Es war alles gut

„Man kommt ja nicht auf Null.“ Eine Schlussfolgerung, bei der man in pandemischen Zeiten oft landet, man kommt ja nicht auf die Null, man kommt nicht auf ein komplett risikofreies Verhalten. Man kann dies und das und vielleicht auch fast alles reduzieren, einen Faktor nach dem anderen, aber irgendetwas bleibt doch. Man geht täglich zum Einkaufen, die Kinder gehen sowieso dauernd zur Schule und treffen da tausend andere Kinder, man bringt Retouren weg und macht zuhause dem Paketboten die Tür auf, man macht überhaupt dauernd dies und das und trifft Nachbarn im Treppenhaus oder geht zu einer Ärztin oder zum Friseur, man sieht dann doch mal die zwei, vier, sechs Freunde und Familienmitglieder, die sich mittlerweile eindeutig als der engste Kreis erwiesen haben. Man kommt nicht auf die Null, nein. Meine Mutter hat sich in der Warteschlange beim Impfen angesteckt, auch das geht. Aber dieses Käsescheibenmodell mit den Löchern, das mittlerweile jede und jeder kennt, doch, doch, man ist so weit bemüht. Die einen mehr, die anderen weniger.

Zu Weihnachten haben wir dann doch die rote Warnung in der Corona-App, weihnachtlich glänzet sie rot sozusagen, es fehlt nur die grüne Girlande drumherum und ein güldenes Glöckchen für das festliche Design. Das Datum prüfen, das da angezeigt wird. Ach guck, dieser Tag war das, ja, so kann das also passieren, so erwischt es einen. Warum wird da eigentlich keine Uhrzeit in der App angezeigt, das müsste doch gehen? Wir fragen Freunde, die dabei waren, ja, die auch. Das war dann also zu dieser Uhrzeit, das war also da, dann müssen wir den auch mal fragen, der war doch ganz in der Nähe, wenn schon nicht direkt dabei? Den haben wir da doch gesehen? Ach guck, der auch.

Ich sehe auf Twitter, dass es anderen auch so geht, die Abläufe ähneln sich, mehrere Meldungen in dieser Art. Ist das beruhigend? Ja, irgendwie schon.

Wir fahren durchs menschenleere Nordostwestfalen, wir suchen Tests. Alles haben wir dabei, lange haben wir diesmal über das Packen nachgedacht, aber Schnelltests haben wir nicht im Gepäck. In all den Monaten der Pandemie haben wir immer noch nicht genug gelernt. Vor der Abfahrt haben wir noch welche gemacht, das kam uns richtig und wichtig vor. Es war aber nicht richtig genug. Eine Apotheke soll heute bereit sein, so lesen wir im Internet, sie sieht aber geschlossen aus. Wir parken, wir gehen um das Gebäude herum, wir sehen nach, da ist nichts, alles ist dunkel. Wir steigen wieder ins Auto, während ein anderes Auto hält. Ein Paar steigt aus, geht um das Gebäude herum, sieht nach. Steigt wieder ein, als gerade noch ein Auto hält, aus dem ein Paar steigt … Immer überall Muster erkennen.

Wir finden doch noch eine Apotheke mit Notdienst, die verkauft Schnelltests, nach denen nicht nur wir heute fragen. Was wir nicht finden, das sind Testcenter, die auch offen und nicht voll ausgebucht sind. Die Schnelltests sind teuer, dazu kommt noch der Sonderöffnungszuschlag der Apotheke, was machen eigentlich die, die sich das nicht leisten können? Die vielleicht auch nicht erst lange recherchieren können, was wo geht oder vielleicht noch gehen könnte, Plan B und C? Die Kundin vor uns ist verzweifelt, weil sie jemanden im Krankenhaus besuchen muss, sofort, heute noch, es geht da um Leben und Tod, sagt sie, da braucht sie doch einen Test mit Zertifikat, jetzt, also jetzt! Die Apothekerin versucht sie zu beruhigen und telefoniert.

Ich finde das alles nach wie vor bemerkenswert schlecht organisiert. Nein, es ist eigentlich unfassbar schlecht organisiert.

Wir stehen auf einem leeren Parkplatz irgendwo im Nirgendwo und machen Schnelltests, wir balancieren wie irre Hobbychemiker Plastikreagenzgläschen auf den Knien und träufeln tropfenweise seltsame Flüssigkeiten auf Teststreifen. Auf einem großen Plakat in der Nähe wird für fröhlichen After-Work-Glühwein geworben, im Autoradio läuft Weihnachtsmusik der eher schlagerhaften Art. Der bestens gelaunte Moderator rät, das Haus heute lieber nicht zu verlassen. Es ist kalt, wie es lange nicht war, der Himmel ist strahlend blau und an den wenigen Passanten sieht man, dass da draußen ein scharfer Wind weht, eisig fasst er die Leute an und brennt in ihren Augen, rötet ihre Wangen und Finger.

Wir warten die obligatorischen 15 Minuten, wir durchdenken Szenarien, wir beobachten rote Striche. Wir lesen Symptome nach. Wer hat im Winter nicht dauernd irgendwelche Symptome, hast du nicht gestern mal gehustet? Geniest? Wie oft niest du eigentlich in letzter Zeit, ist das denn normal? Müdigkeit, Müdigkeit, Leitsymptom Müdigkeit, ich habe alles, wenn es danach geht. Erschöpfung, ja, aber hallo, und das hier ist übrigens schon wieder anstrengend, was wir jetzt gerade machen. Wie soll man denn nicht erschöpft sein, bitte, wir sind alle erschöpft. Habe ich vielleicht seit Tagen ein Kratzen im Hals, und was für ein abstoßendes Wort ist eigentlich Nachtschweiß, wer hat denn so etwas. Ach, Du? Okay. Kopfschmerzen, okay, wenn ich noch länger über Symptome nachdenke, dann habe ich auch die, aber das kann ich bei vielen Symptomen leisten. Tinnitus. Nein, das steht da gar nicht, das ist nur ein Link irgendwohin, wieder Werbung. Als wenn etwas gegen Tinnitus helfen würde, das wüsste ich doch.

Die Tests sind schließlich negativ. Wir telefonieren, wir melden, wir warten auf weitere Meldungen aus Hamburg. Alle Tests sind negativ. Wir kaufen weitere Tests auf Vorrat, wir fahren wieder durch Nordostwestfalen. Am Armaturenbrett leuchtet fröhlich der orangefarbene „Fehler Motosteuerung“, an den wir uns mittlerweile gewöhnt haben. Er kommt immer, wenn wir gerade denken, dass wir jetzt wirklich nichts Weiteres gebrauchen können. Solange der Motor aber nicht automatisch runtergeregelt wird, fahren wir noch weiter. Hier gibt es jetzt eh keine geöffnete Werkstatt, und als wir beim letzten Besuch in dieser Gegend in einer Werkstatt waren, wurden wir dort mit Querdenkerquatsch zugetextet, das war nicht schön.

Vielleicht kommen wir trotz dieser Meldung noch zurück nach Hamburg. Vielleicht bleiben wir irgendwo liegen, dann ist das eben so. Weder die Herzdame noch ich haben Lust oder Kraft, uns überhaupt noch aufzuregen, worüber auch immer. Fehler Motorsteuerung, meine Güte. So auch ich, denke ich, so auch ich, wenn nicht sogar wir alle.

Bei den Eltern der Herzdame ist der Kamin an. Ich neige nicht zum Neid, aber dieser Kamin … Und die schnurrende Katze natürlich. Die Söhne fragen eher desinteressiert, wie die Tests waren. Sie werden in der Schule so oft getestet, das Thema kann einfach nicht mehr interessant sein. Negativ, ja, natürlich sind die negativ, man testet doch immer so lange, bis alle negativ sind. Okay. Sie kennen sich aus.

Ich lege mich auf das Sofa, ich lese auf dem Handy die Nachrichten nach. Ich lese das Wort „Distanzunterricht“, ich lese „Rekordzahlen“, ich denke, man muss auch nicht dauernd Nachrichten lesen.

