Währenddessen in den Blogs, Ausgabe 17.3.2022

Über Idioten. Irgendwo auf Twitter stand auch das Wort „Testosterongehampel“, das schien mir passend. Das ist auch etwas, womit ich nicht gerechnet hätte, dass mir Testosterongehampel dermaßen prominent und wie ernst gemeint, wie eine ganz gewöhnliche Nachricht also, gleichberechtigt neben Meldungen über die Inflationsrate und Gesetzesvorhaben in den Tickern begegnet: „Musk fordert Putin zum Zweikampf“. Ich denke nicht, dass diese Zeile da per Naturgesetz ohne jede Einordnung in den Meldungen stand, ich halte es eher für ein deutliches Versagen, sie so zu bringen, das sind die Abgründe des Ticker-Journalismus oder überhaupt der Medien, an die ich immer öfter Anforderungen habe, die sie durchaus nicht mehr erfüllen.

Ich werde immer konservativer, haltungskonservativer, linkskonservativer, das ist das Alter und ich werde es wohl ausleben. Mit dem Krückstock fuchteln, wo es mir angebracht scheint.

Draußen sehe ich Vögel, bunte Gänse sind es. Sie sind so nah, ich kann sie sogar erkennen, es sind Nilgänse. Ich lese Nilgänse nach. Eine Nilgans hat damals, am Anfang von allem, das Weltenei gelegt, so lese ich, aus dem der Schöpfergott Amun als „Der große Gackerer“ hervorging. Das gefällt mir, denke ich, das ist ein schöner Begriff. Der große Gackerer. Ja, der hat alles gemacht. Eine dermaßen plausible Annahme ist das.

Ich lese Somerset Maugham: „Die halbe Wahrheit – keine Autobiografie“. Darin gleich am Anfang eine Passage über Politiker:

„An den bedeutenden Staatsmännern, die ich […] kennenlernte, vermochte ich keine herausragenden Fähigkeiten zu entdecken. Ich schloss daraus, vielleicht etwas voreilig, dass nicht besonders viel Intelligenz vonnöten sei, um eine Nation zu regieren. Seitdem habe ich in verschiedenen Ländern zahlreiche Politiker kennengelernt, die hohe Ämter bekleideten. Noch heute staune ich über ihre intellektuelle Mittelmäßigkeit. Ich fand, dass sie über die alltäglichsten Dinge des Lebens kaum Bescheid wussten und dass sie nur selten differenziert dachten oder eine lebendige Phantasie besaßen. Zeitweilig schien mir, dass sie ihr hohes Amt einzig ihrer Redegabe verdankten, denn es dürfte einigermaßen unmöglich sein, in einer demokratischen Gesellschaft an die Macht zu kommen, wenn man nicht imstande ist, das Ohr der Öffentlichkeit zu gewinnen.“

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Falls mir überhaupt jemals der Gedanke gekommen ist, dabei sein zu wollen, wenn Geschichte geschrieben wird: Ich revidiere diesen Wunsch.

Dieser Blogeintrag der stets lesenswerten Vanessa ist ein gutes Beispiel für eine naheliegende Entwicklung. Der Krieg kann nicht dauerhaft einziges Thema sein, das hätte auch keinen Sinn, aber er bricht doch überall und immer wieder durch. In so vielen Texten gerade ein Absatz, ein Halbsatz, eine Erwähnung. Die Blogs sind durchsetzt mit Krieg, alles ist durchsetzt mit Krieg. Natürlich auch mit Corona, aber eher nicht mit Klima, da haben wir übrigens wieder das Problem, das ganz große.

Hier auf Eiderstedt ist die Nachrichtenlage zunächst weit weg, es geht hier um andere Dinge. Es wehen keine blaugelben Flaggen in den Dörfern, es kleben keine Peace-Zeichen in den Schaufenstern, es gibt keine aktuellen Graffitis an den Stromkästen und Mauern. Es gibt auch keine Kneipen, in denen permanent Fernseher mit Nachrichten laufen, keine oder kaum Kioske, bei denen man im Vorbeigehen schon die Schlagzeilen sieht, die Ausrufezeichen, die Horrorbilder. Keine digital gesteuerten Leuchtreklamen mit wechselnden Bildern am Straßenrand, die zwischendurch auch Tickermeldungen anzeigen oder Spendenaufrufe einblenden.

Aber wenn man mit jemandem spricht, dann merkt man es doch. Nicht unbedingt direkt. Aber wie schon bei Corona, es ist diese erdrückende Unplanbarkeit, dieses allgegenwärtige „Man weiß ja nicht, was noch alles kommt“, dieses Abwinken, dieses Verstummen, wenn es um das Große und Ganze geht, dieses Nichtmehrvorausschauen, jetzt schon im dritten Jahr und mit neuen, deutlich erweiterten Problemen. Man sieht nicht mehr so gerne und schon gar nicht leichthin nach vorne, selbst bei der Planung der nächsten Urlaubswochen, bei der Buchung der nächsten Ferienwohnung kommt so ein eingeschobener Satz der Vorsicht, der Skepsis: „Na, wer weiß.“ Der Pessimismus, der Realismus, der Fatalismus, was auch immer.

Die Söhne sind im Stall, die Söhne sehen hier viel seltener aufs Handy, und wenn sie abends fernsehen, dann durchgehend alberne Comedyserien, die ich kaum aushalten kann. Das ist aber gut, denke ich, das ist bestimmt auch einmal gut für sie.

Ein Sohn kommt am Nachmittag aus dem Stall, er hat Stroh im Haar. Er hat Stroh überall, er hat Schafschiet an den Schuhen, ein durchdringender Geruch nach Scheune und Tier umgibt ihn, nach Pferd, Schaf und Mist. Das steht ihm alles sehr gut, finde ich, und sehe einigermaßen bemüht darüber hinweg, was er gerade alles auf dem Boden verteilt. „Was sind eigentlich thermobarische Waffen“, fragt er mich.

