Wenn etwas verboten ist

Alltag fressen Blog auf, es ist wirklich etwas mühsam im Moment. Einiges aus den letzten Tagen aber noch, Nebenbeinotizen sind es nur. An einem Wochenendmorgen ging ich zum Bahnhof, um Blumen und Brötchen zu holen, das klingt wie ein Lehrbuchsatz über Wörter mit B, merke ich gerade. Am Bahnhof gab es bürgerkriegsähnliche Zustände, an denen die meisten Passanten allerdings achtlos vorbeiliefen, eher desinteressierte Blicke zur Seite. Ein Bild, das schwer verständlich wäre, würde man Fußballfans und ihr Verhalten am Wochenende nicht seit Jahren kennen. Da wurden also wieder welche noch vor dem abendlichen Spiel aus der Stadt geworfen. Lautsprecherdurchsagen von Polizeiwagen: „Hiermit erteilen wir einen Verweis“. Die Aufforderung, diese Stadt zu verlassen, man denkt gleich an Western, wenn man so etwas hört, diese Stadt ist zu klein für uns beide. Viele, viele PolizistInnen, Polizeiwagen und eine auf der Straße eingekesselte Fangruppe, hupende Autos, entnervte Busfahrer, Fangejohle. Dann wurde noch gesagt, dass man die unbändige Truppe jetzt augenblicklich zu einem Zug geleiten würde, zu einem Zug nach Lübeck, von wo aus dann alle beliebig weiterreisen durften, nur eben nicht zurück nach Hamburg, das auf keinen Fall, es wurde mehrfach gesagt und betont. Zugbrücken, dachte ich, Zugbrücken waren damals doch ganz praktisch. Nach Hamburg, so wurde weiter erklärt, durften die unwillkommenen Gäste erst wieder nach 22 Uhr. Solche Präzisierungen sind verständlich, aber auch amüsant, denn um 22 Uhr wird bekanntlich nichts besser oder auch nur anders, an keinem Tag. Aber gut, Platzverweise werden stets zeitlich begrenzt, ja, ja.

Auf dem Bahnhofsvorplatz lagerten jedenfalls etliche Polizistinnen und Polizisten in voller Kampfmontur, gerüstet wie Actionfiguren vor dem letzten Gefecht. Sie saßen in Einsatzwagen, sie standen vor Einsatzwagen, sie gingen gelangweilt herum. Sie liefen zu Einsätzen, sie rauchten eine oder redeten. Sie standen grimmigen Blickes und sprungbereit zur Verfügung, sie warteten auf weitere Order. Drei standen etwa, als ich gerade dort vorbeiging, in einer Reihe, warteten da nebeneinander auf etwas, ruckelten noch einmal Teile ihrer Ausrüstung zurecht, ob auch alles da war und richtig saß. Hinter ihnen ein weißes Pavillonzelt, es gehörte zu einer Kreuzfahrtgesellschaft, die hier ihre mit dem Zug anreisenden Gäste empfing. Direkt über den Polizisten konnte man den werbenden Schriftzug in großen Buchstaben lesen: „Hier ist das Lächeln zu Hause.“

So viel zum Bild des Morgens. In den letzten Absätzen kamen Busse vor, da habe ich ein Lied, fällt mir gerade ein. The innocence mission, Karen und Don mit Green Bus. Ein leicht perlender Song, ich mag ihn sehr. Und das Lächeln der Sängerin, überhaupt die Ausstrahlung der beiden.

An einer Ampel auf dem Rückweg wartete neben mir ein Mädchen im Grundschulalter, es sagte zu einem kleineren Jungen, den sie an der Hand hielt, zum kleinen Bruder also vermutlich: „Wenn etwas verboten ist, dann musst du es einfach nicht machen. Das ist ja jetzt nicht so schwer.“ Sie zog das o in dem Wort so sehr lang und sie sah ihn auch sehr streng an, weil es doch ernsthaft nicht zu verstehen war, wie dermaßen simple Regeln der Lebensführung ignoriert werden konnten. Also wirklich.

Dann standen wir da weiter und warten. Die Ampel zeigte Rot, und bei Rot geht man nicht, das ist nämlich verboten. Dachte ich.

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Ich wurde auf Twitter mehrfach darauf hingewiesen (vielen Dank!), dass die im letzten Text erwähnte Kuh vermutlich eine Schauspielerin war (hier die notwendige Erläuterung dazu ). Das klingt vollkommen plausibel, so wird es selbstverständlich gewesen sein, die hatte da Probenbetrieb, aber ich merke auch wieder: Es ist so eine Sache mit dem Gedächtnis. Bei einer Gegenüberstellung würde ich nämlich glatt sagen: Nein, diese Kuh war es nicht. Die sah anders aus, das Kuhbild in meiner Erinnerung weicht deutlich ab. Nachdenken über Kühe im Theater, das sind so die Probleme des Spätkapitalismus, meine Güte.

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Noch vor dem Erscheinen des Menschen

In einem Kommentar zum letzten Text wurde zum wiederholten Male vorgeschlagen, das Abschlusslied doch bitte gleich voranzustellen, so dass es beim Lesen als Soundtrack laufen kann. Tatsächlich schreibe ich auch so, es ist der Soundtrack beim Tippen. Es ist einen Versuch wert, heute läuft zum Blogartikel im Hintergrund also bitte: Echoes in the wind von den Lost Brothers. Es passt schon.

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Ich gehe abends durch den Hauptbahnhof. Am Zug in eine andere deutsche Großstadt stehen zwei und küssen sich. Sie hält einen Koffer und eine Tasche mit Proviant, er hält nur sie, und wie er sie hält. Ganz eng stehen sie und küssen die Stellen, die bei vollbekleideten Herbstmenschen für Lippen irgend erreichbar ist. Zwischendurch zeigt sie immer wieder auf die offenen Türen des Zuges, sie geht auch kurz darauf zu, dann aber doch zwei Schritte zurück und ein letzter Kuss, noch einer und noch einer, und dann fährt der Zug schließlich ab, sie ist nicht drin und sie lachen und küssen, sie gehen Hand in Hand zur Rolltreppe, er nimmt ihren Koffer und wir blenden hier ab.

Ich sitze auf einer Bank am Gleis. Der nächste Zug fährt nach Wien, es ist ein dunkelblauer Nachtzug, vor dem küsst sich niemand, aber das wird nur Zufall sein. In einem Abteil für vier Personen sitzen auf den unteren Pritschen zwei Frauen, sie öffnen eine Flasche Prosecco, es schäumt, sie lachen. In kein anderes Fenster kann man bei diesem Zug hineinsehen, heruntergelassene Jalousien überall, als sei es schon mitten in der Nacht.

