Rühmkorfs Briefwaage

Ich habe mich heute eigenmächtig von der Truppe, pardon, der Familie entfernt und war endlich im Altonaer Museum, bei „Lass leuchten!”, das war mir doch eine Herzensangelegenheit. Natürlich immer so eine Sache, Ausstellungen zur Literatur, textlastig wie nur was, auch wenn man da heute, Generation Powerpoint, mit Animationen und Projektionen alles belebt und helle erhebt – es bleibt doch Text. Nur Text. Und wenn der Zauber, aus diesem Text Welten und Paradiese werden zu lassen, in der geneigten Besucherin nicht bereits angelegt ist, dann taugt das wohl nichts, nehme ich an. Und es muss ja auch gar nicht für alle taugen. Wie etwa ich mich in einer Ausstellung über Fayencen und Keramik mutmaßlich zu Tode öden würde, während andere da voller Begeisterung von Objekt zu Objekt gieren – das ist ja alles in Ordnung so. Wer aber literarisch angefixt ist, für den ist das mit großer Sicherheit was, und wer Rühmkorf las oder liest, der wird es eh bereits als Pflichtprogramm auf dem Zettel haben.

In einer Vitrine steht dort Rühmkorfs Briefwaage, in einer steht seine Dope-Dose, in einer seine Olympia-Schreibmaschine. Da steht man dann so davor.

 

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Ich hatte einen leisen Verdacht, gerade bei der Briefwaage: Wie die Menschen sinnend da herumstanden, wie sie näher rangingen ans Glas und dann auch das Schildchen daneben studierten, auf dem natürlich “Briefwaage” stand, wie sie schließlich doch wieder einen Schritt zurücktraten und dann abschließend und schon halb im Weitergehen sicherlich dachten: “Nun ja, seine Briefwaage eben”, genau dieser kleine Moment, dieses Situatiönchen nur, das wäre doch etwas für ihn gewesen. So eine Beobachtung am Rande, darüber würde er, ich möchte fast darauf schwören, später am Tag in seiner Mansarde über der Elbe ein paar Zeilen schreiben, wäre er denn noch unter uns.

Und würde er spuken, dann würde er sicher im Museum sein und den Besuchern hier so grinsend über die Schulter, aber jede Wette doch –  da habe ich mich kurz umgedreht.

 

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Was ich also nur kurz sagen wollte, ich mochte die Ausstellung.

Noch einmal mein Lieblingsstück, das muss jetzt einfach so. “Wenn ich mal richtig ich sage, wieviele da wohl noch mitreden können?” Immer wieder gut.

 

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Und außerdem bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte. 

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Es folgt Werbung für eine Veranstaltung in Hamburg:

Im Auto im Regen vor einem Container

Ein Blogeintrag mit einem ganz wunderbaren letzten Satz.

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Im Tagebuch aus dem Jahr 1962 stellt Sandor Màrai bei einem Besuch in Hamburg zwar keine Fremdenfeindlichkeit, aber doch eine Fremdengereiztheit fest – wenn der wüsste, was daraus geworden ist. Wie sehr dass mittlerweile als verniedlichender Begriff wirkt, Gereiztheit. Er notiert da außerdem, dass die Gastarbeiter oder deren Nachfahren, so sagte man damals, später zu einem anderen Typ des Europäers werden sollten, unabhängiger von nationalen Konstrukten wie etwa Belgien, Deutschland etc.. Na, was man damals so geträumt hat.

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Im Vorübergehen gehört, ein Mann in einem irritierend nach den Achtzigern aussehenden Business-Outfit am Handy:

“Das kostet dann 500 Euro … das ist Flug und Hotel … ja … das stimmt … eine Luftmatratze irgendwo wäre billiger, ja.”

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Neulich saß ich im Auto im Regen vor einem Container für Gewerbemüll, man kann ja nicht nur glamouröse Momente im Leben haben. Ich saß da und las, was soll man auch sonst machen, wenn man auf etwas warten muss, etwa auf Söhne. Zwischendurch sah ich kurz hoch und mein Blick fiel auf diesen Container. Der war sehr voll, oben quollen schon die prallen Säcke heraus, zwei nasse Plastikwülste, einer rosafarben und einer blau. Und das, so dachte ich, ist auch wieder nur konsequent, das in dieser Gesellschaft mittlerweile sogar schon der Gewerbemüll nach Geschlecht getrennt wird.

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Der Sohn lernt Vokabeln, jede Woche schreiben sie einen Test in Französisch, einen Test in Englisch, da kommt etwas zusammen. Noch komme ich ganz gut mit, das wird sich natürlich irgendwann ändern, besonders im Französischen. Im Englischen war mir aber auch gerade ein Begriff nicht geläufig, nie gehört das: “partially sighted” für sehbehindert. Das kann man sich zwar leicht erschließen, aber ich denke, ich habe das niemals wirklich gelernt oder auch nur bewusst gesehen. Partially sighted, okay, jetzt weiß ich es. Neue Generationen lernen andere Vokabeln, was weiß ich denn, wie wichtig das Wort heute ist, das kann man vielleicht schon mal gebrauchen, denke ich mir. Ich sage also “sehbehindert” und der Sohn schreibt genervt auf, was da aufzuschreiben ist, auch wenn er nicht recht einsieht, warum sie nun ausgerechnet diese Vokabel, wozu denn die nun wieder – aber gut, solche Gespräche führen bekanntlich zu nichts. Schule, Lernen, fertig, manche Sachen ändern sich wohl nie.

