Porträt des Autors im Loungesessel, lesend

An einem Nachmittag der letzten Woche saß ich in einem Loungesessel unter freiem Himmel, rechts neben mir die Herzdame in gleichgestalteter Sitzgelegenheit, links neben mir auf dem Fußboden ein Getränk. Dummerweise waren die Loungesessel aus Hartplastik und nicht bandscheibenkonform, es war also eher nicht relaxed oder gechilled, dort zu sitzen. Auf den Rückenlehnen der Sessel ein bunter Werbeaufdruck für eine Kinderbespaßungsanlage in einem nichtssagenden Zweckbau, in der die Söhne gerade waren. Das Getränk neben mir war gut abgestandenes Leitungswasser in einer Plastikflasche, welche im parkenden Auto auf eine unangenehm hohe Temperatur gebracht worden war. Nachmittagssonne glitzerte durch zwei Alibi-Bäume im Gewerbegebiet. Wir saßen im Halbschatten mit Blick auf etwas industrielle Brache, auf eine Gleisbaustelle und auf ein signalgelbes Baustellenfahrzeug der größeren Art, dessen Verwendungszweck ich nicht deuten konnte. Staubiges Gestrüpp an Metallzaun, Müllcontainer. In einiger Entfernung lungerten andere wartende Eltern herum, die Gesichter von fortgeschrittener Langeweile schon schwer entstellt. Einige gingen rauchend auf und ab, einer ging immer wieder um sein Auto, eine Hand auf dem Dach, als müsse der gleichmäßige Verlauf der Form dort wieder und wieder geprüft werden.

Ich las. Ich hatte Urlaub, es musste jetzt alles entspannt und schön sein, da musste ich also lesen, denn Lesen entspannt. Oft jedenfalls. Es war diesmal nicht so einfach, der unbequeme Sessel, die eher hässliche Szenerie, ab und zu redeten diese anderen Menschen da auch, was redeten die denn da, immer muss man irgendwo zuhören. Über Coronaregeln redeten die, und wo man im Urlaub denn hinfahren kann. Man muss ja mal raus! Und da nickten dann alle. Nach Dänemark, nach Spanien, nach Frankreich, nach Bayern und an die Ostsee. Muss man doch mal.

Ich muss überhaupt nichts, dachte ich, ich muss nur lesen, und das auch nur, weil ich es möchte. Selbstgesetzte Ziele, das sollen ja die besten sein. Ich ging ins Buch und geistig mal raus, in ein anderes Jahrhundert, in ein anderes Land. Es war ein langer Winter, oben in Québec, und jetzt kommen endlich, endlich die ersten Schiffe aus Frankreich über den Atlantik und den großen Strom, sie bringen lang ersehnte Nachrichten aus der Heimat. Etliche Monate hat man von dort nichts gehört, denn im Winter war die Stadt wie in jedem Jahr unerreichbar, von der Außenwelt abgeschnitten. Es hätte eine Revolution in Frankreich geben können, in dieser Kolonie hätte man nichts davon gemerkt und die braven Bürger hätten den König immer weiter jeden Morgen und Abend freundlich im Gebet mitbedacht. Québec geht immer ein halbes Jahr nach.

Jetzt aber laufen die Einwohner der Stadt aufgeregt zum Quai und stehen dort als großes Wimmelbild, die weibliche Hauptfigur mittendrin. Sie winken und winken, obwohl man die großen Schiffe weit draußen doch gerade erst gesichtet hat. Die ganze Stadt steht aber schon hier am Hafen und die Leute rufen kurz darauf die Namen der Schiffe, die sie jetzt zu erkennen meinen, sie winken und rufen. Sie freuen sich auf Botschaften, Grüße, Waren und Menschen, die nach all der Zeit doch noch ankommen, und als Leser freut man sich auch, dass da nämlich gleich irgendwas an Handlung passieren wird. Es kommen Schiffe, es geht weiter, das wurde auch Zeit. Das Buch ist nicht mehr sehr dick, da muss jetzt dringend etwas passieren. Und es hat dann auch gereicht mit der detaillierten Beschreibung der winterlichen Schönheit der Stadt, das liest sich bei Hamburger Hitze doch etwas schwer.

„Da kommen die Kinder“, sagte die Herzdame und klappte ihr Buch zu, mit dem sie gerade in Nordfriesland und in den Achtzigern war, oben bei Dagebüll.

Die Kinder strahlten, es hatte Spaß gemacht, jetzt hatten sie Hunger.

„Gut“, sagte ich, „Hauptsache, wir waren alle mal draußen.“

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Ort und Zeit

Stellt sich also heraus, der Starkregen, den ich auf Eiderstedt erlebt habe und den ich so beeindruckend fand, er war nur ein Schauer im Vergleich zu dem, was dann kurz darauf weiter unten im Südwesten des Landes passiert ist. Auf Twitter etc. melden sich Menschen, die ich kenne, die sind betroffen, die sehen und erleben das, die posten Bilder davon und werden darüber bloggen, das passiert alles gewissermaßen in meiner Welt. Wuppertal z.B. kenne ich auch, das ist alles einigermaßen nah dran.

Ich schreibe übrigens gerade aus Nordrhein-Westfalen, aus dem, wie man nun wohl sagen muss, trockenen Teil des Landes.

Währenddessen steigen die Inzidenzen mit allzu klischeehafter Vorhersehbarkeit, währenddessen habe ich in der nächsten Woche keinen Urlaub mehr, sondern wieder Home-Office. Die Söhne dagegen haben noch drei Wochen Ferien, erfahrene Eltern erkennen hier ein kleines Problem. Währenddessen wurde neulich in einer Zeitung die Begrünung eines, mit Betonung auf der Einzahl, Bushaltestellendaches in der Innenstadt von Hamburg als Teil der Transformation geschildert, in Richtung naturnahe Stadt oder was, man könnte nur noch lachen, aber schön ist das nicht, dieses Lachen. Im Zuge irgendeiner Aktion werden irgendwo Lampions in Bäume gehängt, auch das ist eine Maßnahme. Na, meinetwegen.