Ich gehe in einen Drogeriemarkt im Bahnhof. Das junge Paar vor mir kauft mehrere Packungen Kondome, diskutiert aber in der Kassenschlange leise, wer überhaupt Geld dabeihat und wer die jetzt bezahlt. Ich habe auf dem Weg zu diesem Einkauf Tschechow gehört, die Geschichte von der Dame mit dem Hündchen. „Diesmal aber liebte er wirklich“, der entscheidende Satz. Ich habe die Geschichte mittlerweile zum dritten Mal gehört, glaube ich, sie wird immer besser. Ich höre beim Spazierengehen sicher ein Fünftel der Texte nicht, weil ich mit den Gedanken woanders bin. Ich müsste alles fünfmal hören, um es wirklich zu kennen, mindestens. Es ist aber auch egal, ich muss über die Texte keine Klausuren schreiben, es geht hier nicht um Leistung.

Man kann jetzt abends wieder auf diese Winterspaziergangsart in hell erleuchtete Restaurants hineinsehen, das mag ich. Zwei volle Rotweingläser werden in einem Fensterausschnitt erhoben und stoßen in meinem Augenwinkel aneinander, das freundliche Pling denke ich mir im Vorbeigehen dazu. Kellner beugen sich mit blaugrünen Wasserflaschen über Tische und schenken jemandem nach. Ein junger Mann hilft einer älteren Dame in einen sehr roten Mantel, sie lächelt und nickt. Weiße Stoffservietten werden geknüllt und auf leere Teller geworfen. Zwei Frauen in einem asiatischen Restaurant stecken die Köpfe über zwei Suppenschüsseln zusammen, dass ihre Stirnen sich fast berühren, sie sehen Fotos auf einem Handy an. Ein Mann greift in einer fast leeren Hotellobby nach der Hand einer Frau, die unsäglich gelangweilt zum Fenster sieht, wie lange dauert das hier noch. Er senkt den Kopf über ihre Hand. Ein Kellner geht auf die beiden zu und dreht kopfschüttelnd wieder ab.

Vor einem Restaurant steht eine Raucherin ohne Jacke fröstelnd in der Kälte, zündet sich eine Zigarette an und schließt beim ersten Zug lange die Augen.

Im Blumenladen auf der Ausgehmeile gibt es rosa Pfeffer, den Stiel zu 2,50, so steht es auf einem handgeschriebenen Schild. Den geliebten oder geschätzten Menschen ruhig einmal Pfeffer mitbringen, warum auch nicht. Ich stehe vor dem Schaufenster des geschlossenen und nur schummerig beleuchteten Ladens und denke, so also sieht das Laub vom Pfeffer aus. Wieder was gelernt heute. Doch gut, wenn man mal vor die Tür geht.

An der Ampel fährt ein Auto an mir vorbei, das hat einen Anhänger hintendran, einen kleinen Viehanhänger, einen ganz kleinen. Auf dem steht eine Kuh, eine Schwarzbunte. Es ist sicher naheliegend, dass es Anhänger für einzelne Kühe oder Bullen gibt, es ist nur ein so überaus seltsamer Anblick in der Mitte der Millionenstadt, dass da jemand am Samstagabend sein Rind durchs Szeneviertel fährt. Es wird einen Grund geben, es gibt immer einen Grund, und irgendwer kann immer alles erklären. Ich sehe diesem Tier nach, wie es weitergefahren wird.

Später lerne ich noch Geschichte mit Sohn II, nächste Woche die Klassenarbeit. Es geht um den Übergang vom Paläolithikum zum Neolithikum, etwa 9000 v.Chr. war das. Erst die Altsteinzeit, dann die Jungsteinzeit, der Mensch wird sesshaft, baut Korn an und hält Tiere. Er erfindet dabei versehentlich auch die Arbeit und den Besitz, was wir übrigens bis heute ausbaden müssen, wie bitter ist das eigentlich. Elftausend Jahre meins, meins, meins, elftausend Jahre das morgendliche „Wir müssen jetzt aufstehen.“

Ich schlage das Geschichtsheft des Sohnes auf und sehe mit väterlicher Freude seinen ersten Satz. In großen schwarzen Buchstaben und fett unterstrichen steht da auf dem Deckblatt, noch vor dem Erscheinen des Menschen im Holozän: „Was bisher geschah.“

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Das Laub ist jetzt in Mecklenburg

Der letzte Text ist schon vier Tage her, wie ist das nun wieder möglich, wo sind die Stunden, die Tage. Wo sind sie gebliehieben, das war jetzt kein Schreibfehler. Sie sind verpufft, sie wurden versemmelt, sie wurden veralltagt. Auf einmal steht in der Bäckerei schon die ganze Weihnachtsdeko, komplett mit Rentier aus Stroh und Attrappengeschenkkartons in rotem Glanzpapier, auf einmal gibt es dort wieder Baumkuchen. Schulkinder werden, es ist früh am Morgen, hereingeweht und bestellen Rosinenbrötchen. Es stürmt, es regnet, irgendwo gibt es auch Eisregen, höre ich später im Radio. Eisregen klingt nach Winter. Irgendwo wütet ein Tornado, irgendwo gibt es keinen Zugverkehr mehr.

Zwischendurch melde ich mich einen Tag krank, weil jede Zelle meines Körpers nach Ruhe verlangt. Ich lege mich hin und höre so enorme Mengen Golo Mann am Stück, dass ich hinterher fließend in seinem Satzbau reden kann, es sind sehr schöne erweiterte Infinitive dabei. Ich höre mir den Untergang der Weimarer Republik an. Papen, Schleicher, Brüning, erhebend ist das nicht gerade, also bleibe ich einfach liegen, dann geht es. Sollten Sie die Geschichte Deutschlands von Golo Mann einmal lesen oder hören, achten Sie doch bitte darauf, wie elegant er es vermeidet, einen gewissen rechtsextremen Diktator beim Namen zu nennen. Und mit welcher Sachlichkeit er über seinen schreibenden Vater und seinen schreibenden Onkel schreibt, mit welch nüchterner Einschätzung. Golo Mann war ein durch und durch Konservativer, aber noch einer von der Art, die man aushalten konnte. Die gibt es ja heute kaum noch. Beim Hören aber immer wieder die Frage, ob Geschichtsbücher nicht noch mehr Spaß machen würden, wenn die Schulbildung nicht fast alles gespoilert hätte? Okay. Kleiner Scherz.

