Früher war das anders

Eine kleine Szene noch einmal zur Verdeutlichung dessen, was Ihnen ebenso wie mir sicher längst bewusst ist, was aber doch noch ab und zu markant auffällt, wie lange nämlich die Zeit vor Corona her ist. Das ist bei Erwachsenen schon ein ergiebiges Thema und mit allem, was wir zum ersten Mal nach dem März 2020 wieder machen, gewinnt es weiter an Bedeutung. Bei Kindern hat es aber eine Dimension, die wir uns kaum vorstellen können.

Wir gehen in ein Café um die Ecke, wir wollen dort frühstücken. Das haben wir früher oft gemacht, früher also im Sinne von präpandemisch, von ganz damals, vor gefühlt vielen Jahren. Während der Hauptphase der Pandemie waren wir dann nirgendwo, es hatte ja auch phasenweise alles zu, Sie erinnern sich vielleicht noch, und danach waren wir nicht die Ersten, die wieder irgendwo waren. Dann saß man eine Weile kategorisch nur draußen. Dann wurden alle bei uns krank, dann wurden die anderen krank, dann ging man wieder nirgendwo hin und zack, waren zwei Jahre und noch mehr vorbei. Der Alltag lief längst anders, lief an Cafés vorbei oder zumindest an diesem Café, wir waren in der Gestaltung der Tage irgendwie abgebogen. Es geriet in Vergessenheit.

Wir gehen jetzt doch einmal wieder in das Café und ein Sohn sitzt und staunt, denn hier ist das Früher. Er sitzt in seiner und unserer Vergangenheit. Hier waren wir früher oft, sehr oft, hier war das ausgelagerte Wohnzimmer. Hier ist er spielend unter den Tischen und Stühlen durchgekrabbelt, wofür er jetzt längst zu groß ist. Tobend zwischen den Beinen der Gäste – unvorstellbar ist das. Hier hat er den und die getroffen, und die leben mittlerweile gar nicht mehr hier. Hier hat er das und das gegessen, und das kostet jetzt fast den doppelten Preis. Hier lief früher immer ein Fernseher, und den gibt es seit einer Renovierung nicht mehr. Der Raum ist auch seltsam anders, aber wie genau, mit den Größenverhältnissen stimmt etwas nicht. Wie war das. „Früher war das anders“, sagt er, und er sagt es wie ein Erwachsener und sieht sich immer wieder um, „früher war das doch anders.“ Es stehen Speisekarten auf den Tischen, früher gab es hier keine Speisekarten, nur Plastikschilder an der Wand, was sind das alles für Veränderungen.

Hier ist es wie früher, aber nur so ungefähr. Es ist ein Nostalgieflash erster Klasse. Das war ein anderes Leben, eine andere Zeit, mit anderen Leuten und anderer Ausstattung und Stimmung. Wir essen Toast vom Sandwich-Grill, und dieser Toast schmeckt nicht wie früher, natürlich nicht. „Früher war alles besser“, sagt der Sohn und lacht über seinen Satz, zumindest beim Toast meint er es aber doch ernst. Ich probiere den Toast und weiß nicht recht. Wir überlegen, ob alle Bilder an den Wänden immer schon so hingen wie jetzt, wir sind uns nicht sicher.

Währenddessen, so sagen die Söhne beim Toast, war es in der Schule furchtbar langweilig in den letzten Tagen. Weil so wenig andere da waren. Es sind dermaßen viele noch krank oder schon wieder. Früher war auch das anders.

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Eine Dankespostkarte

Rückseite

Ich habe zu danken für die überaus freundliche Zusendung von Füllfederhaltern, von einer Fleece-Decke und einem Puzzle, in einem Paket war auch das neue Buch von Bob Dylan: „Die Philosophie des modernen Songs“, Deutsch von Conny Lösch. Es gab ferner auch noch einmal Beträge, die sicher als Weihnachtsgeld oder Jahresendbeitrag gemeint waren. Ich war wiederum hocherfreut und begeistert, ganz herzlichen Dank an alle!

