Die Kaffeehörerin

Ein paar Kategorien können hier etwas Wiederbelebung vertragen, beispielsweise die mit dem Titel “Hochgucken”.Da ging es um das, was man sieht, wenn man nicht auf sein Handy sieht, was sich besonders in Kassenschlangen, an Ampeln, auf Rolltreppen oder in der S-Bahn anbietet. Weswegen ich also morgens auf der Fahrt zur Arbeit wieder öfter Leute anstarre, nicht die Timelines. Gestern morgen hat die Dame, die mir in der S-Bahn gegenüber saß, ihren Coffee-to-go-Becher hochgehoben, an ihr Ohr gehalten, eine Weile gelauscht und dann lächelnd genickt. Das war eine ganz normale Dame, Business-Outfit, Notebooktasche, Handtasche, alles eher etwas schicker als der Durchschnitt. Ich selbst hatte keinen Kaffeebecher zur Hand, ich kaufe ja seit einer Weile keinen Mitnehmkaffee mehr, weil Umwelt. Stimmt gar nicht, zwischen den Jahren habe ich mir doch einmal einen gekauft, aber das war nur ein kleiner Rückfall, so etwas kommt vor, Raucher und Trinker verstehen das. Im Grunde bin ich clean.

Hätte ich aber einen Kaffeebecher in der Hand gehabt, ich wäre sehr in Versuchung gewesen, auch einmal kurz zu lauschen, man muss doch immer neugierig bleiben. Macht Kaffee im Becher überhaupt irgendein Geräusch? Platzen die feinen Milchschaumbläschen vielleicht leise ploppend, als würden winzigkleine Wesen genüsslich winzigkleine Luftpolsterfolienbläschen zerdrücken? Spricht der Kaffee auf diese Art flüsternd zu uns, wenn wir nur offen genug sind? Letztlich ist unsere Wahrnehmung bei so etwas eh nur ein Zucken des Unterbewusstseins, genau wie bei allen anderen Orakeln. Das funktioniert auf viele Arten, Kristallkugeln folgen auch nur diesem banalen Prinzip, man starrt ins Ungewisse und sieht irgendwann irgendwas, weil das Unterbewusstsein sich langweilt. Das wusste die Dame vielleicht, das gehört ja auch zur Allgemeinbildung. Und verrückt sah sie wirklich nicht aus, sie wirkte im Gegenteil ziemlich sortiert, wach und zurechnungsfähig.

Vielleicht brauchte sie nur gerade dringend eine Antwort auf etwas und hatte keine Münze, um sie zu werfen. Außerdem ist Münzenwerfen in der S-Bahn auch so eine Sache für sich, am Ende ruckelt die Bahn im falschen Moment, die Münze rollt durch den Wagen und man erregt unfreiwillig Aufsehen, dabei wollte man nur ganz simpel ein Ja oder ein Nein. Vielleicht war ihre Frage komplexer und nicht einfach mit zwei Möglichkeiten zu beantworten, so eine Münze ist eine Entscheidungshilfe mit begrenzten Möglichkeiten. Ein Becher, der irgendwas murmelt, wie früher die Bäche oder die raunenden Brunnen, der ist da schon ergiebiger, das kann man sich doch gut vorstellen. Und dass man am ersten Werktag des Jahres auf dem Weg ins Büro die eine oder andere nagende Frage in sich verspürt, das kann man sich auch gut vorstellen, das kann ich mir sogar sehr gut vorstellen. Als halbwegs phantasiebegabter Mensch verstand ich also die Dame nach einer Weile recht gut, man muss sich manchmal nur ein wenig einfühlen. Ich habe es jedenfalls bedauert, nicht auch spontan an einem Becher lauschen zu können.

Andererseits hätte es die Dame vielleicht gekränkt, wenn ich sie so mit dem Becher am Ohr nachgemacht hätte, das hätte auch wieder unangenehm werden können. Obwohl ich sie mit meinem eigenen Becher am Ohr natürlich nur in bester Absicht ausdrücklich ernstgenommen hätte, aber ach, das wäre alles kompliziert gewesen. Auch in dieser Hinsicht hat es sich bewährt, keinen Coffee-to-go mehr zu kaufen, das war ein guter Entschluss, der sei hier noch einmal zur Nachahmung empfohlen.

