Lavendel und Verbene

Es ist das erste Mal, dass sowohl die Herzdame als auch ich vom Thema Urlaubsplanung dermaßen genervt waren, dass wir mit so enorm schlechter Laune vor irgendwelchen ferienbezogenen Seiten mit einer Usability aus der Hölle saßen, dass wir so hohnlachend einige absurde Preise gesichtet haben (was etwa erlauben Kopenhagen?!), dass wir so komplett sinnlos versucht haben, die Interessen von vier gnadenlosen Dickköpfen auch nur halbwegs auf einen Nenner zu bringen, dass wir die Bemühungen schon nach zwei, drei Tagen entnervt einfach komplett eingestellt haben und in diesem Jahr also das mit diesem “Spontan” versuchen, von dem immer alle reden. Und sei es notfalls mit dem großen Familienzelt, das hier noch irgendwo im Keller herumliegen muss, das mit dem Zettel am Eingang, “You are leaving your comfort zone”. Genau so machen wir das. Der Plan ist, keinen Plan zu haben.

Also abgesehen von der einen Woche auf Eiderstedt, die wir natürlich routinemäßig und quasi im Schlaf und ein Jahr im Voraus buchen. Auf Eiderstedt ist, warum auch immer, routinemäßig alles gut, wir sollten da eigentlich öfter hin, das denke ich allerdings schon seit Jahren. Aber sonst? Erst einmal abwarten und Entspannungstee trinken, mit Lavendel und Verbene allem. Verbene übrigens, ein wunderschönes Wort, finde ich. Italienische Anmutung, geradezu operntauglich, feiner Klang und es hört sich an wie eine Beteuerung: Alles wird gut. Verbene also gerne wieder, auf Deutsch heißt das allerdings Eisenkraut. Da wird es dann unschön, wer bitte würde das denn trinken wollen? Eisenkrauttee, das klingt überhaupt nicht nach Entspannung, das klingt eher nach Wehrertüchtigung und Abhärtung. Drei Wochen Knast bei Graubrot und Eisenkrauttee, das wird dem Rabauken eine verdammte Lehre sein! Pardon, ich schweife ab.

Jedenfalls: Keine Urlaubsplanung. Nur Urlaubsbedarf.

***

Ansonsten schule ich gerade halbwegs programmgemäß und mit etwas Vorlauf um auf Teenagervater. Besser als gar keine Weiterbildung! Wissen Sie übrigens, dass es mit dem Alter von Sohn I eine besondere, eine kulturgeschichtlich besondere Bewandtnis hat? So alt wie der nämlich ist, das kann man sich ganz leicht merken, also als Vater jedenfalls, so alt ist auch das iPhone, so alt ist unsere alles dominierende Smartphonekultur.

***

Musik! Janne Schra und M. Ward. Sich einfach mal fallen lassen.


***

Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

***

Sie können hier Geld für Nächte im Zelt in den nur virtuell vorhandenen Hut werfen, ganz herzlichen Dank!

Traniger Überschuss

Sehr viele Menschen in dieser Stadt machen gerade ein Gesicht, das einer Redewendung voll und ganz entspricht, nämlich der Wendung: “Der macht ja ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter.” Und das liegt nicht an der Nachrichtenlage, nein. Das liegt auch nicht an den Wahlen, die viele ganz im Gegenteil sogar recht erfreulich finden, das liegt nicht am Warten auf Corona und nicht einmal an der Situation auf dem Wohnungsmarkt, das liegt an etwas, auf das man gar nicht mehr sofort kommt, nach all den trockenen Monaten, das liegt einfach an sieben Tagen Regenwetter. Und wer schon immer wissen wollte, wie die interessanten Varianten “Ein Gesicht wie vierzehn Tage Regenwetter” und “Ein Gesicht wie 21 Tage Regenwetter” aussehen, es wird in Hamburg bald über eine Million Beispiele dafür geben.

Ich jedenfalls ziehe gerade in Erwägung, mich morgens nach dem Duschen nicht mehr abzutrocknen, wozu auch, man wird eh gleich wieder nass.

***

Ich höre immer weiter und mit einigem Einsatz Moby Dick. Ich gehe also noch viel mehr einkaufen als sonst, ich gehe immer noch zwei, drei Geschäfte weiter, ich mache freiwillig alle nur denkbaren Besorgungen der Familie und gehe dauernd sinnlos durch das oben erwähnte Regenwetter um Blöcke. Ich frage zu unmöglichen Zeiten sehr interessiert, ob jemand etwas braucht, irgendetwas, und dann gehe ich los, allzeit bereit. Ich würde das Buch ja sonst endlos oder zumindest jahrelang hören, und ich bin vielleicht gar nicht jahrelang in Melville-Stimmung, was weiß denn ich, as my whimsy takes me, wie es anderswo hieß. Ich bin aber trotz dieses erheblichen Einsatzes erst etwa in der Mitte des Werkes, da nützt die ganze Mühe nichts. Moby Dick ist eben ein großer Wal und kein dünnes Brett.

Man beschäftigt sich in dieser Mitte gerade in vielleicht doch etwas nervtötender Breite mit dem Verzehr von Walbestandteilen, es werden etliche Beispiele für Küchen, Zubereitungsarten, Völker und Fettarten gelistet, bis man als Leser oder Hörer endlich Wahnvorstellungen vom tranigen Kalorienüberschuss bekommt. Die Kapitel sind also nicht direkt appetitanregend, eher im Gegenteil, und man kann ja auch mal ohne Abendbrot ins Bett und von einem frühlingsgrünen Salätchen träumen.

Weltliteratur als Diätform, das habe ich so noch gar nicht gesehen.

***

Kiki über gute Kunst, mit einem sehr feinen Zitat am Ende. Hier noch die Langversion zum Zitat, auch sehenswert:

***

Über den Begriff “Erbenszähler”.

***

Noch eine kleine Geschichte, die erzählt heute Dota Kehr, nämlich die Geschichte von den beiden im Bus.

Und apropos Dota, da gibt es auch ein neues Stück, wenn auch ohne Filmchen, noch einmal etwas von Kaléko, wieder mit Begleitung, die einem bekannt vorkommt. Schön, schön:

***

Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

***

Sie können hier Geld für Salätchen in den nur virtuell vorhandenen Hut werfen, ganz herzlichen Dank!

Konzentriert, verliebt und hingerissen

To whom it may concern: Constantin Seibt schreibt über ADHS. Und wie immer schreibt er sehr gut, das wird sogar eine Serie. So viele Namen aus dem Journalismus kenne ich gar nicht, bei denen ich immer hinsehe, ganz egal, worum es geht, Constantin Seibt ist einer davon. Ich selbst habe diese im Artikel behandelte Diagnose übrigens nicht, ich habe aber eh keine Zeit für so etwas und kann mich auch nicht auf Symptomlisten konzentrieren.

***

Drei Bilderchen. Dreimal Menschen, die mir im Gedächtnis geblieben sind. Ganz harmlose Bilderchen nur, harmlose Bilderchen sind manchmal auch ganz schön.