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Bei Nicole Diekmann geht es um den letzten Satz, aber man muss schon alles lesen, um es richtig würdigen zu können. Wer nicht auf Twitter ist, wird diesen Link vielleicht auslassen wollen.

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Sie können hier Geld in den allerdings nur virtuell vorhandenen Hut werfen, ganz herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber ganz klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch, die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel. Merci!

Die Auspizien des März

Ich gehe die Wege zwischen den Fennen entlang, von denen ich bis eben gerade dachte, dass sie mit V geschrieben werden. Warum eigentlich? Das Sprachgefühl ist auch so eine seltsame Sache.

Am ersten Graben, über den der Weg geht, steigt dicht neben mir ein Reiher auf, ein riesiger Vogel mit elegant gebogenem Hals, der gemächlich und fast geräuschlos losfliegt, ungemein lässig wirkt das, und er fliegt auch nur hundert Meter weit. Er lässt sich auf der Weide wieder nieder und sieht zu mir herüber, ob ich da bald mal vorbei bin oder was, ich störe nicht unerheblich, sagt sein Blick. Nicht weit von ihm entfernt sitzen etliche rastende Schwäne im Feld, Singschwäne werden es sein, die Schnäbel so hell. Weiter hinten Kanadagänse, der helle Streifen am Kopf, der dunkle Hals, und zwar ist es eine ganze Armee, wenn ich das Wort in diesen Zeiten einmal so friedlich gebrauchen darf. Sie haben einen ganzen Acker besetzt, sie ruhen sich dort ein paar Stunden aus, sie werden bald weitermüssen. Ganz still und unbewegt sitzen sie da, auf den ersten Blick sehen sie aus wie dunkle Steine, weit über das Feld gestreut.

Über ihnen ein aus Vögeln gebildeter Pfeil am Himmel, das ist eine andere Gänseart, nehme ich an. Erkennen kann ich es nicht. Da, noch ein Pfeil, und noch einer. Es ziehen Trupps quer über den Himmel. Pfeile, Geschwader, wilde Horden und auch sortierte Einheiten in strenger Formation. Ich bleibe stehen und sehe nach oben: Der Vogelzug war pünktlich. Es ist eine ungeheure Bewegung unter den Wolken, es ist ein Reisegeschehen, wie ich es noch nie sah, und doch fällt es erst auf, wenn man stehenbleibt und Zeit für das Bild hat.

Auf Eiderstedt ist Nebensaison, nur die Hamburger haben jetzt Ferien, es sind kaum Touristen hier. Aber was da oben gereist wird … Unglaubliche Mengen sind in Bewegung. Aus dem Süden werden sie alle kommen, es geht weiter in den Norden, nach Skandinavien vermutlich, ich kenne mich nicht aus.

Zum ersten Mal im Leben sehe ich auch einen dieser Schwärme unvorstellbarer Größe, die im Flug dauernd die Formation ändern, das kannte ich bisher nur aus Tierfilmen. Eine gewaltige Animation, das Bild wandelt sich, es dreht sich, es verformt sich, eine schwarze Wolke, die disneyhafte Fomen aus sich heraus gebiert, die in zwei Teile zerfällt, wieder zusammenschmilzt, sich mehrfach verdreht und verquirlt, die nach oben aufgeht, dann links und rechts Ausbuchtungen bildet, dann Pfeilspitzen und ich denke kurz, jetzt geht es los, die Zeichen, die Zeichen, aber dann fliegt der Schwarm einfach nur vorüber, in einer Geschwindigkeit, die ich nicht für möglich gehalten hätte, jagend wie eine Sturmböe. Ein schwarzes Orakelgebilde, das nicht spricht und nichts zeigt, nur ein abstraktes Gebilde, das vergeht wie verweht, verflogen, verflattert.

Vögel ziehen, sinken auf die Äcker, steigen auf, landen, kreisen, überall ist Flugverkehr. Einige reisen langsam und stetig, andere als ginge es um ihr Leben, in höchster Eile geht es voran.

Auspizien, das Wort kenne ich noch aus Asterix, von dem ich also doch fürs Leben gelernt habe, wir haben es schon damals vermutet. So verweilen und nach oben sehen, den ziehenden Vögeln zusehen, stundenlang.

Nein, das wäre zu anstrengend. Hinlegen müsste ich mich dabei, der Rücken, der Rücken. Ein Feldbett müsste ich haben.

Alle Vogelformationen, die über Nordfriesland ziehen, sind so weit oben, landen so weit weg von mir, dass ich kaum eine Art erkennen kann. Das tröstet mich etwas darüber hinweg, dass ich auch auf zwei Meter Abstand die meisten nicht erkennen könnte, Naturtrottel der ich bin, entfremdeter Stadtmensch. Ich denke Kiebitz und Lerche, also nur als Beispiel, aber ich weiß es nicht genau, es kommt nur so ungefähr hin. Ich denke, es wäre noch etwas schöner, wenn ich es wüsste, wenn ich doch bloß ein wenig mehr wüsste. Da vorne jagen Austernfischer über die Gräben, signalfarbene Schnäbel und strenges Schwarzweiß im Gefieder, die immerhin sind einfach. Aber die ziehen auch nicht.

Für einen Moment sehe ich eine rote Fahne in den Ackerfurchen, da läuft ein Fuchs, die Jäger sagen Lunte zu seinem Schweif. Am Wegrand liegt ein halber Hase, der Unterkörper wurde schon verzehrt, dunkles Blut im Gras. Nicht weit davon sitzen zwei Krähen und lassen mich erst einmal passieren, bevor sie sich diesen Hasen einmal näher ansehen.

Der Wind kommt von der Nordsee und ist noch winterlich kalt, was kann man Mitte März erwarten. Hier und da stehen hoch oben strahlend weiße Möwen im drängenden Wehen, auch große Greifvögel sehe ich als Silhouetten über den Feldern, geduldig beobachtend. Die Schwäne auf dem Feld knabbern an Halmen, der Wind knabbert an meinen Ohren.