Dann sitze ich doch wieder im Home-Office. Die Heizung ist kaputt, ich trinke heißen Tee und trage Pullover, ich sage siehste, es geht auch ohne und so spart man Geld. Die Söhne fragen, ob die Heizung denn repariert wird. Eine gute Generation, denke ich, sie stellen die richtigen Fragen. Ich schreibe mit kalten Fingern am Notebook, es werden keine Texte aus den angefangenen Sätzen, alles bricht ab. Am Haus gegenüber wird ein Gerüst aufgebaut, ein riesiges Gerüst, denn es ist ein großes, hohes und altes Haus mit einem malerischen Hansestadtgiebel ganz oben, historisierende Gründerzeit. Bis über diesen Giebel hinaus ragt das Gerüst jetzt, noch über mein Dachfenster, wo doch sonst nur Himmel ist, krähen- und möwendurchflogen. Die Gerüstbauer fügen die Teile in routinierter Geschwindigkeit zusammen, ein großer Metallbaukasten wird da bespielt. So müsste man schreiben können, denke ich. Einen Satz fest und verlässlich in den anderen verschrauben, bei jedem Wetter, in jeder Stimmung, hier bitte, das Gerüst, da steht es. Der schon recht alte Chef der Gerüstbaufirma steht unten, guckt hoch und nickt knurrend, die Daumen in den Gürtel gehakt: Okay, Feierabend.

Der Sturm rüttelt später wild an diesem Gerüst, das man ihm da einfach in den Weg gestellt hat, und wenn das jetzt fällt, denke ich beim Tippen, dann kracht es mir in mein Dachfenster und auf meinen Schreibtisch, und dann war es das hier aber, memento mori. Ein natürlicher Tod wäre das und so schlecht nicht für einen überzeugten Norddeutschen, bitte, da hast du deinen verdammten Wind.

Ich mache das Dachfenster auf und sehe raus. Der Himmel ist in rasender Bewegung, Wolken in Fetzen, die Luft lärmt tief grollend, unten von der Alster her kommt die Kaltfront direkt auf mich zu. Lass den Sturm ins Herz hinein, und versuche gut zu sein, Wolfgang Borchert war das. Vielleicht hat er es sogar hier in der Nähe geschrieben, ich weiß es nicht. Und an der Elbe, lese ich, steigt die Flut, Katwarn-Meldungen auf dem Smartphone. Das ist alles gut und schön, es ist später Oktober mit einer Ahnung von November, das darf und das soll auch so.

Ein Sohn hastet durch den quertreibenden Regen zu seinen Sozialstunden, er gibt Essen an Bedürftige aus. Die stehen Schlange vor der Tür, die drücken sich in Hauseingänge und an Fassaden und werden nass, sehr gründlich werden die nass. Der Sohn sagt, es waren wieder viele heute.

Die Herzdame und ich gehen zu den LEGs in die Schule der Söhne, Lernstandentwicklungsgespräche, heißt es, glaube ich. Die wievielten das wohl sind? Ich rechne kurz nach, bin mir dann aber nicht sicher, ich komme durcheinander und überhaupt, man muss auch nicht alles zählen. Das habe ich schon am Morgen gedacht, als um den Kirchturm zwölf Krähen flogen. Bin ich Graf Zahl oder was. Ich gehe in der Schule auf die Toilette, an der Wand steht: „Wer das liest, ist doof.“ Die Generation ist okay, originell ist sie nicht.

Der Sturm fordert Laub, der Sturm bekommt Laub, große Mengen davon, die reißt er fort, die rafft er zusammen, die nimmt er plündernd mit, die sind jetzt in Mecklenburg. Was auch immer die da mit unserem Laub machen. In einem Innenhof hier stehen vier junge Bäume schlagartig kahl und sehen dermaßen verschreckt und verprügelt aus, sie werden vermutlich bis Mai brauchen, um sich davon zu erholen.

Ich gehe auf den Wochenmarkt. Am Käsestand sagt der Mann: „Sie müssen nichts sagen, ich weiß doch, was Sie wollen.“ Wenigstens ein Mensch, denke ich, wenigstens einer. Ich bin nicht gänzlich unverstanden.

Im Park spielt ein junges Mädchen mit einem ebensolchen Hund, und das Fell des Hundes hat den gleichen Farbton wie die Übergangsjacke des Mädchens und wie auch das Laub, welches sie herumtollend in der auf einmal durchblitzenden Sonne aufwirbeln. Es ist ein idyllisches Fernsehwerbungsbild, an dem ich da lustlos vorbeigehe, es ist ein ach so schönes Herbstreklameplakat, und ich höre im Geiste die Sanostolmelodie von damals und gehe extra durch tiefe Pfützen. Wenn der Autor häufig lustlos ist, sagt eine Stimme in meinem Kopf. Ich habe damals schon gedacht, warum soll man denn bitte nicht lustlos durch Pfützen schlurfen dürfen, wenn einem doch danach ist? Ich habe damals nicht vieles richtig gedacht, glaube ich, aber das dann doch: Man hat ein Recht auf seine Lustlosigkeit. Kinder gegen Sanostol, die Bewegung gab es nicht, ich hätte sie gründen sollen. Hätte, hätte, Fahrradkette.

Noch ein trauriges Lied, dann ist Wochenende. Habe ich es geschafft, ganz frei zu haben? Nein, das habe ich nicht. Aber ich werde einfach so tun, als würde ich nur aus Spaß schreiben und wissen Sie was, ich werde es mir glauben.

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Seegetier von heikler Beschaffenheit im Herbst

Hier und da sind einige Äste an früh kapitulierenden Bäumen fast schon entblättert (es sind vor allem einige Linden, die da voreilig schwächeln, jetzt wohnt der Wind in den Zweigen, heißt es bei der Kaléko), im Wetterbericht für die nächsten Tage steht aber noch etwas von üppigen 20 Grad und der Nachbar übt seit Stunden Jingle Bells am Klavier, wobei er allerdings immer nur bis „all the way“ kommt, das erlösende „Oh what fun“ bleibt hartnäckig aus, fast möchte ich es ihm durch die Wand laut vorsingen. Egal, im Mittelwert ist dieses Gemisch dann also der 18. Oktober.

Die Außengastronomie lebt am Abend noch einmal auf, lautes Gemurmel an den Straßen und auf den Plätzen, Gläserklingen, Besteckgeklimper, gerufene Bestellungen, Sommergeräusche. Es wird nicht überall so sein, glaube ich, aber hier endet die Außengastronomie Ende des Monats, danach sollen die AnwohnerInnen Ruhe haben, bis März oder so, es gibt dann nur noch vereinzelte Glühweinstände. Auch deswegen wird jetzt jeder Abend bis zur letzten Minute genutzt, das Ende ist nah.