Der Sohn also notiert und versteht erst mein Lachen gar nicht, als ich seine Vokabeln korrigiere und sehe, was er da geschrieben hat. Da ist ihm nämlich die Gegenwart dazwischen gekommen, die Gegenwart und der Druck der Werbung, die digitale Welt, das halb abgespeicherte im Unterbewussstsein – sehbehindert hieß bei ihm jedenfalls: “parship sighted.”

Falls Sie mit diesem Portal oder einem ähnlichen irgendwelche Erfahrungen haben – passen Sie bloß auf mit den Sehstörungen.

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Sohn II brach sich währenddessen wieder etwas und wir wissen jetzt, dass man damit beim dritten Mal schon etwas routinierter umgeht. Es tut aber, so sagt er, und ich will es ihm gerne glauben, so weh wie beim ersten Mal.

Schreiben und Reiten kann er jedenfalls ein paar Wochen vergessen, da fühle ich mit ihm. Also beim Schreiben jedenfalls.

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Es folgt Werbung für eine Veranstaltung in Hamburg:

Es gab Kohl

Und zwar, es folgt ein für manche gar finsteres Wort, Rosenkohl. Den esse ich hier gewohnheitsmäßig ganz alleine und drei andere sehen staunend und schaudernd zu, siehe in diesem Zusammenhang auch Leber oder Labskaus.  Rosenkohl also, ein ungemein schmackhaftes Wintergemüse, es wurde diesmal im Ofen zubereitet mit Pecannüssen, Apfel, Zwiebel und Petersilie, und das ist dann so gut, da braucht man keine Beilage und nix, das geht so als Hauptgang durch. Also bei mir jedenfalls.

Es handelte sich um ein Rezept von Oliver Trific aus dem ohnehin guten Buch “USA vegetarisch”, das ist aus der von Katharina Seiser herausgegebenen Reihe, die hier schon öfter vorkam. Ich hatte aus diesem Buch vor einiger Zeit einmal den Butternusskürbis hier präsentiert, der war ebenfalls, pardon, saugut.

Und weil auf Instagram gleich Nachfragen nach dem Rezept kamen, bitte sehr, bitte gleich. Ich verschlanke die Mengenangaben, denn wenn ich das aus dem Handgelenk kann, dann können Sie das auch, echtjetztmal.

 

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Mis en place: Rosenkohl, Zwiebel, Apfel, Petersilie, Pecannusskerne, Salz, Pfeffer, Bratöl.

Sie nehmen also den Rosenkohl, ich hatte da diese supermarktübliche Beutelmenge. Der Kohl wird am Stumpf etwas gekappt, die äußeren Blätter fliegen wie immer in den Kompost. Das von der Mutter gelernte kreuzweise Einritzen des Stumpfes lassen wir hier einmal weg, das kam da nicht vor, es ging auch so. Stark!

Danach schneiden Sie eine Zwiebel in irgendwas, Ringe, Würfel oder was Sie halt so draufhaben, es ist vollkommen egal. Ein Apfel wird entkernt und in Viertel, Achtel oder was auch immer geschnitten, er wird aber vorher bitte nicht geschält. Greifen Sie zweimal in die Tüte mit den Pecannüssen, die Ergebnismenge dann grob hacken.

Pecannüsse gab es hier übrigens nirgendwo, in keinem der Edel- und Fachgeschäfte, ich fand sie dann ganz banal bei Lidl. Nanu.

Der Kohl wird in einer Pfanne mit etwas Öl kräftig angebraten, er darf also ruhig an etlichen Stellen farblich eine ordentliche Veränderung durchmachen, wobei man aber, Achtung bitte, es folgt ein Spitzenwortwitz, auf eine kohlschwarze Verfärbung verzichten sollte. Im Bild oben sieht man deutlich, dass es noch mehr Farbe hätte sein dürfen.

Nebenbei den Ofen auf 210 Grad vorheizen.

Den Rosenkohl aus der Pfanne nehmen, die Zwiebeln dafür hineingeben und anbraten, bis sie heimelig herbstlich aussehen. Die Apfelstücke auch dazu geben und kurz mitbraten. Etwas gehackte Petersilie jetzt auch dazu, bzw. darüber.

Alles in eine ofenfeste Form geben (auch die Nüsse), salzen, pfeffern und vermengen. Im Ofen cirka 25 Minuten oder etwas mehr garen, je nach Rosenkohlgröße, zack, fertig.

Das gibt es jetzt öfter.

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Und außerdem bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte. 

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Es folgt Werbung für eine Veranstaltung in Hamburg:

 

Wintergold

Am Ende dieses Beitrags finden Sie Werbung für eine Veranstaltung der Körber-Stiftung in Hamburg. Es geht da um Menschen im Exil, in diesem Fall um Menschen im deutschen Exil. Die andere Variante, Deutsche im Exil wird uns hier thematisch aber vermutlich auch in Kürze begegnen, vorausgesetzt ich bekomme gewisse Terminprobleme in den Griff. Ich weise jedenfalls auch außerhalb des Werbebanners da unten ausdrücklich und gerne auf die Veranstaltungen der Stiftung hin, mich trifft man da demnächst auch wieder als interessierten Zuhörer an. Das hat sich bewährt und ich fand es absolut sinnvoll, mich thematisch auch einmal etwas neben meinen gewohnten Gleisen zu bewegen.