An den Rändern der Gräben das verdorrte hohe Gras aus dem letzten Sommer, es zischelt im Wind, es flüstert, es tänzelt im Südwest. Wellen gehen unaufhörlich durch die Reihen, choreographiert sieht das aus. Hinter einer Wegbiegung steht eine große Scheune, gelbe Flechten auf dem längst vergrauten Holz, dicke Moospolster auf dem Dach. Hinter dem Gebäude ist es auf einmal windstill, ist es schon Mai. Die Luft ist hier ungeahnt warm in der Mittagssonne und duftet überwältigend intensiv nach Kraut und Erde. Auch die Vögel klingen hier anders und ein erster Schmetterling schwankt bunt über kurzhalsige Narzissen, Mückenpünktchen um ihn herum. Zehn, zwanzig Maimeter gehe ich nur durch diese Wärmeinsel, dann ist schon wieder gnadenlos März. Wieder der Eiswind, das mattgelbe Grasgeschaukel, die müdgrünen Weiden mit den sandfarbenen Flecken der Winterkargheit, die betongrauen Wege, der nur blassblaue Himmel, die harsche Seeluft.

Ein Strauch am Wegrand. Ein hingehockter Strauch mit kräftigem Stamm, der ist im Sturm großgeworden, und das sieht man ihm an. Moosbesetzt ist auch er und seine Zweige sehen aus wie angespannte Muskeln, als würde er mit großer Kraftanstrengung alles von sich im Wind zusammenhalten, die ganze Zeit, sein Leben lang, nie nachgeben, keine Lässigkeit jemals. Sehr groß ist er nicht dabei geworden, aber doch stark und dicht, und in seinen Zweigen zwitschert es, ohne dass ich einen Vogel sehen könnte. Das Geäst ist zu verworren, darin wohnt es sich gut, im größten Gewirr brütet man gerne. Wer kennt es nicht.

Ich sehe wieder nach oben, die Vögel ziehen über mich hinweg. Über Eiderstedt, über Nordfriesland, über Schleswig-Holstein und weiter, hunderttausend Vögel und mehr. Ich sollte mehr rausgehen, das deute ich aus der Vogelschau. Der Augur auf weiter Flur.

Ich gehe zurück auf den Hof (keine bezahlte Werbung, nein, aber wir sind zum neunten Mal hier, das sagt auch etwas aus), ich sehe mir die Schafe, die Lämmer, die Pferde, die Katzen und den Hund an. Dafür gibt es keinen lateinischen Begriff, glaube ich, aber schön ist es ebenfalls. Unter den Dachbalken des Stalls sehe ich noch keine einzige Schwalbe, aber lange dauert es nicht mehr, bis auch ihre Saison beginnt. Vielleicht kommt die erste schon morgen, übermorgen, am Wochenende. Die alten Nester sind noch da, bezugsfertig hängen sie unterm Dach.

Wenn ich das nächste Mal nach Eiderstedt komme, füttern sie schon wieder Nachwuchs darin. Ich werde berichten, nehme ich an.

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Währenddessen in den Blogs, Ausgabe 15.3.2022

Es gibt ukrainische Knoblauchbrötchen. Der einleitende Absatz dort ist in dieser Art jetzt öfter zu lesen – man möchte das Thema gar nicht, es ist aber nun einmal da, man kommt nicht daran vorbei, seelisch nicht, auch sonst nicht. Und helfen will man doch, und man tut es dann auch. Unten im verlinkten Artikel folgen weitere Rezepte aus der Ukraine, man kann vielleicht noch mehr Foodblogs so entdecken. Ich finde es nicht abwegig, sich auch über die Küche der Krise anzunähern, ich finde das eher naheliegend und richtig.

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Ein Literaturhinweis zu Odessa: Isaak Babel, den auch einmal vormerken. Und hier noch ein ganz kleines Fundstück, ein Satz ist es nur – da mal drüber nachdenken, wie das auch für uns gerade gilt, wie es in jedem Jahr gilt. Ich neige dieser Haltung vor jedem Jahreszeitenwechsel zu, auch zum Herbst hin. In einem anderen Blog eine Rezension zu Kurkow: „Es ist ein ganz besonderes, ja aufregendes Buch und ich wünschte, es wäre nicht erst der unselige Angriffskrieg auf die Ukraine gewesen, der mich überhaupt erst darauf aufmerksam gemacht hat.“ Kurkow steht hier auch auf der Leseliste.

Ich habe gerade „Mitternachtsblüte“ durchgelesen, ein Roman von Maria Matios, aus dem Ukrainischen von Maria Weissenböck, hier eine Rezension dazu. Das Buch fand ich hervorragend. Es erhellt die Geschichte der Bukowina, wenn man bei der Gegend von Erhellen überhaupt reden kann, das Wort passt nicht einmal, bei der furchtbaren Geschichte. Es spielt im letzten Weltkrieg, also in Nummer II, wenn wir einmal annehmen wollen, dass Nummer III noch nicht begonnen hat. Die Meinungen gehen da gerade auseinander, wie man wohl sagen muss. Jetzt lese ich „Internat“ von Serhij Zhadan, aus dem Ukrainischen von Juri Durkot und Sabine Stöhr, da ist man im aktuellen Kriegsgeschehen, und zwar tief drin. Auch dazu eine Rezension. Es gibt eine auffällige Verbindung zwischen den Büchern und damit auch zwischen den Kriegen, das sind die Opfer, die manchmal nicht einmal verstanden haben, wer da nun gerade wen und warum – und es ist auch egal, es ist immer das gleiche Leid, der gleiche Tod, die gleichen Verletzungen.

Von Zhadan habe ich schon letzte Woche „Die Erfindung des Jazz im Donbass“gelesen (Deutsch wieder von Durkot/Stöhr), und wenn Sie eine Ahnung bekommen wollen, wie die Gegend da eigentlich aussieht – lesen Sie diesen Roman, da entsteht ein Bild.