In den Hauseingängen sitzen hier und da Menschen, die sind nicht obdachlos und verzweifelt und verfroren, die sind nur jung und entspannt, die vercornern da den Abend.

Ich drehe die Abendrunde durch den Hauptbahnhof und über die Szenemeile, ich sehe nach allem, ich warte auf das Bild des Tages und warten Sie mal, ich habe da neulich was gefunden, fällt mir gerade ein, ich suche das mal raus.

Und zwar bei Jenny Odell, in ihrem Buch „Nichts tun“, Deutsch von Annabell Zettel. Das Buch habe ich bereits auf Englisch gelesen und etwas merkwürdig wenig verstanden, das ging mir sprachlich irgendwie quer, ich fand es sperrig und hölzern – aber inhaltlich war es doch interessant, ein gutes Thema ist das, ein sehr gutes sogar. Ich lese es jetzt auf Deutsch noch einmal, finde es ähnlich sperrig, verstehe aber deutlich mehr. Und die Odell jedenfalls zitiert dort, meine, Güte, was für ein langer Anlauf, John Steinbeck, und zwar einen Absatz aus der Einleitung der „Straße der Ölsardinen“:

„Es gibt Seegetier von so heikler Beschaffenheit, dass es einem unter den Händen zerbricht oder zerrinnt, wenn man es fangen will. Man muss ihm Zeit lassen, bis es von selbst auf eine Klinge kriecht, die man ihm hinschiebt, und es dann behutsam aufheben und in einen Behälter mit Meerwasser gleiten lassen. Auf ähnliche Art muss ich wohl dieses Buch schreiben: die Blätter hinlegen und es den Geschöpfen der Cannery Row überlassen, wann und wo sie darüber hinkriechen und sich darauf tummeln wollen.“

Da bekomme ich erstens sofort Lust, die Straße der Ölsardinen wieder einmal zu lesen, sie steht hier sogar im Regal und in Griffweite, da bin ich zweitens aber hell entzückt und geradezu hingerissen von diesem Bild des Schreibens. So abends um den Block gehen und sehen, was einem ins Bild gerät, was einem auf die Notizbuchseite gerät. Jenny Odell verwendet den etwas pompösen Begriff Beobachtungs-Eros.

Pardon, wo war ich? Ich drehe die Abendrunde durch den Hauptbahnhof und über die Szenemeile, ich sehe nach allem, ich warte auf das Bild des Tages und ich sehe es erst kurz vor meiner Haustür, nachdem ich schon die ganze lange Parade der Außengastro freundlich nickend und winkend abgenommen und alle Schaufenster gesichtet habe. Da steht eine junge Frau in einem nach französischem Film aussehenden Mantel vor dem Fenster einer Kneipe und spricht eine lange Nachricht in ihr Handy. Dann tippt sie auf den Bildschirm, vermutlich auf Senden, sieht kurz zum Himmel, lächelt, drückt das Handy an ihr Herz und sieht sehr, sehr glücklich und hoffnungsvoll aus. Ja, denke ich, so ein Abend, so eine Luft noch einmal.

Ansonsten war Schulanfang in Hamburg. Ein Sohn meldete sich am Morgen nach etwa 5 Minuten Unterricht krank und kam wieder nach Hause, that escalated quickly. Nur leichte Kost gab es heute für ihn, etwas Täubchen, etwas Franzbrot. Ach nein, das war die andere Familie mit Budden- vorne.

Noch ein trauriges Lied? Bitte sehr.

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Es ist nichts passiert

Es ist nichts passiert, ich habe nichts zu erzählen, das ist zur Abwechslung als gutes Zeichen zu verstehen.

Ich habe heute auf dem Sofa gelegen und freies Wochenende gespielt, was allerdings bei bewusster Verdrängung einer Deadline geschah, die jetzt allmählich rot und rauchend zu glimmen beginnt, weswegen noch schnell etwas zu bloggen ist. Mir fällt gerade nichts anderes ein, was mich plausibel vom etwas verfrühten Beginn des Montags und der Arbeitswoche abhalten könnte. Mit anderen Worten, das Wochenende, also mein Wochenende, es endet gleich mit dem letzten Absatz hier, das ist doch mal ein greifbar bedrohliches Timing.

Ich habe mir am Nachmittag von Golo Mann viel über 1848 und über die Karriere und den Charakter von Bismarck erzählen lassen, während es draußen sachte regnete und das Laub der großen Eiche vor dem Küchenfenster sich teils erfolgreich bemühte, die exakt gleiche Farbe wie die güldenen Ziffern der Kirchturmuhr über dem Baum anzunehmen, das war alles sehr gut so. Ich sollte mir so etwas viel öfter genau ansehen. Das Buch habe ich jetzt durchgehört, im nächsten Band wird es um die wilhelminische Epoche gehen, das dann ab morgen.

Zwischendurch habe ich, man soll sich ab und zu bewegen, das Tiefkühlfach enteist, weil ich auf Twitter neulich daran erinnert wurde. Das wird enorm Geld sparen, das stand dort auch, da kann ich mich also in finanzieller Hinsicht wieder etwas entspannen und Rücklagen für was auch immer bilden. Endlich einmal gute Aussichten.

In Hamburg enden die Ferien. Wir haben noch einmal Zettel ausgedruckt und wahrheitsgemäß ausgefüllt, dass die Söhne nicht irgendwo im Ausland waren. Ich weiß schon gar nicht mehr, zum wievielten Male wir denen diese Zettel mitgeben, es ist längst Routine geworden, wie alles. Nebenbei kurz nachsehen, ob noch genug Masken da sind. The same procedure. Etwa acht Wochen sind es jetzt bis zu den Weihnachtsferien, Eltern und Kinder denken nur in solchen Einheiten.

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Der einsamer Klimakampf der Wetteransager. Im Text wird Özden Terli erwähnt, den finde ich auch auf Twitter stets informativ.

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Noch ein trauriges Lied? Jo. Und dann geht hier unweigerlich die Arbeit los. Ich wünsche Ihnen eine schöne Woche.