Zum einen der ältere Herr auf einer Diskussionsveranstaltung mit Vortrag. Ein rappelvoller Saal, interessiertes Publikum, Fachleute von Rang, emsig mitschreibende Jugend und etliche fotografierende Menschen, die was mit Medien machen, eine gehaltvolle Anmoderation und dann etwa zwei Stunden konzentriertes Programm. Dieser Herr setzt sich zum Beginn des Abends neben mich, wobei mir schon auffällt, dass er sehr gerade sitzt. Das fällt mir oft auf, wenn jemand diese Kunst beherrscht, sicher weil ich der unordentlich sitzende Typ bin. Ich wirke vermutlich oft eher wie kurz abgelegt, nicht wie anständig hingesetzt. Dieser Herr da aber – kerzengerade, ein Offizier in der Messe, eine höhere Tochter am Klavier, diese Art von Haltung. Er setzt sich hin, er atmet einmal tief durch, er schließt die Augen. Und macht sie bis zum Ende der Veranstaltung nicht mehr auf und bewegt sich auch nicht. Dann steht er auf und geht. Ich habe natürlich keine Ahnung, was für ein Phänomen das war, aber warum auch immer er es geschafft hat, da zwei Stunden komplett still zu sitzen und konzentriert zuzuhören oder zu meditieren oder sich wegzuträumen, es ist ja einiges möglich und vorstellbar, er strahlte dabei jedenfalls eine so unfassbar souveräne Ruhe aus, ich konnte meinen aufkommenden Neid gar nicht überfühlen.

Und dann die Dame im Coffeeshop, die neben mir saß und arbeitete. Sie ging Papiere durch und machte sich hier und da mit der Hand Notizen, sortierte etwas um, las dann etwas nach, verglich zwei Seiten, markierte etwas, las dann wieder. Zwischendurch lächelte sie, und zwar tat sie das auf eine Art, die vermutlich bedeutete, dass ihr ganz außerordentlich gut gefiel, was sie da las. Dermaßen entzückt und hingerissen sah sie aus, ich möchte fast ausschließen, dass das auf den Papieren da von ihr war, denn so liest man eigene Texte nicht. So lese ich jedenfalls eigene Texte nicht, so liest nach etwas Nachdenken kein Mensch, den ich kenne, eigene Texte. Wenn es aber die Texte oder die Arbeitsergebnisse oder Entwürfe anderer Menschen waren, dann waren die entweder verdammt gut – oder aber die Menschen, die diese Papiere mit irgendwas befüllt hatten, wurden von dieser Dame geradezu innig gemocht, denn es war ein herrlich mildes, ein inniges Lächeln mit fein darin glimmender Freude, es war so ein Lächeln, das man wirklich gerne einmal abbekommen hätte, etwa für irgendeinen Text. Wenn man etwas produziert, was dann so angelächelt wird, dann hat man doch wohl etwas richtig gemacht. Das Bild wurde noch besser dadurch, dass sie tatsächlich ausgesprochen damenhaft aussah, es gibt ja Menschen, die schon auf den ersten Blick Bildung und Kompetenz ausstrahlen, und zu denen gehörte sie. Ich trank meinen Kaffee aus, ging einkaufen und erledigte noch zwei, drei andere Termine. Ich ging nach etwa vier Stunden wieder an diesem Coffeeshop vorbei, sah hinein und da saß sie tatsächlich immer noch, vor dem längst leeren Latte-Macchiato-Glas. Sie wendete gerade ein Blatt Papier um und lächelte.

Schließlich saß ein Mann in der S-Bahn, in der ich mit Sohn II zum Reiten fuhr. Die Bahn hielt, die Tür ging auf, eine Frau stieg ein und sah sich suchend um, ging zu diesem Mann, der schon lächelnd und winkend nach ihr aussah und setzte sich ihm umstandslos auf den Schoß. Der Platz neben ihm wäre auch frei gewesen. Sie legte wortlos und ohne weitere Begrüßung die Arme um ihn und ihre Wange an seine, seine Arme umfassten sie ebenfalls und sein Kopf neigte sich zu ihrem, es umgab diese beiden sofort eine geradezu aufdringliche Zartheit und Vertrautheit. Ich kann gar nicht schreiben, dass sie offensichtlich so verliebt waren, denn nach Verliebtheit sah das nicht aus. Ich kann nur schreiben, dass sie sich offensichtlich so liebten, denn genau danach sah es aus, nach einem erprobten und bewährten Gefühl, nach gestandener großer Liebe, nicht nach einer stürmenden Verliebtheit. Sie hielten beide die Augen geschlossen, Station um Station, sie saßen da und fühlten hin. Sie saßen da ganz still und glücksversunken und hatten sich sehr. Der interessiert neben ihnen stehende Sohn II kommentierte die Szene irgendwann gut hörbar mit dem völlig korrekten und feinen Erikativ “kuschel”, woraufhin sich vier Mundwinkel ganz leicht hoben.

***

Im Vorübergehen gehört, das empathische Gespräch der Woche:

“Na, wie geht’s, alles gut?”

“Nee, ich hab mir letzte Woche drei Rippen gebrochen, mir tut echt alles weh, mir geht es überhaupt nicht gut und ich muss ja trotzdem noch zum Einkaufen und die ganze Scheiße.”

“Ja was, einkaufen müssen wir alle.”

***

Man beachte hier bitte den Dialog mit der Friseurin und das Zitat aus dem Grundgesetz. Den Rest natürlich gerne auch.

***

Musik! Niloufar Taghizadeh und Erdmöbel.

***

Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte. Ich erhalte, das noch kurz dazu, erstaunlich häufig gut gemeinte Hinweise, dass doch jetzt bitte andere Ministerinnen oder Minister dran seien, dass dieser oder jene jetzt aber, denn der oder die hätten doch gerade, und dann werden Untaten benannt und Zitate gebracht – dazu möchte ich einen zur Abwechslung strengen Blick aufsetzen und erstens völlig ernst gemeint “Immer einer nach dem anderen!” sagen, dazu möchte ich zweitens aber noch eben anmerken, dass genau diese Ungeduld, diese schnelle Vergessen, dieses besinnungslose Drängeln und dieser stete Drang nach eilfertiger Aktualität ein Teil der gesellschaftlichen Probleme ist. Und kein kleiner.

***

Sie können hier Geld für die nächste S-Bahnfahrt von Sohn II in den nur virtuell vorhandenen Hut werfen, ganz herzlichen Dank!

Wenn du das mal gemacht hast …

Ein sehr angenehm zu lesender Verriss, auch mal hübsch.

***

Es kam die siebte oder achte Sturmflutwarnung in Folge, man klickt die mittlerweile aber ebenso routiniert weg, wie 2018 die Warnungen vor Hitze. Das war in dem Jahr quasi ein Aufwachritual, erinnern Sie sich noch?