Neulich habe ich übrigens, jetzt folgt eine Erzählung, die sehr ausgedacht klingt, aber vollkommen wahr ist, irgendwo etwas über die Bibliomantie gelesen (in dem verlinkten Wikipedia-Artikel kommt das schöne Wort Homeromantie vor, ist das nicht toll? So ein großartiger Begriff.). Ich weiß gar nicht mehr, wie ich darauf kam, vermutlich durch die Bücher von Alberto Manguel, es fällt mir jedenfalls bei Orakeln gerade wieder ein. Bibliomantie, also das Wahrsagen oder Orakeln mit Büchern, ist im letzten Jahrhundert aus der Mode gekommen, das macht man heute nicht mehr.

Ich habe es nach der Lektüre natürlich dennoch sofort gemacht, ich funktioniere da verlässlich, ich mache jeden Unsinn mit, wenn ich dafür nicht vor die Tür muss. Da nichts anderes in der Nähe lag, schon gar kein Homer, habe ich einfach einen der hier überall herumfliegenden Comics von Sohn I an beliebiger Stelle aufgeschlagen, meinen Finger ohne hinzusehen auf die Seite gelegt und dann gelesen, was da stand. Und da stand, meine Damen und Herren, es ist wirklich wahr: “Die Bewegung zur Herstellung der Harmonie ist gescheitert.” Das war noch im Jahr 2016, an das wir uns alle so ungern erinnern, und es war ein wirklich passender Orakelspruch für dieses elende Jahr, wenn auch kein wahnsinnig hilfreicher. Aber damit gab es damals in Delphi auch schon immer Probleme.

Das mache ich 2017 jedenfalls nicht noch einmal, wollte ich sagen, so genau will ich es vorher gar nicht wissen. Sonst ist der Comic, den ich dann greife und aufschlage, nachher zufällig ein Lustiges Taschenbuch mit Donald Duck oder so, und in der Sprechblase,, auf die der Finger zeigt, steht nur irgendwas wie “Ächz” oder “Würg”. Und dann steht man schön blöd da mit seinem Orakelspruch für 2017.

Egal. Jetzt Brandsalbe aufs Ohr.

Am Atlantic vorbei

Wenn ich spazierengehe und gleich vor der Tür runter zur Alster abbiege, komme ich unweigerlich am Atlantic vorbei. Das ist ein altes Fünfsternehotel, das seit Jahrzehnten popkulturell belagert wird, weil man bei seinem Anblick sofort an Udo Lindenberg denkt, der dort zeitweise residierte oder es immer noch tut. Ja, der es vermutlich immer noch tut, jedenfalls sehe ich den Lindenberg öfter hier herumlaufen, da wird also irgendwo noch sein Nest sein, in diesem wunderschönen, weißen Hotel. Nach einer alten Regel wird in jeder Pressemeldung zu Udo Lindenberg immer auch das Atlantic erwähnt – und umgekehrt. Das sind feststehende Wendungen, die lernt man schon im Volontariat. Wenn man junge Journalisten mitten in der Nacht weckt und überraschend fragt, wo der Lindenberg wohnt, dann rappeln die das flüssig runter, dabei müssen sie nicht einmal nachdenken. Selbst wenn sie Lindenberg gar nicht weiter kennen.

Sicher sind im Atlantic, wie in jedem anderen Grandhotel auch, viele, viele Geschichten passiert, es sind immerhin nahezu alle prominenten Figuren aus den letzten Jahrzehnten dort abgestiegen, mit einem recht hohen Anteil von Präsidenten und anderen Weltpolitikern, aber zwanghaft assoziiert man mit diesem Haus immer nur und immer wieder: Udo Lindenberg. “Der wohnt doch im Atlantic, was? Bei euch da?” Ja doch. Wenn Obama morgen ins Atlantic käme, man würde sich nicht fragen, was er in Hamburg macht, man würde sich fragen, ob er den Lindenberg besucht.

Ich finde Udo Lindenberg weder gut noch schlecht, er ist mir eher egal, was nicht einmal abwertend ist, aber man kann sich nun einmal nicht für alles interessieren. Da muss man Prioritäten setzen, ganz ohne Aggression, da muss man sich irgendwann entscheiden und etwa sagen: “Kreuzworträtsel, Pferdezucht und Lindenberg sind eher nicht so meins.” Das ist dann nicht böse gemeint, das spart einfach Zeit.