Der Kaffeehaussitzer denkt auch über den Krieg nach, er fängt bei Remarque an und endet bei den Nachrichten: „Das alles geht mir durch den Kopf, während dieses über neunzig Jahre alte Buch neben mir liegt. Es sind ungeordnete und unstrukturierte Gedanken; voller Fassungslosigkeit und Wut ob der Nachrichtenmeldungen aus der Ukraine, die täglich schlimmer werden.

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Es ist Krieg, was soll ich noch schreiben. Eine Frage, die sich viele jetzt stellen. Wenn man aber an die letzten Kriege denkt – wir können an diese Kriege nur denken, weil Menschen geschrieben haben. Wir haben Tagebücher, Romane und Geschichten aus diesen Zeiten gelesen, wir haben sie lesenswert gefunden. Nun sind wir die Schreibenden, es ist eine Feststellung ohne Dünkel, Pathos oder Beben. Es ist einfach so. Weitermachen.

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Über leere Blicke.

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Frau Herzbruch über Logik und Vorhersagen.

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Bei anderen Themen kommt der Krieg am Rande vor, etwa hier, bei der Aussaat, da ragt er in einen Halbsatz des Textes, der ansonsten von der Schönheit der Fachvokabeln geprägt ist. Ich verstehe gar nicht alles, es ist ein wenig wie bei maritim geprägten Texten, in denen detailreich die Besonderheiten der Takelage erklärt werden – es klingt gut und anziehend, aber wiederholen könnte man das nicht, wenn man kein Segler oder Matrose ist. Ich finde es, pardon, das passt hier gar nicht her, ein wenig schade, dass mein Brotberuf nicht auch von altehrwürdigen Fachvokabeln geprägt ist, sondern von hohlen Anglizismen der eher depperten Art. Als ich damals noch im Antiquariat gearbeitet habe, als ich dort gerade begonnen hatte, las ich dauernd im Hiller, „Wörterbuch des Buches“, denn darin stand alles, was es an Fachvokabular zum Thema Buch gab – also zur Hardware, nicht zu Texten darin. Ich habe die sehr gemocht, diese Vokabeln, es fühlte sich bereichernd an, die zu kennen.

Ich schreibe dies auf Eiderstedt. Direkt neben mir, nur eine Wand weiter, ist ein großer Schafstall, in dem über hundert Schafe mit ihren Lämmern stehen. Je Schaf sind es ein bis zwei Lämmer, und der Bauer hat viele Bereiche mit Gattern abgesteckt. Es gibt lauter Einzelzimmer für Mutterschafe in der großen Scheune, und so ein abgesteckter Bereich, das ist ein Hock, Mehrzahl Höcker. Wieder etwas gelernt. Auch friedliche Dinge lernen, das ist wichtig.

Apropos Landwirtschaft. Wenn Sie sich bitte mal kurz einen norddeutschen Geflügelzüchter vorstellen, etwa Richtung Ostholstein, mit einer sehr breiten und gemächlichen Aussprache, und wenn dieser Landwirt dann von seinen Puten spricht – dann ist dieser Plural Puten im Klang identisch mit dem, was die Amerikaner in den Nachrichten sagen, wenn es um Putin geht. Es klingt genau gleich. Faszinierend. Aber das nur am Rande.

Sprühkunst: Der Kopf von Putin, daneben steht "Putina"

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Währenddessen in den Blogs, Ausgabe 13.3.22

Eine Kleinigkeit am Rande. Gestern ging ich morgens Brötchen holen, so wie jeden Morgen, und ich ging an einem chinesischen Hotel vorbei (dessen Leuchtreklame als Stock-Foto übrigens ganz erstaunlich oft das Hamburger Nachtleben illustriert, als gäbe es hier so etwas wie China-Town), es ist ein großes, gelbes Schild mit längst verblassten Schriftzeichen darauf. Mein Hirn suchte im Vorbeigehen jedenfalls kurz das dazu passende Blau, ich habe es gemerkt, manchmal erwischt man sich ja beim Denken. Ich habe das Blau gesucht, weil das doch jetzt im Stadtbild so gehört, Blaugelb. Aber eigentlich wollte ich das hier zeigen:

Es gibt Kekse, der Alltag ist politisch, also sind es auch Foodblogs. Bei der Frischen Brise findet sich noch der Hinweis, dass diese speziellen Kekse bei einem Wismarer Bäcker in Kuchenstückgröße als „Ukrainer“ verkauft werden. Etwas, das vielleicht sogar bleiben könnte. Das mal prüfen, wenn alles vorbei ist. Also wenn alles einmal vorbei sein sollte. Wobei ich die Hanseaten, welche die Urform dieses Kuchens bilden, immer für einen Verzweiflungskuchen gehalten habe, die isst man doch nur, wenn es nichts anderes mehr gibt, Mürbeteig mit Glasur und Marmelade, na ja. Aber das nur am Rande. Gibt es Hanseaten auch im Süden, und wie heißen sie da? Oder gibt es schon überall Ukrainer als caritatives Gebäck? Was man immer alles nicht weiß!

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Ein Fototagebuch aus Kiew. Gefunden durch den Ukraine-Newsletter der Krautreporter, der ist hier zu abonnieren.

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Alle sind verrückt geworden.  Ja, das trifft es wohl.

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Oder geringfügig anders ausgedrückt und im gleichen Blog der sehr geschätzten Nicole Diekmann: „Also: Ich glaube, es hackt.“ Über eine Nachricht, die wie ausgedacht wirkt, ein konstruierter Fall für Ethik-Seminare und PGW-Diskussionen in der Oberstufe muss das doch sein. Darf man das? Wer darf das? Welche Folge hat das? Diskutieren Sie! Man muss dabei wohl zur Antwort durchdringen, so glaube ich, dass Hass zum Kern dieser Firma gehört. Hass ist eines ihrer Produkte, und zwar eines der richtig gut laufenden.