Vorderseite

Das Bild ist ein schnell geknipstes, nur nebenbei aus dem Fenster geschossen am Abend, einfach raus ins Dunkel. Und was sieht man da? Kaum etwas, es ist eben winternachtschwarz. Den Kirchturm ahnt man, ein aufragendes Schwarz im etwas anders getönten Schwarz der Nacht, der Weihnachtsstern oben im Fenster, etwas blass, eher zurückhaltend. Wenige beleuchtete Fenster ringsum, nur vereinzelte Lichterketten, sparsam und dünn fallen sie aus. Und ganz hinten sehen wir das, worum es mir heute geht, das sind aber auch nur zwei Glühbirnen. Zwei Lichter im fernen Dunkel sehen wir da, eines leuchtet rot, eines blau. Die Lichter sind, aber das weiß ich, das kann man nicht sehen, Teil der mäßig kreativen und auf eine altmodische Art bunten Außendekoration einer Kneipe, eines Kneipenrestaurants oder wie man das auch immer korrekt benennt. So ein rustikaler Laden mit eher bodenständiger Küche, Bratkartoffeln, Schnitzel, Gulasch und dergleichen, überraschungsfrei und verlässlich. Ich sehe nur diese beiden Lichter, ich weiß, die haben geöffnet. Ich war schon lange nicht mehr da, Jahre ist es her, obwohl es das erste Etablissement in Sichtweite ist, obwohl ich mit dieser Kneipe den Vornamen teile.

Es gibt dort gerade, ich habe es neulich im Vorbeigehen auf einem Schild im Fenster gesehen, Grünkohl. Mit Kochwurst und Kasseler (auch mal interessant: die Herkunft des Namens Kasseler), für 14,50. Und ich möchte jetzt nicht darauf herumreiten, dass das früher mal billiger war, nein. Ich möchte lieber erwähnen, dass es einen auch trostreichen, angenehmen Aspekt hat, dass es das dort gibt. Denn es ist ja so – ich könnte es mir leisten. Ich könnte da auch tatsächlich hingehen, es ist nur einen Steinwurf entfernt, ich kann da sogar jederzeit hingehen. Ich könnte es nämlich auch zeitlich einrichten. Wie lange braucht man zum Grünkohlessen, das geht schnell, das geht zwischendurch, eine halbe Stunde wird man etwa dort sitzen, wenn man es eilig hat, und wer hat es nicht eilig. Ich mag Grünkohl gerne. Ich hatte in diesem Winter auch noch keinen Grünkohl, und er schmeckt in der Kneipe vielleicht besser als bei mir, wahrscheinlich wird es so sein.

Ich gehe da nicht hin, nein. Aber ich könnte. Jetzt etwa, jetzt könnte ich gehen. Einfach so. Jetzt auch. Und ich stehe am Küchenfenster, sehe in die Dunkelheit und finde es ganz hervorragend, dass ich könnte. Nicht im Sinne einer sachbuchgerechten Übung in Achtsamkeit und Dankbarkeit, eher im Sinne der ab und zu wiederholten Erkenntnis, dass es doch auch Sinn hat, in der Stadt zu wohnen, wo alles ist, und wo alles sogar um die Ecke ist, und wo man es schon leuchten sieht, sogar beim Schreiben, wenn man nur kurz hochsieht. Überall diese Optionen, und sei es nur eine auf Grünkohl.

Von hier aus, denke ich, von hier aus, und kurz fühlt es sich an, als könnte ich das halbwegs geistreich fortsetzen, aber dann überwiegt doch der beim Schreiben entstandene Hunger und ich gehe in die Küche, öffne den Kühlschrank und vergesse den Gedanken, der wie auch immer hätte enden sollen.