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Kiki blickt zurück. Eine Zeile bei ihr fand sich an diesem Tag auch wörtlich in meinen Notizen, exakt gleich, und ein Zufall ist das nicht, das Jahr war eben für einige anstrengend: “Müde, müde, müde.”

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Ich bin am Sonntag durch Niedersachsen gefahren, wegen Stau auf der Autobahn über Landstraßen durchs Nirgendwo, da kam ich an einem Dorf vorbei, Nartum, bei dessen Ortsschild etwas sachte in meinem Kopf klingelte. Dem folgte aber keine prächtige Assoziation, mit der ich vor der Familie hätte angeben können. Die gab es dann erst, als ich das Schild zum “Haus Kreienhoop” sah, da fiel es mir wieder ein: Der olle Kempowski. Da musste ich doch wieder ernsthaft mit mir selber schimpfen, denn was nützt die ganze Leserei, wenn man sich einfach nichts merkt? Wind von vorne!

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Die Herzdame hat in ihrem Büro einen Vogel gerettet, der sich da irgendwie zwischen den Fenstern verfangen hatte. Es handelte sich, wie sie jetzt nach eingehender Recherche genau weiß, um ein Wintergoldhähnchen, genauer noch um ein Weibchen dieser ausgesprochen hübschen Art. Das war ein sehr, sehr kleiner Vogel, ein Winzling nur, wenn auch kein, haha, Hänfling. Sie hatte das Federbällchen nur kurz in der Hand und trug es dann sofort ins Freie, und schön war und ist jedenfalls, dass sie jetzt immer, wenn man sie an dieses Vögelchen erinnert oder sie aus freien Stücken davon erzählt, die Hände so hält, als sei der Vogel noch darin, als sei da im Schutz ihrer Finger noch so ein ganz, ganz kleines und von ihr zu schützendes Leben verborgen und geborgen und sie kriegt dann ganz große und sehr milde blickende Augen dabei und hebt die Hände beim Reden so hoch, als käme gleich noch ein “Guck mal, guck doch mal” – das dann natürlich aber nicht kommt, denn da ist ja nichts mehr. Aber sie kann jedenfalls immer noch so überzeugend gerührt wirken – also der Vogel ist fast noch da. Ein winziges Wintergoldhähnchenweibchen.

Das also müsste man sein, wenn man mal von ihr so lieblich lächelnd angesehen werden wollte.

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An der Alster kommen mir Eltern entgegen, die schieben einen Buggy und essen beim Reden lässig Rohkostmöhrchen, so wie andere beim Gehen rauchen, und mir fällt wieder ein, wie kurz diese Phase im Leben ist, in der man immer Rohkost dabei hat, weil man den Kindern nun einmal etwas Gutes tun will, in der man aber diese Rohkost auch dauernd gottergeben selbst isst, weil man sie ja nicht wegwerfen will und die Kinder sie nur in sehr geringer Menge konsumieren. Das sind nur zwei, drei Jahre, aufs ganze Leben gerechnet also wirklich nicht so viel. Andererseits sind es zwei, drei enorm vitaminreiche Jahre und statistisch ist es ja so, dass Menschen mit Kindern einen Tick länger leben als die anderen. Ist dieser Zusammenhang eigentlich schon einmal jemandem aufgefallen?

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Ich zitiere aus dem mir sehr sympathischen Tagebuch von Sandor Márai einen hellsichtigen Abschnitt aus dem Jahr 1974 über das damals neue Recycling:

”Abgenutzte Autos, mottenzerfressene Haushaltsmaschinen und verwitterte Rohstoffe werden der Abfallverwertung zugeführt, mit Hilfe geheimnisvoller Vermengungen, Vermischungen und Härtungen zimmert man aus dem Ramsch neue Rohstoffe. Das “Recycling” ist mehr als eine industrielle, technische Gaukelei. Aus den Überresten einer Zivilisation, die unvernünftig Rohstoffe verschwendet und deren Deponien die Atmosphäre vergiften, soll mittels der Verwertung eine neue Zivilisation gemixt werden. Man hofft, dank Ersatz die Verschwendung fortsetzen zu können. Aus zwei abgenutzten Politikern älteren Datums macht man im Recycling einen neuen. Aus mehreren Religionsvarianten entsteht dank des ökumenischen Recyclings eine Synthese. Alte Literaturgattungen werden durcheinandergemischt und die Mixtur als modern verkauft. Sie durchwühlen den Abfall, finden einen abgenutzten Nazi und einen wurmstichigen Kommunisten, mischen die beiden und hängen das Schildchen “Demokrat” daran. “

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Und außerdem bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte. 