Ich bin pessimistisch, was den Herbst betrifft. Sowohl bezogen auf die Wahl, als auch bezogen auf Corona, von der Klimapolitik und vom Umweltschutz ganz zu schweigen, und da denke ich andere Themen noch gar nicht mit, soziale Gerechtigkeit und Gemeinwohl usw. Wenn man erst einmal anfängt, das hört ja gar nicht mehr auf und man wird tendenziell etwas unfroh, to say the least.

Ich bin nicht erholt genug für diesen Herbst, denke ich, nicht einmal ansatzweise, denn da gibt es auch noch private Aufgaben, die mir riesig vorkommen. Und positives Denken hin oder her, sie wirken teils nicht gerade lösbar. Eine Herkuleshaltung brauche ich da, wenn ich schon die entsprechende Kraft nicht mehr habe, dann zumindest die Haltung.

Es bleibt als vorschnelle Sommerbilanz aber erst einmal das Gefühl, dass ich eigentlich ein Jahr Urlaub brauche, nach 2020 und 2021, dass ich ein Sabbatical brauche oder die Frührente. Dass ich irgendwas ganz anders als bisher machen oder wenigstens denken muss, um da weiter durchzukommen, heil durchzukommen. Als ob ich darauf einen Anspruch hätte und am Ende gehen wir ohnehin eh entzwei, schon klar. Und dann kommt doch wieder einfach ein Tag nach dem anderen und man macht einfach alles, was anfällt, so ist es ja immer und bei uns allen.

Sie merken vielleicht, ich bin jetzt geistig in der zweiten Jahreshälfte angekommen, kalendarisch nahezu perfekt passend. Fast möchte ich es als positiven Punkt werten, immerhin das Zeitgefühl stimmt wieder halbwegs. Wir haben den 16. Juli, ich kann dem auch emotional zustimmen, es ist 06:37 an einem Sommertag in Nordostwestfalen. Es ist Juli, danach kommt August, dann die Kindergeburtstage, dann der Herbst, dann der Winter, jetzt ans Schenken denken, ja, das passt. Ich kriege Ort und Zeit wieder stimmig zusammen, zum ersten Mal überhaupt seit jenem März.

Okay. Ort und Uhrzeit. Immerhin. Über den ganzen Rest muss ich noch ein wenig länger nachdenken, glaube ich.

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Ich habe Urlaub, ich habe keinen Urlaub

Ich stehe in der Küche und schneide Gemüse in Würfelchen, worin ich ungedulds- und stimmungsbedingt ausgesprochen schlecht bin. Denn obgleich ich vollständig einsehe, dass das Würfelchen, mit Betonung auf der albernen und stets affektiert auszusprechenden Verkleinerungsform, tatsächlich die anzustrebende Form ist, also bei vielen Gerichten jedenfalls, neige ich oft eher der ebenso lustlosen wie auch unangemessen eiligen Herstellung von unregelmäßigen Brocken oder Fetzen zu, und das ist nicht richtig, ich weiß das. Von wegen Achtsamkeit in Alltagsdingen, Zen und die Kunst, ein Motorrad zu warten, geh mir weg. Ich weiß, ich müsste das hier besser machen. Ich müsste die dämlichen Champignons viel ernster nehmen, ich müsste sie mehr würdigen und korrekter zerlegen, Erntedank und Aufmerksamkeit und alles. Genauer und besser arbeiten, hallo, mein Vater war Handwerker, und was für einer. Alles mit Maß und Ziel, das war tatsächlich einer seiner letzten Sätze mir gegenüber, mit vom Krankenhausbett erhobenem Zeigefinger, es klingt wie in einem Buch. Ja, ich weiß, wie ich das hier machen müsste. Aber Wissen hilft oft nichts, das weiß ich auch. Ich reiße mich zusammen. Ich nehme das bessere Messer, ich schärfe nach, ich schneide kleiner. Ich schneide alles gleich noch einmal, Gründlichkeit! Disziplin! Werkstolz! Ich habe einfach keine Lust heute. Ich habe so dermaßen keine Lust, ich möchte überhaupt nichts kochen, ich möchte auch nichts vorbereiten. Geh mir weg mit mise en place und allem, kann sich nicht gefälligst jeder ein verdammtes Brot schmieren. Es ist Leberwurst im Kühlschrank, die ist erst einen Tag abgelaufen, was wollt ihr noch, ich will gar nichts essen. Wer hat bei der Wärme überhaupt Hunger, was soll das, wie seid ihr denn drauf und außerdem habe ich Urlaub. Urlaub ist, wenn ich nicht kochen muss, okay, ich habe wohl keinen Urlaub. Ich schneide alles noch kleiner, ich reiße mich verbissen zusammen. Ich murmele etwas von Überwindung und Fokus, mein Gedächtnis repetiert ganze Absätze aus blöden Produktivitätsratgebern. Mir wird gleich schlecht, so moralisch klingt das alles, bin ich Leo Lausemaus oder was. Ich pöbele innerlich mein Eltern-Ich an, ich bin gekommen, mich zu beschweren.

Ich schneide Scheiben, ich schneide Würfel, ich schneide Würfelchen. Kleiner, noch kleiner. Der ganz große Zusammenriss, und wer wollte denn eigentlich Familie, jetzt haben die alle Hunger, das kommt davon. Vorsicht bei der Lebensplanung! 50 Meter weiter ist die Dönerbude, die hätte mir heute auch gereicht. Da sitzen Singles, die müssen nicht kochen, die sehen entspannt aus.

Draußen spielt ein Straßenmusiker auf dem Platz um die Ecke, wo die ganzen Restaurants sind, ich höre ihn durch das offene Fenster. Heranwehende Musik, sehr großstädtisch ist das, fast wie im Film. Was singt der denn da, das kenne ich doch, das war doch, was war das noch, ich habe es gleich. Gitarre dazu. Jetzt kommt der Refrain noch einmal, der Typ singt nicht gut, aber man erkennt es doch, und er singt, versteht sich, immerhin nennenswert besser als ich, was aber auch keine Herausforderung ist, wirklich nicht. Jetzt weiß ich es, natürlich ist es das, und jetzt singe ich es auch gleich mit, ganz laut singe ich es mit. Das ist nämlich meine Küche, ich kann hier singen, was ich will, mit Schmacht und Hingabe singe ich am Schneidebrett in eine Mikrofonmöhre: First cut is the deepest.