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Was nicht schlimm ist

In den Timelines freut man sich innig über die endlich wieder länger werdenden Tage, die Sonnenwende, und ich entnehme den Meldungen, dass einige, gar nicht wenige, regelrecht gelitten haben unter der Dunkelheit der letzten Wochen. Das ist dann sicher anstrengend, stelle ich mir vor, es zieht sich immerhin etwas mit dem Lichtmangel, to say the least. Mir ist die Dunkelheit nicht als Schwierigkeit bewusst geworden. Vielleicht habe ich da Glück in der Veranlagung, vielleicht bin ich seelisch besonders winterfest, vielleicht lenken mich nur profanere Probleme gerade zu sehr ab, vielleicht bin ich einfach nicht empfindsam genug für so etwas. Ich finde die Dunkelheit im Winter ganz okay. So schön ist das Großstadtgrau da draußen in diesen Monaten nun nicht, ich muss mir das nicht dauernd ansehen, ich gucke auf Bildschirme und Buchseiten und nur ab und zu denke ich, dass Natur vielleicht auch mal ganz nett wäre. Aber wie immer, wenn man so etwas schreibt, wird es mich im nächsten Jahr vermutlich komplett zerlegen, das ist der Fluch der leicht dahingetippten Zeilen, ich kenne das allmählich gut. Alle schreibenden Menschen kennen das, nehme ich an. Es würde mich irritieren, wenn es nicht so wäre.

Ich lese weiter in der Bernice Morgan, ihre Geschichten aus Neufundland, und stelle fest, dass in den Geschichten kaum etwas passiert, das gefällt mir. In den meisten Büchern passiert mir zu viel, es gibt so oft ein Übermaß an Handlung und die ist mir dann auch noch viel zu dramatisch und zu tragisch. Ich kann das – und bin also seelisch wohl doch nicht so robust – gar nicht ab. Ich finde es ausreichend, wenn jemand merkt, dass die oder der andere sie nicht mehr liebt, wie furchtbar ist das denn, das ist doch schon romanfüllend. Jemand durchlebt einen Tag in seltsamer Stimmung und verliert dadurch den seelischen Anschluss an seine Freunde, das ist eine Geschichte. Jemand erinnert sich schmerzhaft an eine gescheiterte Ehe, mehr nicht. Jemand wird vom Partner verlassen und muss es irgendwie den erwachsenen Kindern mitteilen, die bald zu Besuch kommen, und ich möchte immer darunterschreiben: Ausreichend. Aber ich würde es als eine 1 meinen, als sehr gut so.

Wenn ich noch einmal Geschichten schreiben sollte, was mir im Moment nur begrenzt wahrscheinlich vorkommt, dann nur solche, in denen nichts oder kaum etwas passiert, außer brüchigen Dialogen und Menschen, die aneinander vorbeigehen. Ich finde im Grunde alles zu schlimm.

Was nicht schlimm ist, aber mir zwischendurch vollkommen entfallen war: Ziegenkäse mit Thymian, Honig und gehackten Walnüssen aus dem Ofen. Der Herzdame fiel es wieder ein. Ziegenkäsetaler dazu einfach mit Honig bekleckern, Thymianzweige dazulegen, gehackte Walnüsse drüberstreuen, alles in Alu einpacken, ein paar Minuten bei 200 Grad in den Ofen. Kann man machen. Nicht unbedingt für Kinder, die an Schulessen und ähnliche Geschmacklosigkeiten gewöhnt sind, aber sonst.

Beim Kochen und beim Aufräumen der Küche gehört und als empfehlenswert befunden: „Ich war ein praktisches Mädchen – Das ukrainische Tagebuch meiner Mutter“ (49 Minuten). Vorsicht, die erzählten Berichte enthalten drastische Szenen, im obigen Sinne definitiv zu viel tragische Handlung, und sie ist nicht einmal ausgedacht. So war es eben, damals in der Ukraine, und so ist es teils auch heute wieder. Unvorstellbar grauenvoll war das, ist das. Und bitte, die Warnung ist ernstgemeint.

