen, die Häuser im Wasser, die immer wieder aktualisierten Pegelstände. Schaulustige behindern überall Feuerwehr und THW, der Mensch ist dem Menschen ein im Weg stehender Depp.

Im weiteren Verlauf des Tages mache ich noch mehrmals den Versuch, aus dem Fenster zu sehen, aber das Wetter will dann gleich mit großer Dringlichkeit zu mir rein, mit Wind und Wasser und umherfliegendem Laub und allem, und es ist doch kein gern gesehener Gast am Schreibtisch, bei aller Naturbegeisterung. Alles zumachen, alles verrammeln. Nichts mehr reinlassen, am besten auch keine Nachrichten mehr, für die man jetzt auch eine Warn-App braucht, Achtung, es kommt am Wochenende zu einem neuen Spiegel-Cover, und dann meidet man das Ereignis besser, so gut man es eben kann. Es besteht Gefahr für die geistige Gesundheit. Alles weiträumig umfahren. Aber wie umfährt man eine Weltlage.

Die Herzdame und ich gehen mittags raus, in ein vietnamesisches Restaurant, das schnelle Essen zwischendurch. Wir machen die Tür auf und mit uns drängt der Regen mit Vehemenz in den Gastraum, der Sturm. Die Herzdame macht eine Bemerkung über das schlechte Wetter und der Wirt sagt ernst: „Ja. Wir sind hier in Hamburg.“ Und verbeugt sich ein wenig.

Dann weiter am Schreibtisch. Wenn ich online zwischen Bluesky und Mastodon schnell hin und her schalte, sehen die kurz auf verschiedenen Positionen des Bildschirms aufpoppenden Bilder von Scholz und Thunberg beim Runterscrollen in den Timelines aus wie bei einem Polit-Memory-Spiel, aber nicht einmal so hält man das alles noch aus. Es alles gar nicht mehr wissen wollen. Man erreicht dieser Tage leicht seine Kapazitätsgrenzen, nicht wahr.

Das Wetter ist unfassbar schlecht, die Lage ist es auch. Ich mache die Heizung an, ich esse Lebkuchen und Mandarinen, sich verlässlichen Trost zuführen. Ich lese den Sturmflut-Ticker der Lübecker Nachrichten, da kommt keine Politik drin vor. Wassermassen klatschen immer wieder an die Dachfenster, am Haus nebenan zerreißt es am Nachmittag die riesige Plane am Gerüst unter infernalischen Geräuschen, und auf dem Hotel gegenüber zerlegt es heute die Deutschlandfahne. Die gestern zerrissene Hausfahne wurde noch nicht ersetzt, nur die rote Hamburgfahne hält dem Südost noch Stand.

Ich höre immerhin einen sehr guten Podcast, der jetzt etwas schwierig anzukündigen ist, denn ich nehme an, dass bei dem Wort Neurodiversität einige gleich die Flucht ergreifen, es ist doch medial etwas totgeritten, to say the least. Es ist aber ein aufschlussreicher wissenschaftlicher Vortrag darüber, wie verschieden wir alle denken, mit Ableitungen zur Inklusion und auch zu Themen wie Rassismus und wirklich, die Stunde lohnt sich: Zwar anders, aber völlig richtig im Kopf. Mit dringender Sonderempfehlung für Lehrerinnen und Lehrer, aber wie gesagt, auch sonst. Im Grunde relevant für alle Menschen mit Hirn.

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Im Bild ein Fliegenpilz im Garten. Warum auch nicht.

Ein Fliegenpilz im Garten, etwas Herbstlaub daneben

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Lachen im Sturm

Donnerstag, der 19. Oktober. Ich habe „Junger Mann“ von Wolf Haas durchgelesen, das Buch stand neulich im öffentlichen Bücherschrank, hier eine freundliche Rezension in der SZ dazu. Eine angenehm schnelle Lektüre war es, ich habe es in einem Rutsch konsumiert, was mir unerfreulich lange schon nicht mehr bei einem Roman gelungen ist. Die Zeitprobleme, die Konzentrationsdefizite. Früher, so denke ich immer, früher habe ich viel mehr am Stück gelesen, aber das scheinen nach den letzten paar Jahren nahezu alle Menschen um mich herum zu denken, man ist da vermutlich in bester Gesellschaft. Wolf Haas habe ich jedenfalls wieder gerne gelesen, wie bisher jedes Buch von ihm, wenn ich mich recht erinnere. Ein schmaler Roadnovelband, man braust so durch.

Einen Stummfilm von 1923 auf arte habe ich außerdem gesehen, Varieté mit Emil Jannings, Warwick Ward, Lya de Putti und Maly Delschaft, die Regie von Ewald André Dupont. Sehr empfehlenswert kam mir das vor, ungemein viele Details gab es da zu entdecken, eine großartige Kameraführung und wildestes Schauspiel, man kann sich die 20er Jahre des letzten Jahrhunderts nebenbei noch einmal ganz neu bebildern und ausstaffieren, ich fand es bereichernd.

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Im Bild heute ein neues Wandbild im Stadtteil, wenn es schon der Herbst nach wie vor nicht zu leuchtenden Farben in der Natur bringt, dann doch immerhin die Streetart an den Wänden: Colors.

Ein Mural, noch neu und in leuchtenden Farben, bunt und mehrfach der Schriftzug "Colors" vor farbigem Hintergrund

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Die Rabenkrähe auf dem Balkongeländer guckt, ob ich nicht vielleicht endlich einmal gucke. Sie legt den Kopf schief und geht auf dem Geländer auf und ab, sie flattert kurz mit den Flügeln, es könnte ja etwas nützen, kurz auf sich aufmerksam zu machen. „Ja“, sage ich, „ich komme gleich.“ Ich hole noch einmal Erdnüsse aus der Küche, ich öffne die Balkontür und es ist jetzt endlich so weit, der Vogel fliegt nicht mehr weg. Die Krähe bleibt neben mir sitzen, die Krähe sieht interessiert zu, wie ich die Erdnüsse in den Blumentopf lege und sagt dann ein betont freundliches, leises „Krah“, sie sagt vermutlich einen Krähendank. Ich wünsche guten Appetit und gehe wieder rein, denn es ist heute ein Wetter, man möchte keinen Rabenvogel vor die Tür jagen. Orkan aus Ost, Südost ist angesagt, das kommt hier nicht allzu häufig vor, das ist die verkehrte Richtung für so etwas, der Wind wird schon stündlich stärker. Und an den Küsten, liest man, wird die Flut steigen, nur eben diesmal an den falschen Küsten, in Lübeck werden Häuser tief in der Trave stehen.

Auf dem Balkongeländer landen etwas später zwei junge Elstern und ein Eichelhäher und rätseln, wie die Krähe das mit der Extraration wieder gemacht hat. Aber viel Zeit für ihre Gedanken haben sie nicht, denn es ist ein unruhiges Volk und in steter Bewegung, kaum da, gleich wieder weg, kein Beharrungsvermögen haben sie, nicht die Spur davon. auch keine Zeit, etwas zu lernen.

Oben, neben dem Kirchturm und seiner wild pendelnden Wetterfahne, lässt sich die Krähe vom Sturm gerade einen Block weiter werfen, zu anderen Menschen vielleicht, die sie auch erfolgreich dressiert hat. Ich höre ihr Lachen im Sturm.

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