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Ich habe da heute vormittag meine Hilfe angeboten beim Sortieren und Packen, ich war überflüssig, so viele Helferinnen und Helfer waren da, an diesem strahlend schönen Samstag, tief im Odenwald, und das war ja auch irgendwie sehr schön. Und surreal auch ein bißchen, aber allemal gut gegen die bleierne Schwere.

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Wer Bullies gewähren lässt, ist selbst gewalttätig. Frau Schrupp hat schon wieder Recht, das kommt bei ihr öfter vor.

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Bei Instagram im Stream von Nora-Eugenie Gomringer ein Hinweis auf ein Buch, das auch gerade passt. Lutz C. Klevemann, Lemberg. Und sehen Sie, es ist gerade so: Ich finde also diesen Instagram-Post, ich baue den Link hier ein und gerate dabei zufällig kurz auf eine Nachrichtenseite: In der Stadt sind gerade Explosionen zu hören.

 

Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an

 

Ein Beitrag geteilt von Nora-Eugenie Gomringer (@noraegomringer)

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Währenddessen in den Blogs am 10.03.2022

Wie bereits angedeutet, ich schaffe gerade keine erzählenden Texte, ich kann mich „nur“ an Links entlang hangeln. Noch zwei eher anstrengende Tage mit unangenehmer Spannung, dann lichtet sich hier vielleicht etwas, aber ich glaube es erst, wenn es so weit ist. An dieser Stelle hätte mein früherer Chef im Antiquariat wieder stumm den ollen Bloch aus dem Regal gezogen, den Staub darauf weggepustet und ihn kurz mahnend hochgehalten: „Das Prinzip Hoffnung.“

Falls Sie sich meine Laune kurz vorstellen mögen, es ist jetzt so, dass die Söhne Ferien haben und die Herzdame Urlaub, nur ich nicht. Zerfressen vor Neid beschreibt es unzureichend. Noch zwei Werktage, noch eine Kolumne, dazu die denkbar absurdeste Nachrichtenlage (ist es die übelste, die wir in unserem Leben hatten?). Dann eine Woche Urlaub. Nichts gegen eine Woche, aber reichen wird es nicht, es müssten sechs Wochen sein, sechs Monate oder gleich ein Sabbatical, so etwas.

Egal. Jetzt Links. Nicole Diekmann kommentiert Tobias Hans, ich finde es noch sehr freundlich. Das Video von Tobias Hans war tatsächlich so beschaffen, dass ich mich ernsthaft zuhause auf dem Sofa ganz furchtbar darüber aufgeregt habe, also im Sinne von Wut, also im Sinne von als betroffener Bürger herumfluchen wollen, also im Sinne von ich habe es der irritierten Familie erzählt, und dann wieder diese Blicke, was hat er denn nun schon wieder und warum schreit er dauernd Mietpreisbremse, warum will er die Mülltonne anzünden und warum ist er so rot im Gesicht. Contenance! So wichtig. Tobias Hans hat mich stark überfordert, ich werde ihm viel zu verzeihen haben, ich mittelfleißiger Mensch und Mittelverdiener. Himmel.

Pardon. Es geht gleich wieder, wie war noch diese Atemübung und wo steht der Entspannungstee. Ich habe es vor Jahren schon einmal getwittert, es stimmt immer noch: Der Entspannungstee soll 8 Minuten ziehen -was man da alles abfackeln kann.

Aber es geht hier gar nicht um mich. Es geht um Links. Pardon. Hier, noch einer:

Und zwar noch einmal Nicole Diekmann, der letzte Satz, ne. So ist es.

Die Flagge der Ukraine weht an einem Kirchturm

Und bei Frau Fragmente lesen wir den ersten Satz und denken kurz drüber nach, denn in fünfzig Jahren lesen den Historikerinnen, markieren den, notieren das Datum und schreiben dann was von Verdichtung der Ahnungen.

In diesem Zusammenhang auch mal nachdenken über die „logic of appropriateness.“ Es ist allerdings ein wenig unheimlich, to say the least, selbst für den Freundeskreis Pessimismus. Aber inhaltlich, dabei möchte ich bleiben, ist es interessant, besonders der Hinweis, dass soziale Medien massiv in diese Richtung drängen.

Apropos interessant, und obwohl es gar kein Blogartikel ist, mir lief gestern die 3,5%-Regel wieder über den Weg, von der ich früher (2019, nehme ich an) schon einmal wusste, die ich dann wieder komplett vergessen habe. Die 3,5%-Regel für die gewaltfreie Veränderung der Gesellschaft. Noch so ein faszinierender Gedanke. Falls er mittlerweile wiederlegt ist, habe ich es zumindest beim Googlen eben gerade nicht gefunden.

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Währenddessen in den Blogs

Vier Links, nur auf die Schnelle, aber die dann doch. Über Helden, über den Morgen des Kriegsanfangs, über Russland, über einen Gast aus der Ukraine.

In einem Krieg gibt es keine Helden, in einem Krieg gibt es nur Opfer. Auch die vermeintlichen Helden sind am Ende des Tages Opfer. Es sind Menschen, die etwas tun mussten, dass sie nie tun wollten.“

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Ich habe für das Goethe-Institut etwas über die Lage vor ein paar Tagen geschrieben.

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Marina Weisband: Russland verstehen.

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Und dann noch die Geschichte von Tatjana.

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Währenddessen in den Blogs

Es kann gut sein, dass ich in dieser Woche kaum zum Schreiben kommen werde, wenn es nicht so ist wie oft, und ich unter Überlast erst recht viel schreibe, quasi Ausflucht, quasi Prokrastinationstexte, mal sehen. Tendeziell jedenfalls ist hier Land unter, zum Bloglesen wenigstens komme ich hoffentlich dennoch zwischendurch und wenn, dann zeige ich hier weiterhin, was mir auffiel, gefiel oder was mich informierte.