***

Im Rahmen des Komfortzonengelöts habe ich zum ersten Mal im Leben Wahlplakate aufgehängt, dabei finde ich Wahlplakate völlig sinnlos und die Verbindung von Wahl und Marketing überhaupt mindestens zweifelhaft. Aber ich bin ja lernwillig und mitmachbereit und demokratiebesessen und alles, und nachdem ich neulich in diesem Meditationsbuch, ich berichtete, das mit “Wo du auch hingehst, da bist du dann”, gelesen habe, dachte ich mir, das kannste ja auch übertragen! Selber denken, weiter denken! Und zwar so: “Wenn du das mal gemacht hast, dann hast du das mal gemacht.”

Deswegen war ich also beim Wahlplakateaufhängen außerhalb meiner Komfortone, total engagiert und auch noch weise, das erfüllte also gleich drei Wünsche auf einmal und auf jedem siebten Plakat war … na, egal.

Jedenfalls, ich war soweit strebsam, jetzt sind Sie wieder dran.

***

Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

***

Sie können hier Geld in den nur virtuell vorhandenen Hut werfen, ganz herzlichen Dank!

Damals im Büro

Im letzten Text kamen hier “herumhängende Jugendliche” vor, da lege ich doch noch eben etwas an, etwas von ganz damals. Rückblende etwa 1987, da fing ich in der Firma an, in der ich seltsamerweise heute noch arbeite. Die Firma hat seitdem ihre Bezeichnung mehrfach geändert, ich aber auch, das passt schon. Die erste Anlaufstation war der Bereich Sozialforschung. Ein großes Thema war da gerade die Viktimisierung, es ging um die Frage, wer vor was Angst hat und warum und wie oft. Ich nehme an, das ist heute noch ein prominentes Thema in den Sozialwissenschaften, ich habe damit aber keine beruflichen Berührungspunkte mehr. Damals schrieb ich die Fragebögen, also tippte sie ab, in endlosen Batterien wurden darin Gründe für Ängste abgefragt, immer wieder und wieder kamen dabei die “herumhängenden Jugendlichen” vor, denn insbesondere ältere Menschen hatten damals ziemlich viel und oft Angst vor “herumhängenden Jugendlichen”, einige trauten sich kaum noch aus dem Haus. Und so oft kam dieser Ausdruck vor, dass wir ihn im Kolleginnenkreis bald dauernd verwendeten, auch im Smalltalk. Wenn man sich etwa am Montagmorgen begrüßte und nach dem Verlauf des Wochenendes erkundigte, dann kam die obligatorische Antwort, aber oft mit der scherzhaften Einschränkung: “Nur diese herumhängenden Jugendlichen überall!” Die Wendung verfolgte uns,  wie andere die Zwangsvorstellung von herumhängenden Jugendlichen verfolgte. Der Ausdruck frass sich in unsere Hirne, wir dachten das irgendwann reflexmäßig und was mich betraf, der ich noch sehr jung war, konnte ich längere Zeit an keinem Spiegel vorbeigehen, ohne daran zu denken, immer machte ich mich vor Spiegeln unwillkürlich gerade, um nicht allzusehr nach Herumhängen auszusehen. Und wenn wir im Büro Pause machten, war es klar, wie die älteren Kolleginnen uns verlässlich bezeichneten.

Sagt man das heute überhaupt noch? Egal. Damals übrigens, das ist noch am Rande erwähnenswert, hatte man vor den herumhängenden Jugendlichen einfach so Angst, obwohl man über ihre Herkunft gar nicht weiter nachdachte und also nichts wusste und sie vermutlich sogar in der Regel schlicht deutsch waren. Für Ängste, das vergisst man leicht, braucht man nämlich gar keine Migration, braucht man im Grunde gar keine Änderung der Umstände, Ängste klappen immer.

Einfach so.

***

Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

***

Sie können hier Geld für einen herumhängenden Senior in den nur virtuell vorhandenen Hut werfen, ganz herzlichen Dank!

 

Erzählungen vom Wandel

Hier, das dauert einige Minuten, das ist es aber wirklich wert: Ein Special zum Klimawandel in Norwegen, gefunden via Vanessa. Und dazu dann noch: “Das Ende der Unbeschwertheit”, von Katrin Seddig. Dazu habe ich einige Anmerkungen, ich halte nur am Rande noch eben fest, dass es da draußen jetzt gerade mehrere Schlagzeilen über die nächsten Stürme gibt, Viktoria oder wie immer sie heißen werden, in den Wetterberichten muss schon wieder mit der verstärkten Bildung von Ausrufezeichen gerechnet werden.

Erst einmal aber zwei Bilder aus einer stürmischen Woche. Während es natürlich ungewöhnlich war, dass es mehrere Tage nacheinander durchstürmte und gleich fünf Sturmfluten per Katastrophen-Warn-App angekündigt wurden, gab es vom Balkon aus kaum etwas Besonderes zu sehen. Ich war eine Woche lang krank zu Hause und habe das getan, was ich sonst kaum noch tue, ich habe stundenlang News gelesen und Twitter verfolgt, mir war gerade so. Das war ein wenig wie in dem gestern zitierten Tweet von Frau Diekmann, online ging die Welt unter, draußen wehten einige Blätter vorbei. Ja, hui.

Zwei Bilderchen. Auf dem Spielplatz vor unserem Haus sind riesige Pfützen, kleine Seen fast schon, die sind da immer, wenn es besonders stark regnet. Normalerweise erscheinen dann bald etliche kleine Kinder und testen die Belastungsgrenzen ihrer bunten Gummistiefel und Regenhosen aus, das fiel an diesen Sturmtagen aber aus. Auf dem Spielplatz stehen auch alte Bäume, darunter spielt man besser nicht bei Windstärken um 10 und stärker. Es sitzen aber zwei Jugendliche auf einer Bank unter einem Dachvorsprung und kiffen, wobei sie sich alle Mühe geben, dem Klischee “Herumhängende Jugendliche” gründlich gerecht zu werden. Sie machen das bilderbuchmäßig, bis hin zu den runtergezogenen Hoodiekapuzen und den überlangen Beinen, die dummerweise dauernd in den Regen ragen. Die beiden starren auf die Pfütze vor ihnen, es ist die größte auf dem Platz, die gerade von den über dem Platz kreisenden Böen so dermaßen heftig bearbeitet wird, dass es darin richtigen Wellengang gibt, mit Schaumkrönchen und allem, es ist fast wie beim Meer, nur eben in klein und ohne Schiffe. Die beiden herumhängenden Jugendlichen machen das, was ihnen rollenmäßig auch zusteht, sie gucken in diese Pfütze, rauchen, nehmen tiefe Züge und lachen sich kaputt. Immer wieder zeigen sie auf die Wellen vor ihnen, auf diesen seltsamen Miniozean da, und dann lachen sie so, dass sie fast von der Bank fallen. Irgendwann schlurfen sie durch den einsetzenden Regen weiter.

