Eine Woche der mehr als seltsamen Gespräche. Weltkriegsfolgen werden überall mehr oder weniger ernst abgewogen, wo man denn hinkann, was man macht, ob man überlebt. Teils zynisch, teils verzweifelt. Die Frage auch, ob ich eigentlich mit einem Gewehr umgehen könnte. Die Frage, was mit meinen KollegInnen in Kiew sei. All die aufsteigenden Erinnerungen der älteren Menschen. Meine Mutter sieht abstürzende Balkone, die hat sie mit fünf oder sechs Jahren gesehen, und jetzt stürzen sie wieder, wie in Zeitlupe und auf Repeat. Meldungen aus Altersheimen, dass die BewohnerInnen dort nach den Nachrichtensendungen durchdrehen.
Wir – also nicht zwingend ich, wir alle – besprechen Themen und Fragen, die letzte Woche noch undenkbar waren. Der Krieg bricht auch im Smalltalk aus, wie die Vorväter höre ich verdächtig oft „der Russe“ und „der Ukrainer“ und auch, versteht sich, „der Deutsche“, und wie wehrbereit der wohl ist, na, eher nicht so toll, allgemeines Kopfschütteln. Verweichlicht, wohlstandsverwahrlost, das Wort fällt in einem Podcast, in so einem mild spöttischen Tonfall, als ginge es um einen Sachverhalt wie etwa white men can’t jump. Wenn man verfriedlicht sagt, denke ich, klingt es schon anders.
Ich mache das Fernsehen an. Ich sehe sonst nie fern, jetzt aber doch mal die Nachrichten, beim Kochen nebenbei. Eine Frau wird interviewt, sie ist in Kiew. Sie sagt, ihre Freundin sei gerade getötet worden, sie stockt. Die deutsche Interviewerin sagt: „Okay.“ Ernsthaft. In diesem Konferenzraumtonfall sagt sie das, als hätte die andere gerade die Quartalszahlen aufgesagt, und weil die Frau aus Kiew danach nichts mehr antwortet, sagt sie noch etwas wie: „Das hört man ja nicht so gern.“ Das war eventuell kein wörtliches Zitat jetzt, kann sein, aber es trifft den Kern und ja, es war tatsächlich so schlimm. Ich mache der Moderatorin keinen Vorwurf, ich stelle mir immer die Frage, ob ich das denn besser gemacht hätte, und nein, wer weiß. Vorsicht bei der Berufswahl. Aber ich stürze zum Gerät, ausmachen, bloß ausmachen, bloß weg damit, der Fremdschämhorror des Jahres, das soll aufhören, ich brauche keine Schalte nach Kiew und keine Live-Berichterstattung, ich bin ein Textmensch und möchte es bitte bleiben.
Ich mache das Radio an, es läuft „Streitkräfte und Strategien“, auf NDR Info, das war früher mal eine ungeheuer langweilige Sendung und ist jetzt allzu spannend, wobei ich auch das Wort spannend furchtbar finde, und zwar nicht erst seit neuerer Zeit, sondern schon seit alle Menschen alles spannend finden, ihre Aufgaben, ihre Jobs, ihre Beziehungen, die Entwicklungen, den Krieg, alles ist spannend und ich denke immer, ihr spinnt doch.
Dabei spinne ich ja, weil ich morgens im Home-Office nicht die erste Mail lese und denke „Oh, eine spannende Challenge!“ Nein, ich lese das und denke was soll das denn, das auch noch, muss das jetzt sein. Und dann mache ich das dennoch, was da erforderlich ist, weil Job, weil Beruf, weil Alltag, weil Rolle. Ich bin dermaßen aus der Zeit gefallen.
Ich lese die Timelines und frage mich unfreundliche Fragen, ob bei denen da auf dem Bildschirm denn die Lampen nicht an sind oder was, so wie die auf einmal nahtlos auf Heldenverehrung umschalten und auf eine netflixmäßige Plotentwicklung lauern, es ist alles kurz vor Abenteuerfilm mit dem ukrainischen Präsidenten in der sympathischen Hauptrolle. Nichts gegen diesen Präsidenten, versteht sich. Aber wie sie alle Filmchen und Bilder aus dem Kriegsgebiet teilen, ungeprüft, unkommentiert, hau raus, es passt schon. Süße Szenen, grauenvolle Szenen, Tränendrücker und Späßchen, immer her damit, auch jede Eilmeldung gleich weiterflanken. Und für die eigenen Kinder fordern sie dann wieder vehement Medienerziehung und -kompetenz, das sollen die Schulen bitte mal richten.
Und dann das Männlichkeitsbild, das Frauenbild, das Kriegsbild, der allgemeine Rüstungstaumel, die starken Entscheidungen starker Männer. Die Wehrpflicht, wie alt sind meine Söhne, na, da fehlt ja nicht viel. Heute am Morgen irgendwo die Schlagzeile: „Lindner hat Großes mit der Bundeswehr vor“, und ich denke da gleich an Therapie, nicht zuerst an die Weltpolitik. Das macht mein Alter, Sie müssen das entschuldigen. Friedensbewegung und so, AKW nee und all das, wir haben das ja ernst gemeint damals, auch die Abkehr von den Heldenmythen, das Postheroische, give peace a chance. Wir haben Elternzeit genommen und fanden das richtig, die Care-Arbeit, die neuen Rollen, Mental-Load-Debatten, neue Männer braucht das Land, es stand vereinzelt an Wänden, erinnern Sie sich. All die Diskurse, und jetzt, zack, wir spulen mal eben ein Jahrhundert zurück, ich ziehe in den Krieg, du ziehst die Kinder groß.

Und die Umweltfragen müssen wir übrigens auch zurückstellen, weil Krieg. Wir nehmen das mit dem Klima gerade nicht mehr wahr, weil doch jetzt Krieg ist, da braucht man eben wieder mehr Kohle und auch Atomkraft, und wissen Sie was? Vermutlich wird der Klimawandel in absehbarer Zeit weitere Kriege auslösen und also werden wir ihn kategorisch nicht wahrnehmen können. Das mal so im Freundeskreis Pessimismus ausführlich besprechen.
Okay. In diesem Tonfall. Wie sie alle immer okay sagen, ich kann mich aufregen, die ganze Zeit kann ich mich aufregen.
„Wir spulen jetzt mal hundert Jahre zurück. Alles.“
„Okay. Das ist ja spannend!“
Ich kann gar nicht so viel kotzen, wie ich kommentieren möchte, oder wie heißt der Spruch vom Liebermann noch einmal. Schon gut. Das war eine rhetorische Frage.
Ich weiß nicht, was jetzt richtig ist, wirklich nicht. Ich weiß es nicht politisch, ich weiß es nicht einmal privat. Aber ich stolpere noch darüber, was mir gerade seltsam vorkommt.
Stolpern muss man auch wollen, denke ich.
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