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Auch Bücher brauchen Bewegung

Bei der morgendlichen Lektüre der Nachrichten sehe ich mit Zufriedenheit, dass die norddeutschen Bundesländer Hamburg, Schleswig-Holstein und Niedersachsen sich endlich geeinigt haben, wie künftig mit dem umzugehen ist, was beim Ausbaggern der Elbe vor Hamburg so anfällt. Sie nennen es „Schlickfrieden“ – wenn das nicht schön ist? 2022, das war das Jahr des Schlickfriedens zu Weihnachten. Ja, wenn man bloß so darauf zurücksehen könnte, es wäre besser für uns alle. Wenn man an die Nordsee fährt und ohne wilde Wutattacken im Watt steht, dann ist man schlickfriedlich. Das ist auch als Adjektiv schön, man sollte darauf zurückkommen, nicht wahr, bei der nächsten Reise nach Nordfriesland etwa. Das mal im Sinn behalten.

Ich bringe am Montag eine Ausgabe der Werke von Edgar Allan Poe in den öffentlichen Bücherschrank, weil ich mit Poe, das hat sich über Jahrzehnte immer wieder bewahrheitet, einfach nichts anfangen kann, und weil ich hier besinnlich herumräume. Sollen den Poe doch andere dort finden, lesen und mögen, auch Bücher brauchen manchmal Bewegung. Am nächsten Tag, und das ist wieder so etwas, das kann man nur in einem Blog schreiben, in einer Erzählung wäre es schlicht zu unglaubwürdig, fragt ein Sohn, ob ich eigentlich was von Poe habe, und ob ich ihm da nicht mal was vorlesen könne. Er wolle, so sagt er, gerne mal was Altes hören, was Gruseliges. Er wolle gerne wissen, so erklärt er, was genau man früher gruselig fand. Ich habe keinen Schimmer, wie er auf Poe kommen kann, er liest sonst keine Bücher, und ich hätte nie gedacht, dass er den Namen kennt. Ich habe auch schon lange nichts mehr vorgelesen, was geht hier wieder vor?

Andererseits sind überkandidelte Zufälle passend, wenn es um Poe geht. Ich habe dann noch einen Band hier gefunden, ein altes Insel-Taschenbuch, ich lese also demnächst wohl Poe vor. Warum auch nicht. Mir wäre allerdings im Moment mehr nach Dickens, nach der bereits mehrfach gelesenen Weihnachtsgeschichte, aber egal. „Marley war tot, damit wollen wir anfangen.“ Ich finde, das ist ein sehr guter Anfang, das denke ich jedes Mal. Der alte Marley war so tot wie ein Türnagel, so heißt es dann kurz darauf, und ich denke, ich höre das jetzt einfach noch einmal zwischendurch als Hörbuch. Es sind nur rund drei Stunden, das geht nebenbei beim Einkaufen (verfügbar etwa beim WDR).

Ich lese ansonsten abends Geschichten von den Färöer Inseln, ich lese Geschichten aus Neufundland, ich glaube, ich habe da etwas mit dem Kargen, mit dem Nordischen laufen, mit den nicht so lieblichen Landschaften auch. Die man bei Bernice Morgan zwar nur ahnen kann, aber das reicht ja manchmal. Bei Heinesen werden nebenbei die Herbstfarben der Grasdächer erwähnt, ich finde das anziehend. Ich möchte auch da sein, wo die Häuser Grasdächer haben.

Ich habe ansonsten, aber das hat gar keinen Zusammenhang mit irgendwas, das folgende Lied gemocht. Es ist von Cat Power.

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Währenddessen in den Blogs, Ausgabe 21.12.2022

Eine sehr bündige Ausgabe, es liegt gerade nichts vor, bzw. eher fiel mir nichts auf, was womöglich ein gutes Zeichen ist, vielleicht aber auch nicht. Egal.

Patricia über die Erziehung zur Härte. Was da alles nachwirkt, man möchte es geschichtlich gar nicht durchdenken.

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Ein Blogosphärenkorrespondentenbericht aus Key West. Wir sind ja durchaus weltgewandt, in unserer Gesamtheit.