Zwei, drei Tage später, es ist immer noch Sturm. Auf die Lange Reihe, das ist die belebteste Straße im Stadtteil hier, kübelt das Wetter einen Graupelschauer der Extraklasse, schaufelweise crushed ice von oben, so etwas hat man noch nicht erlebt, und während man noch denkt, dass es das ja gar nicht geben kann, wird das Eis plötzlich zu Wasser und zwar dergestalt, dass all die jetzt auf einmal laufenden Leute in Sekunden komplett durchnässt sind, an sich heruntersehen und dann völlig entgeistert nach oben, was denn bitte das jetzt war? Das gibt es doch nicht? So ein Wetter also, und man guckt dann erst noch einmal nach oben, bevor man wieder ein paar Schritte weitergeht, da wird es doch tatsächlich schon wieder nass, alles rennt und flüchtet. Mitten durch diese Szene geht jemand von der Post, er schiebt einen kleinen und natürlich gelben Handwagen vor sich her. Er geht langsam und ruhig, er macht das beruflich und lehnt es vermutlich kategorisch ab, sich vom Wetter irritieren zu lassen. Er schiebt seinen Wagen also in aller Seelenruhe durch das allgemeine Fluchtverhalten der Menschen bei Starkregen. Diese beiden Geschwindigkeiten nebeneinander sehen schon einmal seltsam aus, was aber noch seltsamer ist, der Herr trägt eine kurze Hose und wirkt dabei wie der mit Abstand entspannteste Mensch des Stadtteils.

Das waren, obwohl ich wirklich genau hingesehen habe, die einzigen wenigstens etwas bemerkenswerten Bilder der Woche, mehr hat mir der Sturm nicht gebracht. Es war dabei ein ungewöhnlicher Sturm, ein wirklich riesiges System, aber im Grunde ist nichts passiert. Ein paar Zweiglein lagen auf den Gehwegen.

Von der Dramaturgie her war das natürlich völlig daneben, denn nach dem tagelang anschwellenden und immer wieder tosenden Orkan hätte einer der Sturmfluten etwas mehr hinlangen müssen, das haben hier alle gemerkt. Am Anfang des Wetterphänomens war ein unwirkliches Rauschen in der Luft, das waren die enormen Windgeschwindigkeiten in großer Höhe, es war ein Rauschen, das man sonst nie hört und wie leicht hätte man das in einem Soundtrack aufgreifen können, Streicher im Sturm. Es stand dann aber doch wieder nur der Fischmarkt etwas unter Wasser. Das fällt hier unter Folklore, nicht unter Katastrophe, der ganze grandiose Spannungsaufbau war also im Grunde vergeigt und das merkte man den Medien und vor allem auch Twitter deutlich an. Lustangst ist da wohl das richtige Stichwort, es hätte halt schon gepasst, wenn etwas passiert wäre.

Noch einmal zurück zu dem Norwegen-Special oben, das fängt so hervorragend thriller-mäßig mit dem braunen Wasser in der ersten Szene an, das ist gut gemacht. Das kann man sich in einem Film sensationell umgesetzt vorstellen, das braune Wasser in den Seen und später dann aus den Wasserhähnen und in Badewannen … wenn man so drüber nachdenkt, man sieht die Einstellungen schon vor sich, ein Schnitt und dann die entsetzten Gesichter der Schauspielerinnen von Weltrang. In einer Serie könnte das auch ein beeindruckendes Element sein, immer wieder dieses braune Wasser und in jeder Folge mehrere neue Bilder dazu, das Rätsel wird immer größer, bis man auch die dritte Staffel noch sehen will. In einem Roman wäre das eine ganz außerordentlich ausbaufähige Metapher, was könnte man daraus alles machen, es ist wirklich einladend. Wir sind darauf geeicht, dass da etwas kommt, wir sind so dermaßen erfahren in Sachen Spannungsaufbau, wir erkennen die Fährte und die Gefahr. Und vermutlich können wir auch abschätzen, wann da etwas passieren wird oder wenigstens passieren sollte, es gibt einfach erwartbare Zeiteinheiten, je nachdem, an welches Medium man gerade denkt. Es passiert früher oder später, aber dass es passiert, das ist immerhin klar.

Soweit ich es verstanden habe, ist das eines der Probleme beim Klimawandel, dass diese Muster einfach nicht korrekt bedient werden. Denn es passiert nichts, was für uns Ereignis genug wäre, um den Action-Helden auftreten zu lassen. Das Wasser ist braun, okay. Es fehlen einige Insekten im Garten, okay. Der Winter fiel aus, wie stellt man das bloß so dar, dass es richtig scheppert und es auch der Letzte merkt, dass da jetzt etwas abgeht, was eine ganz, ganz große Geschichte ist, womöglich eine der größten überhaupt? Der Winter fiel aus, das klingt schon gar nicht so schlecht, aber in Wahrheit war hier einfach seit Oktober schlechtes Wetter. Das ist alles.

Würden wir es erkennen, wie groß diese Geschichte ist, wir würden alles tun, so stelle ich es mir jedenfalls vor, um eine Wende herbeizuführen, um die Krise und den allfälligen Wendepunkt zu überleben. Tatsächlich ist es wohl keine allzu schlimme Pauschalisierung, wenn man feststellt, dass kein Mensch irgendwas macht, also außer weiter. Die ganze Angelegenheit wird einfach nicht richtig inszeniert. Was zwar wie ein Witz klingt, aber doch erklärt, warum business as usual nach wie vor funktioniert, auch am nächsten Montag klingelt der Wecker und alles geht immer irgendwie weiter – eventuell hat mein Unterbewusstsein hier gerade eine Songzeile von Sven Regener eingebaut, nanu. Was das Storytelling angeht, nehme ich jedenfalls an, dass der Klimawandel uns einfach nicht richtig kriegt, das wollte ich nur eben sagen.

Plot-Twist: Am Ende kriegt er uns doch.

***

Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

***

Sie können hier Geld in den nur virtuell vorhandenen Hut werfen, ganz herzlichen Dank!

Die situationsadäquate Regentrude

Das Ende eines überlangen Wahlabends – Lenz Jacobsen

***

Ein symbolischer Rauswurf – Mely Kiyak

***

Ein Artikel über die Wiedervereinigung Deutschlands, der die nicht ganz so großartigen Aspekte aufgreift, was meiner Meinung nach nicht oft genug geschieht. Für Interessierte aus dem ehemaligen Westdeutschland, die ein gewisses Alter haben, empfehle ich dazu noch die Tagebücher von Rühmkorf aus dieser Zeit, die sind enorm erhellend und helfen der Erinnerung wieder auf die Beine. Denn es war ja so, wir waren gar nicht alle rundum sorglos begeistert, wir sind gar nicht alle jubelnd und fahnenschwenkend herumgelaufen, wir waren vielmehr auch damals schon bei “Moment Mal!”, da haben wir es nämlich wieder, am Ende denke ich das tatsächlich schon seit diesen Vorgängen, das kann sogar sein, wenn ich so drüber nachdenke. Wir hätten einiges gerne etwas länger besprochen und den Leuten an den runden Tischen hätte man auch gerne etwas länger zugehört, diese Sichtweise war gar nicht exotisch, nicht in Ost- und nicht in Westdeutschland. Und etwa Rühmkorfs Brechreiz beim Anblick des schwarzrotgolden gefärbten Bildzeitungsrandes, das ist schon auch ein Stück Kulturgeschichte, und eigentlich kein so unwichtiges.