Aber immer, wenn man da am Atlantic vorbeigeht: Udo Lindenberg. Man überholt Touristen, die mit dem Reiseführer in der Hand vor dem Haus stehen und darauf zeigen und was sagen die gerade: “Da wohnte doch mal der Udo Lindenberg? Oder immer noch?” Ja, ich weiß. Wenn man zur Abwechslung am Gebäude hochsieht, sich konzentriert die schmucke Fassade und die Figuren auf dem Dach besieht und sich phantasiereich ausmalt, was hinter diesen Fenstern wohl schon alles passiert sein mag – dann rennt man den Herrn Lindenberg fast um, weil er gerade aus dem Haupteingang kommt und man nicht aufpasst wo man hingeht, vor lauter Lindenbergvermeidung. Und dann steht er vor einem und sieht so aus, wie er unweigerlich immer aussieht, das Bild hat vermutlich jeder im Kopf, weil er nur in genau einer Version vorkommt, er ist so udolindenbergmäßig Udo Lindenberg, wie es überhaupt nur vorstellbar ist. Und er sagt dann auch noch so etwas wie “Null Problemo” oder “Alles klar auf der Andrea Doria” oder dergleichen, wenn man sich bei ihm fürs Anrempeln entschuldigt, weil er wirklich so spricht, wie man sich das vorstellt. Genau wie der Lindenberg eben. Alles lässig dahergenuschelt, total authentisch, total Lindenberg.

Im letzten Buch von Stuckrad-Barre, ich habe es nicht gelesen, kam Udo Lindenberg prominent vor. Und weil das Buch selbst auch überall vorkam, denkt man jetzt noch mehr an Udo Lindenberg als ohnehin schon, nicht nur ich, sondern alle. Ob man nun möchte oder nicht, er ist der rosa Elefant dieses Viertels, man kann nicht nicht an ihn denken. Jedenfalls nicht, wenn man am Atlantic vorbeikommt. Oder umgekehrt, wenn man den Lindenberg im Viertel auf der Straße trifft, dann denkt man gleich: “Ach guck, der Lindenberg. Der gehört doch ins Atlantic.”

Ich habe das Buch von Stuckrad-Barre übrigens nicht aus Abneigung gegen den Autor nicht gelesen, sondern tatsächlich wegen Udo Lindenberg. Zu viel ist einfach zu viel. Ich meine, ich habe auch aus dem Schlafzimmerfenster Blick aufs Atlantic, ich gucke da also schon beim Aufwachen drauf und abends, wenn ich das Licht ausmache. Auf den Lindenberg in seinem Gehäuse, und das reicht dann irgendwann. Wenn ich morgens Facebook aufmache, fragt mich die App, ob ich gerade im Atlantic sei. Wenn ich auf Facebook mit Udo Lindenberg befreundet wäre, ich könnte uns beide jeden Morgen dort einchecken, da würden meine anderen Freunde aber staunen.

Ich mochte Stuckrad-Barres frühere Bücher sogar ganz gerne, fällt mir gerade ein, ich fand seine Sprache ausgezeichnet. Die Bücher mochte damals sonst keiner, es war irgendwie eine Weile cool, ihn eher doof zu finden, wenn ich es recht erinnere. Ich weiß gar nicht mehr, warum das so war. Jetzt finden ihn alle super und irritierend viele in meinem Bekanntenkreis sprechen völlig distanzlos von “Stucki”, wobei der Name vermutlich auch wieder von Udo Lindenberg kommt. Woher sonst, im Zweifelsfalle steckt Lindenberg hinter allem. Stucki! Ich möchte das nicht. Obwohl – warum soll man Autoren nicht verniedlichen? Wir haben doch damals auch liebevoll von Bölli und Grassi gesprochen.

Haha! Nein, haben wir nicht. Aber die beiden waren auch nicht mit Udo Lindenberg befreundet. Und falls doch, möchte ich es nicht wissen.

Egal. So viel für heute. Euer Buddi.