Es gab keinen Streit, es gab sehr guten Kuchen und sehr gutes Essen von Schwiegermutter. Ich habe es dermaßen genossen, einmal bekocht zu werden. Die Söhne fanden ihre Geschenke gut, niemand ist irgendwie eskaliert. Es gab die Katze, es gab den Kamin und einmal sogar einen gemeinsamen Mittagsschlaf mit der Herzdame, dazu kommen wir sonst nie. Es war alles gut. Es war nicht bei null Anspannung, aber auf Null kommt man eh nicht.

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Here we go again

Ich setze mich an den Schreibtisch, ich fange an zu tippen. Ich habe nichts zu erzählen, denke ich, aber das macht nichts. Und zwar macht es nichts, weil ich das schon seit Jahren denke, besonders aber seit dem März des letzten Jahres denke, seit diesem März also, der seitdem anhält und einfach nicht vergehen will, der sich in Kürze auf die elend beeindruckende Länge von 24 Normalmonaten aufgebläht haben wird. Ich habe nichts zu erzählen. Ich sehe nichts, ich erlebe nichts, ich komme nicht herum. Ich treffe keine Menschen, ich reise nicht, das schon gar nicht. Ich habe nichts zu erzählen; damit will ich anfangen. Darüber gibt es nicht den leisesten Zweifel. Sie sehen später, warum das kursiv ist, es ist nur ein kleiner Scherz am Rande.

Dafür, dass ich nichts zu erzählen habe, steht hier oft recht viel, finde ich. Ab und zu fällt mir das auf, dann scrolle ich ein wenig hinunter und lese hier und da nach, weil ich mich selbst fragen muss, worüber zum Teufel ich denn bloß dauernd schreiben konnte, wenn doch nichts ist und auch sicher nichts war. Dann staune ich manchmal, auf was ich da gekommen bin, was nicht damit gleichzusetzen ist, dass ich das dann gut finde. Ich bin eher unfreundlich als Kritiker meiner selbst, mein innerer M2R grantelt routinemäßig, wer soll denn das bitte lesen wollen: „Dieser Text hat mich unsäglich gelangweilt.“

Ich lese gute und sehr gute Bücher, ich denke, hör bloß auf zu schreiben. Ich höre Werke der Weltliteratur, ich denke, was machst du hier eigentlich. Und bitte, das ist kein fishing für compliments, ich versuche, nur, etwas zu erklären. Es ist nämlich so: Ich denke, dass mir nichts einfällt, ich denke, dass ich auch das nicht gut genug ausdrücken kann. Ich gehe an den Schreibtisch und schreibe das auf. Ich setze mich an den Schreibtisch, ich fange an zu tippen. Im Grunde, das wollte ich nur eben sagen, stößt mir das zu, dass hier immer wieder etwas steht. Ich weiß auch nicht, wie das kommt. Ich habe gar nichts zu erzählen. Ich denke nicht einmal genug, denke ich immer wieder.

Ich habe Urlaub, ich gehe am Morgen zur Booster-Impfung. Die findet beim Orthopäden statt, die Herzdame hatte bei einem ihrer Besuche gesehen, dass der so etwas anbietet und mir dort kurzerhand einen Termin gekapert, auf den Tag genau 5 Monate nach meiner letzten Impfung. Es ist ein Timing wie unter pünktlichen Pedanten, die in Finanzabteilungen arbeiten, es ist ein Timing, das mir gefällt. Der Morgen ist eisig, ungewohnt klar und kalt, ich gehe einen Teil des Weges zum Arzt zu Fuß. Ich höre dabei die Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens. Warum sollte ich sie nicht hören, sie passt jetzt wieder. Natürlich kenne ich die Geschichte schon sattsam, aber hey, Traditionen, Rituale, ich erwähnte es neulich bereits und ich meinte es ernst. Es ist außerdem über weite Strecken eine gute Geschichte, wenn auch vielleicht nicht durchgehend, aber egal. Sie beginnt so:

Marley war tot; damit wollen wir anfangen. Darüber gibt es nicht den leisesten Zweifel.

Ich halte das für einen hervorragenden Anfang. Und kurz darauf schon erscheint das Gesicht Marleys auf dem eisernen Türklopfer, es ist ein guter und lockender Einstieg. Lassen Sie es sich einmal vorlesen, wenn Sie es noch nicht kennen oder längst wieder vergessen haben, von ihrem Gespons, von ihren Kindern, Eltern oder etwa auch von Sven Görtz per Hörbuch.

Im Wartezimmer des Arztes sitzt mir eine Frau gegenüber, die mit Fug und Recht als Dame bezeichnet werden kann. Um Ihre Fantasie auf die richtige Spur zu bringen, stellen Sie sich vielleicht die Präsidentin eines obersten Gerichtes vor, die Aufsichtsratsvorsitzende einer bekannten Hamburger Aktiengesellschaft, die Inhaberin einer ehrwürdigen hanseatischen Privatbank, die Grande Dame des deutschen Kaffeehandels, etwas in dieser Art – Sie verstehen die Richtung. So eine Ausstrahlung. Ein harmonischer Dreiklang von Distinktion, Wohlstand und Kompetenz, eine Dame aus einer anderen sozialen Sphäre. Ich kenne einige wohlhabende Menschen, aber diese Dame hier verfügt über mehr. Und länger schon. Zumindest sieht sie so aus, zumindest wirkt sie so.

Und die sitzt da also nun, kerzengerade, wie solche Menschen eben immer sitzen und wie ich rückenbedingt gar nicht sitzen kann, da fängt es ja schon an, da falle ich schon ab, da habe ich schon erste Abzüge in der Haltungsnote. Sie sitzt mir gegenüber und ruckt ab und zu mit der Schulter. Das tut sie äußerst dezent und nur dann, wenn ich gerade nicht hinsehe. Ich sehe es lediglich aus dem Augenwinkel. Wenn ich etwa beiläufig aus dem Fenster sehe, hebt sie eine Schulter, soweit es unauffällig gerade noch geht, dehnt den Hals ein wenig dabei, beugt den Kopf. Ich sehe sie an, sie sitzt augenblicklich still und sieht stoisch über mich hinweg, auf die abstrakte Wartezimmerkunst über mir. Ich sehe wieder aus dem Fenster, sie hebt noch einmal die Schulter. Ich nehme an, sie sucht den Schmerz, der sie zum Besuch in dieser Praxis getrieben hat. Vielleicht schmerzt es seit einer Weile nicht mehr, vielleicht überlegt sie, was sie hier eigentlich macht und ob sie nicht einfach gehen kann, am Ende ist das alles Zeitverschwendung? Da ist doch gar nichts? Ich glaube, ich habe ähnliche Verrenkungen auch schon in Wartezimmern aufgeführt, was sagt man dem Arzt, wo genau tut es weh und wie sehr. Dann durchfährt es sie auf einmal mit Macht und sie zuckt jäh zusammen. Sie hat die Stelle zweifellos gefunden, die falsche Bewegung noch einmal gemacht, das Problem lokalisiert. Ein feines Zischen ist durch zusammengepresste Zähne zu hören, wo alle Welt vermutlich etwas von Scheiße gebrüllt hätte, und sie hält sich für einen kurzen Moment die jäh aufflammende Stelle am Schultergelenk und lächelt mich dabei verbindlich an. Contenance par excellence. Ich lächele zurück. Ich sollte nichts sehen, ich habe nichts gesehen. Ich denke mir nur: Einmal wieder etwas so im Griff haben, wie diese Dame sich selbst. Das wäre schön.

Die Impfung erfolgt auf die denkbar fröhlichste Art, lauter gutgelaunte Menschen wuseln um mich herum, eine spaßhafte Angelegenheit ist das und überhaupt ist man es hier gewohnt, Nadeln in mich zu jagen. Der Oberarm ist dabei eine vergleichsweise entspannt zu erreichende Stelle, das ist auch gut.