Noch eben ein kleines Stück Geschichte dazu, show, don’t tell, Sie erinnern sich, ich möchte das hier tatsächlich öfter einhalten. Für Menschen unter einer gewissen Altersgrenze ist es aber vielleicht schwer zu verstehen, das gleich vorweg. Ich kannte im Jahr der Wiedervereinigung eine Frau, die gerade auf einem Austauschjahr in den USA war. Leitende Angestellte, Akademikerin (die automatische Rechtschreibkorrektur schlägt hier gerade “Akademiker” vor, auch interessant) und durch und durch das, was man im Kontext der alten BRD als linksintellektuell-arriviert bezeichnet hätte. Damals war sie vermutlich vierzig oder fünfzig Jahre alt, da kann man sich auch einen Bezug zum Jahr 68 ausrechnen. Ihre amerikanischen Gastgeber dachten sich nun, dass es doch eine recht große Sache sei, was da gerade im Heimatland der Dame passierte, ein Riesending, echtjetztmal, und sie veranstalteten also kurzentschlossen eine Überraschungsparty für sie. Eine Party mit deutschen Getränken, deutschem Essen, deutscher Musik und deutscher Deko, Fähnchen und alles, Schwarzrotgold überall. Und man muss diese Zeit gekannt und erlebt haben, man muss die grundsätzliche Skepsis gegenüber allem Nationalen schon von Kindheit an mitbekommen haben, um sich ausreichend und peinvoll genug vorstellen zu können, in welchem Ausmaß sich diese Dame damals nicht gefreut hat, als sie diese Bescherung dann gesehen hat.

Sie hat uns nach der Reise davon erzählt, und jeder im Zuhörerkreis hat sich gefragt, wie um Gottes willen man selbst da bloß reagiert hätte. So war das nämlich damals, liebe Kinder, in einem Schland vor Eurer Zeit.

***

Nicola Wessinghage hat ein Buch rezensiert, da geht es um die Kunst, sich nicht ablenken zu lassen. Interessantes Thema, man beachte unbedingt auch die Ergänzungen ganz unten vom 11. Februar. Wobei man im Sinn haben muss: Der konzentrierte Mensch ist eher nicht kreativ. Ist so, das muss man hinnehmen, es handelt sich um etwas, das wir kaum ändern können. Wir können uns mühen und arbeiten, wir können tolle Ideen haben, wir können aber selten beides zur gleichen Zeit.

Noch in diesem Zusammenhang – wie bereits mehrfach erwähnt, kann ich mit dem ganzen Zauber um das Bullet Journal nichts anfangen, lese aber mit Interesse das Blog des Erfinders der Methode. Da gibt es gerade einen Artikel über das Arbeiten mit analogen Hilfen und Tools, in dem kommt diese Krux mit der Kreativität und der Ablenkung schön abgeleitet vor und ich teile die dortigen Folgerungen bezüglich Notizen. Das ist, wenn Sie so etwas auch interessiert, hier entlang zu finden. Ich finde so etwas ja spannend.

***

In Hamburg wird eine Brücke abgerissen, die für Isa und mich gleich drei “Was machen die da”-Gespräche versinnbildlicht. Auf der haben wir mit einem der Porträtierten damals interviewend gestanden, von der aus haben wir zwei andere Gesprächspartner erreicht. Wir finden es, das darf ich sicher auch ganz unabgestimmt in ihrem Namen sagen, einigermaßen rücksichtslos, so etwas einfach abzureißen, da hängen doch Erinnerungen dran. Also wirklich.

***

“Für die nicht endende Flut der aus Ihrer Sicht anscheinend fundierten Expertinnenratschläge zu meinen Gebrechen …” Die Kaltmamsell schreibt über ein Problem, dass jeder kennt, der sich öffentlich zu einem seiner Probleme äußert. Man kennt es natürlich auch offline, so ist es nicht, es ist durchaus kein rein digitales Phänomen. “Ununterdrückbarer Beratungsdrang”, eine so treffende Formulierung. Wahrhaft absurd aber wird es dann in den Kommentaren. Alter Schwede.

***

***

Das Folgende ist nur noch interessant, wenn Sie ab und zu Hörbücher hören. Wenn Sie dieses Medium eher großräumig meiden, dann klicken Sie ruhig weiter, mehr kommt heute nicht, es gibt nichts zu sehen. Ich bin aber einigermaßen neu im Thema, so lange höre ich noch gar nicht, ich habe also einige weitere Bemerknisse noch vor mir.

So etwa neulich, als ich im Heimatdorf der Herzdame war und mir aus therapeutischen Gründen dachte, dass es vielleicht ganz schlau wäre, einmal nichts zu tun. Das denkt man ja ab und zu, wenn man ein Stressproblem hat, und dann setzt man sich hin und eskaliert so herum, aber man kann ja auch einfach ein Hörbuch hören, denn dann macht man irgendwie nichts, aber eigentlich dann doch, im Grunde ist das ein wunderbarer Trick. Und Tricks – da stehe ich doch drauf. Es war also auf dem Land, es regnete und regnete und regnete, der Blick ging aus dem Fenster auf nasse Landschaft, schwere Wolken und leere Straßen. Ich habe dazu die “Regentrude” von Theodor Storm gehört, ein Märchen, gelesen von Nadja Schulz-Berlinghoff. Ein eher kurzes Stück über das also, was da reichlich und unentwegt aus den Wolken kam. Und das, so schien mir, ist eine noch ausbaufähige Angelegenheit, spontan situativ passende Hörbücher abzuspielen. Passend zum Wetter, zur Stadt zur Landschaft, zum Ehestreit, zur Verliebtheit, zum Frühling, zum Abendbrot. Gibt es da schon eine App?

Außerdem mache ich gerade erste Erfahrungen mit der Hörbuchlangstrecke und höre Moby Dick, gelesen von Markus Pol. Wobei mir die Hamburger Wirklichkeit immerhin mehrere Sturmfluten und ganz ordentlich Wind einspielte, das war gar nicht schlecht. Mir fiel aber zum ersten Mal auf, dass ein Hörbuch etwas in den Sinn des Werkes hineindrehen kann, was da nicht unbedingt hingehört. Denn dadurch, dass der Vorleser im Hörbuch alles erzählt, auch die Passagen, die eher erklärender Natur sind, wirkt der Text ganz anders, als er vermutlich im selbst gelesenen Buch wirkt. Wenn man die Seiten nämlich im Buch liest und das Kapitel dort wechselt und der Tonfall auch, dann schaltet man im Kopf ja um und denkt sich eine Änderung, aha, jetzt kommt da ein Einschub, hier ist etwas anders (wobei, siehe gestern – wir lesen alle anders). Das macht man normalerweise, ohne groß darüber nachzudenken. Im Hörbuch aber erzählt der gleiche Erzähler immer weiter und wird dabei auf eine Art allwissend, die im Text gar nicht angelegt ist. Der Vorleser wird zum Erzähler, das ist eine Gleichung, die längst nicht immer aufgeht. Schon interessant.