 

Beifang vom 01.01.2017

Ich lese weiter in den Tagebüchern von Erich Mühsam, er ist gerade (1910) in einer Pension in Aeschi (Schweiz) und schreibt über die Abende mit den anderen Pensionsgästen, also mit eher flüchtigen Bekanntschaften: “Die Gäste der Pension “Baumgarten” sind fast alle abgereist – zuletzt ein alter 78jähriger Herr Frey aus Mühlhausen mit Tochter und Nichte. Mit der Tochter, einer etwa 44jährigen lebhaften und angenehmen Dame waren wir die letzten Abende regelmäßig beisammen gewesen. Es wurde vorgelesen: aus Homers Ilias (Meyersche Übersetzung), aus des Knaben Wunderhorn, aus meinem “Krater” und aus Heinrich Manns “Kleiner Stadt”. Wie komplett unvorstellbar es für uns mittlerweile geworden ist, dass sich zusammengewürfelte Pensionsgäste abends etwas aus den Büchern in ihrem Gepäck vorlesen. Was für ein seltsamer Gedanke. Schön aber auch die Formulierung: “etwa 44jährig.”

Ich bastele immer weiter an einer Playlist (“Abends” auf Spotify, sie ist öffentlich) mit ruhigen Stücken, zu denen die Söhne einschlafen können. Lieder irgendwo zwischen Easy-Listening, Blues, Songwriting und Indie, es sind etliche Stücke dabei, die mir irgendwann einmal wichtig waren oder es immer noch sind, dieses ganze melancholische Zeug, allerdings ohne deutschsprachige Texte. Wenn die Jungs in den Betten liegen und die Tür noch einen Spalt offen ist, läuft diese Playlist zu meinem üblichen Getippe. Sie ist mittlerweile 37 Stunden lang, die Söhne schlafen aber erfreulich verlässlich ein, bevor wir damit durch sind. Ich entdecke beim Basteln an der Liste immer wieder mir neue oder längst vergessene Songs, oft lese ich etwas zu den Interpreten nach. Manchmal sehe ich auch nach, ob es zu den Songs ein Video gibt. Da gibt es gelegentlich etwas zu staunen, musikalisch oder auch modisch.

Kurz und klein

The same procedure

Kein Silvester ohne dieses Bild, eh klar. Die Erinnerung an eine norddeutsch-ausgelassene Silvesterparty in einem Hamburger Vorort, es ist bereits viele, viele Jahre her. Deutlich erkennt man die sogenannte Hanseaten-Ekstase in meinem Blick. Denn man muss gerade die süddeutschen und auch die rheinländischen Leserinnen und Leser gelegentlich daran erinnern: wir hier oben, wir sind gar nicht so. Wir können auch ganz anders.

Hanseaten-Ekstase

Gleicher Abend, nur einen Meter weiter: Die Herzdame, liebreizend und strahlend gelaunt wie immer.

Die Herzdame

Sohn I wird im nächsten Jahr in die vierte Klasse kommen, Sohn II in die zweite. Die Herzdame wird im Blog vermutlich noch präsenter werden, die Söhne haben auch noch so einiges vor. Ich werde ein wenig an den Formaten und Konzepten hier ändern, so ein Blog soll ja eine lebendige Angelegenheit bleiben. Ein anderes Projekt (mit einer bekannten deutschen Autorin, wer mag das wohl sein!) wird wahrscheinlich auch wieder aufleben, darauf freue ich mich.

Ich habe in den letzten Tagen übrigens versuchsweise ein wenig Social-Media-Pause gemacht, kein Twitter, kaum FB, ich wollte das auch einmal probieren, quasi Digital Detox und so. Ich hatte die Erkenntnis, dabei keine tiefschürfende Erkenntnis zu haben. Ich bin dadurch weder entspannter noch besser gelaunt, ich lese auch keine schlaueren Bücher. Ich bin nicht konzentrierter und schreibe keine abgründigeren Texte. Ich habe auch kein harmonischeres Familienleben, ich laufe in der Freizeit nicht plötzlich mehrfach um die Alster oder lerne Klavier. Ich habe nur ab und zu spontan auftauchende Pointen im Kopf, die ich ohne soziale Medien nirgendwo schnell loswerden kann, das ist auf Dauer etwas lästig.

Apropos Digital Detox, wenn ich mir in Anwandlungen radikaler schlechter Laune sogar überlege, zwei, drei Wochen oder gar Monate nicht mehr zu bloggen, das kommt nämlich auch bei mir vor, dann fallen mir sofort mehrere Artikel ein, die ich vorher noch schnell schreiben könnte. Einer verlockender als der andere. Das ist im Grunde einfach und sogar reproduzierbar und so wird es natürlich nie etwas mit der blogfreien Zeit. Wozu sollte es auch gut sein.