Ich stehe an der Arbeitsplatte, ich schneide den dreihundertsten cut, es ist sicher nicht the deepest und ich lache und lache und weiß nicht, ist es schon Wahnsinn oder ist es nur die unvermutete Rückkehr der guten Laune, es ist auch vollkommen egal.

Es gibt Hühnerfrikassee.

Das hat ein Sohn bestellt, der wird sich freuen, und Freude ist ja immer gut. Alte Regel.

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Randbemerkungen am Land

Ich finde es übrigens seltsam schwer, über Erlebnisse in mittlerer Entfernung zu schreiben, fällt mir auf, während ich die letzten Eiderstedter Notizen abweide. Szenen von vor dreißig Jahren – kein Problem, da kann ich die mir verbliebenen Reste nach dem Gedächtnis einfach abmalen, kein Thema. Ich vergesse zwar augenblicklich, also wirklich im Moment der Niederschrift, ob es wirklich so war, wie ich es gerade in Worte gefasst habe oder ob es nicht doch vielleicht etwas anders war, es wird durch das Schreiben sofort vollkommen ununterscheidbar, es ist dann, haha, sozusagen ab sofort und ein für alle Mal überschrieben. Aber das Schreiben an sich ist bei dieser zeitlichen Distanz kein Problem, das läuft.

Erlebnisse von heute oder von gestern sind auch kein Problem. Jedes Wort weiß ich noch, das da gesprochen wurde, oder zumindest kommt es mir überzeugend so vor. Das Wetter ist mir noch präsent, die getragene Kleidung, das gegessene Essen, der Geruch der Stadt und des Treppenhauses, alles ist noch da und muss nur abgeschrieben werden. Jedes Wort fühlt sich dabei an wie die reine Wahrheit, obwohl die Wahrheit doch beim Schreiben bekanntlich kein brauchbares Konzept ist und jeder Satz, jedes gewählte und auch nicht gewählte Wort die Wirklichkeit unweigerlich etwas verschiebt und auslegt, auch bei bester Absicht, die ohnehin niemand immer hat. Das Schreiben über gestern und heute jedenfalls – easy.

Aber Erlebnisse von vor 14 Tagen – schwierig. Irgendwie schon seltsam überlagert, aber im Hintergrund des Kopfes noch dezent herumlärmend, emotional nicht vollständig vergoren. Nicht ganz abgehangen, nicht ofenwarm. Hier und da etwas verblasst, hier und da auch schon etwas verzerrt, weil sich das Gedächtnis bereits entscheidet, was es behalten will und was nicht. Erlebnisse in mittlerer Entfernung fühlen sich etwas angegammelt an, ich glaube, das trifft es. Noch nicht skelettiert und auch nicht mehr frisch. So dazwischen. Themenzombies, manchmal kommen sie wieder.

Na, egal, das nur am Rande. Ich beschreibe hier dennoch weiter, was auf Eiderstedt noch erwähnenswert war. Das ist nicht mehr viel, damit sind wir bald durch und damit sind wir dann wieder in der Gegenwart, ob das nun gut oder schlecht ist.

Man muss sich im Moment alle 72 Stunden testen lassen, wenn man als Gast in meinem Heimatbundesland ist. Ich hatte da im Vorwege einige Bedenken, ich dachte an überfüllte Testzentren, an nicht zu ergatternde Termine, an Ansteckung in Warteschlangen und bockige Kinder oder Erwachsene. Aber da war ich zu pessimistisch, so war es nicht. So war es ganz und gar nicht.

Wir fuhren zum Testzentrum in G***. Weiße Pavillonzelte in sengender Sonne gegenüber vom Edeka auf einer staubigen Brachfläche. Zwei, drei Menschen in den überhitzten Zelten, sonst kein Mensch weit und breit. Drive-In. Man fährt da vors Zelt und wartet, bis ein für norddeutsche Verhältnisse geradezu spektakulär freundlicher Mensch ans Auto tritt und die Formalitäten in entgegenkommendster Weise erledigt. Die Einhaltung des Termins ist auch nur eine Nebensache, kommste heut nicht, kommste morgen, wenn du da bist, bist du da, nech. Das lief alles wie nebenbei und gegenüber, neben dem Parkplatz vor dem Supermarkt, gab es auf einmal einen Softeis-Verkaufsstand, wie einem überaus scharfsichtigen Sohn auffiel. Da war dann der nächste Test nach weiteren 72 Stunden auch kein Problem mehr, sondern eher willkommen. Das mit den Tests also – eine der harmloseren Coronafolgen. Aber eben doch so, dass einem dabei auch im Urlaub die Coronakrise im Gedächtnis bleibt, die man ansonsten im Strandkorb gut wegträumen kann, jedenfalls solange man nicht mit anderen Gästen über den kommenden Herbst spricht, vor dem es allen gleichermaßen zu grauen scheint.

Apropos Krise, mit dem Softeis sind wir dann durch die Stadt spaziert, da gab es die Bemerknisse zur Krise der Innenstadt, ich berichtete.

Ich habe auf diesem Spaziergang die Söhne nacheinander auf den Arm genommen und ein Stück getragen, wozu sie natürlich beide längst zu groß sind, viel zu groß. Tragen Sie mal einen Teenager durch die Gegend, das ist körperliche Arbeit. Aber das war auch nur aus Spaß, nicht wahr, und nur ein paar Meter, weil ich sie genau da doch vor ein paar Jahren … manchmal überkommt es einen so. Und dann diese Sekunde der Bestürzung, dieser winzige Moment, in dem es einfach nicht zu fassen ist, dass die Jahre vorbei sind, dass sie groß sind, dass sie so dermaßen groß sind, wo sie doch gerade eben noch, Sie kennen das, sicher kennen Sie das. Es war nur eine Sekunde, aber es zerlegte mich im Handumdrehen und ich brauchte dann etwas Besinnung und Haltung, bevor Zeit und Gefühl wieder stimmten und die Söhne wieder neben mir hergingen und das auch gut so war. Es war nur ein Moment. Es wird noch mehr davon geben. Und dann ziehen sie aus. Wie schwer Zeit zu fassen ist.

