Maritime Möglichkeitsluken

Ich lese am Abend die Nachrichten nach, jemand sagt da gerade irgendwas von einem Möglichkeitsfenster. Ich sehe hoch und aus dem Fenster hier, ob das wohl so eines ist? Und gibt es auch Möglichkeitstüren oder -klappen, gibt es draußen auf der Nordsee, wo der Wind endlich nachlässt, maritime Möglichkeitsluken, die man tatendurstig aufstoßen kann?

Vor dem Fenster das üppige Grün, die Bäume, die Weiden und Äcker. Weiter hinten grast eine Reitmöglichkeit. Alles als Potential betrachten! Auch die unreifen Äpfel am Baum lassen, als Wette auf die Zukunft. Möglichkeitsobst. Alles langsam kommen lassen.

Ich mache Twitter auf, ich sehe Werbung für chinesische Industriegebiete. Vielleicht für den Fall, dass ich gerade eine Fabrik irgendwo hinstellen möchte, wie früher ein Haus oder Hotel bei Monopoly? Ach komm, eine geht noch, na gut, nach China. Und dann zurücklehnen, wieder würfeln und warten, was die anderen machen. Guck an, sie ziehen Ereigniskarten und treten an Möglichkeitsfenster, so geht das Spiel.

Ich schalte diese Werbung stumm, es kommt aber gleich die nächste, die wirbt für ein anderes chinesisches Industriegebiet. Nochmal nachdenken, immer alles ernst nehmen, was sich so aufdrängt. Neulich sah ich dort auch die Werbung eines Rüstungskonzerns. Vielleicht für den Fall, dass ich beim Themenbereich Artillerie ein Spontankäufer bin? Kann ja sein. Kann ja alles sein. Es wird sich doch bei allem jemand etwas gedacht haben. Was wäre das sonst für eine Welt.

Die Reitmöglichkeit geht währenddessen rechts aus dem Bild.

Ein schönes Fotoprojekt für diesen Sommer wären Desinfektionsmittelspender in allen Stadien des Verfalls gewesen. Wie die sämtlich leer, beschädigt, vergessen, vernachlässigt, ignoriert noch an den absurdesten Orten hängen, auch hier mitten im Stall. Ein Fotoalbum nur mit solchen Bildern, Desinfektions-Tristesse. Beim Discounter in der Nähe ist noch einer in Betrieb, heil und voll ist er, dicht neben ihm nimmt man sogar im Vorbeigehen den Duft des Desinfektionsmittels wahr, es riecht nach Herbst 21. Das ist sehr lange her.

Das Folgende können Sie ignorieren, wenn Sie mir auf Twitter ebenfalls folge, ich habe das dort auch schon gepostet. Eine kleine Begebenheit von gestern ist es nur.

Wir waren auf Sylt, mit der Bahn (der Zug war pünktlich). Wir sind mit dem Bus dann noch ganz in den Norden der Insel gefahren, nach List. Da war ich vor, was weiß ich, 27 Jahren oder so schon einmal, und ich wusste noch, ich fand es gut da. Das wollte ich noch einmal sehen. Wir gingen an den kleinen Strand neben dem Hafen.

Die Söhne sehen, wie vermutlich alle Teenager, permanent aufs Handy, wenn man nicht fortwährend interveniert. Die Söhne bekommen bei Ausflügen von Bahn- und Busfahrten nicht viel mit.

Wir saßen also in List am Meer. Es ging ein nur noch milder Wind, es war eine überaus angenehme Temperatur, während es im Rest des Landes heiß wurde. Es war ein sehr entspannter Tag, sehr friedlich, sehr weit weg von allem. Großartig war das.

Es war leer und schön dort. Ein rotweißer Leuchtturm in der Ferne, eine rotweiße Fähre, ein blaues Meer, weiße Möwen. Ein Sohn aber wirkte die ganze Zeit auffallend nachdenklich.

Schließlich fragte er, was ihm die ganze Zeit keine Ruhe ließ, den Kopf hat er sich zerbrochen, lange hat er darüber nachgedacht: „Papa. Ich weiß, wir sind Zug gefahren. Wie können wir jetzt auf einer Insel sein?“

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Eine etwas schmuddelige Veranstaltung

Ich lese Robert Louis Stevenson, Das Licht der Flüsse. Deutsch von Alexander Pechmann, hier eine Rezension dazu. Das ist Stevensons Erstling und vom Stil her etwas, das man heute zwischen Reiseblog und Kolumnenserie einsortieren würde. Dass er schreiben konnte, ist auch in diesem Buch schon nicht zu überlesen. Der hoffentlich große Freundeskreis Stevenson kann sich über zwei Stellen freuen, die auf spätere Werke verweisen, zum einen bei seiner Begeisterung für Landkarten (Die Schatzinsel) und bei einer bemerkenswert modern wirkenden Betrachtung über verschiedene Ich-Zustände (Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde).

Ich mochte besonders eine Umschreibung des Alltags, Stevenson spricht da von der „bärenhaften Umarmung der Gewohnheit“. Den Ausdruck mal merken.