Nein, ich habe da gar keinen Änderungsbedarf. Es gibt genug andere Themen, bei denen ich im nächsten Jahr etwas ändern kann oder muss oder will. Manchmal werde ich darüber schreiben, ich kann eh nicht anders. Es bleibt also auch 2017 dabei: Ich werde berichten und erzählen und twittern und alles. “I’ll do my very best”, wie man heute sagt.

Wir wünschen einen guten Rutsch und ein wundervolles Jahr 2017 – bewahren Sie unbedingt Haltung!

Bis nächstes Jahr.

Beifang vom 31.12.2016

Wegen meines bereits erwähnten Spaziergangvorhabens 2017: das dann eher ohne App. Da dann eher dem weißen Kaninchen folgen oder einer Brosamenspur, was man eben so findet. Oder den Flausen, auch so ein fast vergessener Begriff. Flausen! So schön. Sollte man wieder im Kopf haben. Flausen haben keinen Wikipedia-Eintrag, wie isses nun bloß möglich. Der Duden sagt: “Landschaftliche Nebenform zu Flausch, eigentlich loses Fadenende, herumfliegende Wollflocke”.  Wieder was gelernt. Und lose Fadenenden, wer hat die nicht im Kopf.

Sohn I kommt hier im Zeit-Magazin vor.

Ein Artikel über die Kommunikationsstrukturen der RAF, ich verlinke das nur wegen des Satzes Das sag ich dir als Markenartikler, weil er so eine herrlich bizarre Randnotiz der Geschichte ist.

Noch einmal John Grant, so kommt man auch einmal zu einem isländischen Fernsehsender. Man beachte die Backgroundsängerinnen.

Was schön war

Auf der Fahrt ins nordostwestfälische Heimatdorf kommen wir auf der Autobahn und auf den Landstraßen an Werbe- und Protestschildern vorbei, die irgendwelche Botschaften verbreiten. Die werben beleuchtet auf hohen Masten für die Filialen von Schnellimbissketten an den Autobahnausfahrten, die werben im Winter handgeschrieben auf Brettern an Bauernhäusern für glutenfreie Weihnachtsbäume und ja, das steht da wirklich. Die protestieren in wütenden Großbuchstaben auf halbzerfetzten Bettlaken gegen Umgehungsstraßen oder auch dafür, die sind gegen neue Spuren durch irgendeinen Ortsteil oder auch dafür, da blickt eh keiner durch, das sind die Abgründe der Lokalpolitik, da möchte man bloß schnell weiter. Die werben als kleines, handbemaltes Holzschild am Straßenrand für immer geschlossen aussehende Antikläden in Dörfern. Die werben mit manchmal nicht ganz so gelungenen Wurstzeichnungen auf Tafeln für heißes Essen in einem Grill am Rand der Durchfahrtstraße oder sie verkünden nur knapp und leicht zu übersehen die allgemeine Wohlfühlformel “Kaffee & Kuchen”.

Und irgendwo steht eine baufällige Hütte mitten auf einem Acker, eine kleine Scheune oder so etwas, sie steht nahe der kleinen Ortschaft Bockel. Da hängt ein großes Schild dran, man kann es von der Autobahn aus lesen. Das wirbt für einen Puff oder für einen Sexshop, ein Sexkino vielleicht, genau erschließt sich das gar nicht, aber da steht jedenfalls in großen roten Buchstaben: “Erotik-Bockel.” Das klingt für mich ein wenig wie eine niedersächsisch-profane Version von Venushügel, nicht wahr, dat is de Erotik-Bockel.