Ich warte danach die obligatorischen zehn Minuten ab, ich höre Charles Dickens im Wartezimmer. Im weiteren Verlauf sagt Scrooge da zu dem einen Geist, dessen belehrende Vorführungen er nicht mehr zu ertragen vermag: „Umspenstere mich nicht länger!“ Carl Kolb war der Übersetzer, er ist für diesen Imperativ unbedingt zu loben. „Umspenstere mich nicht länger!“ Das vielleicht auch mal dieser Pandemie ungnädig zurufen.

Es ist so eine Sache mit Charles Dickens und der Gegenwart. Da draußen ist selbstverständlich kein rußiger Londoner Nebel, aber die Kälte passt doch und die zerlumpten Gestalten in den Hauseingängen sieht man auch, wenn man nur hinsieht. Auf dem Weihnachtsmarkt etwa, den ich gerade für das Goethe-Institut beschrieben habe, lag eine solche Gestalt hinter einer wohlduftenden Bude für Schmalzgebäck. Ein Mann lag da auf dem Straßenpflaster und schlief, in einem zerfetzten Schlafsack, direkt hinter den Lichtern des Marktes. Er kam in meinem Text nicht vor. Klischees, Klischees, ich weiß, aber es ist eben noch so. Es wird vielleicht auch immer so sein, was weiß ich.

An der Straße, die ich täglich zum Einkaufen entlang gehe, stand schon vor der Pandemie immer eine Bettlerin, jeder kannte die, immer an der gleichen Stelle stand sie. Heute stehen auf diesem Weg manchmal mehr als zehn bettelnde Menschen, zwölf waren es neulich, und diese eine Bettlerin, die da immer schon stand, rief mir gestern zu: „Ich krieg jetzt gar nichts mehr!“

Ich habe in den letzten Monaten oft erwähnt, dass die Schlange vor der wöchentlichen Essensausgabe der Kirche im letzten Jahr immer länger wurde. Ich könnte hier am Küchenfenster gewisse Szenen von Dickens lesen oder hören und dabei runter auf diese Schlange sehen. Sie machen sich keinen Begriff, wie das passen würde, es ist vollkommen absurd, besonders bei gewissen Wetterlagen, wenn es nass und kalt ist und die Menschen eng an den Wänden stehen und etwas Schutz suchen.

In der Weihnachtsgeschichte vom alten Geizhals Scrooge, Sie werden es vermutlich kennen, kommt auch Tiny Tim vor, der kranke Junge mit der viel kurzen Lebenserwartung. Es geht da um die unvorstellbare Härte, mit der ihm gesellschaftlich begegnet wird, und später dann, eh klar, geht es um die rettende Liebe und Wohltätigkeit, wie oft bei Dickens. Auf Twitter sah ich gestern (und es ist kein Gestern, dass ich hier aus dekorativen Gründen einfüge, es war tatsächlich gestern) wie jemand unter eines dieser öfter zu sehenden Hilfsgesuche für kranke Kinder schrieb, es war zufällig ein kleiner Junge, um den es da ging, dass es doch gut sei, wenn die Natur das Schwache aussortieren würde, da müsse man dann nichts mehr machen. Das war eine bemerkenswert exakte Spiegelung eines Absatzes von Dickens, das kommt im Buch so vor, fast textgleich sogar. Ich höre und lese diese Bücher aus dem Neunzehnten Jahrhundert eigentlich, um dem Jetzt gelegentlich zu entkommen. Es ist eine Übung, die nicht einfacher geworden ist in den letzten Jahren.

Ich habe also die Booster-Impfung, von der jetzt alle reden. Ich bin etwas angeschlagen, aber auf diese angenehme Art, als sei ich leicht krank und könne ruhig mal einen Tag entspannt im Bett bleiben und das vielleicht sogar genießen. So mittelgrippig, aber schon auf dem Weg der Besserung.

Die Söhne gehen noch einmal zur Schule, es ist endlich der letzte Tag vor den Ferien. Es wurde auch Zeit, niemand kann hier noch. In einer Schulmail wurde gestern gebeten, dass sie alle Sachen mit nach Hause nehmen, die Bücher, die Hefte, die Ordner. Nur zur Vorsicht, versteht sich, denn man wisse ja nicht, wie der Januar … Well. Here we go again.

Aber erst einmal Weihnachten. Bloß nicht zu weit nach vorne denken, es könnte uns verunsichern.

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Winterliche Verdichtung

Am Sonntagmorgen heult Wind ums Haus und greift kaltfingrig ins spaltoffene Dachfenster, dass es knarrt und sich regt. Ich schließe das Fenster, ich koche Kaffee, ich mache die Heizung an. Die rauscht heute auf einmal wie ein Bach im Gebirge, es plätschert, es gurgelt, das Wasser steigt in den Rohren. Eine winterliche Verdichtung der Klangkulisse, die gut zum Wetterbericht passt, in dem wieder einige Schneeflockenpiktogramme zu sehen sind. Ich trinke Kaffee, ich sehe aus dem Fenster. Auf dem Dach des großen Hotels gegenüber weht eine Fahne stramm im Wind und etliche Krähen flattern da oben immer wieder um sie herum, als würden sie mit ihr spielen. Sie landen abwechselnd auf dem Fahnenmast, sie fliegen unter der Fahne durch und dicht darüber weg und dann im Kreis um sie herum, sie weichen knapp aus, wenn das Tuch in einer Böe hin- und herschlägt. Es ist vielleicht ein Windspiel, ich höre ihr Krächzen, es klingt belustigt.

Am alten Haus gegenüber steht noch das große Gerüst, Leitertreppen führen von Stockwerk zu Stockwerk, bis über unser Dach hinweg, bis hinauf zum geschwungenen Giebel. Mir fiel in den letzten Tagen auf, dass Vögel dieses Gerüst gut finden. Meisen turnen umtriebig an dem engmaschigen Netz davor herum, Spatzen erkunden laut diskutierend die Bretter, Verstrebungen und Winkel und bilden Banden darin. Eine Elster saß eine Weile oben auf dem höchsten Pfeiler und genoss ihre neue Warte. Heute sehe ich eine Rabenkrähe, und was für eine. Ein anderes Kaliber als die Saatkrähen ist das, die hier sonst durch die Gegend vagabundieren und kleinkriminell in den Bäumen auf dem Spielplatz herumlungern. Dieser besonders große Vogel hüpft jetzt die eisernen Treppen hoch, Stufe für Stufe, von ganz unten bis ganz oben, sechs Stockwerke immerhin auf diese Art, das dauert eine Weile und eilig hat er es ganz und gar nicht. Auf den Absätzen hält er jeweils kurz inne und sieht zurück, guckt dann auch nach oben, legt den Kopf schief, ach guck, noch eine Etage. Ein würdevoller Hupf auf die erste Stufe, ein Hupf auf die zweite Stufe, und dann immer so weiter. Und wie die Krähen an der Fahne wirkt auch diese hier amüsiert. Ich bin mir nach einer Weile sicher, die macht das da aus Spaß. Man hat ihr ein riesiges Klettergerüst gebaut! Wie nett von den Leuten. Als sie ganz oben ist, plustert die Rabenkrähe ihr Gefieder einmal wohlig durch, streckt die Flügel und besieht sich die Gegend unter ihr. Sie sieht auch mich in meinem Dachfenster und guckt mich eine Weile von oben herab durchdringend an. „Ra“, sagt sie dann in beeindruckend vollem Rabenvogelbariton, und ich lasse das mal so stehen und nicke ihr nur zu.