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Es folgt Werbung:

Trinkgeld Oktober, Ergebnisbericht

Es gab Geld zur ausdrücklichen Verwendung zu zweit, die Herzdame und ich gingen ins Kino. Das haben wir seit dem Kartoffelkrieg nicht mehr gemacht, so treiben einen diese Betreffzeilen in ungewohnte Erfahrungen, das war also sehr gut. Es gab “Gut gegen Nordwind”, das kann man unter “ganz nett” ablegen. Etwas irritierend war der Beginn des Ganzen, denn es standen in der Schlange an der Kasse und im Foyer des Kinos enorm viele fortgeschritten alte Menschen herum, noch viel älter als ich, seniorenheimalt also, steinalt. Da es eine Nachmittagsvorstellung war, wussten wir erst nicht, ob das mittlerweile so üblich ist, gehen Rentnerinnen am Nachmittag in Scharen ins Kino? Nach einer Weile kamen wir erst darauf, dass der andere Film, der, in den wir nicht gingen, diese Generation in Scharen anzog: “Die Deutschstunde”. In diesem Kinosaal wären wir mit Abstand die jüngsten Besucher gewesen.

Vor dem Kino aß ich in einem Caé ein hervorragendes Stück Caramel Cheesecake, das wäre des Nachbackens wert gewesen, aber wir haben kein recht passendes Rezept gefunden und die Herzdame müsste auch erst wieder ein Kleid kaufen, um formvollendet backen zu können. Wir kamen dann davon ab, Aufwand, wohin man sieht.

Die Söhne und ich erwarben außerdem einige Kalligraphiestifte sowie vier Miniaturleinwände für Acrylmalerei, die werden hier aber für Schriftkunstwerke gebraucht.

Bei einem Bummel durch die Stadt, den ich mit den Söhnen einzig zu dem Zweck unternahm, hinter ihnen mit dem Notizbuch in der Hand herzudackeln und weihnachtsbezogen Wünsche mitzuschreiben, die sich bei ihnen in Geschäften noch ganz zwanglos ergeben, bekamen sie Hunger und Durst. Da ich mich mittlerweile weigere, überall Proviant mitzuführen und es aber auch nicht einsehe, irgendwo Irrsinnspreise zu bezahlen, wenn ich in zehn Minuten am eigenen Kühlschrank sein kann, verfielen die Söhne auf die Idee, hoffnungsvoll nach restlichem Leserinnengeld zu fragen. Es gab da tatsächlich noch etwas für sie und so wurde das kindgerecht in enorm ungesunde Wegzehrung umgesetzt, mit koffeinhaltigen Limonaden und allem. Das erzeugte große Dankbarkeit und ich wurde von ihnen fürs Bloggen gelobt, das war auch einmal schön. Dezent schoben sie mich, als wir wieder zuhause waren, gleich an den Schreibtisch.

Das Buch des Monats war “Zeit als Lebenskunst” von Olaf Georg Klein, von wo aus ich eine unerwartete Denkbrücke zu Brigitte Reimann geschlagen fand. Der Herr Klein formuliert da nämlich wie folgt: “Bei der deutschen Wiedervereinigung war der unterschiedliche Umgang mit der Zeit in West und Ost eines der am massivsten auftretenden Konfliktfelder.” Etwas unglücklich formuliert vielleicht, diese massiv auftretenden Felder, aber inhaltlich kann man ja mal drüber nachdenken. Frau Reimann, so nehme ich an, wäre nie auf diesen Gedanken verfallen.

Ich war außerdem im Theater, Weißer Raum im Ernst-Deutsch-Theater. Im Publikum war sicherlich niemand, dem das Stück eine irgendwie neue Drehung beigebogen hätte, man wusste das, man ahnte das, man fürchtete das alles ohnehin. Was es aber bringt, sich in seinen schlimmsten Erwartungen ausführlich bestätigt zu sehen, ich weiß es auch nicht. Zehnte Klassen müssten das Stück sehen, deutschlandweit vermutlich.

Aber! Grandios waren die beiden Gebärdendolmetscher, das Stück wurde live übersetzt und ich sah mit großer Faszination, wie da etwa jemand ein längeres Percussionstück in Gebärden übersetzte, das war beeindruckend und auch schön. Und schön auch, dass beim Schlussapplaus die Schauspielerinnen und Schauspieler wie gewohnt gesamt und einzeln beklatscht wurden, die beiden Dolmetscher aber vom ganzen Saal mit der Applausgeste bedacht wurden, das habe ich noch nie vorher gesehen.

Auf jeden Fall war es ein interessanter Einstieg in die Theatersaison, nächste Woche geht es gleich damit weiter.

Wie immer, ganz herzlichen Dank für jeden eingeworfenen Euro und jeden Cent! In der dunkleren Jahreszeit wird die Verwendung wieder etwas kulturlastiger. Wobei ich immer noch etwas Geld für “Unsinn” über habe, das ist auch noch zu bedenken. Was ist Unsinn im Herbst? Das restliche Gartengeld wartet bis zum März auf seinen Einsatz und zum gentrifizierten Eis bin ich immer noch nicht gekommen, vielleicht kombiniere ich das einfach mit dem Unsinn und esse Mengen davon im November?

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Und außerdem bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte.