Ich habe das vor längerer Zeit einmal gegoogelt, dieses Bockel, und dabei festgestellt, dass es dort einen Ortsteil Flottwedel gibt. Und seitdem habe ich immer, wenn ich an diesem Werbeschild für “Erotik-Bockel” vorbeifahre, einen kleinen Detlev-Buck-Moment, wobei es natürlich um den ganz frühen Detlev Buck geht, die Älteren erinnern sich. Da sehe ich männliche Hauptdarsteller mit markanten Gesichtern vor mir, Landbewohner in Gummistiefeln und Arbeitshosen, die eben gerade noch auf einem Trecker gesessen und vielleicht Gülle gefahren oder Schweine verladen haben. Sie blicken mit völlig unbewegten Gesichtern über die Äcker und Weiden, sie sehen kurz in den ebenfalls völlig unbewegten grauen Himmel über der Tiefebene. Hinten fliegen ein paar Krähen durch kahles Geäst am Feldrand, daneben grasen Schwarzbunte. Am Bildrand eine Windkraftanlage, die Flügel stehen still. Der Himmel hängt so tief, es wird wohl Regen geben. Die Männer steigen in einen etwas heruntergekommenen Mercedes und murmeln in gemächlichem Platt etwas davon, dass sie noch mal eben rüber nach Flottwedel fahren, dann schwenkt die Kamera langsam über die Äcker auf das Werbeschild für Erotik-Bockel. Schnitt.

Auf diesen Moment freue ich mich immer, wenn ich ins Heimatdorf fahre. Und für ein paar Kilometer mag ich dann alles an Niedersachsen, an der Provinz, an meinem Norddeutschland. Doch, das ist immer wieder schön.

Weihnachten 2016

Ich war, wo man jetzt eben hingeht. Einerseits sowieso, andererseits dennoch und überhaupt, ich war also auf einem Weihnachtsmarkt. Und dieser Spaziergang war schon ein kleiner Vorgriff auf 2017, auf ein Jahr, das ich ausnahmsweise doch einmal mit guten Vorsätzen angehe. Nachdem 2016 nämlich für mich ein Jahr mit rekordmäßiger Schreibtischklebrigkeit war, möchte ich im nächsten Jahr doch wieder wesentlich mehr rausgehen, mehr Menschen treffen, mehr Kultur mitbekommen, mehr von dem sehen, was dann hier im Blog als “kleine Szene” landen kann. Denn die sind ja recht beliebt, was mich immer wieder maßlos freut. Aber für kleine Szenen muss man auch Gelegenheiten schaffen, die entstehen nicht, wenn man stundenlang auf einen Bildschirm starrt. Im Grunde lautet der Vorsatz genau: Weniger am Schreibtisch sitzen, viel mehr schreiben. Das klingt doch herrlich challenging, wie man heute sagt. Das wird Änderungen im Zeitmanagement erfordern, Umbauten im Alltag usw., aber das ist dann eben so.

Das ging mir gerade alles durch den Kopf, als ich über diesen Weihnachtsmarkt ging, überall um mich herum glühweintrinkende Menschen, Schmalzgebäckduft, Weihnachtsmusik von einem Kinderkarussell. Wobei ich das Wort Karussell eben gerade vermutlich zum ersten Mal im Leben richtig geschrieben habe, das Jahr hat also doch noch Potential, aber das nur am Rande. Es ist immer wieder spannend, wenn man so mehr oder weniger ziellos wie ein Jäger und Sammler herumläuft und eigentlich doch die ganze Zeit nur hofft, etwas Erzählbares zu finden. Der letzte gute Fund ist schon zwei Tage her, es wird Zeit, es wird Zeit – und man geht und man sucht, man geht zurück, geht im Kreis, steht und guckt, man weiß ja nicht einmal, was genau man sucht. Blogsport eben. Aber Glühweintrinker und Schmalzgebäckesser geben eher nichts her, nicht einmal jetzt.

Dann auf einmal eine allgemeine Bewegung in der Menge, mehrere Menschen gehen auf andere Menschen zu, warum machen sie das, was gibt es da? Da gehe ich natürlich auch hin. Ah, da steht eine Gruppe, die haben Trikots in gleichen Farben über ihre Wintersachen gezogen, und das sind auch gar nicht so wenig Leute. Da geht man also hin, mal gucken, was es da gibt. Es könnte ja eine Artistengruppe sein, eine Street-Dance-Gruppe oder so etwas, eine Schulprojektgruppe vielleicht. Die könnten ja gleich einen weihnachtlichen Chorgesang anstimmen oder immerhin Panflöten oder Posaunen dabei haben, die könnten auch volkstanzen oder Theater spielen oder Gott weiß was machen, irgendwas Sehenswertes eben, warum sollten die da sonst stehen, auf dem Weihnachtsmarkt in der Fußgängerzone.

Und dann stehen die da aber wirklich nur und halten einfach Pappschilder hoch, auf denen steht “Muslime gegen den Terror.”