Und dann gab es noch die Klimakrise, die uns in Form eines Starkregenereignisses ereilte. Häufigkeit und Intensität solcher Vorkommnisse hängen mit dieser Krise zusammen, liest man. Das korreliert mit der persönlichen anekdotischen Evidenz oder nicht, je nachdem, was man erlebt und wie man das wertet, es ist kompliziert. Ich möchte etwa behaupten, der Regen an dem einen Tag auf Eiderstedt, in dieser einen Stunde da, das war vermutlich der Regenrekord meines Lebens. Habe ich das jemals erlebt, dass solche Wassermassen eine Stunde lang über mir ausgekübelt wurden, dass es also nicht im bekannten Wortsinne regnete, sondern dass eher Wasser fiel, als wären weiter oben Dämme gebrochen, in der Art, dass man ohne weiteres Nachdenken und im ersten Augenblick sicher wusste, wenn es jetzt irgendwo reinregnet, da rettest du nichts, da kannst du dir nur hinterher den Schaden besehen – nein, ich glaube, das habe ich so bis dahin noch nicht erlebt. Nicht in diesem Ausmaß.

Vielleicht habe ich genau so einen Regen oder schlimmeren aber doch schon erlebt, vielleicht mehrfach. Vielleicht habe ich dabei im Büro gesessen und auf den Bildschirm geguckt und es daher nicht groß bemerkt. Vielleicht habe ich es vergessen, verschlafen oder verdrängt. Anekdotische Evidenz beweist in der Regel gar nichts, sie legt nur etwas nahe und meint herum. Und man meint dann mit.

Wir saßen im Wintergarten neben der Scheune im Strandkorb, als es anfing zu regnen und wir dachten noch, nanu, das ist jetzt ja ungewöhnlich laut. Aber okay, ein Glasdach eben, da rappelt es bei Platzregen. Wenige Minuten später schwappte eine Welle unter unserem Strandkorb hervor, das fühlte sich nicht richtig an und sah seltsam aus. Und das war auch nicht richtig, denn das Wasser lief hinter uns in Sturzbächen an der Wand des Wintergartens, es war auch die Rückwand der Scheune, hinab, geradezu wasserfallartig. Es dauerte einige Minuten, bis wir darauf kamen, dass es dann vermutlich auch in der Scheune ein Problem gab, also auf der anderen Seite der Wand, und wir liefen durch den Regen zum Scheunentor, um nachzusehen. Ein Weg von wenigen Metern, nachdem wir nass waren, als hätten wir mit Kleidung ausgiebig in der Nordsee gebadet.

In der Scheune war da schon ein veritabler See entstanden, die Holzwände wurden, so sah es aus, ringsum gerade geflutet wie eine Schleuse in einem Hamburger Fleet. Es sah auf eine unheimliche Art aus wie ein special effect in einem Actionfilm. Ein unter das hereinbrechende Wasser gehaltener Eimer war in weit weniger als einer Minute voll und es gehört für mich zu den bleibenden Bildern dieses Urlaubs, wie die alarmierten Ferienkinder mit allen möglichen Gefäßen versuchten, das stürzende Wasser vom gerade erst eingefahrenen Heu und von den etwas beunruhigten Tieren abzuhalten, heldenhaft und bemüht, mit unbedingtem Eifer, unfassbar einsatzfreudig und ebenso sinnlos. Zwischendurch sahen sie hoch und sahen das erschreckende Ausmaß, dann machten sie wildentschlossen weiter, denn: „Man muss doch etwas tun!“ Wieviel bitte liegt in diesem Satz, wieviel Geschichte, wieviel unserer Zukunft. Man muss doch etwas tun.

Ein, zwei Dörfer weiter war gar nichts. Ein paar Tropfen, eine Stunde bedeckter Himmel. Und nach zwei Tagen war auch alles wieder trocken, vermutlich sogar das Heu. Aber es war deutlich zu sehen, dass man anders bauen müsste, um so etwas ohne Schaden zu überstehen. Das können alte Häuser und Straßen nicht, das ist einfach nicht vorgesehen. Dieser Regen war nicht von hier.

Die Coronakrise, die Krise der Innenstädte, die Klimakrise. Was man so mitbekommt, wenn man eine Woche im Strandkorb bitte nur lesen möchte. Zwischendurch sind wir noch einmal an den Deich gefahren, wo an der Flutlinie graue Granitquader liegen. Tausende davon, in gerader Linie hingekippt, unabsehbar viele, bis zum Horizont. Die Steine sind von Flechten bedeckt, von gelborangeleuchtenden Flechten, die in seltsamen Schnörkeln auf ihnen wachsen und Zeichen bilden, welche, man sieht es auf einen Blick, ein sinniges Schriftbild ergeben, welches ich leider nicht entziffern konnte. Man müsste aber erschreckend fantasielos sein, um die Muster nicht als Schrift wahrzunehmen und ich dachte mir, während ich an den nicht endenwollenden Zeilen entlang ging, dass da alles steht und erklärt ist, einfach alles. In deutlicher Schrift steht da alles, sie leuchtet sogar bei bedecktem Himmel, sie brennt förmlich. Wieviel Platz diese kryptischen Zeilen einnehmen, eine ganze Küstenlinie lang, am Rand dieses Landes wird alles erläutert. Die Schafe stehen und gehen daneben und wirken auch nicht gerade schriftkundig, und falls sie es doch sind, sind sie verschwiegen und zurückhaltend, nichts geben sie weiter, nur hin und wieder hört man eine einsilbige Anmerkung, die man schwer deuten kann. Mäh.

Ich gehe immer weiter an den Steinen entlang. Ich sehe die Schrift, ich verstehe nichts. Es ist alles wie immer.