Und dann noch eine kleine Passage für alle, die während einer Reise im E-Mail-Account ihrer Firma eingeloggt bleiben, wie es immer häufiger zu erleben ist, gerade jetzt, wo das Home-Office bis an die Strände und in die Berge und sogar bis zu fernen Inseln reicht. Stevenson hat schon in den späten Siebzigern des Neunzehnten Jahrhunderts, als der Individualtourismus gerade erst erfunden wurde, ganz richtig festgestellt:

„Niemand sollte auf einer Reise Korrespondenz führen. Es ist schlimm genug, dass man schreiben muss, aber Briefe zu erhalten ist der Tod jeglichen Urlaubsgefühls.“

Recht hat er gehabt, aber zu der Erkenntnis müssen viele wieder neu kommen.

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Wir waren ein paar Stunden am Strand von Sankt Peter-Ording. Ein paar Stunden reichen uns dort meistens, wir sind keine Strandfamilie. Das Wetter war aber auch nicht ganz danach, Reste der Oktoberfrische des letzten Sturmtiefs waren noch in der Luft.

Über dem Strand von Sankt Peter-Ording war so dermaßen viel weißblaues Oben, dass man trotz der unweigerlichen Wimmelfülle von Menschen um uns herum dennoch ein Gefühl von Weite und Leere hatte, ein immer wieder faszinierender Effekt.

Der Wind, der Wind, immer der kalte Wind, ohne Strandmuschel ging es nicht. Man brauchte einen Schutz, ohne konnte man dort unmöglich liegen, man brauchte irgendetwas, dass man aus dem Wind und mindestens halb in die Sonne drehen konnte. Natürlich brauchten diesen Schutz alle, was wieder dieses merkwürdig futuristisch wirkende Bild ergab, ein schier endloser Strand voller Plastikhalbkugeln in Neonfarben und allen Stadien der Buntheit, aus denen eingeölte Körperteile in den weißen Sand ragten. Tausendfach, unabsehbar, kilometerweit. Wie anders dieses Stranderlebnis im Vergleich zu den Strandtagen meiner Kindheit ist, das ist kaum noch zu erklären und wird für deutlich jüngere Menschen schwer vorstellbar sein. Wir damals in der aus heutiger Sicht seltsam unfrohen Bademode, die Frauen und Mädchen mehrheitlich oben ohne, die meisten Erwachsenen lässig rauchend und Kippen in die Gegend werfend, nicht eben wenig auch mit Alkohol dabei, und alle, alle waren wir durchweg dunkelbraun verschmort oder krebsrot – es ist doch mittlerweile verdammt lange her, auch kulturgeschichtlich. Aus heutiger Sicht waren wir eine vielleicht etwas schmuddelige Veranstaltung. Und nicht einmal der dick wabernde Geruch von Delial ist uns durch die Jahrzehnte erhalten geblieben. Delial bräunt ideal, an jedem Kiosk stand das damals auf einer gelben Werbefläche mit eingelassenem Thermometer, natürlich nach Süden ausgerichtet.

Heute sind all die kugeligen Windschutzdinger selbstverständlich grellbunt, die Badebekleidung ist es auch. Sogar die dunklen Pfähle im Sand haben Markierungen in leuchtendem Neon-Orange und oben, die vielen, vielen Lenkdrachen, sie knallen genauso. Wenn man über den Strand geht, gerät man leicht zwischen die Strippen der Drachen, überall lässt jemand gerade so ein Gerät steigen. Windschutzkugeln, , Neonfarben und Sportdrachen, ich liege auf dem Rücken in meiner Mupfel und lese und fremdele.

Die Söhne ziehen lieber einen Strandabschnitt weiter, wo sie andere Menschen vermuten, die sie für nennenswert interessanter als ihre Eltern halten, das ist gut und richtig und altersgerecht. Ich liege und lese, was soll man am Strand auch sonst machen. Ich schlafe ein, das ist die Erlösung. Erst am Abend, als wir längst wieder woanders sind, fällt mir auf: Ich habe das Meer gar nicht gesehen.

Ob es wohl da war?

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Von irgendwoher ruft ein Kuckuck

Das Wetter auf Eiderstedt ist streifig. In dem einen Moment ist es grau und von so ausgesprochen oktobriger Temperatur und Nässe, dass sich die zahlreichen Meldungen und Warnungen bezüglich Hitze und Dürre in sämtlichen Medien etwas absurd lesen, es muss da um einen anderen Kontinent gehen. Im nächsten Moment reißt es plötzlich auf, die Temperatur steigt in der Sonne sprunghaft, schultintenblauer Himmel präsentiert sich mit dezent weißem Flor, nur an den Rändern wird er weiterhin oder schon wieder dunkelgrau heranstürmend bedrängt, und wie gut das aussieht. Weil der Himmel hier immer gut aussieht, quasi Hauptvorteil dieser Gegend. Ich vertreibe mir die Zeit als Max-guck-in-die-Luft, und das ist sehr gut so.