Moby Dick kann man im Grunde auf diese Art gar nicht richtig vorlesen, man müsste mindestens zwei Stimmen zur Verfügung haben.

Egal, jetzt habe ich etwa ein Viertel gehört, den Rest höre ich mir natürlich auch noch an, stehe mit Starbuck sinnend am Achterdeck und wundere mich, nicht unerheblich auch darüber, dass der Herr Pol so ziemlich alle Fremdwörter anders ausspricht, als es mir geläufig ist. Nanu.

***

Musik! Da hatte ich doch neulich gerade drei Versionen von Le Moribond, hier kommt noch eine weitere in deutscher Sprache. Verena Guido:

Und, alte Youtube-Regel, immer nachsehen, was die Leute noch so treiben. Da findet man etwa dieses hier, da spielt sie Akkordeon und singt Cohen:

***

Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

***

Sie können hier Geld in den nur virtuell vorhandenen Hut werfen, ganz herzlichen Dank!

Beim Betrachten der Tauben

So. Wo war ich? Wobei, das ist auch egal. Als ich neulich in diesem Herforder Freizeitbad das Buch über Meditation gehört habe, gab es da eine vollkommen ernst gemeinte Stelle, bei der ich vor Lachen erst einmal auf Pause drücken musste, ich hätte sonst absatzlang nichts mehr verstanden. Ich könnte auch jetzt noch anfangen zu lachen, schon wieder zu lachen, wenn ich nur daran denke. “Wo auch immer du hingehst”, so wurde da vorgelesen, “wo auch immer du hingehst – da bist du dann.”

Dass ich da lache, das ist natürlich nur meinem furchtbaren Banausentum in Sachen Meditation und Gegenwart und Hier und Jetzt und allem geschuldet, denn wahr ist der Satz, da kann man überhaupt nichts einwenden. Wo du auch hingehst, da bist du dann. Jo, Digger. Es ging selbstverständlich darum, dass man da dann auch bitte ganz sein soll, volle Möhre bewusst und achtsam und alles, es liegt mir im Grunde auch fern, das ignorant abzuwerten, nur weil ich da kein Topchecker bin und mehr zu den Getriebenen, den Hektikern und Ungeduldigen gehöre, nur weil ich also selbst vielleicht nicht ganz da bin. Was heißt vielleicht, ich bin es nicht, so viel steht mal fest.

Ich habe manchmal das etwas seltsame Gefühl, bevor ich irgendwo wirklich sein könnte, müsste ich erst zwei, drei Sachen zu Ende denken. Vielleicht sind es auch drei oder vier, fällt mir dann ein, und wenn ich länger darüber nachdenke und gerade Zeit habe, dann werden es auch schnell noch wesentlich mehr, so viele werden es, das geht bis hin zur Staubildung im Geiste. Als hätte ich seit irgendwann etwas nicht beendet im Hirn, als sei da ein Prozess hängengeblieben, also nein, eben nicht nur einer. Wenn ich das zeitlich zurückverfolge, was da so herumkreist, dann lande ich etwa im Jahr 2015. Das hat zum einen private Gründe, die hier dummerweise nicht verhandelt werden, das hat zum anderen politische Gründe, denn mir geht es wie vielen Menschen, die etwa seit 2015 dauernd und zunehmend genervter “Moment mal!” rufen möchten, weil erstens alles zu schnell geht, weil es zweitens alles gar nicht richtig läuft und weil es drittens nirgendwo vernünftig erklärt wird und bitte sehr, das habe ich jetzt so raffiniert formuliert, da können Sie sich mit jeder beliebigen politischen Haltung dahinter klemmen, nicht wahr, so ist es doch.

Das Private stört mich dabei im Grunde viel mehr als das Politische, es zehrt auch wesentlich mehr und überfordert mich gründlicher, aber das Politische nervt schon auch, to say the least. Ich habe eine ganze Weile auf Texte gewartet, die mir etwas geradebiegen konnten, die kamen aber nicht. Ich dachte, es würde irgendwo etwas Plausibles erscheinen, eine allgemeine Weltformel für die Gegenwartspolitik, so etwas in der Art, das gab es aber nicht. Ich habe mich danach auch eine Zeit mit Medienkritik beschäftigt, mit dem mir manchmal eklatant erscheinenden Versagen der Medien in den letzten Jahren. Ich habe über die Rolle der Medien nachgedacht, auch über Blogs und soziale Medien. Ich habe versucht, daraus irgendwie schlau zu werden und mir eine fundierte Meinung zu bilden. Ich habe allerdings den Eindruck, in den letzten Jahren sind nicht viele daraus schlau geworden, ich schon gar nicht.

Ab und zu fallen mir wieder Grundregeln der Wahrnehmung ein, die ich hier im Blog schon oft thematisiert habe, die füge ich dann im Geiste zusammen, nur mal spaßeshalber. Etwa die Sache mit dem eingebauten Stichprobenfehler, Sie wissen schon, dass der Mensch nahezu unweigerlich aus seiner Wahrnehmung heraus die Wirklichkeit hochrechnet und daher permanent falsch liegt, weil er nie genug und richtig ausgewählt wahrnimmt. Man kann diesem Konstrukt vertrauen, die Wirklichkeit ist ganz gewiss nicht so, wie Sie denken. Sie müssten im Grunde nur einen Block weiter gehen, um zu einem anderen Weltbild zu kommen, etwas überspitzt ausgedrückt. Es ist eigentlich eine Binse, aber sie ist so furchtbar, furchtbar schwer im Sinn zu behalten, fast niemand kann das. Es ist, wie es ist – wir wissen wenig über unser Dorf, unsere Stadt, unser Land. Verdammt wenig.

Dazu dann noch die Selbstbild/Fremdbild-Sache – Sie selbst sind auch nicht so, wie Sie denken. Sie sind ganz anders, da können Sie fragen, wen Sie wollen. Das ist eine ungemein faszinierende Verbindung, ich bin also nicht so, die Welt ist auch nicht so. Wir sind dadurch alle näher am Don Quichotte als uns lieb sein kann, wir ahnen Riesen und wähnen uns Ritter, immer wieder.

Und als ob das nicht schlimm genug wäre, gab es da gerade zwei Artikel, mit denen kann man das noch steigern. Da ging es darum, dass andere Menschen ganz anders denken als wir, als ich, als Sie, also dass der eigentliche Vorgang des Denkens bei denen anders zu funktionieren scheint, das war dieser Text. Eine wunderbare Ergänzung dazu ist noch ein Text bei 54books, in dem es um verschiedene Arten geht, wie wir lesen, das findet sich hier und es lohnt sich, weil es verdeutlicht, wie unterschiedlich wir sind und wie variantenreich wir ticken. Alle drei Faktoren zusammen: Die Welt ist nicht so, ich bin nicht so und die anderen denken gar nicht so, wie ich denke. Man möchte sofort den ollen Watzlawick aus dem Regal ziehen, so unsicher ist das alles, aber darum geht es nicht, also geht es mir gerade nicht.