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Kein Blogtext, aber auch interessant, ich habe etwas gehört: Diesen Podcast über das Duett „Unforgettable“, Natalie Cole sang mit ihrem verstorbenen Vater Nat King Cole. Es geht um die Stimmen der Toten im okkulten und im technischen Bereich, um die Kulturgeschichte dieser Wiedergabe, die uns früher so unheimlich vorkam und heute so selbstverständlich ist, es geht auch um Dadbots (auf Mumbots vollkommen problemlos zu übertragen), Avatare und Hologrammkonzerte.

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Flapp Flapp

Die Herzdame hatte in diesem Jahr einen Adventsgeburtstag, normalerweise backt Sohn I einen Kuchen zu diesem Anlass. Der war aber krank und fiel komplett aus, weswegen Sohn II und ich diesmal zuständig waren. Obwohl wir doch eigentlich Team Kochen sind, was bei uns strikt getrennt wird, wie fast alle Aufgaben im Alltag. Der eine macht dies, der andere macht das, das unselige Mischen führt nur zu kritischen Abstimmungsproblemen. Aber egal, wir brauchten einen Kuchen, natürlich brauchten wir einen Kuchen, es gibt bei uns keine Geburtstage ohne Kuchen. Wir buken also am Sonnabend unseren ersten Kuchen. „Ich mache aber nur mit“, sagte der Sohn, „wenn wir vom Rezept abweichen können. Die Angaben sind mir da zu exakt.“ Abwehrend wedelnde Gesten. Man hätte damals im Krankenhaus, direkt nach seiner Geburt, auch „Es ist ein Freigeist!“ sagen können, es hätte gepasst.

Wir produzierten einen sträflich ungenauen Schokoladenkuchen und stellten fest, das geht auch. Aber nicht immer, sagte ich, aber nicht immer. Manchmal muss man auch genauer sein und sich an die Anweisungen und alten Regeln halten, etwa bei … Der Sohn war da schon längst nicht mehr im Raum. Egal.

In den Kuchen steckten wir Buchstabenkerzen, sie ergaben ein buntes „Happy Birthday“, oder in unserem Fall: „Happy Bihrtday.“ Nicht so genau hinsehen. Bewusst daran vorbeisehen. Nicht aufregen. Gelassener werden. Überhaupt milde werden. Kein Tag ohne Aufgaben und Lektionen.

Wir sangen am Sonntagmorgen zu zweit für die Herzdame. Nur zwei der männlichen Familienmitglieder haben hier noch Stimme, einer davon kann gut singen und trifft sogar Töne, ich bin es nicht. Die Herzdame lächelte verbindlich, wenn nicht huldvoll.

Im Morgenlicht des Sonntags tauchten erste Möwen auf, die tief durch die Straßen flogen. Sie suchten Dönerreste, verlorene Pommes, Brötchenkrümel, tote Tauben und dergleichen. Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass tieffliegende Möwen, die so suchend langsam durch ihr Revier patrouillieren, ihre Flügel manchmal genau wie die Vögel damals in der Ausburger Puppenkiste bewegen? Wäre der Ausblick aus dem Küchenfenster ein Bild in einem Comic gewesen, es hätte ein lautmalerischer Erikativ wie etwa „Flapp Flapp“ neben diesen Möwen gestanden. So sah das aus.

Auf einigen Balkonen in den Häusern gegenüber lehnten Tannenbäume, noch eingenetzt. Unten auf den Wegen zogen im Laufe des Sonntagvormittages Familienrudel vorbei, Väter mit Bäumen über den Schultern, geradezu beneidenswert dick eingepackte Kinder. Der Baumverkauf im nahen Park lief gut am vierten Advent, und der Nachbar übte „Morgen, Kinder, wird’s was geben“ auf dem Klavier, ich hörte es durch die Wand. Ich schlug den Text nach, das meiste kam mir nicht einmal ansatzweise bekannt vor. Nanu.

Welch ein schöner Tag ist morgen!
Neue Freude hoffen wir.
Unsre guten Eltern sorgen
Lange, lange schon dafür.
O gewiß, wer sie nicht ehrt,
Ist der ganzen Lust nicht werth.