Von den paar erwähnten Krisen einmal abgesehen, wir haben uns etwas erholt, gar keine Frage. Es hat wieder funktioniert. In jedem Jahr denken wir, jetzt war es aber sicher das letzte Mal, und dann geht es doch noch einmal. Wir fuhren ab und dachten, dass es richtig gut war, dass es zu kurz war, dass es öfter sein müsste. Und so etwas soll man nach einem guten Urlaub auch denken, glaube ich.

Ich überlasse das Schlusswort einem kleinen Mädchen, das am Billardtisch stand, als wir packten und die Koffer zum Auto trugen. Es war noch viel zu klein für Billard, es kam gerade eben erst an die Kugeln auf dem Tisch an, wenn es sich ganz lang machte und schon halb auf dem Filz lag. Das Mädchen schob alle Kugeln in die Löcher, sorgfältig eine nach der anderen, und eine leichte Aufgabe war das nun nicht, bei ihrer Körpergröße. Sie schob die Kugeln mit großer Vorsicht, als seien sie zerbrechlich und kostbar. Und als sie die letzte Kugel versenkt hatte, sah sie noch einmal nach, ob auch keine vergessen war, ein kritischer Blick mit schief gelegtem Kopf über den grünen Belag und dann strahlte sie und klatschte und sagte mit gut hörbarer Freude in der Stimme: „Es haben alle, alle gewonnen.“

Und damit war der Urlaub auf Eiderstedt vorbei und wir fuhren nach Hamburg zurück.

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Links am Abend

Ich habe für das Goethe Institut etwas über Klingeln am Deich geschrieben.

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Noch einmal Proust.

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Luftbetankung

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Hier geht es um die Menschen vor uns. Ich habe leider keine Vorfahren, also jedenfalls soweit ich weiß, die der Nachwelt Tagebücher oder Briefsammlungen hinterlassen haben. Ich selbst führe exzessiv Tagebuch, da wird es später einmal keine Beschwerden geben. Oder auch erst recht, was weiß ich, aber das wird mich dann ja nicht mehr kümmern. 

By the way, kennen Sie den Gedanken, wie vollkommen absurd es ist, dass es ganz im Ernst eine Erblinie gibt, die vom Anfang der Evolution bis zu uns reicht, also bis zu Ihnen, bzw. zu mir? Und dass sich das irgendwie unwahrscheinlich anfühlt, dass es uns überhaupt geben kann, wo doch so dermaßen viele Vorfahren ziemlich früh ausgeschieden sind, wo doch so unfassbar viele Personen im Stammbaum auf unvorstellbar viele Arten und sicher höchst unpassend verstorben sind, herausgerissen worden sind, und dennoch – was für ein Hasardspiel! – führt eine dünne Linie durch das ganze irrwitzig komplexe Geflecht der Geschichte und der Zeiten bis zu uns, und da sitzen wir dann und sind – nur wir. Wo wir doch unwahrscheinlicher als ein Sechser im Lotto sind, also gefühlt. 

Es ist natürlich ein Vexierbild, ein seelisches: Einerseits ist es klar und offensichtlich, dass bei all dem wüsten und wimmelnden Herumgelebe nach all den Jahrtausenden Leben auf der Erde irgendwas herausgekommen sein muss, was nun einmal jetzt ist, so wie immer etwas war und ist, und genau das sind im Moment eben wir und so gesehen sind wir es tatsächlich nur, das ist simpel, weil es irgendwer sein muss, und das ist alles, mehr ist da nicht. 

Andererseits aber, wenn man den Blickwinkel mal eben ändert und für einen Moment nur an seinen eigenen hauchfeinen Abstammungsfaden denkt, der sich da von Generation zu Generation durch schier unendliche Zeiten windet und schlängelt, wie unvorstellbar glückhaft ist es denn bitte, dass der nie gerissen ist. Nach all dem, möchte man doch einigermaßen fassungslos ausrufen, wenn man seine Existenz im ganz großen historischen Kontext bedenkt, nach all dem! Die Säbelzahntiger geschafft und die Pest und den Dreißigjährigen Krieg! Hätte auch nur einer der endlos vielen Menschen in der Ahnenreihe irgendeinen schweren Fehler einen Tick zu früh gemacht, wäre er oder sie nur etwas früher krank geworden und verblichen, hätte er oder sie im Gebirge einen falschen Schritt getan oder sich auf dem Meer zu weit über die Reling gelehnt – es gäbe uns nicht.

Man ist, so denke ich ab und zu, das Ergebnis einer unermesslich langen Versuchsreihe, einer nicht endenden und als Epos gänzlich unfassbaren Jagd nach Glück, Sinn, Weisheit, Reichtümern, Liebe, nach dem puren Überleben und auch nach Wärme und Halt und Essen und nach was weiß ich allem, und man ist dann ganz im Ernst, nach der längsten Saga aller Zeiten, weil sie tatsächlich alle Zeiten umfasst – einfach nur man selbst. Man kann sich vor den Spiegel stellen und ernst gucken und sagen: “Das also kommt dabei heraus.” Und dann kann man den Kopf schütteln oder freundlich nicken, je nach Stimmung, Mut und Verdrängung. 

Könnte ich tagelang drüber nachdenken. Oder länger. 

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Durch die Stadt

Wir waren auf Eiderstedt auch in der kleinen Stadt G***, ein Städtchen ist es eher. Nicht eben reich an touristischen Attraktionen, was man als Fluch oder Segen betrachten kann, es kommt wie immer darauf an. Kein Spaßbad, kein Freizeitpark, kein Streichelzoo, nichts von dem, was man so hat, als Stadt in einer Tourismusregion. Einen großen Edeka gibt es da aber, und das ist der Edeka, zu dem man fährt, wenn man einen Ferienwohnungseinkauf vor sich hat und einem aus irgendwelchen Gründen der Discounter nicht passt. Der Edeka liegt an der Durchfahrtstraße, und wenn man dort nur eben einkauft, bekommt man von G*** nicht viel mit. Man sieht vielleicht beim Einsteigen ins Auto, nachdem man die Einkäufe verstaut hat, noch gerade den gedrungenen Kirchturm, der hinten über die Häuser ragt. Vorne im Bild der weitläufige Parkplatz des Supermarktes, dann das weiße Zelt des improvisierten Testzentrums, zwei wartende Menschen davor, dann Häuser, Dächer, schließlich die Kirche. Die ist, soweit man so etwas auf Eiderstedt überhaupt behaupten kann, dann oben im Bild.