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Höher hinaus

Schwarz und Weiß

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Über Sammlungen

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Was schön war” das kommt hier bei mir gerade zu kurz, zugegeben, aber bei Anke drüben kann man etwas nachlesen. Sie verlinkt dort den Text “Was ich lernte, als mein Vater starb”und zitiert eine Formulierung, die ich auch herausgegriffen hätte – “Du sitzt jetzt erste Reihe fußfrei.” Das trifft es ganz gut, wie ich seit ein paar Wochen beurteilen kann. Es ist eine etwas andere Art der Beförderung, ein Aufrücken, über das man doch länger nachdenkt.

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Ich lese in den Briefen von Brigitte Reimann, da fällt irgendwo mitten in den Sechzigern im tiefsten Ostdeutschland eine Formulierung, die mich etwas irritierte: “Ich arbeite wie ein Kümmeltürke.” Das habe ich dann natürlich nachgelesen und es ist tatsächlich eine kleine Ost-West-Geschichte. Während ich das Wort nämlich nur als ausländerfeindliches Schimpfwort parat habe, mutmaßlich Siebziger aufwärts, galt für die Reimann vermutlich eine ganz andere Wortgeschichte, siehe hier. Wieder was gelernt.

 

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#reading

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In den Tagebüchern von Sandor Márai wiederum stieß ich auf den Begriff Graphomanie, daran anliegend auf den Furor scribendi und die Hypergraphie, und wissen Sie was, die kannte ich doch tatsächlich alle nicht. Aber jetzt! Furor scribendi wenn das nicht schön ist. Sogar als Klaps. Das schreibe ich hier gleich mal an die Wand.

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Auch bei Márai: “In Massachusetts habe ich  meine alte Schreibmaschine wiedergefunden und auf die Rückreise mitgenommen. Wie wenn der entlassene Soldat sein abgeirrtes Pferd wiederfindet; ich höre, wie die Schreibmaschine vor Freude wiehert.

So nett könnte man über einen Computer eher nicht schreiben. Ein vergleichsweise seelenloser Gegenstand.

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In die S-Bahn steigt ein Mann, der die gleiche Kleidung trägt wie ich, was jetzt nicht so schwer ist, wenn ich gerade aus dem Büro komme und ein höchst gewöhnliches Mittelmaßsachbearbeitungsotufit anhabe, allerdings ähneln seine Klamotten, seine Plünnen, wie wir in Lübeck sagten, den meinen so exakt, dass ich fast etwas von ihm wegrücken möchte, um nicht Teil einer seltsamen Inszenierung zu sein. Der andere Mann bemerkt mich aber gar nicht, der sieht nicht nach links und nicht nach rechts, der holt nur seine Kopfhörer raus, over ear, wie man da präzisieren muss und versinkt sofort und so gut sichtbar in der Musik, wie man es auch nicht gerade jeden Tag sieht. Der hält nämlich auch noch seine Hände über die Kopfhörer und sieht für einen kleinen Moment, für ein paar Takte also vermutlich,  durch und durch glücklich und entspannt aus, während er doch vor einer Sekunde noch aussah wie wir alle, die wir da gerade aus dem Büro kommen. Er ist jetzt in einer ganz anderen Sphäre, er schmiegt seinen Kopf an seine Hände, er schmiegt sich eigentlich an die Töne und ist mit geschlossenen Augen weg, so gründlich ist er weg, da ist es ganz gleich, wie sehr sein Hemd meinem ähnelt. Und ich denke mir, ohne sonst etwas von ihm zu wissen, dass er in diesem kleinen Moment, während dieser paar Takte da, eindeutig besser dran war als wir anderen im Abteil.

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Sohn I lernt mit mir Französischvokabeln, minichaine, das hätte ich nicht gewusst. Eine minichaine ist eine Kompaktstereoanlage und der Sohn ist sich gar nicht sicher, was das nun ist, das ist nämlich gar kein gängiger Begriff mehr, das ist mehr so Neunziger oder früher. Die heutige minichaine ist ein téléphone intelligent. Auch noch nie gehört.

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Auf dem Fußweg geht vor mir ein Mann, der hat seine Tochter auf den Schultern, die unzufrieden quengelt und wild mit den  Armen wedelt. In den Händen hält sie einen rosafarbenen Regenschirm für Kinder, den sie dem Vater unabsichtlich mehrfach über die Nase zieht, was diesen nach einer Weile verständlicherweise etwas nervt.  Er bleibt stehen und fragt in einem Tonfall, den man als Vater geradezu brüderlich verstehen kann: “Willst du runter oder was?” Und die Kleine lacht und jauchzt und reckt die Ärmchen zum Himmel und sagt: “Nein! Ich will höher!”

Aber da muss sie dann wohl erst selber etwas wachsen, wenn sie noch höher hinaus will.

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Papiermühlen und Fahrscheinlocken

Ein Wort aus dem Baskischen.