Nein, ihr Schwestern und ihr Brüder,
Laßt uns ihnen dankbar seyn,
Und den guten Eltern wieder
Zärtlichkeit und Liebe weihn,
Und aufs redlichste bemühn,
Alles, was sie kränkt, zu fliehn.“

Ich glaube, die Söhne kennen das auch nicht.

Mittlerweile ist es aber schon längst Montag geworden. Ich brachte der Herzdame am Morgen nur alltäglichen Tee ans Bett, ohne Kuchen und ohne Gesang. Hauptsache heiß.

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Es gibt Reis

Es gibt herumfliegende Reste und was weg muss, und zwar gebraten und mit Reis. Wer Reis auftischt, so steht es auf der Packung, die ich beim Kochen durchlese, als wären wir noch in der Zeit vor der Erfindung der Smartphones, die Älteren erinnern sich, wer Reis auftischt, so steht es da tatsächlich, der sorgt immer für strahlende Gesichter in der Runde.

Ich kann das nicht bestätigen.

Nebenbei fasse ich den ersten guten Vorsatz für 2023, was übrigens eine Jahreszahl ist, die irgendwie nicht so gelungen aussieht, aber das heißt hoffentlich nichts. 2022 sah sehr schön aus, war es dann aber gar nicht, also bitte. Im Jahr 2023, so nehme ich mir jedenfalls fest vor, werde ich weitere 12 Monate lang keinen eigenen Podcast starten. Man muss irgendwo anfangen mit den guten Absichten, nicht wahr. Irgendwie Ruhe reinbringen und Klarheit.

Ich höre weiter den Felix Krull, er tauscht gerade die Identität mit dem Marquis und der Witz, den Thomas Mann mit dem Tonfall im Roman angestrebt hat, hätte meiner Meinung nach vielleicht für ein Novellchen gereicht, nicht aber für einen Roman in unendlich epischer Erstreckung. Aber nun bin ich schon über der Hälfte, höre ich das jetzt bis zum Ende oder nicht, immer diese quälenden Konflikte. Man ist, wenn man das einmal ernsthaft durchdenkt, verblüffend schnell bei der Frage, warum man überhaupt irgendwas macht. Nur aus Spaß, nur aus Pflichtbewusstsein, weil man etwas erreichen oder haben will, aus Prinzip, weil man es immer schon so gemacht hat, weil halbe Sachen doof sind, weil man seiner Lust folgt, und der Erste, der das entsetzliche Wort Bauchgefühl sagt, wird sofort des Raumes verwiesen.

Wenn man das alles zurückverfolgt, dann landet man doch wieder bei Adam und Eva, die im Paradies lebten und nur ihren Instinkten folgten, happy go lucky. Dann die Frucht der Erkenntnis, die erste bewusste Entscheidung, gleich war sie grundfalsch, versteht sich, und von Stund an war von uns stets alles zu entscheiden, bewusst zu entscheiden, und wie gottverdammt unendlich mühsam ist das bis heute, was für ein elender Fluch ist das, was für eine überaus grausame Vertreibung aus dem Reich der dösenden Seligkeit, in dem jede Katze seit dem Anbeginn der Zeit und auch weiterhin 20 Stunden täglich und selig liegt, während wir irgendwelche Jobs, Essenspläne und Wartungstermine fürs Auto machen, Weihnachtsgeschenke suchen, Therapeuten googeln und dabei dauernd um die allerkleinsten Entscheidungen ringen wie mit dem Engel des Herrn. Egal.

Ich höre das jetzt bis zum Ende, weil ich ein ordentlicher Mensch sein möchte.

Ich höre das jetzt bis zum Ende, weil sonst auf meiner Liste der gehörten Bücher ein Titel stehen würde, den ich in Wahrheit gar nicht ganz gehört habe. Das wäre dann also ein Lügenwerk, ein trügerisches, ein hochstaplerisches gar, passend zum Krull. „Flunkerei“, wie eine frühere Kollegin von mir da gesagt hätte, „Flunkerei.“ Und dabei so ein neckisches Drohen mit dem Zeigefinger und ein Augenzwinkern, es schaudert mich noch bei der Erinnerung.