In früheren Jahren hat man es im Städtchen verstanden, Touristen durch eine Musikveranstaltung anzulocken, bei der abends etliche Bands und Solisten aller Art in den Straßen der Altstadt spielten. Das lief so gut, die Gäste schoben sich an manchen Abenden dicht an dicht durch die Straßen und vor die Bühnen, tranken Bier und aßen Wurst, was man als Tourist so macht. Das gibt es in diesen Zeiten selbstverständlich nicht mehr in dieser Form, schon bei dem Gedanken an dicht an dicht endet jede Planung.

Wir waren in jedem Jahr in der Stadt. Einmal hindurchspaziert, sie hat so eine handliche Größe, man kann mal eben hindurchgehen. In jedem Jahr gab es ein blindes Schaufenster mehr, hatte noch ein weiterer Laden aufgegeben, hatte wieder etwas geschlossen, fing etwas an zu verfallen. Als wir in diesem Jahr durch das gingen, was sicher einmal der belebte Mittelpunkt einer Stadt war, war dort nichts mehr, abgesehen von einem Imbiss, vielleicht waren es auch zwei. Kein Mensch, kein Leben. Keine Touristen, keine Einheimischen. Kein Handel. Einige der geschlossenen Läden werden gerade umgebaut, vielleicht entsteht da wieder etwas, vielleicht werden sie auch einfach nur abgebaut.

Wir gingen durch die Straßen und ein Sohn stellte die naheliegende Frage: „Wo sind die Menschen?“ Die Antwort kann man der Soziologie überlassen, der Politik, der Stadtplanung, der Geschichtsschreibung. Es ist nur die Wirkung, um die es mir geht, und die ich nicht besser zusammenfassen kann als es der andere Sohn dann mit einem lapidaren Satz tat: „War hier ein Atomunfall oder was.“

Der Satz ersetzt, so kommt es mir vor, den einen oder anderen Artikel zur Entwicklung der Innenstädte.

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Eine Dankespostkarte

Rückseite

Ich habe zu danken für die Zusendung von Kaffee. Es kam ein Paket mit erlesenem Kaffee aus kleinen Röstereien, ganz etwas Feines. Mit Beschreibung der Aromen darauf, pralinig und samtig, so etwas steht da und ich schmecke das tatsächlich auch, endlich habe ich einmal das, was andere bei Rotwein dauernd haben. Schokoladig im Abgang! Wirklich sehr guter Kaffee. Ein Notizbuch mit güldenem Kuli und einem M auf dem Titel lag auch dabei, ich fühle mich reich beschenkt. Ganz herzlichen Dank in den Süden des Landes!

 

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Vorderseite

Damit ich nicht wieder so lange nach Motiven für diesen Text suche wie beim letzten Mal, nehme ich aus sozusagen therapeutischen Gründen das Naheliegende, und zwar im wörtlichen Sinne. Neben mir liegen die Bücher auf dem Nachttisch. Das ist ein einfaches Bild, da müssen Sie sich nur, wie viele sind denn das, sagen wir einmal fünfzehn Bücher vorstellen, Büchereibücher in diesem Fall. Die haben also eine fettgedruckte Signatur auf dem Buchrücken, sind stabilisierend eingebunden und sicher nicht der allerschönste Anblick für Bibliophile, aber egal. Büchereibücher eben, Sie kennen das. Falls Sie noch ein Interieur-Detail ergänzen wollen, der Nachttisch an sich ist eine ausgediente hölzerne Obstkiste aus dem Alten Land, die wir erworben haben, ich muss es entschuldigend dazu sagen, bevor es hip war, die in Wohnungen zu haben. Es war also ein pionierhafter Kauf, da gingen wir einmal vor.

Da ich gerade über handlungsarme Bücher schrieb, ist der Proust dabei, der erste Band des Großwerks, vollkommen schmucklos eingebunden, ein grauer Klotz, unscheinbar wie ein Pflasterstein. Und durch Zufall sah ich im Vorbeigehen, dass Evelyn Waugh über Anthony Powell gesagt hat, er sei wie Proust, nur besser und lustiger, da habe ich den auch gleich mitgenommen. Und wo ich doch gerade Willa Cather lese, die über Kanada schreibt, habe ich auch noch Emily Carr mitgenommen, die das auch tut, wenn auch aus ganz anderer Perspektive.

Da liegen auch noch Herman Bang und Thomas Hardy, ein Evelyn Waugh ist ebenfalls dabei, da ich den ja eh in der Hand hatte, ein Robert Walser. Eine krude Mischung ist das, und so soll es auch sein. Dos Passos noch, den ich nie fertiggelesen habe. Ann Quinn, über die ich gerade irgendwo irgendwas gelesen habe. Ich habe schon wieder vergessen, was es war, aber es war jedenfalls lobend und ich habe mir den Namen merken können, immerhin.

Die Bücher liegen da also herum, das ist auch schon das ganze Bild, aber ich erzähle Ihnen noch eben etwas dazu. Ich liege nämlich mit Sohn II neben diesen Büchern, ich lese, er liest, Mangas natürlich. Ich lache etwas, er fragt warum. Ich sage, das Buch hier, das ist witzig, er fragt warum. Dann reden wir etwas über Buchanfänge und was man überhaupt so liest und es endet damit, dass ich ihm alle Buchanfänge vorlese. Ich nehme ein Buch nach dem anderen, ich lese den Anfang und wir überlegen, wie das wirkt, was das macht und ob das gut ist. Es ist fast nichts gut, findet er, besonders schlimm aber sind Thomas Hardy und Herman Bang. Wie gestelzt kann man sich ausdrücken? Ich sage, ich mag das, er sagt, das wundert ihn nicht.