Ich lese weiter in den Tagebüchern von Patricia Highsmith. Es ist das Jahr 1942, mitten im Zweiten Weltkrieg, sie schreibt: „Die Japaner konnten in Java große Erfolge verbuchen und haben Rangun, Burma gut im Griff. Nicht so gut, nicht so gut beim Mittagessen. Ich bin deprimiert, wenn ich dunkle Kleidung trage, wenn meine Haare nicht richtig liegen.“ So sind wir, anders können wir vermutlich auch nicht sein – die Welt geht in die Binsen, wir wissen es auch, aber es sind die Haare, die uns wirklich fertig machen. Rangun ist weit weg, aber die dunkle Kleidung hängt da über dem Stuhl. Alltag und Weltgeschichte, man muss beides irgendwie aushalten und zusammendenken, es gibt keine allgemeingültigen Vorgaben für die richtige Gewichtung. Wir sind vermutlich die einzige Art, die gleichzeitig die Welt und das Hier zur Kenntnis nehmen können, was haben wir uns damit nur eingehandelt. Schon daran darf man mit Fug und Recht verrückt werden.

Ein Sohn deckt den Adventsfrühstückstisch, Gläser mit frisch gepresstem Orangensaft kommen neben die Teller. Dann besieht er sich die Anordnung, überlegt kurz und vertauscht sein Glas schnell noch einmal mit dem seines Bruders, wohl damit er eines hat, das nicht seines war, nehme ich an. Ich frage ihn nach dem Grund: „Erbeutet schmeckt alles besser.

Man muss den Alltag und die Welt gar nicht nur aushalten, man kann auch etwas daran drehen. Kann man von jedem Kind lernen.

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Auf den Tag genau

Ich gehe mit einem Sohn in die Stadt, um für den Geburtstag der Herzdame etwas zu besorgen. Wir gehen in drei Läden und erleben dabei die Dreifaltigkeit der pandemiebedingten Checkmöglichkeiten, es wirkt heute wieder arg drehbuchmäßig. In einem Laden will man alles genau sehen, die Impfzertifikate und die Ausweise. Im zweiten Laden reicht schon der flüchtige Blick auf die erhobenen Handys, dann bereits das lässige Durchwinken. Im dritten Laden will man, da wird es originell, nur die Ausweise sehen, guckt kurz auf unsere Namen und nickt dann. Da war jemand überarbeitet, nehme ich an, es war auch schon spät am Tag. Ich habe tendenziell Verständnis für überarbeitete Menschen, ich stehe gerade auch eher neben mir als mitten im Leben. Keiner der Läden ist voll. Das ist mir angenehm, aber geschäftlich muss man doch Bedenken haben, to say the least. Es ist ein merkwürdiges Bild: Die Stadt ist voll, sogar sehr voll, mit Gedränge und Geschiebe, die Läden und die Restaurants, Kaffees etc. sind es aber nicht. Die Weihnachtsmärkte stehen noch, aber sie werden in diesem Jahr früher beendet, lese ich. Aus wirtschaftlichen Gründen.

Die Söhne gehen zur Schule. Immer weiter der Druck, die Anforderungen, die Zensuren. Wir lernen Grammatik. Ich kann nicht mehr, du kannst nicht mehr, er, sie, es kann nicht mehr. Repeat after me, encore une fois. Bei dem einen Sohn geht es gerade um defining and non-defining clauses. Was da was ist und wo dabei die Kommas sind. Ich starre das Thema an, ich denke nach, ich denke angestrengt nach – ich habe nicht die leiseste Erinnerung, davon jemals etwas gehört zu haben. Sonst habe ich zumindest eine vage Ahnung von den Themen in den Schulbüchern, jedenfalls bis etwa zu 8. Klasse, bei diesem Kapitel habe ich vielleicht damals gefehlt, denke ich. Die Windpocken? Die hatte ich irgendwann in dem Alter, das kommt vielleicht hin. The chickenpox gap. Ich hatte mich damals mutwillig angesteckt, um nur bloß nicht mehr in die Schule zu müssen, da sehen Sie mal, wo solche Dummheiten hinführen – ein paar Jahrzehnte später hat man auf einmal ein Problem damit. Das also lieber nicht nachmachen, es holt einen alles wieder ein. Die Windpocken auch, das schlafende Virus, ja, ja, ich weiß.

Ich lese meine Tagebücher nach, das mache ich immer zum Jahresende, wenn der Urlaub endlich beginnt. Ich bestehe zu einem so großen Teil aus Ritualen, die katholische Kirche ist im Vergleich zu mir spontan und flippig. Ich lese die Jahre 2020 und 2021. Darin gleichen sich einige Abläufe und Meldungen dermaßen, dass es ausgedacht wirkt, manipuliert und planvoll zurechtgebogen. Eine Anmerkung zu Lockdownvermutungen in Deutschland und eskalierenden Fallzahlen in UK wiederholt sich auf den Tag genau. Ich lese die Stelle aus dem letzten Jahr, ich lese danach noch einmal die Stelle aus diesem Jahr. Ich lese beides erneut, es sieht aus wie copy & paste. Ich ahne, dass man das später nicht mehr plausibel finden wird, was dort steht, dass nicht einmal ich selbst das noch plausibel finden werde, schon in ein paar Jahren nicht mehr. Aber das gilt vielleicht auch für die oben beschriebenen Szenen in den drei Läden. Glaube ich mir das später noch? War das so? Das war so, ich weiß es heute. Die Pandemie hat Begleiterscheinungen und Umstände, Szenarien und Abläufe, die wird man später nicht gut erzählen können. Sie sind zu flach, zu absehbar, zu billig.

Ich lese im Internet einen Artikel quer, es geht um FFP2-Masken für Kinder, die sollen denen nicht gut passen, steht da, die taugen eher nichts. Die Tür geht auf, die Herzdame kommt herein: „Ich habe in der Apotheke eben FFP2-Masken für Kinder gesehen und mitgebracht.“ Was sind das für Szenen, was ist das hier, eine Vorabendserie?

Nur noch ein paar Tage bis Weihnachten, bis Neujahr, bis zur mittlerweile sicher erwarteten Omikronwand. Ich gehe abends an einem kleinen Weihnachtsmarkt im Stadtteil vorbei, die dort noch Trinkenden singen gerade in fröhlicher Runde das Lied aus den Lautsprechern mit, die Version ist von der Hermes House Band: „Que sera, sera.“ Auch das ist so, ich sehe das, ich höre das. Aber das kann man doch keinem erzählen, was ist das denn für ein Niveau.

Vor einem anderen Weihnachtsmarkt stehe ich in der Schlange am Einlass. Die üblichen Kontrollen, der Mann von der Security sagt zu jeder und jedem, nachdem er alles genau geprüft hat, mit einem Fingerzeig zum QR-Code der Location: „Bitte einchecken und viel Spaß.“ Das vielleicht schon einmal vormerken für Silvester, damit dann das neue Jahr begrüßen, es wird schon passen, wir sarkastisch auch immer: Bitte einchecken und viel Spaß.

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Der geht ab

Es ist auf einmal wieder warm draußen, piwarm, lauwarm, geradezu widerlich warm ist es. Mein Kreislauf und ich lehnen das entschieden ab und wir verweigern beide dies und das, etwa das Mitmachen. Das Home-Office fällt mir heute einigermaßen schwer, aber die Pflicht, die Pflicht, das stete Bemühen, und dann ist es nach endlosen Stunden wieder ein Werktag weniger. Man nähert sich.

Ich weiß nicht, welche Musik ich hören soll. Ich finde alles nervtötend, ich knurre den Streamingdienst am frühen Morgen schon an, los, überrasch mich. Der Streamingdienst sagt wie immer, ich solle modernen Songwritern beim Winseln zuhören, ich möchte das nicht. Ich fragen einen Sohn, noch bevor er zur Schule geht, welche Musik er gerade hört, ich denke, ach komm, hörste eben mal was ganz Modernes, raus aus dem letzten Jahrhundert, raus aus dem Folk, aus dem Jazz, aus dem Blues, raus aus den ollen Gewohnheiten. Ruhig auch mal auf die Gegenwart achten, denke ich mir, beim Schreiben machste das ja auch so, da stehste doch so auf die Gegenwart oder was, und das sind ohnehin immer spezielle Tage, wenn ich mich schon selbst so flapsig anrede.