Im Wohnzimmer neben dem Tisch mit dem Notebook ein Fenster, das ist von außen mit Weinlaubvignetten bewachsen, die in der immer wieder durchbrechenden Sonne frisch grün aufleuchten. Silbrige Spinnenfäden kreuz und quer davor und wenn man an die Scheibe herantritt, sieht man außen in den unteren Ecken, rechts und links, zwei genau gleich aussehende und ausgesprochen edel geformte Vogelnester auf den Ziegelumrandungen der Fenster, elegante Halbkugeln mit feinster Moos- und Flaumpolsterung, derzeit unbewohnt, obwohl in bester Lage. Aber diese Symmetrie der Gebilde, dieses intensive Grün, diese überaus lässigen Kurven der feinen Weingirlanden, diese funkelnden Glitzerfäden … Man könnte glatt noch einmal auf den Jugendstil kommen.

Ich lese, ich schreibe, ich sehe aus diesem Fenster, ich finde das überaus unterhaltsam. Oben nur ein kleines Stück Himmel, das Fenster ist wirklich fortgeschritten zugewachsen. In den alten Apfelbäumen davor schlagen aprikosengroße Äpfel im Wind wild aneinander und fallen früh. Ich sehe dezentes Rot auf den Äpfeln, ich sehe oben Blau, ich sehe Grün – und dann steht da auf einmal ein riesiger Greifvogel im Blau, genau in dem kleinen Stück, das ich sehen kann. Steht da oben wie angeschlagen, zur ausgiebigen Betrachtung freigegeben.

Aus einem anderen Fenster sehe ich Windkraftanlagen am Horizont und bin mir nicht sicher, ob ich die von hier aus immer schon sehen konnte. Vielleicht sind sie neu? Waren die im März denn wirklich auch schon da? Oder wurden sie schnell hochgezogen wegen der Weltlage, die Mühlen der anzustrebenden Unabhängigkeit? Na, das ist nur ein bemüht konstruktiver Gedanke, ich weiß. Aber besser als nix.

Ich gehe raus, ich gehe spazieren, ich sehe zum ersten Mal einen Schilfrohrsänger. Wie im Vogelbestimmungsbuch hängt er an einen langen und stark schwankenden Halm gekrallt und singt beeindruckend laut. Verstummt dann, als er mich sieht und taucht geräuschlos ab ins Schilfdickicht. Von irgendwoher ruft ein Kuckuck, der Wind trägt es mir zu. Ich habe seit Jahren keinen Kuckuck mehr gehört, ich bin zufrieden mit den Ereignissen des Tages.

Ein Lamm kommt vorbei, während ich im Strandkorb sitze. Es stupst mich fordernd an, es möchte gekrault werden. Das kann man als Mensch nicht, denke ich. Mal eben Fremde anstupsen, wenn man gekrault werden möchte, und dann nach drei Minuten einfach grußlos weitergehen, als sei es ein vollkommen unverbindlicher Vorgang gewesen. Sich nicht einmal den Menschen merken, nur weitermachen.

Das Buch neben mir ist von Edith Wharton, Das Riff, Deutsch von Renate Orth-Guttmann. Edith Wharton habe ich mir für Urlaube aufgespart, und das war eine gute Idee, denn ihre Bücher sind exzellent, meisterhaft, genau wie erwartet. So viel Feinheiten auf einer Seite. Ich komme nur langsam voran, aber das macht nichts.

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Ohne jeden Zusammenhang, ich fand diese Übersicht bei der Republik zu Long-Covid gut lesbar und interessant. Die Republik ist immer wieder empfehlenswert.

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Währenddessen in den Blogs, Ausgabe 16.7.2022

Eine neue Monatsnotiz von Nikola, dann ist wohl zwischendurch schon wieder ein Monat vergangen. Wer soll da noch mitkommen.

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Ein technischer Hinweis zum Datenschutz für Bloggerinnen und Blogger, es gibt eventuell etwas zu tun.

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Ich habe für das Goethe-Institut etwas über Gemeinschaften, Arbeit und Teams geschrieben.

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Es ziehen Schauer übers Land

„Es ziehen Schauer übers Land“, so steht es im Wetterbericht, und es klingt nach Lyrik oder wenigstens nach Volkslied:

Während ich die Liebe fand

zogen Schauer übers Land

Humtata, repeat zwo drei

Es wird doch gerade allgemein über Songtexte debattiert, nicht wahr? Ich habe die entsprechenden Artikel nicht gelesen, ich habe nur die Schlagzeilen gesehen, das reichte mir schon. Ich muss mich nicht für alles interessieren, schon gar nicht im Urlaub. Neulich habe ich, fällt mir dabei ein, auf Spotify einen Roman gehört, in dem es um russische Aussiedler in Deutschland ging, um ein eher sauberes und eindeutig feuilletontaugliches Thema also, aber die Autorin wurde, ich vermute eine schwere Fehlfunktion der Algorithmen, von Spotify in Richtung Porno klassifiziert, eine für sie sicher äußerst unangenehme Situation.