Dann komme ich zu Kurzgeschichten von Kristen Roupenian, von der ich nicht einmal ansatzweise mehr weiß, wie sie überhaupt in diesen Stapel kommt. Der schmale Band heißt „Milkwishes“ und wurde von Nella Beljan übersetzt. Der erste Satz ist, so sagt der Sohn, wirklich gut: „Wir haben versucht, unseren Eltern eine Qualle aufzutischen.“

Und so dermaßen gut ist dieser Satz, dass ich auch gleich die ganze Geschichte vorlesen muss, und die ist dann insgesamt so gut, der Sohn ist hell begeistert und fällt zwischendurch vor Lachen vom Bett.

Falls Sie ein etwa zwölfjähriges Kind haben, die erste Story aus dem Band ist für das Alter offensichtlich der Knaller, aber lesen Sie danach bloß nicht weiter. Es ist kein Kinderbuch, wirklich nicht. Die anderen beiden Geschichten können Sie als erwachsener Mensch und als Storyfreund gut finden, ich empfehle das auch ausdrücklich, aber bitte leise und für sich. Drei Geschichten sind nur in dem Band, eine ist lustig, eine ist traurig, eine ist ernst. Gut sind sie alle, wobei die Feuilletons die erste ausdrücklich nicht so toll fanden, aber das wissen der Sohn und Sie ja jetzt besser.

Lesen Sie um Himmels willen keine Rezensionen zu dem Buch, sie spoilern alle ganz schlimm. Ernsthaft, die dritte Geschichte können Sie mit Spoiler vergessen, und das wäre schade. Wenn ich König von Deutschland wäre, Spoiler in Rezensionen wären verboten. Ab sofort. Das wäre aber auch die einzige sinnvolle Maßnahme, die mir spontan einfallen würde, alles andere wäre kompliziert. Schlimm.

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Links am Morgen

Ich habe in dieser Woche etwas intensiver als sonst gearbeitet, so dass es sich im Nachhinein anfühlt, als hätte ich durchgearbeitet. Es gab überhaupt nur den Schreibtisch und mich davor, was wiederum zu einer Fehlwahrnehmung des Restlebens führte, welches es nämlich nicht gab, wodurch es im Ergebnis die ganze Woche in privater Hinsicht nicht gab und ich guckte dann irgendwann aus dem Küchenfenster und dachte: “Ach guck. Wetter und Welt und so. Gibt es ja auch!” Ziemlich wörtlich dachte ich genau das.

Okay. Jetzt also wieder eine Urlaubswoche, jetzt wieder das andere, mit Schreiben und Lesen und so. Zwischendurch übrigens, kurz vorm Einschlafen, las ich jeweils weiter in der Willa Cather, Schatten auf dem Fels. Das Buch ist sedierend, aber auf angenehme Art, also eher als Kompliment gemeint. Ich schätze solche Bücher. Es ist auch angenehm handlungsfrei, wie bereits mehrfach erwähnt, ist mir das in der Literatur oft sehr recht. Als ich neulich in der Bücherei größere Mengen Urlaubslektüre für Eiderstedt ausgeliehen habe, las ich etliche Klappentexte quer und wunderte mich wieder, warum das Schreiben über katastrophische Themen so eindeutig überwiegt. Es reicht nicht, dass jemand oder etwas handelt, es muss auch gleich wahnsinnig schlimm sein, warum findet das niemand merkwürdig. Es reicht etwa nicht, dass sich zwei nach langjähriger Beziehung entfremden, nein, es muss aus der Liebe Hass werden, und am besten, wenn man schon dabei ist, lässt man den einen auch gleich die andere umbringen, womöglich auf irgendeine bestialische Art. Als ob Entfremdung an sich nicht schon beeindruckend genug wäre, als ob Mann trifft Frau nicht schon für 300 Seiten reichen würde, bevor sie auch nur eine Nacht miteinander verbringen. Aber das nur am Rande. Gibt es eine undramatische Weltliteraturgeschichte? Würde mich interessieren. Falls nicht, schreibt die bitte mal jemand? Eine Liste mit den 500 besten handlungsarmen Büchern würde mir auch schon weiterhelfen. 

Egal. Erst einmal alles andere nachlesen. Etwa das hier:

Mein Haus, mein Auto, mein Wald

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Mit dem Wasser leben

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Zur Geschichte des Kapitalismus

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Über Alice Munro

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Über Proust.

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Wir halten an einer überholten Form von Mobilität fest

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Entnervende Alltagsmüh

Ich lese Erzählungen von Elizabeth Gaskell, ein von Andrea Ott übersetzter Band in der Manesse-Bibliothek. Da wird im Nachwort aus einem Brief von ihr zitiert, dass sie im Schreiben „Zuflucht vor den liliputanisch kleinen Pfeilen der entnervenden Alltagsmüh“ findet. Sie hat wohl in jeder Lebenslage und auch unter wenig attraktiven Bedingungen geschrieben.

Egal. Die Stelle fiel mir nur auf, weil ich nach der Woche Urlaub in dieser Woche arbeite, während ich in der nächsten Woche wieder Urlaub habe, wonach sich die Reihe aber leider nicht in dieser Form bis zur Rente fortsetzt, sondern jäh abbrechen wird. Das ist eine etwas merkwürdige Planung, das mit dem wöchentlichen Wechsel, das fiel mir auch auf, ja. Es gab natürlich Gründe, immer gibt es Gründe, das Schicksal weiß auch, wohin es sich die Gründe schieben kann, pardon.

In dieser Woche gibt es also nicht nur Gründe, sondern auch Arbeit, haufenweise sogar, da müssen Sie mich kurz entschuldigen. Ich erzähle etwas später weiter. Etwa vom Starkregenereignis auf Eiderstedt und auch von der kleinen Geisterstadt und von der Sache mit den Tests alle 72 Stunden und mit welch schönem Satz der Urlaub endete, es liegen da noch ein paar Notizen vor. Sie müssen sich jetzt bitte vorstellen, dass ich bei diesen Zeilen versonnen im Tagebuch blättere, etwa so wie der älteste Sohn der Waltons damals.