Ich frage also den Sohn, was er gerade so hört. Der Sohn nimmt die Kopfhörer kurz ab und sagt: „AC/DC und Iron Maiden.“ Okay. Das muss auch schön sein, sich so durch die Musikgeschichte zu arbeiten, alles noch vor sich zu haben. Kurz sehe ich vor dem inneren Auge das Zimmer eines Schulfreundes von damals, der hatte ein Iron-Maiden-Poster an der Wand. Wer war das noch? Längst habe ich es vergessen. Ich frage den Sohn, ob er auch Motörhead kenne, der Sohn sagt nein. Ich frage den Sohn, ob er denn wisse, dass ich mal wegen des lauten Hörens von Motörhead während des Unterrichts einen Tadel in Deutsch bekommen habe, ob ich das schon mal erzählt habe – der Sohn stöhnt und entflieht eilig.

Ich klicke im Streamingdienst bockig irgendwohin, ich finde eine Phonk-Playlist. Ich habe noch niemals etwas von dem Begriff Phonk gehört, was ist das nun wieder. Ich lese das nach, ich höre zehn Minuten Phonk, dann höre ich Drift-Phonk, es verzweigt sich immer alles. Danach habe ich noch schlechtere Laune.

Egal. Ich klappe das Notebook zu, ich gehe raus. Vor dem Discounter steht einer mit freiem Oberkörper und tanzt. Lange Haare hat er, die wirft er wild herum und vergleichsweise happy sieht er dabei aus, was allerdings auch kein Kunststück ist, wenn man sich die Passanten so ansieht, man wirkt hier im Vergleich recht schnell exaltiert und vergnügt, dafür würde auch schon das dezente Heben eines Mundwinkels reichen. Zu welcher Musik tanzt der da? Die hört nur er, die Musik, und nicht einmal über Kopfhörer, nein, die hört er einfach so, ganz ohne alle Hilfsmittel, die wird wohl nur in seinen Gedanken abgespielt. Er hat die Bässe im Kopf, ich dagegen kann den Rhythmus nicht hören, der da vermutlich in seinem Hirn wummert, ich kann den Beat nur sehen, an den wedelnden Armen, an den wirbelnden Haaren, an den wippenden Füßen kann ich ihn erkennen, schnelle Musik wird es sein. Der Mann ist ein autonomer One-Man-Rave, der geht ab, und wie der abgeht.

Und die, die zum Discounter wollen, die gehen nur rein. So wie ich.

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Die Unmöglichkeit eines Kastens

Ich lese beim Frühstück in den Highsmith-Tagebüchern, sie ist da immer noch ganz jung und schreibt Sätze wie etwa: „Eines Tages werde ich gut sein. In allem.“ Ich bin ein paar Jahrzehnte älter, als sie es bei diesem Eintrag damals war, ich bin mittlerweile eher bei: „Eines Tages werde ich weniger machen. Von allem.“

Aber bis dahin volles Programm, versteht sich. Noch eine eng getaktete Arbeitswoche im Home-Office voraus, noch ein Text als To-Do, noch eine zu haltende Deadline. Noch weiterer komplexer Orga-Kram mit Ämtern und Institutionen, noch mehrere schwierige Mails zu schreiben, noch drei (!) Klassenarbeiten der Söhne, davon eine am letzten Tag vor den Ferien. Muss das denn in pandemischen Zeiten so sein? Ich finde, aber das sagte ich neulich bereits, es nicht richtig, die Kinder – meine Kinder, alle Kinder – immer weiter unter Druck zu setzen. Nein, ich finde es sogar grundfalsch. Es ist auch für sie der 21. Pandemiemonat. Oder welchen wir gerade haben, ich habe längst keine Lust mehr, das nachzurechnen.

Als Hörbuch läuft beim Einkaufen Axel Hackes „Über den Anstand in schwierigen Zeiten.“ Das Buch ist von 2017 und es ist eigentlich kaum vorstellbar, wieviel schlechter die Lage bei dem Thema seitdem noch geworden ist, von Pegida und Trump zu den Querdenkern, es ist ein wenig herunterziehend und nicht recht vorstellbar, wie es eigentlich jemals wieder bergauf gehen soll. Dennoch eine wiederholte Empfehlung, es ist lohnend, darüber nachzudenken. Herr Hacke endet in seinen Bezügen bei Marc Aurel, Erich Kästner und David Foster Wallace. Anstand kommt in der Weltliteratur dauernd vor, man muss nur darauf achten.

Über weite Strecken finde ich es interessant, da noch einmal mitzudenken, ich habe das Buch vor Jahren schon einmal gelesen. Wie es ohnehin ergiebig ist, diesem etwas vagen Begriff „Anstand“ so lange nachzugehen, bis man seine Substanz erfasst hat, das kann man natürlich auch ohne Buch. Bei Michael Bordt habe ich einmal gelesen, dass alle Philosophie zuerst ein Klären der Begriffe ist. Das klingt banal, aber ich fand es damals erhellend und es hat sich mir eingeprägt. Er hat empfohlen, den Begriffen, mit denen man sich immer wieder herumschlägt, gründlich nachzugehen, viel gründlicher als gewohnt. Also etwa auch dem, wonach man sich sehnt oder dem, wovor man sich fürchtet, was einen belastet usw., und da hatte er Recht, glaube ich.

Wenn ich also z.B. immer wieder sage, dass ich meine Ruhe haben will, dann wird es erst interessant, wenn ich diese Ruhe vollständig durchdefiniere und zack, bin ich, weil ich mich etwa gewissen gesellschaftlichen Ansprüchen hartnäckig verweigern möchte, knietief in meiner persönlichen Gesellschaftstheorie. Das kann auch Spaß machen. Aber man kommt ja zu nichts, nicht einmal zum Denken.

Nachdenken, dies vielleicht noch abschließend, ist womöglich bereits ein Bestandteil des Anstands. Das kommt bei Hacke ebenfalls vor, dass man schon dann, wenn man sich, wie kurz auch immer, fragt, was denn bloß richtig sei, schon tendenziell anständig verhält. Was wohl im Umkehrschluss heißt, dass sich immer mehr Menschen gar nichts mehr fragen, dass sie nur noch rabiate Sicherheiten und Ausrufezeichen im Kopf haben. Warum?

Ja, warum, warum. Ich weiß es doch auch nicht. Ich denke immer wieder darüber nach, auch weil irgendetwas in mir hartnäckig glaubt, es müsse darauf eine bündige Antwort geben. So eine Antwort von der Art, die in 50 Jahren in einen kleinen Erklärkasten in der Seitenleiste eine Geschichtsschulbuchs der Mittelstufe passen müsste. In so einen Kasten also, den die Schülerinnen vor der Arbeit schnell noch einmal durchlesen. Das ist aber Unfug, das ist nur ein Wunsch, der aus routinierter Denkgewohnheit entstanden ist, man hat es doch in der Schule einmal so gelernt. Am Ende passt die Antwort auf die Warum-Frage gar nicht in einen Kasten? Am Ende füllt sie eher eine ganze Buchreihe, ein Studium, ein Theoriegebäude der größeren Art. Am Ende wird sie erst dann halbwegs verständlich, wenn man irgendwann – viel, viel später! – im historischen Rückblick endlich einen neuen -ismus an einen Teil unserer Epoche dranhängen kann. Mag sein. 2020/2021 begann der -ismus. Dann merken sich alle 2020/2021 und das neue Schlagwort, fertig. Aber da sind wir noch lange nicht.

Wenn ich die Unmöglichkeit eines Erklärkastens für möglich halte, was ist dann mit den Kästen, die schon da sind, die wir in den Geschichtsbüchern bereits finden. Verwirrend! Die Suche nach bündigen Antworten ruhig auch mal als Teil der Probleme betrachten. Am Ende ist vielleicht nur das richtig, was eigentlich ein Scherz war, am Ende ist die Antwort nämlich immer und ernsthaft: „Es ist kompliziert.“ Auch das mal als Inschrift auf einem Grabstein vorstellen. Ein schöner Abschluss, und da haben die Vorübergehenden dann gleich Gesprächsstoff.