Der junge Mann neben mir guckt, die Muslime gucken zurück, er guckt noch etwas genauer und wartet einen kleinen Moment, es passiert aber nichts. Dann sagt er zu seiner Freundin, die er an der Hand hinter sich hergezogen hat, einen Satz, bei dem ich plötzlich laut loslachen muss, was er sicher nicht verstanden hat, aber das macht auch nichts. Der Satz war einfach zu drehbuchartig richtig formuliert, zu theatermäßig in den richtigen Moment gesprochen, zu literarisch schlicht und konzentriert, um nicht zu lachen. Wie da ein vermutlich deutscher junger Mann vor einer Gruppe arabisch aussehender Menschen mit Friedensbotschaftpappschildern steht und mit einem Anflug von leichter Enttäuschung in der Stimme ungeduldig zu seiner Freundin sagt: “Die machen ja gar nichts.” Und dann weitergeht. Für so etwas lohnt es sich doch unbedingt, wieder öfter vor die Tür zu gehen, finde ich.

Und damit ab ins Weihnachtsfest, wir wollen es machen wie die Leute mit den Pappschildern, wir machen ein paar Tage einfach gar nichts, um damit mal etwas ganz anderes zu machen. Machen Sie es sich und Ihren Lieben bitte schön – und sonst vielleicht auch nichts. Ich glaube, das ist ein ganz guter und sehr friedlicher Plan. Frohe Weihnachten!

Demnächst …

Sohn I: „Papa, ich will in der Schule ein Referat halten, das kommt bestimmt gut. Und ich dachte, ich blogge dann erstmal über mein Thema, dann kommen nämlich bestimmt voll schlaue Kommentare, die ich verarbeiten kann.“

Wir mussten damals ja noch in der Stadtteilbibliothek nachfragen und suchen, wir hatten ja nix. Na, er wird seinen Weg schon machen, glaube ich. Und ich zähle dann demnächst auf die kommentierenden LeserInnen hier, versteht sich. Also nach dem ganzen Weihnachts- und Jahresendprogramm.

Beifang vom 21.12.2016

Erinnerungen an einen Platz. Und hier der Platz in der Gegenwart. Manchmal sind good old Blogs einfach erträglicher als die Liveblogs auf den Nachrichtenseiten.  

Ein wenig beachtetes Stück Kulturgeschichte: Hundert Jahre Wundertröte.

Ich habe mit den Tagebüchern des Anarchisten und Poeten Erich Mühsam begonnen, der als Jugendlicher wegen “sozialdemokratischer Umtriebe” von der Schule geflogen ist. Ein paar Jahrzehnte später hatte ich auf eben dieser Schule Probleme wegen des Tragens “sozialistischer Symbole an der Kleidung”. Ein roter Stern, das trug man damals so. Man hat aber auch Phasen! Mein Erdkundelehrer wollte es allerdings nicht kampflos hinnehmen. Der erste Band dieser Tagebücher beginnt damit, dass Erich Mühsam ein anderes Tagebuch liest, nämlich das von Varnhagen, wobei er die Zeit, in der das spielt, als eine große empfindet, historisch aufgeladen, voller bedeutender Persönlichkeiten, großer Dichtung und politischer Dramatik, nicht so hohl und flach wie seine Zeit. Wir reden da über das Jahr 1910 einerseits und den Vormärz andererseits. Das liest man nun also 2016 und hütet sich sehr, die eigene Zeit geringzuschätzen, in welcher Hinsicht auch immer. Außerdem liest Mühsam in einem Sanatorium mangels anderer verfügbarer Lektüre Hesse, den er nicht mag: “Er schleimt. Er salbadert.”  

Es gibt übrigens eine hervorragende Seite zu den Tagebüchern, nämlich hier. Eine starke Leistung vom Verbrecher Verlag, wirklich beeindruckend. Man könnte auf den Seiten alles auch gratis lesen, wahlweise sogar in der Handschrift, das passt hervorragend zu Mühsam. Es ist aber auch nach wie vor schön, ein Buch in der Hand zu haben.

John Grant kannte ich noch nicht, aber dieses Lied hier ist sehr schön. Und traurig. Aber schon schön. Wer Spotify hat, findet dort eine weitere interessante Version des Songs, da singt er im Duett mit Sinéad O’Connor.