Unter „Ähnlich wie …“ bekomme ich jetzt jedenfalls Vorschläge, also man macht sich keinen Begriff. „Ein Sommer ohne Höschen“ ist noch harmlos. Oder das mich vom Titel her erheiternde „Sommersex – Mach‘s mir im Garten.“ Gib mir Unkrautnamen, denke ich und gehe bemüht kultiviert zu Maupassant über, Boule de suif, heute noch ein Meister- und Lehrstück über Stimmungsänderungen in Gruppen und soziale Ausgrenzung, geradezu gruselig gut ist es. Wie überhaupt der ganze Maupassant noch süffig les- oder hörbar und oft sogar noch gültig ist, siehe etwa auch Tschechow im Russischen, so etwas haben wir im Deutschen wohl nicht. Fontane, Storm oder Raabe jedenfalls haben nicht diese erhalten gebliebene Leichtigkeit des Tonfalls.

Draußen immer noch und immer wieder der stürmische Wind. Eine Schwalbe startet aus dem Nest und bleibt in einer Böe über dem Dach der Scheune kurz stehen, es geht nicht weiter, es kommt ihr einfach zu viel Luft entgegen. Dann kehrt sie um und fliegt schimpfend zurück zum Nest, keine Schwalbe möchte man vor die Tür jagen in diesen Stunden. Ein Schmetterling wird quer über den Hof katapultiert. Es ist mir ein Rätsel, wie Schmetterlinge es bei ihrer Körperkonstruktion schaffen, bei starkem Wind noch zu fliegen. Wieso werden sie nicht Sekunden nach dem Start gegen irgendwas geklatscht und zermatscht, wie steuern sie die wilde Fahrt?

Die Herzdame geht über den Hof, bückt sich und streichelt das Lamm, das dort unverzagt grast. Dem Lamm ist der Wind vollkommen egal, auch die heute eher spätherbstliche Temperatur, es trägt ordentliches Outdoorzeug. In der üppigen Wolle des Schafes aber haben sich Dornen verfangen und die kraulende Herzdame schreit auf, zuckt zurück und besieht sich einen ihrer Finger, von dem Blutstropfen märchenhaft rot ins Gras herabfallen. Sie hat sich an einem kuscheligen Lamm gestochen, das muss man auch erst einmal schaffen. Ich nehme es selbstverständlich als erneuten Beleg ihrer Prinzessinnenhaftigkeit, so viel Märchenland muss sein.

Ein paar Meter weiter ringt ein kleiner Junge mit seiner etwas größeren Schwester um einen leeren Eimer, den eines der Kinder zuerst hatte und unbedingt behalten will, was wohl nur mit Gewalt zu klären ist. Sie schlägt ihn, er tritt sie schließlich, sie fällt hin, in einiger Entfernung zu ihrem Kopf liegt ein großer Stein als Wegmarkierung. Sie zeigt empört darauf: „Davon kann man sterben!“ Der Junge besieht sich die Entfernung, schüttelt energisch den Kopf und sagt: „Davon sterbst du nicht.“

Das hätte ich zur Herzdame mit dem blutenden Finger selbstverständlich auch sagen können. Aber es ist jetzt zu spät und ich möchte ohnehin Freundlichkeit vorziehen, wann immer es mir möglich ist.

Das Lamm kackt, der Hund kommt und frisst auf, was da dann liegt. Kreislaufwirtschaft, denke ich kenntnisreich, das ist auch schön und wichtig.

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Beaufort sieben bis acht

Der Kies knirschte unter den Reifen als wir auf den Hof mit den Ferienwohnungen einbogen und parkten. „So“, sagte ich, und „Oh, schon da“, sagte ein Sohn, sah überrascht von seinem Handy hoch und irritiert nach draußen, eben war da doch noch Hamburg. Man hätte unseren Gesichtern vermutlich ansehen können, dass wir nicht zum ersten Mal hier hielten. Es fehlte uns diese gewisse Unsicherheit, Neugier, Skepsis und Vorsicht, die man bei ersten Malen hat. Es fehlte dieses minutenlange Stehen und Gucken, mit dem Touristen in aller Welt Einheimische in den Wahnsinn treiben. Es lief alles eher routiniert ab und die Jungs stiegen aus, öffneten den Kofferraum und fingen ohne Nachfragen an, die Sachen in die Wohnung zu tragen, also gefühlt wie immer den halben Haushalt.

Wir waren gut durchgekommen. Das ist eine Wendung, die im deutschen Smalltalk von erheblicher Relevanz ist, es ist alles gut, wenn man gut durchkommt. Als müsse man sich durch enge Autobahnen zwängen, so klingt das, es ist im Grunde ein ganz falsches Bild. Wie immer war es so, dass die lokalen Medien voller Warnungen waren, an den Tagen vor unserer Abreise und dann im Crescendo bis zum Tag des Aufbruchs, überall waren Warnungen, fahrt nicht, fahrt anders, fahrt später oder früher. Es waren rekordmäßige Staus vorhergesagt worden, die sollten von der Großstadt bis an die Küste reichen und an den Ausweichstrecken und Umleitungen liefen sich die ADAC-Propheten mit den großen „Kehret um!“-Schildern schon warm.