„… aber die größte Macke hat doch dieser Putin!“ Wenn man Blogs liest, bekommt man auch mit, was man so redet, etwa im Odenwald.

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Von hochkommenden Erinnerungen.

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Pazifismus bedeutet nicht, nichts zu tun, sondern ist etwas Aktives. Es bedeutet Widerstand und Sabotage. Es bedeutet, sich konsequent selbst nicht an gewaltsamen Strukturen und Aktionen zu beteiligen, auch um den Preis eigener Nachteile oder angesichts von Gefahren. Genau das ist ja gegenüber Putin eben nicht passiert, sondern es gab ein sich Anbiedern, Honig um den Mund schmieren usw.

Nämlich, möchte man da sagen, nämlich.

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Ein Bericht aus Odessa: Die Verwandten aus Russland rufen nicht mehr an.

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Wut, Hilflosigkeit, Sorge – und Fluchtgedanken verschiedenster Art, die sich aktuell vor allem darin ausleben, den Krieg und das, was damit zusammenhängt, immer wieder beiseite zu schieben, mich dem Alltag, der „Normalität“ zu widmen. Das markiert die zweite Februarhälfte, und ich kann mich schon gar nicht mehr genau erinnern, was vorher war.

Die immer lesenswerte Monatsnotiz.

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Die Demo löst sich auf, es ist kurz alles gut

Sonnabend. In den Schaufenstern sehe ich jetzt vermehrt die Peace-Zeichen, die Soli-Fahnen. An den Wänden und Stromkästen sehe ich weiterhin noch nichts, immerhin fällt mir noch ein neuer Schriftzug auf dem Fußweg auf.

Sprühschrift auf dem Fußweg: Putin fuck you

Ich gehe einkaufen. Ich sehe an einem Menschen, der vor mir hergeht, eine ukrainische Flagge, die hat er sich hinten an den Rucksack gesteckt. So ein selbstgebasteltes Exemplar, Filzstift auf Papier. Seine Begleiterin hat ein blaues Halstuch um und eine gelbe Mütze auf, ihr Kind trägt ein ebenfalls gebasteltes Peace-Zeichen, Pappe und Edding, das hält es stolz hoch. Und da, die beiden da vorne haben auch Symbole in dieser Art dabei und der da ein Schild, das sich gegen Putin richtet und der dort eines für den Frieden und ich brauche wirklich bemerkenswert lange, um zu realisieren, dass das alles Demo-TeilnehmerInnen sind.

Ein Demo-Pappschild: Stop the war now, blaugelber Hintergrund

Eine weitere Demo von beträchtlicher Größe hat sich in der Nähe gerade aufgelöst, Unmengen von Menschen kommen aus der Richtung des ukrainischen Konsulats und gehen jetzt zum Bahnhof oder weiter in die Innenstadt. Die Straße wird immer voller, die Fußwege werden zu eng, das kleine Bahnhofsviertel ist für einen Moment komplett überfüllt, Trauben von Menschen überall, vor jedem Laden, vor jedem Restaurant, vor den Bushaltestellen und Kioskeingängen, man kommt kaum noch durch.

Die Sonne scheint, die Temperaturen sind gerade erträglich, die Menschen sind gut gelaunt. Weil sie so viele sind, denke ich. Manchmal ist es auch gut, wenn es viele sind. Und natürlich wegen des Wetters. Und weil sie etwas Sinnvolles gemacht haben, das sicher auch, weil sie sich jetzt gerade alle so einig sind. Und weil es da vorne einen Kaffee to go gibt und da ein Eis, einen Döner, einen Crêpe und ein Bier, einen Wein und hier, da kann man sich sogar einmal in die Sonne setzen, Aperolgefunkel im Glas.

All die Leute haben die gleiche Richtung wie ich. Ich ziehe mit ihnen meine vertrauten Wege entlang, langsamer als sonst. Sie halten ihre Pappschilder noch hoch, man schleift das dann ja nach der Demo nicht hinter sich her oder entsorgt es gleich. So demonstriere ich also ein paar hundert Meter mit, und ich dachte doch am Morgen, ich hätte heute einmal keine Zeit dafür. Das finde ich gut und richtig so, eine willkommene Gelegenheit, ich gehe da gerne mit.

Es ist viel gute Stimmung um mich herum, sogar sehr viel, und irgendwas ist da noch, was ist das eigentlich. Irgendwas ist anders.

Es ist Anfang März, der Februar ist noch in Erinnerung, dieser allzu graue Monat, der düstere Sturmmonat, der Novembruar. Die tiefhängende Bleidecke der Wolken, die überall greifbare furchtbar schlechte Stimmung, die dann, als man schon dachte, viel übler gelaunt können wir alle aber nun wirklich nicht mehr werden, durch den Krieg gegen allgemeines Entsetzen durchgetauscht wurde.

Aber das jetzt hier … es findet auf einmal wieder Leben im Stadtteil statt, und wie. Buntes Leben, pralles Leben, all die Farben, das Blau, das Gelb, hier und da auch schon die Frühjahrsmode, es leuchtet an so vielen Menschen. Viele, die meisten sogar tragen Masken, aber sie drängen sich auch dicht an dicht, vor den Läden, in den Läden, durch die Außengastro. Lachende Menschen in Warteschlangen, ein Kaffee, ein Kaffee, endlich ein Kaffee. Gruppen, die sich freuen, einen freien Tisch gefunden zu haben, fröhliche „Hier!“-Rufe und Winken. Eiswaffeln in Kinderhänden, Menschen, die mit neuen Schuhen aus Läden kommen und diese den draußen Wartenden zeigen, Sneaker mit neonfarbenen Streifen. Drei Teenie-Mädchen, die lachend im Gleichschritt gehen. Kellner, die Tafeln mit den Tagesangeboten herumzeigen und routinierte Späße machen. Ein Rudel Kinder um ein Tablet geschart, auf dem ein Video läuft, Hunde, die sich so begeistert begegnen, dass die Leinen sich verknäueln. Alles draußen, alles farbig und friedlich und es ist, als sei nach dem Elendsfebruar das Leben erst jetzt wieder angeschaltet worden, der Trubel, das Miteinander auch, eine Gesellschaft findet wieder statt.