Ansonsten haben wir gestern einen Weihnachtsbaum besorgt. Ein Sohn bestand dabei spontan auf einem eigenen Baum für sein Zimmer, einer fragte, wieso wir überhaupt so etwas wie einen Baum brauchen. Wieviel Meinungsvielfalt schon in eine Familie passt. Außerdem gab es gestern eine halbe Stunde am späten Nachmittag, in der mein Nachbar in seiner Küche stand und laut übend „Gloria in excelsis deo“ sang, während ich in meiner angrenzenden Küche stand und Rotkohl kochte, das war mit Sicherheit der dezembrigste Moment des Monats bisher. Beim Blick aus dem Küchenfenster hinaus ins Winterdunkel sah ich den hellen Stern im Kirchenfenster gegenüber, es war kurz nahezu stimmungsvoll in meiner Nelkenzimtapfelrotkohlwolke. Ich bleibe dran und werde berichten.

Noch ein paar Links.

Sie wartet also.

Ekstatisch, die Hände zum Himmel

Omikron ist keine Welle, sondern eine Wand

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Dieser eine Tag

Die Musik heute etwas beschwingter, das passt schon.

Am Montag nämlich, das wollte ich noch erzählen, hatte ich einen guten Tag. Es fiel mir morgens noch nicht recht auf, es dämmerte mir dann allmählich am Vormittag und wurde gegen Mittag vollkommen klar – es lief, und wie es lief. Der Erledigermodus war dermaßen angeschaltet und hochgeregelt, es lief alles zackzack, Captain auf Brücke. Besonnen und zielstrebig habe ich das Schiff durch einen ereignisreichen Tag voller Wirbel und Stromschnellen und Wellengang gesteuert. Anspruchsvolle Arbeit, konzentriert abgewickelt. Es kam eine gute Nachricht, ich habe sie freudig, aber nicht zu freudig zur Kenntnis genommen, die Konsequenzen ruhig überschlagen und mit der Herzdame besprochen. Maßnahmen abgeleitet. Es kam eine schlechte Nachricht, ich habe sie gefasst aufgenommen und einsortiert und mit der Herzdame besprochen. Maßnahmen abgeleitet und kurz gedacht, das war jetzt beides wie in einem hervorragenden Projektteam, das war lehrbuchgerecht. Genau so muss das. Der Ball kommt in unsere Hälfte, und dann bitte alles wie im Training, dann der Aufstieg. Super.

Nebenbei Ideen zu Texten notiert. Viele. Zwischendurch habe ich mich nach einem Buch auf dem Boden eines Kinderzimmers gebückt und gedacht, nanu, das geht ja heute auch besser. Voll beweglich auf einmal, geradezu limbofähig, also für meine Verhältnisse, eher Seniorenlimbo, immer realistisch bleiben. Das bin ich nicht mehr gewohnt, seit ich zu Beginn der Pandemie zu lange am falschen Tisch gesessen habe, ich bin einer von vielen mit verbogenem Rücken durch wochenlange Büroarbeit in der Küche, auf vollkommen ungeeignetem Mobiliar. Man dachte doch damals, es sei nur für kurze Zeit, und dann kam noch ein Tag und noch einer, dann wurden es Wochen, dann ging das einfach so weiter und irgendwann war ich krumm.

Nach dem Home-Office der Haushalt, das bisschen Haushalt!  Geradezu mit Freude habe ich den bewältigt, kennen Sie das, wenn man so mit Schwung staubsaugt und die Wäsche danach munter auf die Leinen wirft, wenn man mal eben zum Einkaufen sprintet. Dann selbstverständlich noch mit den an diesem Tag erstaunlich willigen Söhnen gelernt, anschließend für die Familie gekocht und die Küche gemacht und all das, es lief immer weiter und wie das lief, und ich saß abends auf dem Sofa und dachte, alter Schwede, war das alles gut, was war das denn. So ein feiner Tag, den muss man ja loben wie der Tierarzt einen Hund nach der Untersuchung lobt, so ein feiner Tag war das, freundlich durchzauseln wollte ich ihn.

Am nächsten Tag war der Zauber wieder weg. Ich bin normal unmotiviert nach schlechter Nacht aus unruhigen Träumen erwacht, ich habe alle Probleme nervtötend verwirrend gefunden, die Arbeit grau und belastend, den Alltag überhaupt enervierend, den Haushalt so furchtbar ermüdend, wie er nun einmal ist. Die Söhne wollten nicht lernen, niemandem schmeckte mein Essen, dazu die verdammte Pandemie, das Höchstmaß der Gefühle war der gerade noch halbfrohe Fatalismus, dann bloßes Durchhalten, der olle Stoizismus, muss ja.

Aber dieser Montag …. Irgendwann früher war das vermutlich öfter so. Vor der Pandemie oder so. Vielleicht ist es auch noch länger her. Ich habe die Brücken unterwegs gar nicht gezählt, ging ich nicht bereits über sechs oder sieben – aber wer glaubt schon an Botschaften oder Insights, wie wir heute sagen, aus deutschen Schlagern. Wenn das Gras grüner ist, dort wo du nicht bist, dann geh doch. Howard Carpendale war das, die Älteren erinnern sich unweigerlich. Alle Texte kann ich noch, es ist der Fluch meiner Generation. Haben sie uns etwas genützt, die eingängigen Refrains, haben sie sich bewährt? Take it easy, altes Haus. Mach dir nichts draus.

Egal. Eine ausgesprochen nette Erinnerung war dieser gelungene Montag jedenfalls. Sie passte zu den so ungemein lebensbejahenden Tagebüchern der Highsmith, die ich gerade jeden Abend mit Interesse lese, am Ende hat da mein Unterbewusstsein da irgendwas geregelt. Das Unterbewusstsein also vielleicht auch mal loben, so ein feines Unterbewusstsein, das hat es richtig gut gemacht, wie tätschelt man sein Unterbewusstsein.

Und jetzt wieder weiter im pandemischen Trott. Es war eine reizende Abwechslung, dieser eine Montag, aber dummerweise fällt mir jetzt ein paar Tage lang wieder verstärkt auf, wie anstrengend alles gerade ist. Irgendwas ist immer.

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Links am Morgen

Ich habe für das Goethe-Institut etwas über Weihnachtsmärkte geschrieben.

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Alles geht zu  Ende, das Jahr nun endlich auch.

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Ich lese in den Tagebüchern der Patricia Highsmith. Sie ist da gerade noch sehr jung und ungeheuer selbstbewusst, genau wissend, dass sie es schaffen wird, ohne jeden Zweifel schaffen wird, und sie treibt der unbedingte Wille zum Erfolg. Sie hat eine wilde Affäre nach der anderen und eine solche lebendige Gier auf alles, dass man sich beim Lesen gleich noch viel abgeklärter, realistischer, älter, fatalistischer und resignierter fühlt, als man ohnehin schon ist. Aber es ist doch immerhin eine nette Erinnerung an die Möglichkeit eines anderen Grundzustandes. Auch das ist nämlich eine nicht zu unterschätzende Bereicherung durch das Lesen: Anderes für grundsätzlich möglich halten. Gute Sache.

Ich höre zwischendurch, beim Einkaufen und beim Kochen etwa, den Schimmelreiter von Storm in der Reclam-Hörbuchausgabe. Das gibt es auch bei Youtube, sehe ich gerade, darunter ist nur ein einziger Kommentar, eine einsame Frage steht da: „Ist hier jemand aus der 8c?“, das fand ich schön und irgendwie anrührend. Aber liest man den Schimmelreiter denn wirklich schon in der 8? Ist das nicht viel zu früh? Ich weiß nicht mehr, wann ich ihn zuerst gelesen habe, als Jugendlicher irgendwann, eher mit 16 etwa, dann als Erwachsener noch mehrfach, ich mag das Buch sehr. Ich habe bei der Novelle diesen seltsamen Effekt, dass mir der Einstieg in die Rahmenhandlung zu einer Art ASMR-Effekt verhilft, ich weiß gar nicht, ob das anderen Menschen auch mit Texten so gehen kann? Kennen Sie dergleichen? Dass da nämlich der Erzähler so ausführlich einleitend erzählt, dass er früher einmal einen Text gelesen hat, in dem jemand erzählt, dass ihm etwas erzählt wurde, was wiederum auf alten Erzählungen beruht – ich könnte schnurren, wenn ich denn könnte. Es ist etwas ausdrücklich Körperliches, es ist sehr merkwürdig.