Wie immer war dann aber gar nichts und die Fahrt verlief eher so, als hätten nur wir diese höchst spezielle Idee gehabt, Richtung Nordsee zu fahren, als sei das sonst eher nicht so üblich. Lediglich den absurden Stau zwischen unserer Garage und der ersten Ampel, in dem wir immerhin eine nervtötende halbe Stunde standen, der am Hamburger Triathlon lag und meine Aversion gegen Großveranstaltungen aller Art weiter verfestigte, den hat natürlich niemand vorhergesagt. Vor dem Großen wird laut und sinnlos gewarnt, doch im Kleinen erwischt es dich dann hart und überraschend. Man darf hier Tiefsinn vermuten, aber ich kann auch nicht immer über alles nachdenken. Schon gar nicht im Urlaub.

Ich begrüßte den Hofhund, den ich schon seit seiner Welpenzeit kenne, und nahm gefasst zur Kenntnis, dass die Katzen sich nicht einmal nach mir umdrehten. Sie hatten gerade keine Zeit, denn sie waren intensiv damit beschäftigt, in exakt paralleler Körperhaltung eng nebeneinander zu dösen. Eine Beschäftigung, in der sie es zu großer Kunstfertigkeit gebracht haben, sie beherrschen auch das unmerklich abgestimmte Umdrehen in Perfektion, ich beobachte es schon seit Tagen staunend. Sie machen nennenswert mehr Nickerchen als ich, das will im Moment etwas heißen, und ich bin überhaupt nicht geübt darin, mit der Herzdame in synchronisierter Haltung zu liegen. Bei Katzen sieht das definitiv gut aus, ich weiß nicht recht, wie es bei uns wäre.

Dicht über uns die Schwalben, von denen ich etliche vielleicht schon aus dem Vorjahr kannte. Aber es war da so ein Durcheinander am Himmel, ich hätte mich nicht festlegen wollen. Und auch die Schwalben hatten keine Zeit, keine Zeit, sie jagten wie immer nur so durch ihren Tag.

Auf der Weide gegenüber standen Schafe mit ihren Lämmern. Groß sind sie geworden, und bei einigen von ihnen waren wir bei der Geburt im März dabei.

Es war kühl, es kam Wind auf, es war Pulloverwetter, Wir kamen aus unserer wie in jedem Sommer stark aufgeheizten Dachgeschosswohnung, wir kamen aus dem Garprozess der urbanen Hitzewellen, wir fanden das also erst einmal gut, das mit den Wolken und dem Wind, wir atmeten.

Beaufort sieben. „Grobe See“ heißt es da in der Beschreibung, bei Beaufort acht steht dann aber nicht „saugrobe See“, obwohl das irgendwie passend klingen würde. Beaufort sieben bis acht. Die See kann man von hier aus nicht sehen, es sind noch etliche Kilometer bis zum Meer, wir hörten nur den Wind und den Sturm und ahnten, wie grob es da draußen zuging.

Auf der Leine hinterm Haus wehten die Laken, wie Segel stramm im Wind. Darunter ein grasendes Lamm, das uns kurz ansah und fragend „Mäh?“ blökte, und da habe ich es wieder deutlich gemerkt – man hat längst nicht auf alles eine passende Antwort.

Aber das muss man auch nicht. Schon gar nicht im Urlaub.

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Für mich den knirschenden Kies

Ich lese Jane Gardam, das Mädchen auf den Felsen, Deutsch von Isabel Bogdan, deren Blog nicht mehr ganz so aktiv ist, um es dezent auszudrücken. Andere Leute kommen auch zu nichts, ich will es tröstlich finden.

Das Buch gefällt mir jedenfalls sehr gut. Ich werde, das kann ich glaubhaft nach der ersten Hälfte beschließen, auch den Rest der Gardam lesen. Ich verliebe mich etwas in die Formulierung “keine Hobbys beschmutzten den Haushalt“ und freue mich noch Stunden später darüber, so soll das Lesen sein. Das Mädchen auf den Felsen ist allerdings schmal und schnell gelesen, ich habe dummerweise gerade keine anderen Gardams in Griffweite und greife daher zu Elizabeth Bowen, zu Kurzgeschichten von ihr. „Sommernacht“ heißt der Band, Deutsch von Sigrid Ruschmeier. Und wenn Sie mal einen wirklich sensationell gelungenen Übergang zwischen zwei Büchern hinbekommen wollen, was ich übrigens für eine stark unterschätzte Kunst halte, dann lesen Sie Bowen nach Gardam, es wird ein spektakulärer Erfolg sein. Als würde man nacheinander zwei Pralinen aus derselben Schachtel essen, als würde man die Werke von Schwestern lesen.

Ich befinde mich auf Eiderstedt, ich lese englische Bücher. Sie spielen zu Zeiten, als Geschichten noch damit begannen, dass Autos, die man sich heute als prächtige Oldtimer vorzustellen hat, auf dem knirschenden Kies vor Herrenhäusern hielten, was man auch aus Filmen sattsam kennt, genau diese Sequenz, tausendfach wurde sie gedreht und beschrieben und ich lese also wieder einmal davon. Der Kies knirscht, der Wagen hält und in dem Moment, in der Sekunde, in der ich mit den Augen über diese Zeile fliege, knirscht der Kies vor dem großen Bauernhaus, in dessen Dachkammer ich gerade liege, und ein Wagen fährt vor. Ein Moment von erheblicher Schönheit ist das. Der Schlag klappt, Schritte auf dem Kies, Hühnergackern im Hintergrund, noch weiter weg steht dunkel rufendes Vieh auf der Weide, zwei Atemzüge Pause, dann setzt die Nachtigall ein.