Nein, ich höre das jetzt bis zum Ende, weil ich zum Jahresende hin keine losen Fäden mag, bei einfach gar nichts. Schulden aller Art begleichen.

Nein.

Ich höre das jetzt bis zum Ende, weil ich nicht alle Latten am Zaun habe. Ja, das wird es sein. Immer realistisch bleiben.

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Vollfett und verschwenderisch

Am Freitagmorgen um fünf Uhr höre ich die drei anderen Familienmitglieder in ihren Betten husten, es ist der Soundtrack dieses Winters. Ich versuche, an den Geräuschen schon zu erraten, wer heute wie fit sein wird, es ist besser als gar kein Unterhaltungsprogramm. Der Nachbar hustet hinter der Wand zwischen den Wohnungen, aber der spielt nicht mit.

Ich kann die beginnende Urlaubszeit beim Blick vom Balkon gut erkennen, es bleibt fast überall dunkel in den Fenstern. Kaum jemand steht noch früh auf und müht sich zeitig in den Tag; immer weniger Lichter gibt es in den Häusern gegenüber am frühen Morgen.

Ich werfe noch einmal das Home-Office an, die vorerst letzte Runde, bevor ich am 30.12. noch einmal nachsehen werde, ob alles weiterhin ordentlich, aufgeräumt und sortiert aussieht. So ist es in jedem Jahr, man hat seine Rituale, ob im Brot- oder im Kuchenberuf, also hier. Die Herzdame hat im Gegensatz zu mir schon frei und fühlt es nur noch nicht, es gibt da emotionale Verzögerungen im Betriebsablauf. Aber es soll jetzt ja alles etwas langsamer sein, es passt also gewissermaßen.

Ich sehe nebenbei schon einmal skeptisch nach, ob ich mir genug Bücher für den kurzen, den allzu kurzen Urlaub bereitgelegt habe. Es sind mehr als genug, es sind sogar viel mehr als genug, aber ich gehe dennoch lieber ein weiteres Mal zur Bücherei, um mir noch mehr zu holen. Das Angebot muss reich sein, überreich, vollfett und verschwenderisch. Am Ende dann doch wieder nur einen Band wirklich schaffen, aber egal. Man hat so seine Schrullen.

Wiedersehen mit Brideshead werde ich noch einmal lesen, so der Plan, und auch noch einmal sehen (die alte Version, den Elfteiler), ich freue mich sehr darauf. Was habe ich diese Serie damals geliebt, wann lief denn das im deutschen Fernsehen, Moment: 1983. Schon etwas länger her. Das mit dem Katholizismus fand ich damals sehr irritierend (bei der Kaltmamsell stand ähnliches, war es bezogen auf Graham Greene oder auf Waugh?), aber alles andere … was war das für ein Genuss.

Der Autor Evelyn Waugh war übrigens mit einer Evelyn Waugh verheiratet, man nannte sie zur Unterscheidung He-Evelyn und She-Evelyn, wenn das nicht großartig ist. Schönstes Sekundärliteraturwissen, wenn auch nur aus der Wikipedia. Egal.

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Nach neuen Untaten des Eigentümers reden in den diversen sozialen Medien alle wieder, nachdem es zwischendurch doch etwas ruhiger war, über Twitter und wie es da war, wie es jetzt ist und was künftig wo auch immer noch werden wird. Es ist wie bei Trennungen nach langjährigen Beziehungen, man findet einfach kein anderes Thema, siehe hier unten bei Element of Crime. Die Liebe war eben groß, lang und prägend.