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Irgendwelche Jahre

Ich höre abends Geschichtsbücher von Golo Mann, es geht um Deutschland im 19. Jahrhundert. Zwei Bemerknisse dazu. Zum einen ist es ein sonderbarer Effekt im Hirn, wenn Geschichtsbücher, gerade etwas tiefer schürfende, auf das Wissen treffen, das ich noch aus der Schule, aus dem Studium oder auch aus Romanen und Filmen habe. Ich stelle mir inneres Bibliothekspersonal vor, welches bei den vorgelesenen Absätzen und Kapiteln unterschiedlich reagiert. Angestellte etwa, die bei den Stichwörtern Preußen und Bismarck routiniert nicken und wie nebenher auf ein Regal dort hinten im Schädel zeigen, die aber bei Piemont verwirrt die Augenbrauen heben, wie jetzt, Piemont, was ist mit Piemont, wir kennen kein Piemont? War da was und was hat es mit Sardinien zu tun, wir verstehen nicht richtig? Müssten wir da etwas haben, wir sehen mal im Katalog nach, Moment. Nein, wir bedauern, zu Piemont haben wir nichts. Und manchmal, das kommt noch dazu, steht in dem Regal, auf das da so lässig und voller vermeintlicher Expertise gezeigt wird, gar nicht allzu viel drin. Manchmal steht da nur eine Art Handreichung für Sextaner oder eine Fibel mit bunten Bildchen und fettgedruckten Überschriften, nach denen dann nichts mehr kommt. Nach 1848 etwa kommt 1871, so viel ist vertraut und vollkommen klar, das ist felsenfestes Wissen. Zwischen diesen beiden Jahren aber – nun, dazwischen waren sicher auch irgendwelche Jahre. Die kamen aber damals in den Arbeiten nicht vor. In Geschichte musste man festgelegte Namen, Zahlen und Stichwörter wissen, mehr nicht. Der Lehrer, der es aus guten Gründen damals mit der Vermittlung von demokratischen Werten bitterernst gemeint hat, den habe ich erst Jahre später verstanden, Erkenntnisse ex post.

Zum anderen kann ich ganz hervorragend bei Golo Mann einschlafen. Ich glaube nicht, dass es daran liegt, dass ich ihn langweilig finde. Ich vermute eher, dass es an der etwas langsamen Erzählweise liegt, langsam hier ganz und nicht negativ gemeint. Mich beruhigt und entspannt nämlich Sprache, die Zeit hat, ungemein. Ich könnte zum Einschlafen auch jeden Abend den Anfang des Schimmelreiters hören, diese mehrfache Verschachtelung der Rahmenhandlung in dem Roman, dreifach war es wohl, das ist besser als jeder Beruhigungstee. Wäre ich gelehrt genug, hier folgte jetzt ein längerer Exkurs über den Zusammenhang zwischen grammatikalischen Strukturen und Geschwindigkeiten im Denken und Stresspegel, aber das müssen bitte andere übernehmen. Auch beim Brehm habe ich neulich gedacht, als er da einen Versuchsaufbau beschrieb und dabei lange, lange Anlauf nahm, dass für den geschilderten Sachverhalt heute ein Dreiwortsatz vollkommen genügt hätte.

Ich möchte die Vergangenheit nicht romantisieren, ich möchte die Gegenwart nicht kritisieren, ich möchte nur für mich befinden, dass mir Slow Thinking oder Slow Writing mit jedem Lebensjahr sinnvoller vorkommt. Ich schreibe mittlerweile, um diesen Ansatz noch schnell mit der Gegenwart kollidieren zu lassen, mitunter recht lange an einem Tweet.

Ansonsten habe ich mit der Familie ein Spaßbad besucht, in welchem sich die Jungs allein und altersgerecht im Wasser amüsiert haben, während die Herzdame und ich auf Liegen lagen. Ich habe dabei etliche Märchen gehört, Grimm, Bechstein, Andersen, ich hatte immerhin drei Stunden Zeit dafür, da passen etliche Prinzessinnen, Hexen, Zauberer, gute Könige und sprechende Tiere mancher Art hinein. Es ist auch da interessant, was assoziativ noch anklingt und was nicht, wie mir etwa der Andersen in den Details geradezu unheimlich viel präsenter ist, als ich es vermutet hätte. Was muss der mich damals beschäftigt haben. Der Hund mit den teetassengroßen Augen im Brunnenschacht, das hat so etwas von gewirkt, als ich es in der Kindheit gelesen habe.

Bechstein dagegen – ich fühle nichts, überhaupt nichts. Vermutlich gab es in meinem Elternhaus keinen Bechstein, nicht als Buch, nicht als Flügel.

Passend zu den Märchen übrigens lässt sich Tocotronic gerade mit Undine ein, was naturgemäß nicht gut ausgeht.

Ob ich die Undine von Fouqué jemals gelesen habe, das weiß ich gar nicht mehr genau, fällt mir dabei ein. Ich merke die mal für demnächst vor, wenn sie schon so schön vor mir, haha, auftaucht.

Grund zur Freude gab es auch noch, und der Grund passt hervorragend hinter diesen Blogtext mit dermaßen viel Hang zu altmodischen Aufhängern. Ich habe nämlich eine Anfrage erhalten, eine Bitte um die Verwendung eines Textes von mir. Es gibt dafür kein Geld, es gibt dafür keinen Ruhm, es gibt aber doch ein heiteres Nicken von mir, denn die Anfrage kam aus einem Kloster der Franziskaner. Doch, da freue ich mich, auch wenn ich eher durch und durch religionsfern bin. Religionsfern, aber besinnungsaffin, vielleicht passt es so? „Herr Buddenbohm war stets um Besinnung bemüht.“

Sollten Sie im Gegensatz zu mir ausdrücklich kirchlich bezogen sein, evangelisch sogar, es erscheint da um diese Jahreszeit immer ein Kalender, „Der andere Advent“, der kommt in vielen kirchlichen Einrichtungen vor, und darin finden Sie in diesem Jahr auch einen Text von mir.

Dauernd diese seltsam konfessionellen Bezüge, vielleicht hätte ich doch Pastor werden sollen? Allein mir fehlt der Glaube.

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So träg, so plump

Am Morgen gehe ich zum Bahnhof. Der Gemüsehändler an der Ecke räumt gerade neue Ware aus einem Lieferwagen in den Laden, Kisten und Kartons stehen auf dem Fußweg. Ich mache einen großen Schritt über Mangold, Thymian und Zwiebeln hinweg, ich bekomme beim Blick nach unten schon um 07:15 Hunger auf Mittagessen. In der halbleeren S-Bahn reden die Leute über die Teuerung, jetzt auch die Nudeln, mit Ausrufezeichen wird es berichtet, die Nudeln! Bis zu 30%! Es ist außerdem überraschend kalt, die Kollegen aus den Außenbezirken berichten vom morgendlichen Eiskratzen an den Autos, es ist kurz vor Winterjacke. Beim Discounter gibt es, ich sehe auf dem Rückweg vom Büro dort die Werbung im Fenster, schon Weihnachtsbaum-Lichterketten. So also ist die Lage da draußen.