Ich habe eher wenig tatsächlich machbare Punkte auf meiner Bucket-List, aber einmal noch etwas mit Rahmenhandlung schreiben, und sei es nur eine ganz kurze Geschichte, das steht tatsächlich drauf. Vielleicht wenn die Söhne aus dem Haus sind, man muss dann ja auch etwas vorhaben.

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Eine Dankespostkarte (enthält auch eine Art Trinkgeldbericht und sonstigen Dank)

Rückseite

Ich habe zu danken für die Zusendung eines gewünschten Buches von Stig Dagermann sowie auch größerer Mengen Weihnachtstee. Jetzt fehlen mir nur noch diese ruhigen Winterabende, von denen immer alle reden und schreiben, dann wird hier auch exzessiv gemütlich gelesen, aber sowas von. Ganz herzlichen Dank also an die Schenkenden, auch im Namen diverser weiterer Familienmitglieder, die vom Tee in den nächsten Wochen ebenfalls profitieren werden.

Und wo ich schon dabei bin – ich habe die Trinkgeldberichte in den letzten Wochen nicht geschafft, pardon. Ich bekomme die größeren Posten aber noch zusammen. Sie haben mit den Summen zum einen den Zoobesuch bei Hagenbeck bezahlt, über den ich ausführlich geschrieben habe, ferner den Besuch des Kletterwaldes, ich berichtete ebenfalls. Dann gab es noch den Besuch eines sogenannten Spaßbades, ich erwähnte es selbstverständlich, wenn auch eher am Rande. Alle Ausflüge fanden zu Zeiten statt, als uns das noch passend und machbar vorkam, es ist teils schon eine Weile her. Ich wollte dem fraglos vorhandenen Nachholbedarf der Söhne zumindest ansatzweise gerecht werden, viel mehr an gut und zwischendurch machbaren Ausflügen fiel uns dann allerdings auch nicht ein.

Wir haben außerdem Trinkgeld in guten und sehr guten Espresso investiert und einen erheblichen Anteil auch in meinen neuen Computer, sonst würde hier nämlich gar nichts stehen, da die Söhne überzeugend dargelegt haben, dass sie mein altes Notebook für Minecraft etc. benötigen. Was will man machen, sie sind mittlerweile zu alt für Holzspielzeug.

Aus dem Sommer, der war wohl neulich noch, wenn ich meinen Notizen glauben darf, war noch zweckgebundenes Geld für Eis übrig, das haben wir erst jetzt verwendet, saisonal angepasst als Beilageeis zu Bratäpfeln. Immer flexibel sein!

Heute Morgen habe ich, da wird sich jetzt jemand wundern, wie lange ich manchmal brauche, das Geld mit dem Betreff „Für belegte Brötchen“ ausgegeben (und fast einen Herzinfarkt bekommen, als ich sah, was die heute kosten. Alter Schwede! Geht‘s noch? Ich bin ganz aus der Übung bei dem Thema, ich schmiere ja immer brav und sparsam Schulbrote).

Ebenfalls aus grauer Vorzeit war noch eine kleine Summe mit Betreff „Ikea“ übrig, das ist jetzt ein Lampenanteil im Wohnzimmer geworden.

Die beiden ältesten Betreffzeilen, die sich auf Summen beziehen, die ich nach wie vor noch nicht ausgegeben habe, verweisen übrigens auf die Ostseewanderung mit Sohn II, die mir in Pandemiezeiten nicht mehr passend oder machbar erschien, und auf die Zutaten für Bananenbrot. Ich kam einfach nicht dazu. Dabei finde ich Bananenbrot gut. Aber hier wird nichts vergessen, gar nichts. Irgendwann wieder wandern, womöglich mit Bananenbrot dabei.

Vielen Dank jedenfalls für jeden eingeworfenen Euro und auch jeden Cent, wie fast immer wird auch etwas in die Weihnachtsgeschenke für die Söhne gehen, welche hier noch nicht zu erörtern sind.

Und dann noch ein weiterer Dank, ich hänge ihn hier einfach dran. Ich hatte da gerade diesen Text in einem kirchlichen Adventskalender mit geradezu monströser Auflage. Dazu erreichten mich erstaunlich viele und überaus freundliche Zuschriften auf etlichen Kanälen. Ich bin sicher nicht allen gerecht geworden, aber ich habe mich sehr, sehr gefreut, das war toll.

Also, ich danke bewegt und gerührt, bestes Publikum, es war mir alles ein Fest, ist es noch.

Vorderseite

Ein sehr frisches Bild, gerade einmal zwanzig Minuten ist es im Moment des Schreibens alt, und wir brauchen wieder Bewegtbild und Ton auf dieser Karte, aber das kennen Sie ja schon. Die Kulisse: Eine abendliche Straße neben dem Hauptbahnhof, es ist etwa 18 Uhr an einem Wochenendtag. Schwach beleuchtete Hotels, geschlossene Restaurants, Dunkelheit und Tristesse, rotes Ampellicht auf nasser Straße. Treibender Schneeregen bei einem Grad, es bleibt nichts Weißes liegen, es ist einfach nur unangenehm und unansehnlich, es ist Dezember in Hamburg, wir haben es hier nicht so mit dem Winter Wonderland. Im Hintergrund der riesige Bahnhof, hastende Menschen einsaugend, alles rennt auf die lockenden Lichter im Gebäude zu, durch den Regen, durch den Schnee, durch das graue Gemisch. Geöffnete Schirme, hochgeschlagene Kragen und Kapuzen, hochgezogene Schultern, es wird gerade immer noch mehr, was einem da eisig um die Ohren fliegt. Da vorne ein Vater in Outdoorjacke, der krümmt sich schiebend über den Bügel eines Buggys, den er im Laufschritt durch diesen scheußlichen Abend lenkt. Im Buggy ein Kleinkind. Ob Mädchen, ob Junge, es ist im eiligen Vorbeimarsch nicht zu erkennen, aber ein frohes Kind ist es, so viel steht definitiv fest. Sehr vergnügt ist es sogar, hell begeistert ist es von diesem Wetter, da ist nämlich Schnee in der Luft, Schnee, guck mal, Schnee! Das Kind hat sich nach vorne gebeugt, die eine Hand hält den Sicherheitsbügel über dem Sitz wie die Zügel der Rosse eines antiken Streitwagens, die andere Hand hat es jubelnd und winkend nach vorne gereckt, in die Nacht, in den heranjagenden Graupelschauer, in die Kälte, die Nässe, und das Kind singt aus Liebeskräften und herrlich falsch, jauchzend vor Begeisterung: „Sankt Martin ritt durch Schnee und Wind …“, während sein Vater hinten zuverlässig immer weiter trabt und schiebt.

That’s the spirit, denke ich, als ich das enthusiasmierte Kind überhole, that’s the spirit. Allerdings habe ich ihn gerade eher nicht.

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So geht es zu da draußen

Vielleicht ist dort, wo Sie wohnen, gar keine Stadt, vielleicht nur ein Städtchen, ein Dorf? Vielleicht möchten Sie wissen, wie das gestern in der Stadt war, wie es in einer großen Stadt war, mit diesen neuen Regeln für die Läden?

Ich habe nachgesehen. Die Innenstadt ist hier um die Ecke, das ist mein tägliches Spaziergangsrevier. Die Fußgängerzonen mit den Geschäften der großen Ketten, diese Gegend also, in der sämtliche Einkaufstouristen unweigerlich landen. Es ist im Moment auch die Gegend, die ein fast durchgehender Weihnachtsmarkt ist. Die Weihnachtsmärkte habe ich mir ebenfalls und gründlich angesehen, aber darüber schreibe ich an anderer Stelle, ich verlinke in Kürze.