Sprühkunst: Zwei sich küssende Strichmännchen mit Herzchen

Die Demo löst sich auf, und in der Auflösung manifestiert sich, wofür sie war. Frieden, Freiheit, Alltag, Leben. Eis in Kinderhänden, neue Schuhe und ein Glas Wein in der Sonne. Freunde und Familie und Wochenende und Spaß und mit den anderen darüber reden, wie es ist und wie man alles findet. Pläne machen können. An einer Ecke Rumpel-Reggae aus einer tragbaren Box, drei, vier Menschen aus drei, vier Ländern wippen im Takt, schöne Stunden im Vorfrühling, nichts ist selbstverständlich.

Oder wie die Söhne sagen würden: Peace, Digger. Chill mal.

Ich ziehe meinen Einkaufsroller durch die erstaunlich vergnügte Menge. Es ist kurz alles gut, zumindest bis ich die nächsten Nachrichten lese und wieder sehe, wogegen diese Demo war.

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Okay

Eine Woche der mehr als seltsamen Gespräche. Weltkriegsfolgen werden überall mehr oder weniger ernst abgewogen, wo man denn hinkann, was man macht, ob man überlebt. Teils zynisch, teils verzweifelt. Die Frage auch, ob ich eigentlich mit einem Gewehr umgehen könnte. Die Frage, was mit meinen KollegInnen in Kiew sei. All die aufsteigenden Erinnerungen der älteren Menschen. Meine Mutter sieht abstürzende Balkone, die hat sie mit fünf oder sechs Jahren gesehen, und jetzt stürzen sie wieder, wie in Zeitlupe und auf Repeat. Meldungen aus Altersheimen, dass die BewohnerInnen dort nach den Nachrichtensendungen durchdrehen.

Wir – also nicht zwingend ich, wir alle – besprechen Themen und Fragen, die letzte Woche noch undenkbar waren. Der Krieg bricht auch im Smalltalk aus, wie die Vorväter höre ich verdächtig oft „der Russe“ und „der Ukrainer“ und auch, versteht sich, „der Deutsche“, und wie wehrbereit der wohl ist, na, eher nicht so toll, allgemeines Kopfschütteln. Verweichlicht, wohlstandsverwahrlost, das Wort fällt in einem Podcast, in so einem mild spöttischen Tonfall, als ginge es um einen Sachverhalt wie etwa white men can’t jump. Wenn man verfriedlicht sagt, denke ich, klingt es schon anders.

Ich mache das Fernsehen an. Ich sehe sonst nie fern, jetzt aber doch mal die Nachrichten, beim Kochen nebenbei. Eine Frau wird interviewt, sie ist in Kiew. Sie sagt, ihre Freundin sei gerade getötet worden, sie stockt. Die deutsche Interviewerin sagt: „Okay.“ Ernsthaft. In diesem Konferenzraumtonfall sagt sie das, als hätte die andere gerade die Quartalszahlen aufgesagt, und weil die Frau aus Kiew danach nichts mehr antwortet, sagt sie noch etwas wie: „Das hört man ja nicht so gern.“ Das war eventuell kein wörtliches Zitat jetzt, kann sein, aber es trifft den Kern und ja, es war tatsächlich so schlimm. Ich mache der Moderatorin keinen Vorwurf, ich stelle mir immer die Frage, ob ich das denn besser gemacht hätte, und nein, wer weiß. Vorsicht bei der Berufswahl. Aber ich stürze zum Gerät, ausmachen, bloß ausmachen, bloß weg damit, der Fremdschämhorror des Jahres, das soll aufhören, ich brauche keine Schalte nach Kiew und keine Live-Berichterstattung, ich bin ein Textmensch und möchte es bitte bleiben.

Ich mache das Radio an, es läuft „Streitkräfte und Strategien“, auf NDR Info, das war früher mal eine ungeheuer langweilige Sendung und ist jetzt allzu spannend, wobei ich auch das Wort spannend furchtbar finde, und zwar nicht erst seit neuerer Zeit, sondern schon seit alle Menschen alles spannend finden, ihre Aufgaben, ihre Jobs, ihre Beziehungen, die Entwicklungen, den Krieg, alles ist spannend und ich denke immer, ihr spinnt doch.

Dabei spinne ich ja, weil ich morgens im Home-Office nicht die erste Mail lese und denke „Oh, eine spannende Challenge!“ Nein, ich lese das und denke was soll das denn, das auch noch, muss das jetzt sein. Und dann mache ich das dennoch, was da erforderlich ist, weil Job, weil Beruf, weil Alltag, weil Rolle. Ich bin dermaßen aus der Zeit gefallen.

Ich lese die Timelines und frage mich unfreundliche Fragen, ob bei denen da auf dem Bildschirm denn die Lampen nicht an sind oder was, so wie die auf einmal nahtlos auf Heldenverehrung umschalten und auf eine netflixmäßige Plotentwicklung lauern, es ist alles kurz vor Abenteuerfilm mit dem ukrainischen Präsidenten in der sympathischen Hauptrolle. Nichts gegen diesen Präsidenten, versteht sich. Aber wie sie alle Filmchen und Bilder aus dem Kriegsgebiet teilen, ungeprüft, unkommentiert, hau raus, es passt schon. Süße Szenen, grauenvolle Szenen, Tränendrücker und Späßchen, immer her damit, auch jede Eilmeldung gleich weiterflanken. Und für die eigenen Kinder fordern sie dann wieder vehement Medienerziehung und -kompetenz, das sollen die Schulen bitte mal richten.

