Die im Nachhinein seltsame Alltäglichkeit des Nichtkennens

Ich bin zwischendurch genervt von meiner Antriebslosigkeit im Urlaub, vielleicht bin ich auch endlich ein wenig gelangweilt. Was ich gut finden würde, denn das war immerhin der Plan. Ich lese jedenfalls etwas in einem Buch von Rebecca Maria Salentin, Klub Drushba heißt es, darin geht es um ihre Wanderung auf dem Weg zwischen Eisenach und Budapest, das sind immerhin 2.700 Kilometer. So weit will ich gar nicht, ich will nur einmal die große Runde um den Hof gehen, das sind etwa 5 Kilometer, das wäre schon gut. Bescheidenheit und Maß! So wichtig.

Ich lese also nur die ersten Kapitel, bis bei mir Motivation eintritt, und das geschieht dann so prompt und der Bucheinsatz war so dermaßen zielgerichtet, ich sollte vielleicht auf Bibliotherapeut umschulen und fremden Leuten mitfühlend passende Bücher zureichen. Aber das nur am Rande.

Ich gehe, ich gucke. Nicht irgendwie gehen, auch hinsehen. Wie so ein Achtsamkeitsapostel, ich habe ja Zeit. Es sind Vögel in der Luft, die kann ich streberhaft alle sofort benennen: Rauchschwalbe, Lerche, Buchfink und Reiher. Ein landender Storch einen Acker weiter, gemächlich segelt er herab. Eine Stockente, die im Graben hektisch paddelnd einen verletzten Flügel vortäuscht und mich so vermutlich vom Nest weglocken will. Wie im Tierfilm, ich gehe durch eine Doku.

Der Wind hat deutlich nachgelassen, aber das Schilf bewegt er doch noch. Ich sehe die Wellen im Schilf, sie sehen aus, als würden die Wellen der Nordsee sich hinter dem Strand entlang der Gräben fortsetzen, bis weit ins Landesinnere hinein, wer weiß bis wohin.

Auch die Pflanzen benennen, genauer hinsehen. Über Ampfer gehen, an der Schafgarbe vorbei, am blühenden Klee. Dort die Wicken, dort die Winden. Geknickter Mohn und aufrechte Ackerkratzdisteln, schmetterlingsumflattert. Lilafarbene Weidenröschen, vielleicht ist die Farbe auch ein mildes Pink, jedenfalls viel davon. Die Farbe prägt den Weg, farblich abgesetzt mit Kornblumenblau, das hat sich alles geschmackvoll selbst ausgesät. Die Wiesenflockenblume. Das blassere Blau des Borretsch. Wie die Farben sich in Blühstreifen verweben, wie gut das aussieht, die Natur ist einfach unfassbar sicher und routiniert in solchen Fragen.

Benennungszauber. All die Namen wissen und murmeln, das ist auch mal schön. Dich nenne ich Glockenblume, dich nenne ich Stockrose. Es gibt, das habe ich mehrfach gelesen, einen Zusammenhang zwischen diesem Benennenkönnen und der Wahrnehmung, das ist auch gut vorstellbar. Was wir nicht mehr bezeichnen können, das fällt aus unserer Wahrnehmung – und damit auch aus der zugemessenen Wichtigkeit. Das ist dann eben nur noch Straßenbegleitgrün und dergleichen, und es ist uns eher egal.

Bei einigen Bäumen kann ich Benennungen schnell und sicher, bei einigen nicht. Birken kann vermutlich jeder, Kiefern vielleicht auch, Kastanien wohl noch. Aber bei Linden schon: Lieber erst einmal mal auf die Blattform gucken. So eine Linde steht nicht da hinten an der Biegung des Pfades und ich denke dann sofort: „Linde.“ So eine Linde will genauer angesehen werden. Man kann das ändern, man kann sie auch aus der Distanz erkennen, und es ist vielleicht lohnend. Man ist dann vielleicht noch mehr in der Landschaft, wenn man so etwas kann, das mag sein.

In meinem Stadtteil in Hamburg kann ich mittlerweile die meisten Bäume und Sträucher im Vorbeigehen benennen. Es ist eine Art Spiel, ich finde das gut. Pokémon ins richtige Leben geholt, es erscheint ein wildes Lindi.

Neben dem abgelegenen Reetdachhaus Büsche, die kann ich nicht erkennen, obwohl sie sicher auch eine typische Form haben. Weißdorn ist es, ich sehe es dann im Vorbeigehen auf kurze Distanz. Weißdorn ist eigentlich einfach. An einer Wildhecke vorbeigehen und alles zuordnen können, so schwer ist das nicht. Pfaffenhütchen, Holunder, Schlehe. Machbar ist das und man sucht sich doch sowieso immer Projekte.

Die Möwe dort ist nicht nur irgendeine Möwe: Eine Mantelmöwe wird es sein, ein großer Vogel mit enormen Flügeln. Kennen Sie das mit den Möwenflügeln und den Matrosenseelen? Hier in der schönen Version von Tim Fischer. Peer Raben hat das Stück geschrieben.

An einem langen Halm, der die anderen überragt, schon wieder ein Schilfrohrsänger, Wie laut der singt, man kann ihn eigentlich nicht überhören. Ein paar Meter weiter dann noch ein Schilfrohrsänger, und das geht so weiter. Die Böschung dieses Grabens ist ein prächtiges Revier. Das wird sicher auch nicht erst seit heute so sein, aber ich komme seit zehn Jahren hier her und ich habe noch nie vorher auch nur einen Schilfrohrsänger gesehen, noch nie.

Erst seit ich neulich den einen gesehen und erkannt habe, sehe ich auch die anderen. Es ist so einfach, sie zu sehen. Ich müsste jetzt schon absichtlich an ihnen vorbeisehen, um sie nicht … aber das geht ja gar nicht. Sie sind nun einmal da, und vermutlich waren sie auch all die Jahre vorher da, ich habe sie schlicht nicht beachtet.

Was mich zur Frage führt, wie deckungsgleich eigentlich das so passiv wirkende Unwissen und die so aktiv wirkende Ignoranz sind – und was das alles erklärt. Da auch mal drüber nachdenken.

***

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6 Kommentare

  1. Bibliotherapeut ist inzwischen sowas von out. Inzwischen ist „shared reading“ landauf- und landabwärts angesagt. Der Grundkurs für den Facilitator dauert 21 Stunden. Mit etwas mehr als elfhundert Euronen sind Sie dabei.

  2. „wie deckungsgleich eigentlich das so passiv wirkende Unwissen und die so aktiv wirkende Ignoranz sind“

    ach , lieber Herr Buddenbohm,
    dieser Beitrag ist so wundervoll beschrieben . . .
    nur mit dem letzten absatz komme ich nicht klar.
    da habe ich eine verstehensfrage.
    worauf bezieht sich das „wirkende“ ? ich kann es, für mich, mind. nach zwei seiten interpretieren – und beide erscheinen mir im kontext dennoch nicht richtig, passend, treffend.

    wirkt es nach innen, in den eigenen gedankenfluß?
    oder wirkt es nach außen, in die wahrnehmung dritter?

    mich verwirrt diese Überlegung.
    Können sie mich aufklären?

    vlt. ist es aber noch zu früh am tage heute, und der zweite Pott Kaffee wirds schon richten . . .

    Ihnen allen wünsche ich weiterhin schöne Urlaubstage.
    grüße von der anderen seite, von der Schlei

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