Worum es mir eher geht, ist ein mittlerweile erheblicher Zweifel an der Deutungsfähigkeit der Medien oder der Menschen in den Medien. Es gab da in den letzten Jahren eine Entwicklung hin zu mehr Meinung, Deuterei und Prophetie bei immer weniger vorsichtiger Wahrnehmung und Abschätzung. Das war auch eine Entwicklung der Verknappung von Inhalten, das war also auch Twitter etc. Der Widerspruch zwischen der dargestellten und der von mir wahrgenommenen Wirklichkeit ist im Laufe der letzten Jahre so irrsinnig geworden, es muss einfach grundsätzlich etwas faul sein. Mit mir oder mit dem Rest, ich bin da ganz offen. Die Medien urteilen immer härter und schneller, ich werde immer zögerlicher und komme immer lieber auf mein nun schon uraltes “Moment mal!” zurück. Ich bin aber als Medienkritiker gar nicht kompetent genug und verlasse diese Baustelle daher umgehend wieder, um mich meinen eigenen Belangen zuzuwenden, bei denen ich womöglich auch nicht kompetent bin und es aber nichts ausmacht, weil ich dabei nur mich selbst anrempele.

Während ich dies schreibe, sitzt eine sturmzerzauste Taube im Balkonkasten und pickt Sonnenblumenkerne auf, die ich ihr vorhin serviert habe. Eine gewöhnliche Stadttaube ist das nur, und die erinnert mich an etwas, dass ich 2015 nicht geschrieben habe. Ich kam irgendwie nie dazu und dann war das Jahr auf einmal schon vorbei und die Entwicklung war auf einmal eine andere und die Notiz rutschte so nach hinten durch und war dann irgendwann ganz weg. Aber ab und zu, wenn ich Tauben sehe, fällt es mir doch wieder ein.

2015 also, Sie erinnern sich, da war doch was. Der Hamburger Hauptbahnhof ist voller geflohener Menschen, Kinder schlafen nachts auf dem nackten Boden der Wandelhalle, vor dem Bahnhof werden Zelte aufgebaut, Suppenküchen werden spontan gegründet und Kleidung wird gespendet, es fehlt aber an allem. Der Bürgermeister ignoriert die verworrene Lage standfest und eiskalt, ein gewisser Herr Scholz war das übrigens, aber das nur am Rande. Es ist ein sonniger Tag, auf dem Bahnhofsvorplatz hat ein etwa fünfjähriger Junge gerade ein Stück Brot gereicht bekommen, ein syrischer Junge vermutlich, aber genau weiß ich das natürlich nicht. Er hat von dem Brot gegessen und macht jetzt etwas, das richtig Spaß macht, er füttert Tauben. Die kommen gerne und ganz dicht an ihn ran, der Junge strahlt und freut sich, die dramatisch übermüdeten Eltern sitzen dahinter und lächeln eher schwach. Gut möglich, dass dieser Junge da schon ziemlich lange keinen Spaß mehr gehabt hat. Er wirft immer weiter Krümel, die Tauben schlagen mit den Flügeln und drängeln erheblich, im Grunde haben sie ja kein Benehmen, worin sie den Menschen nicht unähnlich sind. Es tritt eine Hamburger Dame im Rentenalter auf, sie ist ganz der Typ Heidi Kabel, was ein wenig lustig ist, da die Szene auf dem Heidi-Kabel-Platz spielt. Sie hat also diese typische betonfeste Kurzhaarfrisur und die knuffige Handtasche und den obligatorischen Krückstock, den sie resolut und einsatzbereit in Richtung der Tauben und des Jungen schwenkt: “Also wirklich, man kann doch nicht!” Nämlich die Tauben füttern, das kann man nicht. Weil man das nun einmal in dieser Stadt nicht macht. Was ein syrischer Junge auf der Durchreise nicht wissen kann, wie man sich vorstellen kann, wenn man sich überhaupt etwas vorstellen kann.

Und weiter geht es gar nicht, die Dame schritt dann grummelnd zur U-Bahn und verschwand, der Junge guckte verängstigt und kaute lieber wieder selber auf dem Brot herum, die Tauben warteten vom Bahnhofsdach aus erst einmal ab, ich ging weiter, das war es schon. Ein Sekundenschnipsel, ein Splitter nur, eine Stichwortnotiz. Man könnte da jetzt ganz viel dranhängen an Deutung und Möglichkeit und so weiter, wie eine Pastorin könnte man sich daran abarbeiten und Begriffe herausarbeiten, Fremdheit und Brauchtum und Freude und Angst und Wut und was weiß ich. Man kann es aber auch einfach lassen und sich nur denken, guck an, das war also ein Stück Geschichte, dieser kleine Zusammenstoß, so sieht so etwas aus, so kann man das wahrnehmen.

Es ist vielleicht nämlich auch das, was mich seit 2015 irgendwie stört, dass ich immer denke, die Geschichten kommen viel zu kurz. Immer wieder denke ich, mit den Erzählungen stimmt etwas nicht mehr. “Show, don’t tell” heißt es doch immer, und überall findet nur noch tell statt, dieses Blog hier ist da keine Ausnahme und in bester Gesellschaft.

Ich weiß aber auch nicht, ob es Sinn hat, jetzt erst recht zu erzählen, ich habe gar kein Patentrezept. Ich weiß sowieso nichts, siehe oben, ich meine das schon ernst. Wenn man aber in der Dekonstruktion soweit erst einmal ist, dann landet man vielleicht tatsächlich da, wo man ist und sieht sich dort erst einmal gründlich um, denn schließlich – was hat man sonst? Und landet man dann doch wieder bei der eigenen Erzählstimme? Könnte sein.

Na, ich werde berichten.

***

Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

***

Sie können hier Geld für Taubenfutter in den nur virtuell vorhandenen Hut werfen, ganz herzlichen Dank!

Trinkgeld Januar, Ergebnisbericht

Ich war im Januar mit der geschätzten Isa im Kino, es gab “Knives out”. Ich habe bisher nichts darüber geschrieben, pardon. Ein ausreichend unterhaltsamer Film war das, den man keinesfalls bereuen muss, ich mochte die Kulissen. Das klingt jetzt eventuell etwas abwertend, man muss dabei aber bedenken, dass mir Kulissen im Theater und bei Filmen wirklich wichtig sind. So wichtig sind die mir, dass ich der Handlung und dem ganzen Rest viel verzeihe, wenn die Kulissen nur super sind. Kulissen finde ich anregend, Kulissen machen mir Geschichten, ob da im Stück nun auch welche erzählt werden oder nicht. Ein interessantes Haus gab es im Film, ein sehr interessantes Arbeitszimmer gab es auch. Ich werde bei so etwas immer etwas wehmütig, denn ich habe ja keines. Es ist sogar so, ich habe im Moment und nach aktuellen Umbaumaßnahmen nicht einmal einen eigenen Schreibtisch in der Wohnung, ich vagabundiere vielmehr mit dem Notebook so über die Möbel und durch die Räume, unstet und flüchtig ziehe ich dahin (Nahaufnahme bebende Unterlippe des Bloggers).