Drinnen habe ich mich gestern Abend enorm über Büchner gefreut, dessen Lenz mir als Hörbuch begegnet ist. Ich habe den vor langer, langer Zeit gelesen und hatte in vage als „überraschend gut lesbar“ in Erinnerung, aber erst jetzt, beim Wiederlesen, bzw. beim Wiederhören, fällt mir auf, wie sensationell dieser Anfang ist. Wie modern das klingt und wie klug das gemacht ist:

Den 20. Jänner ging Lenz durchs Gebirg. Die Gipfel und hohen Bergflächen im Schnee, die Täler hinunter graues Gestein, grüne Flächen, Felsen und Tannen.

Es war nasskalt; das Wasser rieselte die Felsen hinunter und sprang über den Weg. Die Äste der Tannen hingen schwer herab in die feuchte Luft. Am Himmel zogen graue Wolken, aber alles so dicht – und dann dampfte der Nebel herauf und strich schwer und feucht durch das Gesträuch, so träg, so plump.

Er ging gleichgültig weiter, es lag ihm nichts am Weg, bald auf-, bald abwärts. Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, dass er nicht auf dem Kopf gehn konnte.“

Ich habe das jetzt ein paarmal gehört und das Buch aus dem Regal genommen und auch nachgelesen, ich finde es immer wieder gut. Ein Literatur-Ohrwurm sozusagen. Den 20. Jänner ging Lenz durchs Gebirg. Ich könnte schon wieder, ich bin ganz vernarrt in diesen Anfang.

Was noch? Ich war in den letzten Tagen zweimal in Restaurants, beide Male hat niemand nach Impfung, Test oder sonst etwas gefragt. Diese ganze Diskussion um 2G und 3G in Hamburg, die hätte man sich auch sparen können, weil es alles eh egal ist. Ich rege mich allerdings nicht auf, es regen sich alle schon genug auf, ich stelle das nur fest, ich mache mir nur Notizen.

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Kathrin Passig über Dunning-Kruger

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Später sitze ich mit einem Sohn bei Regen in der ausgekühlten Laube im Schrebergarten, wir unterhalten uns über Musikgeschichte. Es geht um die Anfänge der Rockmusik und ich zeige ihm „one of the most beautiful lovesongs that’s ever been written“, weil der Anfang so überraschend ist. Ihre sanftmütige Einleitung und dann dieses Lied vom hard headed woman: Wanda Jackson. Der Sohn findet das gut, das Lied, wir hören es so laut, wie es gehört und ich glaube, das war das Beste heute. Draußen wird es dunkel, außer uns ist kein Mensch weit und breit in den Gärten. Im Laubhaufen unter der hängenden Kätzchenweide arbeitet der Igel am Winterquartier.

Dann stellen wir das Wasser im Garten ab. Es wird Zeit, bevor die Leitungen Frost bekommen.

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Goldene Papageien vor Moosgrün

Bei der morgendlichen Internetrunde sehe ich einen Artikel über den Maximalismus, das ist natürlich der Nachfolger des Minimalismus im Bereich der Inneneinrichtung. Man hat danach jetzt gemerkt, dass es doch nicht der Weisheit letzter Schluss war, alles Schöne und Alte aus dem Haus zu werfen, ergriffen auf leere Flächen zu sehen und nichts als ein Echo im schmucklosen Schrank zu haben, und man holt jetzt also alles wieder rein. Dazu malt man die Wände in fetten Farben an, moosgrün, lila, beerenrot. Und weil das aber alles dem Konsum dienen soll, nimmt man zum Zwecke der Dekoration selbstverständlich nicht die alten Sachen, die alt aussehen, weil man sie schon so lange hat, sondern kauft neue Sachen, die alt aussehen, weil sie so designt worden sind. In dem Text stand sinngemäß etwa: „Einen goldenen Lampenständer in Form eines Papageien oder Affen hat nicht jeder“.

Ich gehe am Morgen wieder vor dem Home-Office kurz um den Block, ich sehe im Vorbeigehen ins Schaufenster des Ladens mit Dekoklimbim, dort stehen – es passt wieder alles dermaßen schön zusammen hier! – güldene Lampenständer in Papageien- und Affenform. Die hat sicher nicht jeder, es stimmt schon. Noch nicht. Es ist eine Bewegung vom Schwund zum Schwulst, wenn ich es richtig verstehe. Und warum auch nicht.

Jenny Erpenbeck, so lese ich ohne direkten Zusammenhang irgendwo im Feuilleton, bewahrt alles auf und lebt in ihrem „Lebensmuseum“.

An der Tür der Eisdiele klebt ein Zettel, sie schließen in ein paar Tagen und kommen im Februar wieder. Diese Zeit des Jahres. Demnächst kann man sicher wieder Kunsthandwerkliches und Weihnachtliches dort kaufen, die übliche Zwischennutzung der Ladenfläche. Nasses Laub auf den Wegen, es ist nicht warm, es ist nicht kalt, es ist nicht dunkel, es ist nicht hell, mir fällt nichts weiter auf, gar nichts. Minimalismus der Eindrücke.

Ich gehe nach Hause, auf dem Küchentisch liegen die ersten Satsumas, gestern gekauft. Es gibt Menschen, die können einem die Unterschiede zwischen Mandarinen, Clementinen und Satsumas erklären. Und es gibt normale Menschen.

Ich mache das Home-Office an und teste mit der Notebook-Kamera, ob ich ein zeitgemäßer goldener Affe bin. Das ist nicht der Fall. Aber ich trage einen Pullover in sattem Lila. Immerhin.

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Seladon, Zinder, Drongo

Ich bin bei einem Hörbuch hängengeblieben, bei dem ich eigentlich nur mal kurz reinhören wollte. Dann habe ich gemerkt, dass Roger Willemsen es liest und er auch die Textauswahl besorgt hat, damit hatte ich gar nicht gerechnet. Und wie es bei ihm so war, er freute sich so dermaßen deutlich über alles, was ihn interessierte, dass man sich da gerne mitfreut und also auch etwas hört, das man vielleicht gar nicht so dringend hören wollte. Etwa Brehms Tierleben. Ich hätte das vage unter staubig und veraltet einsortiert, das war falsch. Es ist tatsächlich interessant, und es ist sprachlich überraschend gut. Also überraschend für mich, Sie wussten das vielleicht längst. Ein überaus reiches Vokabular, man merkt dem Willemsen beim Vorlesen an, wie ihn das kickt.