But first – die entnervende Alltagsmüh. Bitte sehr, bitte gleich.

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Auf Verdacht und von Herzen

Noch auf Eiderstedt, ich berichte etwas rückwärts, schon von Hamburg aus, die Notizen hängen nach. Ein Mittagsschlaf von vielen, im aus dem Wind gedrehten Strandkorb neben der Scheune. In der Nähe steht ein kleiner Junge aus einer der Ferienwohnungen, der zu seinem Vater durch eine offene Tür sagt oder eher ruft, weil man in dem Alter alles noch ruft, so wie man auch jeden Weg läuft und nicht etwa geht, weil alles, alles in diesen Jahren noch dringend und wichtig ist, weil das Relativieren erst später kommt: „Ich habe heute erst 26 Sportminuten, aber dafür habe ich schon zweieinhalb Kapitel gelesen!“ Ob das denn auch okay sei, will er vom Vater wissen. Er verfolgt gerade alles, er trackt alles, er findet das spannend.

Da muss ich mich zusammenreißen, um nicht zu rufen, dass er das vermutlich nie wissen werde, was okay sei. Dass man darüber bis zum Verzweifeln nachdenken könne und vielleicht sogar bis zum Ende aller Tage, das auch. Ist das okay? Was ist schon okay? Das Nachdenken darüber ist unser Fluch, darum geht es doch bei dieser uralten Geschichte vom Baum der Erkenntnis, die am Anfang von allem steht, von allem Unglück jedenfalls. Das Nachdenken ist das eigentliche Problem, nicht unsere hauptsächliche Errungenschaft, es ist genau dies die Mutter aller Verwechslungen. Und immer noch essen wir an apple a day, zur ewigen Mahnung an das Kernproblem und fragen uns dabei schon, noch während wir nach dem Apfel auch nur greifen, ob wir den nun mit oder ohne Schale und in Vierteln oder in Achteln oder einfach so essen und mit wem wir den dann teilen, und ob das dann so okay ist, immer wieder diese Frage – und es hört nie auf. Nie hört das auf.

Neben mir liegt beim Nachdenken die Katze und ist Katze und macht Katzensachen und ist so dermaßen gut darin, nie hat sie eine Sekunde daran gezweifelt, nie wird sie es tun und jetzt rollt sie sich ein und schläft. Das ist alternativlos, die Sonne scheint auf ihr Fell. Das ist das Glück und kein Weg führt dahin.

Wir Menschen dagegen, wir behelfen uns mit halbwegs gelungenen Momenten. Und manchmal immerhin sind die auch ganz gut, denke ich, und strecke mich dem herandämmernden Mittagsschlaf entgegen.

Der Vater sagt schließlich ja, das sei auch ganz okay, das mit den 26 Sportminuten und den zweieinhalb Kapiteln. „Echt, meinste?“, fragt der Sohn, und richtig überzeugt klingt er nicht. Er denkt noch etwas nach, das hört man ihm an. So fängt es immer an. Das ist eine Zeile aus einem alten Schlager, so fängt es immer an.

Ich mache die Augen im Strandkorb zu, ich summe leise den Schlager. Ich denke, das ist okay. Ich würde schnurren, wenn ich könnte, so angenehm fühlt sich dieses Einschlafen gerade an, aber ich kann ja nicht schnurren. Was kann man schon! Die Katze übernimmt das für mich.

Auf der Wäscheleine über dem Rasen hängen etliche graue Spannbettlaken, die im auffrischenden Wind seltsam spukhaft aussehen, schnappende Münder, groß aufgerissen. Eine Zeichnung aus einem Bilderbuch. Wäre ich noch Kind (Anmerkung meiner Grundschullehrerin unter einem Aufsatz damals: „Maximilian, du hast etwas zu viel Phantasie!“) ich hätte abends dermaßen Angst vor diesen Laken. Alles verschlingen die, was in ihre Nähe kommt, alles, sie schnappen danach und mümmeln es grau weg, keine Spur je wieder davon. Aber ich bin schon etwas länger mehr oder weniger erwachsen, fällt mir ein, es sind also nur Spannbettlaken, und zwar solche, die nicht trocken werden, weil es alle paar Stunden etwas schauert, und das ist es nur, was das Schauerliche an ihnen ist.

Später gehe ich noch etwas angenehm restmüde spazieren, an den Viehweiden entlang. Da stehen vier, fünf Kühe, die sehen mich kommen. Sie gucken interessiert, wie ich mich da nähere, seltsam zweibeinig, durch die pralle Sonne und hinterm Zaun, wie ich da also aus meinem Stall komme, einen großen Kreis gehen, dabei nicht weide, keine Sekunde und keinen Halm lang und wie ich dann einfach so wieder in meinen Stall gehe. Es muss doch wirklich seltsam wirken.

Die Kühe gehen, soweit ihre Weide eben reicht, neben mir mit, immer wieder freundlich zu mir guckend. Es wirkt ein wenig, als sei es hier in der Gegend ein uraltes Gebot der Gastfreundschaft, mit den Besuchern ein Stück mitzugehen, das macht man so, als Eiderstedter Kuh mit Benehmen, Kultur und Tradition. Zwischen den Kühen und mir blüht und duftet es ein wenig seltsam schwer, das ist die Moschusmalve, die hier einen schmalen Streifen Land üppig besiedelt. Helles Lila, viel davon, in einem Landschaftsaquarell ein langgezogener und dicker Pinselstrich luftiger Farbigkeit, quer durchs ganze Bild.

Ich habe lange keine Kühe gesehen, die so dermaßen freundlich interessiert geguckt haben, wie die an diesem Weg. Ich bilde mir fast ein, sie milde lächeln zu sehen. Dabei ist das den Kühen gar nicht gegeben, glaube ich, milde lächeln zu können. Aber ich lächele doch auf Verdacht und von Herzen zurück. Das ist nämlich auch etwas wert, wenn man von Tieren freundlich angesehen wird, glaube ich.

Und gänzlich unverdient, dass ist es wohl auch.

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