Dafür mache ich Urlaub, glaube ich, hauptsächlich für so etwas.

Dann fällt mir ein, dass ich den knirschenden Kies auch nehmen kann, um hier demnächst weiter zu erzählen, auch wenn das Blog kein Roman ist und auch keiner werden wird, den knirschenden Kies gibt es doch und ich sitze als Autor vor einer Speisekarte mit möglichen Anfangssequenzen, überlege etwas und sage dann zu dem heraneilenden Kellner: „Für mich zuerst den knirschenden Kies, bitte.“

Denn auch als wir hier ankamen, auf dem Hof auf Eiderstedt, bogen wir auf eine Kiesfläche ein, knirschte es unter den Reifen, und genau da will ich also in Kürze fortsetzen. Sobald ich dazu komme und die Kraft wieder reicht, diese Kraft, an der es mir immer noch mangelt.

Ich habe mit etlichen Menschen gesprochen, die Corona hatten, es besteht ja kein Mangel an Gelegenheiten, es ist im Moment eher eine Überfülle vorhanden, alle hatten es gerade, haben es gerade oder bekommen es heute noch. Viele berichten von bleibender und bleierner Müdigkeit, von Schwäche und Erschöpfung, viele berichten, detailliert sogar, was sie alles wie lange nicht konnten. Bei mir ist es etwas anders. Ich glaube, ich kann alles (diesen Satz lieber nicht aus dem Zusammenhang reißen). Also theoretisch zumindest kann ich alles. Körperliche Kraft hätte ich wohl, mir fehlt nur komplett und ich denke sogar in einem mir bisher unbekannten Ausmaß jeglicher Antrieb, ich denke fortwährend, hauptsächlich und in Bezug auf alles: „Nein.“ Da ich Corona hatte, kann ich es einfach darauf schieben, das ist praktisch und entlastend. Wochenlang kann das dauern, so lese ich bei anderen, die mir vorausgingen, und mit Long-Covid hat das noch nichts zu tun, das immerhin. Vermutlich liegt dieser Urlaub als Zeit der Rekonvaleszenz also recht praktisch im Kalender herum. Das war nicht geplant, aber es geht gut auf, möchte ich annehmen.

Ich gehe spazieren. Ich gehe zwei Weiden weit, ich denke „Ach, reicht auch.“ Dann denke ich: „Mist, jetzt noch alles zurückgehen.“ Ich stehe unmotiviert in der Landschaft herum, Kühe sehen mich an. So in etwa fühlt sich das an.

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Ihr geht da einfach so längs

Im letzten Text hatte ich einen Absatz über das Wort „offenbar“, von da aus kam ich assoziativ erheblich auf Abwege, die ich nicht mehr rekonstruieren kann. Ich las Unmengen seltsames Zeug und landete schließlich bei Aphrodite’s Child. Eine Band des Progressive Rock war das, man kennt heute noch zwei der Gründungsmitglieder mit späteren Superstarkarrieren verschiedener Ausprägung, nämlich Demis Roussos (noch schlank und in Hosen zu der Zeit) und Vangelis. Von dieser Gruppe gibt es ein Konzeptalbum, „666“, das ist die Vertonung der Offenbarung des Johannes, man hatte damals nicht unerheblich Anspruch. Es ist nicht eben die eingängigste Musik, es ist aber sicher ein interessantes Stück Rockgeschichte, da kann man einmal hineinhören, auf Youtube findet man etwa „The four horsemen“. Musik für den späteren Abend, sie musss etwas lauter sein, man hört sehr gut, so meine ich, wie spannend die Epoche musikalisch war. Und es hat auch etwas, heute noch.

Beim weiteren Klicken in diesem Kontext blieb ich bei dem folgenden Video der Band hängen, das ich ganz und gar großartig finde. Es ist das vielleicht schlumpfigste Musikvideo, das je gedreht wurde. Wie unmotiviert kann man denn bitte durch eine Landschaft stapfen? Wie ostentativ kann man beim Dreh erst einmal eine rauchen, wie vollkommen sinnlos biegen sie zum Schluss auf das Feld ab, wie unmotiviert latschen sie durchs Gemüse ins Ungewisse?

Man muss sich die Szene vorstellen, die diesem Video voranging, wie irgendwer sie zu diesem Dreh mühsam überredet hat, ihr geht da jetzt einfach so längs, versteht ihr, ihr geht einfach, ganz entspannt, wir haben keine Zeit für mehr Aufwand und auch kein Geld. Wie sie dann, mit erheblichem Restalkohol oder Schlimmerem im Blut, zurückgefragt haben, ob wohl noch alle Tassen im Schrank seien, einfach da auf dem blöden Feldweg oder was, und Demis singt dann dabei, eh klar, aber was machen wir bitte, in die Landschaft gucken, spaziergangsmäßig, geht‘s noch? Und dann kam also das dabei heraus, ich kann es mir immer wieder ansehen.