Gleich zu Anfang, ich habe mit den Kriechtieren begonnen, geht es um die Smaragdeidechse, und die hat, so heißt es im Tierleben, einen seladongrünen Bauch. Klingt das nicht fantastisch? Und ich kannte das Wort nicht. Seladon, vollkommen unbekannt, da klingelte nichts. Seladon, das hätte meinetwegen auch der Name eines Schlafmittels sein können. Seladon, bei der Wikipedia findet man ein Bildbeispiel für das seladonfarbene chinesische Steinzeug, und man findet auch, was noch viel besser ist, den Verweis auf die früher übliche Redewendung: „Zärtlich wie Seladon.“ Und spätestens da verstehe ich den Willemsen vollkommen. Wie schön ist das denn, was für ein Vergnügen, so etwas zu finden.

Oder wenn ein Ameisenhaufen im Buch beschrieben wird, dann „wimmelt und grimmelt“ es darin. Wie großartig das passt. Roger Willemsen hat damals im Büchermagazin gesagt:

Jede lebende Frau, die einen Kanarienvogel hat, möge dieses Buch kaufen. Jeder Mann, der seine Zierfische nur halbherzig liebt, soll gefälligst dieses Hörbuch kaufen. Jeder Lehrer, der die Liebe zum Kosmos an seine Schüler weitergeben muss, kaufe sofort dieses Hörbuch. Redakteure, deren Hemd ein Krokodil ziert, sollen unbedingt dieses Hörbuch kaufen. Die ernste Antwort wäre: Es ist ein Volksbuch. „Brehms Tierleben“ gehört in jeden Bücherschrank, denn es ist eines der Grundbücher unserer Erziehungsgeschichte.“

Okay, das verstehe ich jetzt. (Auf Spotify ist es als Hörbuch verfügbar.)

Es war ein wortreicher Tag, ich las abends in den Dublinern weiter, James Joyce in der Übersetzung von Harald Beck. Da stehen Männer um eine Feuerschale und zerbröseln Zinder. Auch bei diesem Wort: Das habe ich noch nie gesehen oder gehört, glaube ich. Im Duden findet man es, es ist ausgeglühte Steinkohle. Nach anderen Quellen auch ausgeglühte Holzscheite, aber egal. Zinder jedenfalls. Gerne gelernt. Zinder und Zunder, wir braten einen Zander.

In der Zeit fand ich dann noch eine Meldung über den Drongo, der auch einen ansprechenden Namen hat, aber es kommt noch besser. Ein subtropischer Vogel ist das, der bemerkenswerte Fremdsprachenkenntnisse haben soll. Er macht die Warnrufe anderer Tierarten nach und verzehrt dann, wenn die alle panisch abgehauen sind, seelenruhig deren liegengelassene Beute oder Nahrung. Damit ist er, und das fand ich hervorragend, ein Kleptoparasit. Dieses Wort auch mal merken, man kann es hier und da sicher im familiären Kontext unterbringen, etwa wenn spontan wachsende Söhne nachts den Kühlschrank ausräumen.

Ich lese gerade Zeitungen, einfach nur deswegen, weil ich sie so lange nicht gelesen habe. Jahrelang nicht. Nachdem ich neulich in der gedruckten SZ schon den Waldrapp gefunden habe, jetzt also in der Zeit den Drongo, ist das nicht merkwürdig? Welcher Vogel wohl in der FAZ vorkommt? Das dann demnächst.

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Noch ein Lied. Heute von Ayo. You don’t have to worry at all. Auch mal schön.

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Die Brötchenpreise steigen, es gibt Chardonnay

Kaum hat man mal zwei Urlaubstage, schon kommt man nicht mehr dazu, die ganzen Notizen zu verbloggen. Aber egal, ich lasse mich wieder entspannt zurückfallen und berichte vom, was weiß ich, Mittwoch oder so. Und was ist heute überhaupt für ein Tag, man verlottert doch im Urlaub, auch im kurzen, erstaunlich schnell.

Ich gehe da also abends durch den Hauptbahnhof. Das ist meine normale Spaziergangsstrecke, durch die U-Bahngänge, durch die Wandelhalle und über die Bahnsteige, den Südsteg entlang und zurück. Noch einmal andersherum durch die Halle und vielleicht auch oben noch durch die Galerie, einmal an allen Geschäften und Gastrobetrieben und natürlich auch an den wartenden Reisenden auf den Fernbahnsteigen vorbei. Ich sehe zu, wie ein Zug einfährt oder gerade abfährt. Ich sehe zu, wie sich Menschen begrüßen oder verabreden. Wie sie Brötchen kaufen oder Alkohol und Limo und Zigaretten, wie sie reden, lesen, streiten und im Sitzen schlafen, manchmal auch wie sie sich prügeln oder küssen. Wie sie arbeiten, betteln, herumhasten oder schlendern, wie sie auf Koffern sitzen, ihre kleinen Kinder keifend reglementieren und ihre kleinen Hunde wiegend auf den Armen tragen, wie sie vor tieffliegenden Tauben in Deckung gehen, und ich weiß nicht warum, aber es ist mir gerade ein Bedürfnis, alles mitzuschreiben. Ich neige zu Hypernotaten, es fühlt sich seltsam befriedigend an, das alles aufzuschreiben. Also mache ich das.

Ich setze mich auf eine Bank an einem Fernbahngleis. Ein Zug fährt gerade ein, nach Köln wird er weiterfahren, lese und höre ich. Immer kurz an die Menschen denken, die ich dort kenne und gekannt habe, das geht Ihnen vielleicht auch so? Dass bei Städtenamen Gesichter aufschimmern, Situationen und Stimmen, dass die in geradezu unfassbarer Geschwindigkeit durchs Hirn blitzen und diese Stadt ausmachen? Im Falle von Köln blitzt sogar vieles, auch Kindheitserinnerungen sind dabei. Köln habe ich immer gemocht, ich könnte nicht sagen, warum. Nur wenige Menschen steigen in diesen Zug ein, und die paar, die ich von meiner Bank aus sehen kann, ziehen die blauen OP-Masken runter, sobald sie sich hinsetzen. Wenn jemand durch den Zug geht, ziehen sie sie mit zwei Fingern wieder hoch, es sind lässig routinierte Bewegungen.