Die Läden also. Ich gehe zunächst durchs kleine Bahnhofsviertel und gucke dort nach. In der Tür des Geschenkeladens steht einer und ist, ich möchte diese beiden Begriffe am liebsten unterstreichen, nachdrücklich freundlich. Er sagt den Kundinnen, dass sie selbstverständlich reinkommen können, dass das gar kein Problem sei, da Handy, hier Scanner, dort Ausweis, zack, fertig, war das jetzt schwierig oder was, nein, das war es wirklich nicht. Ich sehe zu. Es gibt Kundinnen, Kunden sind mitgemeint, die steigen auf diesen Tonfall ein, die reden auch so nachdrücklich freundlich, es ist ein wenig wie in einem Sketch, alle Dialoge gescriptet, alle aufgesagt: „Guten Tag, wir möchten gerne rein! Hier, das Zertifikat, hier, der Ausweis! Das ist aber schön, wie das klappt!“

Der Laden ist nicht leer, er ist auch nicht voll. Er ist vielleicht exakt so voll, wie er jetzt sein darf. Andere Läden haben allerdings gar nicht erst aufgemacht, ist das ein Zufall, hat da jemand einfach keinen Bock mehr, ich weiß es nicht. Vielleicht sortieren sie dort auch noch die Maßnahmen durch und öffnen heute später, das mag sein. Menschen stehen unschlüssig vor den Türen von Reinigungen und Handwerksbetrieben, darf man da jetzt einfach rein oder wie, ist das Handel, wie war das denn jetzt, also was nun. Sind Blumen Grundbedarf? Auch egal eigentlich, wir sind ja geimpft. Man hält das Handy mit dem Zertifikat hoch, immer mutig voran.

Die Restaurants, Kneipen und Cafés sind, ich prüfe das mehrfach am Tag, definitiv leerer als sonst. Sie sind nicht gerade trostlos leer, aber doch immerhin so leer, dass man überall mit Sicherheit noch einen Platz bekommt. Das ist ein Zustand, den es in diesem gerne Szeneviertel genannten Stadtteil sonst nicht gibt. Es gibt eher das Gegenteil, also die Gewissheit, nirgendwo einen Platz zu bekommen. Die letzten Wochen war das noch so, es ist jetzt wieder gekippt.

An einem italienischen Restaurant hängt ein Hinweiszettelrekord im Fenster, mittlerweile acht Regelblätter kleben da an der Scheibe. Maskenregeln, Abstandsregeln, G2, Sonderöffnungszeiten, was weiß ich alles. Teils ist das gar nicht mal so groß gedruckt. Ganz unten auf einem Blatt mit viel erklärendem Text steht: „Die Regeln für Kinder und Jugendliche können je nach Bundesland abweichen.“ Als ob eine Bundeslandgrenze durch den Laden gehen würde. Was gilt wo, es weiß ohnehin niemand mehr zuverlässig. Es gibt jetzt Apps dafür.

Vor dem asiatischen Massagesalon stehen zwei männliche Jugendliche und stellen sich ganz andere Fragen, nämlich ob es da drinnen nun um sexuelle Dienstleistungen geht oder doch nur um blöde Massagen. Sie diskutieren hin und her: „Alter, das sieht man doch!“ „Digger, was siehst du, ich seh da überhaupt nix.“ Klischeemäßig verpickelte Gesichter vor einer Grafik mit Fußreflexzonen und einer Winkekatze.

Ich gehe in die Innenstadt. Skandinavien hat Ausgang, die Stadt ist voller Touristen aus dem Norden. Es werden viele Fotos gemacht, man hört enorm viel Fremdsprachliches, ich kann die Sprachen nicht immer sicher unterscheiden. Mehrheitlich ist es Schwedisch, glaube ich. In den ruhigeren Nebenstraßen stehen überall Menschen mit aufgeschlagenen Reiseführern und geöffneten Karten-Apps auf den Handys, die suchen den Weg zurück ins Gewimmel, zu den Attraktionen, zum Rathaus, zum Hafen, zur Alster. Aus einem Imbiss kommt laute Reggae-Musik, ein Familienvater macht übermütig alberne Tanzschritte vor der Tür dazu. Seine pubertierende Tochter pfeift ihn an, er möge bitte nicht so entsetzlich peinlich sein, und ich verstehe ihren gezischten Satz, obwohl ich ihn mangels Sprachkenntnis gar nicht verstehen kann. Parents international.

Vor den Geschäften gibt es Schlangen, natürlich gibt es jetzt Schlangen. Lange Schlangen auch, besonders vor der Mode, und ganz besonders vor der jungen Mode. Es ist unspektakulär schnell erklärt, fast alle Menschen in den Schlangen tragen Masken, warten brav und rücken nach und nach vor. Dann die Kontrolle, die bei allen Läden, die ich gesehen habe, geradezu unhamburgisch freundlich abläuft. Die Läden sind jetzt nicht mehr brechend voll, aber immer noch gut voll, die meisten Läden jedenfalls. Die Straßen allerdings sind unverändert rappelvoll, alles geht und steht dicht an dicht. Massen, Völkerscharen, das Umland ist sicher auch komplett angetreten. Möchte man das konsumfreundlich sehen, so kann man den Leuten wirklich nicht vorwerfen, sie würden ihr Geld nicht ausgeben wollen. Und wie die wollen.

Aus einem Bekleidungshaus kommt ein Paar mit großen Papiertüten, der Türsteher vom Sicherheitsdienst sagt, und auch das klingt wie ein Satz aus einem falschen Drehbuch: „Kommen Sie doch bei Gelegenheit gerne einmal wieder vorbei.“ Ein Satz, der in eine Boutique passt, aber hier? Es ist alles etwas seltsam, aber auch alles ziemlich nett. Jedenfalls das, was ich sehe und höre, es bleibt selbstverständlich eine ungenügende Zufallsstichprobe.

Ich sehe keinen Protest, ich höre keine bösen Sätze. Später lese ich staunend, dass ich eigentlich durch eine Querdenker-Demo gelaufen sein müsste, durch eine ziemlich große Demo sogar. Ich habe sie nicht gesehen. Entweder stimmten die Zeitangaben auf der Nachrichtenseite oder die auf meinem Handy nicht, vielleicht bin ich auch durch einen aberwitzigen Zufall unachtsam durch eine große Lücke der Demo gegangen, ich weiß es wahrhaftig nicht. Ich habe nichts gesehen, ich habe nichts gehört. Für meine Rolle als Beobachter und Chronist ist das wiederum erhellend, eine Verschiebung von zehn Minuten und ein paar Metern wäre wohl nur nötig gewesen, und Sie hätten hier keinen Bericht über Freundlichkeiten an Geschäftseingängen gelesen, sondern Beunruhigendes über verschwurbelte Aufrührer. So kann es gehen, so wechselhaft ist das Stadtbild.

Einen Mann nur habe ich gesehen, der stand mit einer Fahne vor der Kunsthalle. Was auf der Fahne stand, konnte ich nicht lesen, es war zu viel Text, die Symbole kannte ich auch nicht. Der Mann sah bedröppelt aus und guckte unglücklich, ich dachte, der sei da allein und der Protest sei wohl eher in sich zusammengefallen, er hier der ratlose Rest. Das war falsch, aber so sah es in dem Moment aus.

Es ist schon eine Weile her, da berichteten Medien über Unruhen in einer Stadt, in den USA war es, glaube ich. Die Timelines waren voll mit Videos von Demos, Rauch und Action, etliche beunruhigende Bilder der Gewalt. Und ein Journalist, dem ich auf Twitter folge, schrieb aus seinem Büro mitten in dieser Stadt: „Also hier ist nichts.“ Beides war sicherlich richtig. So geht es nun einmal zu da draußen.

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