Knives out ist ein betont altlmodischer Krimi, Agatha-Christie-Style, und es gehört zwar gar nicht hierher, aber mir fällt es nun einmal gerade gerade ein, bei dem Hörbuch “Das Wirtshaus der beiden Hexen”, die Vorlage wurde geschrieben von Joseph Conrad, gelesen wurde es von Hubertus Gertzen, gibt es eine Mordmethode, die mir noch nie vorher begegnet ist. Falls Sie sich für Mordmethoden interessieren, meine ich. Wobei die aber nicht eben leicht für den Privatgebrauch zu übernehmen ist. Egal, das nur ganz am Rande.

Ich habe mir im Januar außerdem ein Buch über Fallibilismus gekauft, das war leider ein Fehlkauf, bzw. nein, ich war eher ein Fehlkunde, mir fehlt nämlich die philosophische Vorbildung. Schlimm. Ich werde es irgendwo aussetzen.

Apropos philosophische Vorbildung, ich kaufte mir ferner die Werke von Epikur. Irgendwo anfangen, ne.

Und dann! Dann waren wir in Herford. Ich war noch nie in Herford, öfter einmal etwas Neues, Abenteuer, raus aus der Komfortzone, na, Sie kennen das. Herford ist gar nicht so weit vom Heimatdorf der Herzdame entfernt, man muss nur einmal um den Wilhelm herumfahren, das ist so ein Satz, den versteht in Nordostwestfalen jeder und sonst kein Mensch. Der Wilhelm steht auf einem Berg, das ist da also landschaftlich etwas anders als bei uns, es ist, wie die Söhne beim Blick aus dem Autofenster sagten, fast wie in Südtirol. Ja, fast! Auf der Fahrt kamen wir übrigens auch an einem Drive-In-Bäcker in Minden vorbei, so etwas kannte ich noch gar nicht. Wir haben das selbstverständlich getestet und uns dabei leider unabsichtlich vorgedrängelt, weil wir das Konzept nicht sofort verstanden haben. Wir kommen aus der Stadt, wir kennen uns mit dem modernen Leben auf dem Land eben nicht aus. Schlimm.

In Herford jedenfalls gibt es ein sogenanntes Freizeitbad. Es gab noch Hutgeld mit dem Betreff: “Etwas mit Wasser”, und ich habe ja einen langen Atem bei so etwas. Das hat jetzt tatsächlich monatelang gedauert, bis ich das sinnig umsetzen konnte.

Das Freizeitbad in Herford, H2O heißt es sinnigerweise, ist sehr gut, es ist baulich sogar das vermutlich gelungenste Bad, das ich kenne. Kurze Wege, alles drin, Rutschen, Außenbad, Sprungturm, Kinderbereich, Wellendings, wirklich super. Eine kompakte Anlage, übersichtlich und doch erstaunlich ergiebig, die Söhne hatten etwa vier Stunden Spaß. Ich saß auf einer Empore und sah mir stundenlang das Getümmel von oben an, Ali-Mitgutsch-Effekte ohne Ende, Gewimmel und Gelärme. Sehr viel Gelärme, aber gut, das gehört nun einmal dazu. Ich hatte nicht vor, in diesem Freizeitbad nass zu werden, ich wollte nur in Ruhe da sitzen, und die Söhne haben mittlerweile ein ausreichendes Alter, wir müssen ihnen nicht mehr hinterherjagen oder Flügelchen aufblasen oder Äpfelchen zureichen oder sie aus dem Wasser fischen, es ist so schön, sie sind angenehm groß.

Ich habe mir einen Liegestuhl gesucht, mir ein Hörbuch über Meditation angehört und danach eine geschlagene halbe Stunde lang das ganze vor Spaß und Freude nur so brüllende und bebende Freizeitbad souverän veratmet, ich mache ja keine halben Sachen. Dann habe ich eine Stunde so in die Gegend geguckt und ab und zu auch zu dem Mann neben mir, auf dessen Brust das gut lesbare Tattoo “Lieb mich oder hass mich” prangte, es drängte mich so fürchterlich, ihm zu sagen: “Ich kenne Sie doch gar nicht!”Aber ich habe mich dann natürlich zusammengerissen.

Dann war immer noch Zeit übrig und ich habe einfach noch ein Hörbuch gehört, “Der Ausflug der toten Mädchen” von Anna Seghers, gelesen von, und das ist wirklich interessant, ihr selbst. Sie verschleift das ch beim Sprechen ein wenig, wenn da also Mädchen im Gespräch kichern, dann kischern sie im Gespräsch, zumindest ansatzweise, und sie liest außerdem sehr rhythmisch, etwa so, als würde sie Lyrik vorlesen. Vielleicht also hat sie den Text auch so geschrieben, eine interessante Vorstellung, ein Sprechgesang war das dann. Hören Sie sich das mal an (Spotify), es ist natürlich auch ein Stück Literatur, das man ruhig kennen kann. Es ist ein kurzer Text, etwa fünfzig Minuten. Die Aufnahme ist so alt, man hört zwischendurch noch das Umblättern der Seiten. Heute wäre das undenkbar, aber es klingt doch gut, finde ich. Es macht einem den Akt des Vorlesens zwischendurch bewusster.

Es gab ferner gute Schwimmbadpommes für die ganze Familie. Für Menschen meiner Generation waren sie sogar “wie früher” gut, also verdammt gut, und der Preis stimmte auch, da könnten sich die diversen Spaßbäder an der Küste bitte mal etwas abgucken mit ihren bodenlosen Frechheiten.

Ich habe Herford nebenbei auf Twitter erwähnt, es gibt dort, so entnehme ich den Reaktionen der Timeline dort, ferner ein Bugatti-Outlet, eine ganz passable Biermarke, irgendwas mit Kunst (Marta), es gibt außerdem Erinnerungen an pubertäre Discoerfahrungen und zumindest früher gab es auch Brathähnchen am Bahnhof. Ich glaube, so kann ich das bündig zusammenfassen. Vielleicht komme ich ja auch einmal dazu, mir die Stadt anzusehen, dazu war heute leider keine Zeit mehr, Herford ist für mich jetzt erst einmal ein Freizeitbad.

Ansonsten habe ich im Januar noch etwas Geld gespart, denn im Februar beginnt, wie es aussieht, schon die Pflanzsaison. Dazu in Kürze mehr! Also in etwa 29 Tagen.

Wie immer gilt, ganz herzlichen Dank für jeden eingeworfenen Euro und für jeden Cent, jeder Betrag ist uns ein Fest. Oder wie die Söhne sagen würden: “Wir feiern die Leserinnen, die sind krass.”

***

Und übrigens bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

***

Sie können hier Geld in den nur virtuell vorhandenen Hut werfen, ganz herzlichen Dank!