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Erinnerungen einer mitttelalten Westlerin an den Osten

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Auf dem Weg zur Arbeit komme ich an den Räumen einer christlichen Splittergruppe vorbei, es handelt sich dabei um eine etwas exzentrische und nicht sehr mitgliederstarke Gruppierung, die dort einen Lesesaal unterhält. Einen Lesesaal, in dem nie jemand sitzt, in dem aber mit schöner Regelmäßigkeit einige Bücher aufgeschlagen auf die Tische gelegt werden, damit es so aussieht, als ob da reger Betrieb wäre, hier und da natürlich auch ein Kinderbuch. Im Fenster zur Straße hin hängt ein Bildschirm, auf dem werden den Ungläubigen da draußen mehr oder weniger frohe Botschaften angezeigt, Gottesdiensttermine und dergleichen, sinnige Sprüche und Bibelzitate, na, man kennt das. Heute morgen leuchtete mir da folgender Schriftzug beträchtlicher Größe entgegen, als ich ins Büro hastete: “Immerwährende Strafe!”

Und okay, ich bin nun wirklich kein ausgewiesener Experte für Religion oder Marketing, aber ich möchte doch die wahrscheinliche Wirkung dieses Satzes auf die Passanten mit einem vorsichtigen “Ich weiß ja nicht” skizzieren. Als werbende Botschaft ist die Zeile vielleicht doch nicht ganz so günstig.

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Ich habe das “Irische Tagebuch” von Böll als Hörbuch gehört, fantastisch liebevoll gelesen von Jerzy May, das war viel schöner als gedacht und auch deutlich schöner als erinnert. Was auch kein Kunststück ist, denn ich konnte mich kaum an das Buch erinnern. Wann mag ich das gelesen haben, mit achtzehn Jahren oder so, in einem Land vor unserer Zeit. Ich habe eigentlich nicht einmal die leiseste Erinnerung daran, ob es mir damals gefallen hat oder nicht.

Es sind schöne Begriffe darin, etwa “Einzelsäuferkoje”, es gibt auch Sätze, die fallen mir besonders auf, etwa: “Ein Schaffner kurbelte aus seiner Papiermühle eine lange Fahrscheinlocke heraus.” Ich zitiere aus dem Gedächtnis, das Original kann leicht abweichen. Das fällt mir deswegen auf, weil ich das als Bild noch spontan umsetzen kann, meine Söhne aber könnten das nicht mehr. Papiermühle? Hä?

Und dann dieses Gefühl, deutlich über hundert Jahre alt zu sein, wenn ich mir ins Gedächtnis rufe: Ich habe sogar noch Schaffner in Bussen erlebt. Ich kenne also diese Menschen mit den Papiermühlen noch, auch die, die an den Busstationen herumstanden und aus diesem metallenen Zauberding vor dem Bauch heraus Fahrscheine drehten. Und in den Bussen hingen Aschenbecher, immer volle Aschenbecher, na, und immer so weiter. Die Erinnerungen im Museum für Kulturgeschichte. Manche sind so schräg, also aus heutiger Sicht, fast möchte man sich selbst nicht glauben.

Die Hörbücher höre ich auf Spotify, die Auswahl an Klassikern dort reicht für den ganzen Winter, alleine der Stechlin, den ich gerade angefangen habe, läuft vierzehn Stunden oder so. Der Stechlin natürlich wieder so schön, ich möchte mich geradezu suhlen im Text.

Nebenbei fiel mir ein Album auf, das möchte ich kurz und dringend empfehlen, ein fantastisches Ding, das ich lange gesucht habe. Westphal liest Benn über Jazzstücke hinweg und hinein. Da braucht man mal einen ruhigen Moment dafür, aber es lohnt sich dann. “Es gibt Melodien und Lieder, die bestimmte Rhythmen betreu’n, die schlagen dein Inneres nieder – und du bist am Boden bis neun.”


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Musik! Es muss ja nicht immer alles harmonisch sein. Fiona Apple und Andrew Bird.

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Die nächste Mühle ist meine

In der SZ wird Bill Callahan bejubelt.

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Ein Plädoyer für die Winterzeit. Jo.

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Der Herbst spielt Metalle aus, Kupfer, Bronze, Messing und Altgold mit kleinen Fehlern. Die Birke zahlt in kleinen Münzen, und wie viel sie zahlt! Die Blätter an den Essigbäumen am Ufer der Billerhuder Insel dagegen sehen aus wie mit Filzstift gezeichnete Feuerzeugflammen in Comics.

Auf dem Weg in den Garten komme ich einem kleinen Geviert am Wegesrand vorbei, da hat jemand wohl im Sommer mitten in der Brache etwas gegärtnert und es blühen dort Malven nach, ein Quadratmeter üppiges Trostlila, morgen wird alles schon auf Halbmast hängen. Müde Mücken schwanken durch den letzten warmen Oktobertag, versprengt und ohne zusammengerottete Kumpels, Flug ohne Wiederkehr.

Ich komme im Moment zu wenig raus, dabei möchte ich mir das alles so gerne genauer ansehen. Das wird aber erst wieder im November was, egal. Grau ist auch interessant, wenn es als Nebel über die Alster kommt oder über die Elbe abzieht, man weiß ja mittlerweile, dass es da etliche Schattierungen gibt. Man kann aber auch mal nachzählen, ich bin da eh beruflich vorgeschädigt.

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Ich war in der Bücherei und habe keine neuen Bücher mitgenommen, was sich auf dem Rückweg aber irgendwie seltsam falsch anfühlte und da kann man es wieder mal sehen – das Pflichtgefühl erreicht Stellen im Hirn, da kommt Entspannung gar nicht hin.