Es wäre für die Musikgeschichte bedauerlich, aber sonst doch sehr faszinierend, wenn sie nach 3:12 schließlich verschollen wären. Niemand hat jemals wieder eine Spur von den Dreien gefunden, sie verschwanden dort in dem Wäldchen, mehr weiß man nicht, nur eine Pfeife fand man später, längst war sie erkaltet.

Mir ist das alles jedenfalls sehr sympathisch.

Rain and tears are the same

But in the sun you got to play the game

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Klappklappklapp

Ich packe einen Koffer und tragen ihn in die Garage zum Auto. Die Garage ist bei uns großstadtbedingt ein paar Häuser weiter, nicht alles ist hier so bequem wie im Einfamilienhaus mit Carport. Ein Nachbar, auch Vater von zwei Kindern, kommt ebenfalls gerade mit einem großen Koffer aus seinem Haus, er geht auch zu dieser Garage, in die gerade noch ein weiterer Mann geht, den ich zwar nicht kenne, aber auch er hat einen Koffer dabei und das Paar dort vor uns, die haben drei Koffer, und die Frau hinter uns trägt gebückt einen überdimensionierten Rucksack. Wir gehen alle zu unseren Autos, wir haben alle Gepäck dabei, wir laden alle schon einmal ein, wir machen, was man so macht, wir machen, was alle machen. Autotüren gehen auf und zu, das geht klappklappklapp und hallt durch diese riesige Garage mit hunderten von Plätzen. Das satte Schmatzen der nagelneuen SUV-Türen, das eher blecherne Geräusch unseres mittlerweile uralten Familienautos. Koffer werden gewuchtet, schweres Stöhnen höre ich von Ebene -1 und Ebene -2, dann ein Schnaufen und ein Schieben, ein Drücken und Pressen, alles muss irgendwie passen, es passt ja immer irgendwie, das weiß man doch aus den Vorjahren, also gut, dann eben versuchsweise den anderen Koffer zuerst und nach unten. Wie haben wir das denn bloß gemacht?

Dann klappen die Türen wieder, wir gehen alle zurück in unsere Wohnungen und fühlen uns wahnsinnig individuell mit unseren ganz eigenen Plänen für die nächsten Tage. „So ein Ich hat irgendwie jeder“, heißt es bei Rühmkorf, es ist lange schon eine meiner Lieblingszeilen von ihm. So ein Ich hat irgendwie jeder, so ein, zwei, drei Urlaubswochen auch, und zwar jetzt. Wir machen weiter, wir machen ein wenig mit, und warum auch nicht.

Ich habe so viele Bücher dabei, dass die anderen hier mich für irre halten. Das ist gut so, denn dann weiß ich, es sind vielleicht genug. Man muss doch welche desinteressiert weglegen können, nach nur zehn oder zwanzig Seiten! Erst das schafft dem Leser Freiheit.

***

Auf Twitter sind mir in der letzten Woche mindestens drei ultimative Aufforderungen begegnet, Drohungen waren es eigentlich eher. Eine ging in die Richtung: „Wenn Du X folgst, dann blockiere ich Dich“, bei einer ging es um richtige Wortwahl, also „Wenn Du das Wort X schreibst, dann folge ich Dir aber nicht mehr“, und bei einer schließlich um ein Stilmittel, also „Wenn Du so schreibst, dann kannst Du mir aber nicht mehr folgen“. Nichts davon bezog sich direkt auf mich, aber es war doch so eine Woche, in der mir diese unverkennbar emotional hochkochende Schulhof-Stimmung in seltsamer Verbindung mit verknöchert puritanischen Zügen in den sozialen Medien zu unangenehm wurde, und ich bin sonst eher hart im Nehmen.

Da vielleicht doch einmal etwas Abstand gewinnen.

***

Ich habe ein Interview in der taz gelesen und ich habe eine Lieblingspassage, bei der ich mich nicht entscheiden kann, was ich faszinierter zur Kenntnis nehme, den politischen oder doch den journalistischen Aspekt:

„Es fehlt in unserem Land nicht am Geld.“

„Aha.“

***

Ist Ihnen auch aufgefallen, dass wir gerade eine Offenbar-Seuche in den Medien haben, die sich von Redaktion zu Redaktion schnell verbreitet? Achten Sie einmal auf Schlagzeilen, wie oft und was da alles als „offenbar“ beschrieben wird, und fast immer ist der Wortgebrauch nicht so, wie es meinem Sprachverständnis entspricht, fast immer also wird das Wort offenbar offenbar falsch verwendet, denn wenn man es beliebig streut, wird es komplett sinnlos und ersetzt jede eigene Recherche oder auch nur Prüfung, offenbar ist dann irgendwie alles.

Und offenbar ist der Text hier zu Ende.