Der Zug fährt ab, zwei Angestellte der Deutschen Bahn unterhalten sich am Gleis und sehen den Lichtern nach. Dann gehen sie langsam zurück zu ihrer kleinen Dienstbude auf dem Bahnsteig und treten an die Bildschirme dort, gucken prüfend zum Zuganzeiger und auf ihre Uhren.

Ich bleibe da noch sitzen. Der Bahnsteig ist jetzt leer. Ich habe nichts anderes vor und bin gerade gerne draußen. Ich sehe mir die Werbung auf der anderen Seite der Gleise an. Ich soll eine Ausstellung in Halle an der Saale besuchen. Ich war noch nie in Halle an der Saale, obwohl es mir bereits mehrfach empfohlen wurde, diese Stadt einmal zu besuchen, allerdings habe ich vergessen, warum. Irgendeinen Grund wird es für jede Stadt geben, versteht sich. Ich kenne immerhin sympathische Menschen aus Halle an der Saale, das ist nicht nichts. Eine Ausstellung des Malers Sitte soll ich mir da ansehen, eine große Retrospektive. Den kenne ich nicht, aber ich googele ihn natürlich pflichtgemäß, vielleicht ist es peinlich, ihn nicht zu kennen. Der hier war das. Aha. Die Gröner hätte den bestimmt gekannt, denke ich.

Ich frage mich, ob es ernsthaft Menschen gibt, die im Hamburger Hauptbahnhof ein Plakat für eine Ausstellung in Halle an der Saale sehen, und dann tatsächlich dort hinfahren. Lohnt sich denn diese Art von Werbung? Es muss so sein, ich arbeite ja sogar für eine Firma, die Werbewirksamkeit misst und beweisen kann, solche Plakate hängen nicht umsonst, wo sie hängen. Nicht kostenlos und nicht umsonst. Aber es wundert mich doch ein wenig. Vielleicht gehe ich dabei zu sehr von mir aus. Wie lange man wohl für die Fahrt braucht? Dann fällt mir ein, dass meine Mutter und ich das gemacht haben, damals. Also ganz damals, in der Travemünder Zeit. Plakate für Dalí in Paris gesehen, und dann sind wir da mit dem Nachtzug hingefahren. Jeden Betrag hätte ich damals gewettet, dass ich später mal einer von denen werde, die das öfter machen. Jeden Betrag hätte ich verloren. Vielleicht werde ich als Rentner noch so. Nie zu spät und all das? Als Rentner, ich habe da so eine pessimistische Ahnung, wird mir eventuell das Geld dafür fehlen. Aber wenn nicht – dann habe ich jetzt etwas vorgemerkt. Ausstellungsplakate sehen und spontan hinfahren, dann darüber bloggen. Sie wissen, der Mensch braucht Ziele.

Ein anderes Plakat hängt daneben, ich soll die Messe Hamburg toll finden, steht da. Ich finde schon die Herzdame toll, die arbeitet dort, das muss erst einmal reichen. Dann noch irgendwas mit der Telekom, das ist langweilig. 5G oder so.

Ein kleines Schild lese ich auch noch, ich soll auf meine Wertsachen achten. Ich packe mein Notizbuch wieder weg.

Ich gehe weiter. Auf der Theke einer Bäckerei steht ein grellgelbes Hinweisschild, mit dem einige der aktuellen Krisen, die gerade immer öfter auf den Wirtschaftsseiten besprochen werden, in der Szenerie um mich herum ankommen und sich zu einer Aussage verdichten. Zumindest könnte man es so deuten. Gewissheit gibt es nicht, aber es fällt doch auf, was ich da sehe: „Achtung“, steht da, „Achtung, wir erhöhen demnächst unsere Preise!“ Ob jemand heute ein Brötchen mehr kauft, weil es morgen teurer wird? Was bewirkt dieses Schild, was ist der Zweck und was ist der Hintergrund? Die steigenden Mieten, die ausbleibenden Rohstoffe, die schlechteren Ernten, die Klimakrise, die Lieferkettendramatik, die Energiepreise, die Inflation, was noch alles. Gibt es einen Zusammenhang zwischen diesem Schild und all den Zetteln, auf denen geradezu verzweifelt nach Personal aller Art gesucht wird, ich weiß es nicht. Ich fand VWL immer furchtbar uninteressant. Ich durchschaue die Lage nicht, ich schreibe nur mit, was ich sehe.

Ich gehe nach Hause. Vor der Haustür liegt eine zertrümmerte Flasche Chardonnay. Auch das fällt auf. Nicht weil da eine von Kippen umrahmte zertrümmerte Flasche liegt, das ist normal in dieser sogenannten besseren Wohnlage. Es wird hier überall gerne gecornert, und wo gecornert wird, fallen Scherben. Nein, es fällt auf, weil es sonst eher Wodkaflaschen sind, die da zerschlagen auf dem Boden liegen, Red-Bull-Dosen oder anderes Zeug, das die jungen Menschen schnell druckbetankt. Aber Chardonnay?

Die Brötchenpreise steigen, es gibt Chardonnay vor der Haustür, man kann nicht immer alles passend zusammenfügen. Ich schließe kopfschüttelnd auf und verbleibe für heute ratlos.

Im Treppenhaus liegt Werbung für Schiffsmotoren. Ich brauche im Moment keinen Schiffsmotor. Aber ich habe hier gerade ein neues Wort gelernt, fällt mir dazu noch ein, das Wort hieß „Seemannssonntag“. Das habe ich noch nie vorher gehört, aber ich finde es schön. Man möchte das sofort einführen, nicht wahr, es klingt nach einer überaus feinen und sehr norddeutschen Tradition. Nächsten Donnerstag vielleicht?

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Noch ein trauriges Lied? Noch ein trauriges Lied.

Falls Sie übrigens auf traurige Lieder stehen oder gar so wie ich darin wohnen, also gefühlt jedenfalls, falls Sie also traurige Lieder gar nicht so traurig, sondern eher heimelig finden: Ich arbeite gerade wieder mit Vehemenz an meiner entsprechenden Playlist „Good evening“. Ich nähere mich tausend Liedern und es ist ganz ungeheuer gemütlich. Falls Sie auf Spotify sind: Hier. Die zuletzt hinzugefügten Lieder sind in der Probezeit, die müssen sich erst noch durch lange Winterabende hindurch als solche beweisen, die ich mmer wieder hören kann, die verschwinden also vielleicht wieder.

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Sie können hier Geld in den allerdings nur virtuell vorhandenen Hut werfen, ganz herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber ganz klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch, die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel. Merci!