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Apropos Entspannung. Ab und zu hört man ja Sätze, die andere über einen sagen, etwa dann, wenn sie ganz direkt im freundschaftlichen Dialog geäußert werden, und so etwas ist natürlich immer sehr interessant. Selbstbild/Fremdbild, Sie wissen schon. So wurde mir neulich gesagt,ich würde mit der aktuellen Version von Frisur und Bart immer mehr wie Don Quichotte aussehen. Das war nicht abwertend gemeint, glaube ich jedenfalls, wenn ich auch nicht ganz sicher sein kann, auf welche Abbildtradition sich dieser Eindruck bezog, es gibt ja so dermaßen viele Don Quichottes in der Geschichte dieses Buches. Aber gut, ich fand den Vergleich ganz ansprechend, ich gebe es zu.

Kurz darauf hörte ich am Telefon, dass ich enorm gestresst klinge und jemand sagte mir dann auch noch beim gemeinsamen Kaffeetrinken, ich würde wohl mal Ruhe brauchen, müsse mal an mich denken.

Ich will das alles also zusammenmischen und als Anregung mitnehmen, ich lasse ja keine Hinweise aus. Ich nehme also diese Indizien und kombiniere daran etwas herum und wissen Sie was, ich habe es schon  – die nächste Windmühle ist meine, meine ganz alleine, und ich mache sie in aller Ruhe fertig.

So in etwa.

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Ein Text von Welt

Im Vorübergehen gehört, ein junger Anzugträger am Handy: “Aber was ist, wenn diese Arbeit mich mehr frustriert, als dass sie mich weiterbringt?”

Ich habe mich aber zurückgehalten und es ihm nicht mal eben erklärt, was dann ist.

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Das Hörbuch des zweiten Teils der Reimanntagebücher habe ich durch, beim Herumsuchen nach neuem Stoff habe ich kurz Wolfgang Welt gehört: “Ich schrieb mich verrückt”, gelesen von Frank Goosen. Kurz, weil das Hörbuch so kurz war, nicht etwa, weil es mir nicht gefallen hätte. Der Sprachsound der Achtziger, es weckt Erinnerungen, und einen Satz möchte ich eben teilen, eine ganz kleine Erwähnung nur, aber was für eine. Wolfgang Welt schreibt da einen längeren Heinz-Rudolf-Kunze-Verriss, und wer damals dabei gewesen ist, der erinnert sich vielleicht noch an die Coolness, mit der man auf den Schulhöfen über diesem Sänger stand. Bei mir zumindest ist das eine recht deutliche Erinnerung an das Coolnesss-Setting dieser Zeit. Und Welt unterstellt Kunze im Laufe dieser Albumbesprechung, er würde sich, ich komme jetzt zwanglos auf eine ganz aktuelle Meldung, als “singender Erhard Eppler stilisieren wollen”, womit ich erstens dem Herrn aus der Politik eben freundlich nachwinke und mich zweitens kurz einer ausgesprochen westdeutschen Nostalgie hingebe, denn hey, unser Land von damals gibt es auch nicht mehr, und wozu ich drittens noch gestehe, gerade eben nachgesehen zu haben, ob der Kunze noch unter den Lebenden weilt.

Ja, das ist so. Dieser leicht gelangweilte Satz der Söhne, den sie immer aufsagen, wenn ich über irgendeinen aus der Musik spreche: “Und, ist der auch schon tot?”, der trifft nämlich gar nicht immer zu.

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Im Rahmen des alten Coolnessdrucks aber doch lieber andere Musik. Paul Desmond and Chet Baker. Beide schon tot, eh klar.


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Obzada

Patricia fährt alleine ans Meer und ich könnte auch schon wieder. Aber ich kann nicht.

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Wir haben noch einmal zu danken, einer freigebigen Leserin aus Berlin diesmal, für die Zusendung weiterer Federn. Schöne Notizblöcke lagen auch dabei, ferner ein Buch über Lifehacks, in das ich noch gar nicht sehen konnte, weil es sofort im Kinderzimmer verschwand.  Das übrigens schnell mal nebenbei als Tipp für die kommende Weihnachtszeit – Kinder fahren auf Lifehacks für den Alltag ab, und Bücher darüber, auch und gerade solche, die gar keine Kinderbücher sind, führen vielleicht zu unerwarteten Erfolgen mit Geschenken.

Vielen Dank also, Sohn II ist hingerissen und jetzt gut versorgt. Eine echte Vogelfeder hat er sich mittlerweile auch selbst zurechtgeschnitten, mit überraschend gutem Ergebnis übrigens, damit kann man viel besser schreiben, als ich gedacht hätte. Die Hausaufgaben fallen hier jetzt etwas retro aus und wir haben erheblichen Spaß dabei.

 

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Ich habe den ersten Band der Tagebücher von Brigitte Reimann durch und fange jetzt mit dem zweiten an: “Alles schmeckt nach Abschied”, das geht also nicht gut aus, wie man dem Titel bereits entnehmen kann. Im ersten Band noch schöne Sätze voller Leben: “Wir waren schon hellblau, als wir in die Hafenbar weiterzogen.” Und immer wieder Formulierungen, bei denen man zweimal hinsieht und sie dann sehr schön findet: “Wir gingen spazieren wie zwei alte Kolkraben.”