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Eine Dankespostkarte

Rückseite

Ich habe zu danken für die Zusendung von „Der Tod in Rom“ vom ollen Koeppen, das wohl schon zur Herbstlektüre zu zählen ist, mir will Koeppen nicht recht wie ein Sommerautor vorkommen, dazu muss man ihn zu aufmerksam lesen. Was ich dann aber gerne mache und überhaupt Herbst, das ist ja quasi gleich und ich freue mich auf das Buch. Sommergeschenke gab es sogar auch noch, und zwar Lampions für den Garten. Die Herzdame, die beim Lampionverbrauch dezent verhaltensauffällig ist, ich erwähnte es bereits mehrfach, grüßt und dankt herzlich und sagt, genau die hätten ihr gefehlt.

Vorderseite

Eine etwa zweisekündige Bewegtbildsequenz mit Sound, damit kommen wir heute aus. Zu sehen gibt es eine Ampel an einer belebten, ausgesprochen urban wirkenden Straße, eindeutig haben wir hier eine Großstadtszene vor uns und wenn Sie aus einem Dorf oder einer Kleinstadt lesen, dann denken Sie sich genau das, was Ihnen zu Großstadt einfällt, wenn Sie es einmal halbwegs positiv sehen: Gewimmel der bunten Art, Straßencafés ein paar Meter weiter, Geschäfte mit vielfältigen Auslagen, eine Schule, aus der Kinder strömen, ausdrückliche Verkehrsvielfalt mit allen Arten von Fortbewegungsmitteln, darunter auch getunte Oldtimer, rote Stadtrundfahrtdoppeldecker, Elektromobile der futuristischen Art usw., hier ist etwas los. Zwei, drei Bäume sind auch im Bild, das ist hier eine halbwegs grüne Stadt. Die Ampel, wir sehen sie aus der Fußgängerperspektive, zeigt gerade Rot, links und rechts halten Autos, Elektroroller, Fahrräder, Scooterfahrer – und ein Lastenradfahrer, um den geht es jetzt.

Er hat einen großen Kasten vor sich, da wird wohl Material und Werkzeug drin sein, denn einer Beschriftung an der Seite können wir entnehmen, dass er für einen Handwerksbetrieb fährt. Das sieht man hier öfter, Handwerksbetriebe mit Lastenrad, das ist längst nicht mehr ungewöhnlich und auch nachvollziehbar, die kommen gut durch den sich überall stauenden Stadtverkehr, die können auch überall parken. Der Mann ist jung, groß und sportlich. Er wird Elektroantrieb am Rad haben, er sieht aber so aus, als würde er den gar nicht benötigen. Im oder am Kasten ist auch eine Box, und keine schlechte, aus der schallt es beeindruckend laut, sommerlicher Reggae. Es schallt sogar sehr laut. Der Fahrer trägt diese Frisur, die man der einen Künstlerin neulich so öffentlichkeitswirksam angelastet hat, aber das wollen wir bloß nicht vertiefen, ich halte nur eben fest, dass man die Dreadlocks ihm jedenfalls nicht anlasten würde, wenn ich alles richtig verstanden habe. Der Reggae könnte mit ihm eng verbunden sein, das weiß man aber nicht und es kann auch komplett falsch sein, denn man denkt da spontan immer Deutungen, die letztlich keinen Bestand haben können, wenn man nicht ausdrücklich nachfragt und viel mehr weiß, und wer würde schon nachfragen. Man muss sein Denken zur Ordnung rufen, pausenlos.

Das Wetter ist gut, die Sonne scheint, wir warten auf Grün, wir hören unfreiwillig aber angenehm überrascht Reggae. Und um uns herum: Wippen. Die beiden jungen Frauen da drüben auf der anderen Straßenseite machen angedeutete Tanzbewegungen, sie sind kaum zu erkennen. Die Mutter dort mit ihrem Kleinkind auf dem Arm hüpft schon eindeutiger und lacht dabei, weil das Kind auch laut lacht. Der junge Mann, der auf seinem Rennrad am Ampelmast lehnt: Auf den ersten Blick unbewegt, auf den zweiten Blick trommelt er allerdings Rhythmen an den Mast, mit den Fingern der Hand, mit der er sich abstützt. Der Dönerverkäufer, der gerade aus seinem Imbiss kam und etwas an den Tischen vor seinem Laden herumräumt, nickt im Takt und grinst, und die Rentnerin, die modisch auffällt, weil sie viel bunter als andere daherkommt, wiegt sich in den Hüften und strahlt: Sommer, Sonne, Reggae. Eine Hamburger Straßenszene in immerhin angedeuteter Ausgelassenheit, kurz mal die Vibes durchrollen lassen, wenigstens bis es Grün wird, und der Bass wummert kraftvoll durch die Hanseatenhüften. Nur der Mann auf dem Rad, der Mann, der diese Musik laufen lässt, der verharrt vollkommen starr und sieht ausgesprochen schlecht gelaunt aus, während um ihm herum so willig und entgegenkommend reagiert wird. Der ist aber auch auf der Arbeit, wenn man drüber nachdenkt, der macht da nur seinen Job, und wenn ich meinen Job mache, dann wippe ich auch nicht herum.

Zwei Sekunden Reggae. Dann tritt er in die Pedale und fährt weiter, und das Publikum stellt die auffälligen Seitwärts-Bewegungen der Körpermitte wieder ein und geht einfach nur über die Ampel. Es gibt nichts zu sehen, es gibt nichts zu hören, bitte weitergehen.

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