Und dann das Männlichkeitsbild, das Frauenbild, das Kriegsbild, der allgemeine Rüstungstaumel, die starken Entscheidungen starker Männer. Die Wehrpflicht, wie alt sind meine Söhne, na, da fehlt ja nicht viel. Heute am Morgen irgendwo die Schlagzeile: „Lindner hat Großes mit der Bundeswehr vor“, und ich denke da gleich an Therapie, nicht zuerst an die Weltpolitik. Das macht mein Alter, Sie müssen das entschuldigen. Friedensbewegung und so, AKW nee und all das, wir haben das ja ernst gemeint damals, auch die Abkehr von den Heldenmythen, das Postheroische, give peace a chance. Wir haben Elternzeit genommen und fanden das richtig, die Care-Arbeit, die neuen Rollen, Mental-Load-Debatten, neue Männer braucht das Land, es stand vereinzelt an Wänden, erinnern Sie sich. All die Diskurse, und jetzt, zack, wir spulen mal eben ein Jahrhundert zurück, ich ziehe in den Krieg, du ziehst die Kinder groß.

Sprühkunst, eine durchgestrichene Friedenstaube, daneben steht "Dummer Vogel"

Und die Umweltfragen müssen wir übrigens auch zurückstellen, weil Krieg. Wir nehmen das mit dem Klima gerade nicht mehr wahr, weil doch jetzt Krieg ist, da braucht man eben wieder mehr Kohle und auch Atomkraft, und wissen Sie was? Vermutlich wird der Klimawandel in absehbarer Zeit weitere Kriege auslösen und also werden wir ihn kategorisch nicht wahrnehmen können. Das mal so im Freundeskreis Pessimismus ausführlich besprechen.

Okay. In diesem Tonfall. Wie sie alle immer okay sagen, ich kann mich aufregen, die ganze Zeit kann ich mich aufregen.

„Wir spulen jetzt mal hundert Jahre zurück. Alles.“

„Okay. Das ist ja spannend!“

Ich kann gar nicht so viel kotzen, wie ich kommentieren möchte, oder wie heißt der Spruch vom Liebermann noch einmal. Schon gut. Das war eine rhetorische Frage.

Ich weiß nicht, was jetzt richtig ist, wirklich nicht. Ich weiß es nicht politisch, ich weiß es nicht einmal privat. Aber ich stolpere noch darüber, was mir gerade seltsam vorkommt.

Stolpern muss man auch wollen, denke ich.

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Währenddessen in den Blogs

Anke schreibt, was alle denken: „Ich weiß nicht, wie ich diesen Eintrag anfangen soll und vermutlich weiß ich auch nicht, wie er aufhören wird. Es fühlt sich falsch, fast frivol an, auf Insta Mahlzeiten zu posten und auf Twitter die Artbots zu retweeten, während nicht wirklich weit von mir weg Menschen in einem Krieg sterben.

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Die beiden wichtigsten Dinge, die eine ukrainische Frau wissen muss, sind: Wie man Borschtsch kocht und Molotow-Cocktails herstellt.“ Sagt Kateryna Yurko. Bis vor wenigen Tagen besaß sie ein Geschäft für Autoteile in Kiew.

Im gleichen Blog: „Die Nachbarin, die Urlaub genommen hat, um sich um Flüchtlinge zu kümmern. Die Kollegin, die für einen Ernstfall die Reisepässe der Familie überprüft hat. Der Freund, der eine WhatsApp-Gruppe gegründet hat, die er laufend mit Infos versorgt, welche Hilfsorganisation mit welcher Adresse hier in Berlin gerade welche Güter dringend braucht.

Gestern Abend auf Twitter die Bilder von den Aktionen im Berliner Hbf, der Empfang für die Geflüchteten aus der Ukraine, all die Menschen, die andere Menschen für eine Nacht oder länger aufnehmen. Ich glaube, in Hamburg gab es noch keine größere Ankunft. Oder ich habe es nicht mitbekommen. Aber das hier gesehen:

Das Wort Liebe aus riesigen Großbuchstaben neben einem Kirchenportal

Auf einem Schild vor einem laden steht Fuck P*T*N

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In Mosbach haben wir Ukrainierinnen getroffen, Mütter und Kinder, die vor dem Krieg geflüchtet sind. Mosbacher haben sie in Breslau in Kleinbusse eingeladen und hierhergebracht. In dem kirchlichen Gemeindezentrum, das zur Flüchtlingsunterkunft umfunktioniert worden ist, herrscht Chaos, überall Berge von Spenden, Kleider, Schuhe, Lebensmittel. Eine junge Gemeindemitarbeiterin mit familiären Kontakten in die Ukraine berichtet, sie habe am Morgen herumtelefoniert, ob es nicht jemanden gebe, der zwei nahezu neugeborene Zwillinge adoptieren könne, beide Eltern seien bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen.

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Le pire est à venir, ist das Fazit, das Macron nach dem heutigen Telefonat mit Putin zieht. Ich muss sagen, ich bin heute so schockiert von dem, was man von dem Telefonat von Macron mit Putin erfährt, dass es mir schwerfällt, irgendetwas, außer dem Lebensnotwendigen, zu tun. Ich starre auf die Fernsehbilder der Zerstörung in der Ukraine und bin wie gelähmt.

So verbindet sich die Nachrichtenlage, gespiegelt in den Blogs, mit dem unweigerlichen Französischlernen zuhause mit den Söhnen. Le pire est à venir, das Schlimmste kommt noch. Das vielleicht doch mal merken.

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die kriegsängste sind nicht mehr nur diffus, ich verdränge sie bewusst. gestern wurde ein atomkraftwerk beschossen, also da gibt es keine grenzen mehr. ich habe insulin für ein paar monate im haus (brauche sehr wenig, das heißt also nicht so viel) und ein paar vorräte. wird die welt dieses wochenende untergehen oder erst ein bisschen später? ich tippe auf später und nehme nicht alles mit.

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Ich weiß nix, aber wenn ich was wüsste, wäre es auch egal.“ Die Frau Herzbruch in ihrem schicken neuen Blog.

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Die Kunst von Maria Prymachenko.

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