Ihre Schilderung eines Besuchs in Theresienstadt, sie beschreibt da das durch und durch unmögliche Verhalten deutscher Touristen, ist ein kleines Puzzlestück in der Geschichte rechten Gedankenguts, ein kleines, aber doch ein wichtiges Puzzlestück. Ich lerne nebenbei etliches über die Kulturgeschichte der DDR, wobei da allerdings auch nichts als Lücke in meiner Allgemeinbildung ist. In meiner Kindheit und Jugend gab es hinter der Grenze keinen Alltag und keine Kultur, da gab es hinter der Grenze einfach gar nichts, man kann es nicht oft genug sagen.

In ihren großen Roman “Franziska Linkerhand” muss ich dann hinterher wohl auch noch hineinsehen. Und in ihre Briefwechsel.

Das Hörbuch übrigens wird ganz großartig gelesen von Jutta Hoffmann, es ist ein Genuss.

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Sohn II war bei den Großeltern und hat dort mehrere vegetarische Brotaufstriche probiert, die seinem Geschmack aber alle nicht entgegen kamen. Sehr gut fand er dann den vom Großvater gerne gegessenen “Obzada”, und er war recht überrascht, als er von uns erfuhr, dass der in Wahrheit etwas anders heißt. Wir haben das dann aber etwas diskutiert und kamen zu dem Schluss, dass Obzada zweifellos wesentlich besser klingt als Obazda. Letzteres klingt irgendwie handgreiflich nach zermatschtem Käse, Obzada dagegen klingt kultivierter, es klingt irgendwie exquisit, fein und delikat, “reich mir mal die Obzada”, denn das Zeug muss doch wohl weiblich sein, bei dem Namen, gar keine Frage, das ist sicher eine ganz vorzügliche Crème, würdig der besten Küche. Obzada – wir lassen das jetzt so. Und benutzen das solange völlig ungeniert, bis wir damit in Bayern als seltsam auffallen. Aber da kommen wir eh nicht gerade oft hin.

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Neulich hatte es in der Nacht unfassbar stark geregnet, so stark sogar, dass wir alle davon wach geworden sind und so stark auch, dass ich überlegte, ganz ernsthaft überlegte, ob ich schon überhaupt jemals im Leben einen so beeindruckenden Regen gehört habe, es schien mir zumindest zweifelhaft. Als würde das Wasser aus einem riesenhaften Bottich über das Haus gekippt, es war eher ein enormer Schwall, keine unterscheidbaren Tropfen. Tropfen, so ein albernes Wort, das verbot sich bei dem Geräusch komplett und sofort. Da kamen keine Tropfen runter, da kamen senkrechte Wellen, wenn nicht Brecher, Kaventsmänner. So ein Regen war das.

Am Morgen war die Stadt voller Pfützen, Lachen und neuer Seen, es gab auch bisher ganz unbekannte Bäche. Auf meinem Weg zum Hauptbahnhof kam ich an eine Ampel, vor der war eine gewaltige Pfütze, so eine, in der man schon Wellengang sehen konnte, wenn der Wind darüber weg strich, so eine, über die man Bretter hätte legen müssen um trocken zu bleiben, und schmal und kurz hätten diese Bretter nicht sein dürfen. So eine Pfütze, die in den Stadtplan gehört hätte. Vor mir stand eine Frau und wartete auf grünes Licht, sie besah sich die Wasserfläche vor ihr. Ich sah sie nur von hinten, aber ich merkte an den Bewegungen ihres Körpers, dass sie etwas nach links und rechts dachte, wo und wie sie da nun am besten durchkommen könnte, denn dass diese Pfütze tief war, das sah man ihr auch an. Die Frau hatte Sneaker an den Füßen. Als die Ampel umsprang, sah ich ein kleines Zucken der Schultern, kaum wahrnehmbar, ein Durchatmen nur, dann ging sie einfach los, denn was sollte sie auch machen, sie musste doch nun einmal zur Arbeit oder wohin auch immer. Das Wasser ging weit über ihre Knöchel, da blieb ganz sicher nichts trocken. Sie ging stoisch geradeaus, mit kleinen Bugwellen vor den Schritten.

Ich machte das, was mir viel naheliegender erscheint, ich ging einen anderen Weg über die Kreuzung. Das war ein Umweg von nur einer Minute und ich blieb ganz und gar trocken, eine Ampel weiter war alles okay. Aber ich hatte volles Verständnis für die Frau, die auf diesen absolut naheliegenden Gedanken vermutlich einfach nicht gekommen ist, weil der normale Weg, ihr Weg, nun einmal durch den neuen See da führte, da konnte sie doch einfach nichts machen. Die saß dann kurz darauf sicher mit elend nassen und kalten Füßen in der Bahn und haderte mit dem Tag und dem Wetter, stelle ich mir vor.

Es ist so wahnsinnig schwer, aus Routinen auszubrechen, und man hat so viel Glück, wenn man das einmal elegant schafft, das ist sicher kein Grund über andere zu lachen, die völlig grundlos nasse Füsse haben.

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Musik! Omara Portuondo und Joss Stone.

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Und außerdem bin ich der Meinung, dass der Innenminister zurücktreten sollte. 

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