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Ein sauberer Schnitt durch unsere Geschichte

Am Mittwoch dann das letzte Mal in diesem Jahr im Büro gewesen, also vor Ort. Der Rest der üblichen Aufräumarbeiten zum Jahresende findet im Home-Office statt, ein nur noch virtuelles Zusammenfegen. Einerseits muss ich morgens nicht mehr in die Kälte, andererseits fehlen mir die Schritte und die Hörbuchzeit. Ich weiß nicht recht, so komme ich nicht in akzeptabler Zeit durch den Felix Krull. Ich kann Hörbücher weiterhin unmöglich im Sitzen oder Liegen konsumieren, ich schlafe sofort ein dabei. Irgendwas ist immer.

In den Nachrichten gab es dieser Tage diverse neue Zahlen zu den Home-Office-Quoten in Deutschland. Es wird wohl darauf hinauslaufen, dass jeden Tag etwa ein Fünftel bis ein Viertel der Büroangestellten eher nicht mehr vor Ort in den Firmen sein wird, und zwar dauerhaft. Das ist jetzt so, das bleibt auch so. Mit selbstverständlich weitreichenden Folgen für den Kiosk neben dem Bürogebäude, für den Imbiss um die Ecke, das Restaurant mit dem schnellen Mittagstisch, auch für den Mann, der an der S-Bahnstation morgens bettelt, für den kleinen Wochenmarkt neben den Verwaltungszentralen. Es wird sich vieles verschieben und verlagern, und da es nicht ruckartig geschehen wird, wird es uns vermutlich kaum auffallen oder erst viel später, wenn es bei den „Weißt du noch“-Gesprächen um die graue Vorzeit, damals vor dem März 2020 gehen wird. Dieser März als Wasserscheide der Erinnerungen. So wird es sein, alles wird der trennen, der lange März, ein sauberer Schnitt durch unsere Geschichte, durch die Kindheit der Söhne auch.

Im Büro ein Gespräch über den Wandel der Imbisskultur durch die Jahrzehnte seit den Siebzigern. Das Verschwinden des Schaschliks und der halben Hähnchen, die man hier kaum noch irgendwo bekommt, die es früher aber überall gab, an jeder Ecke fast. So ein Wandel ist schwer zu bemerken, während er geschieht.

Da mal als Chronist stets bemüht bleiben.

Ein Sohn wacht am Donnerstag mit neuem Husten und frischen Halsschmerzen auf, geht zur Schule und dreht doch gleich wieder um, rien ne va plus. Das Virenkarussell dreht sich weiter, es ist auf Dauer gar nicht mal so unterhaltsam. Die Stundenpläne an den Schulen nur noch brüchiges Flickwerk, kaum belastbar. Meine Mutter wurde währenddessen erfolgreich operiert, sie gibt mir einen neuen Einkaufszettel durch. Sie braucht Kekse, Kartoffeln und Kaffee, am Ende ist die Vorliebe für Alliterationen auch erblich, wer weiß. Was man alles so mit auf den Weg bekommt.

Und hier noch einmal Daniel Herskedal, Wintermusik. Sogar das kleine Bahnhofsviertel war gestern dezent angeweißt, die kleineren Kinder auf dem Spielplatz standen verblüfft und die Eltern machten ihnen Schneebälle vor, guck mal, so. Oben drüber die Rabenkrähe mit schiefgelegtem Kopf in der Eiche, was machen die Spinner da unten jetzt wieder.

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Minus sieben Grad

Minus sieben Grad am Mittwochmorgen, es ist schnatterkalt. Alles aber, wie bereits beschrieben, findet hier abseits der weihnachtlich geschmückten Schaufenster ohne jede winterliche Deko statt, nur das Grau da draußen vereist. In den sozialen Medien überall die Schneebilder, es liegen Bächlein und Seen unterm Eise, weiße Bilderbuchwelten überall. Aber wir hier, wir haben ja nichts. Wir haben nur diese Art von Kälte, bei der den Leuten ihr Aussehen egal wird, es fällt auf den Straßen und Wegen auf. Die morgendliche Frage vor dem Kleiderschrank, was man denn heute wohl tragen möchte, sie wird jetzt gerne mit „Alles!“ beantwortet, und das sieht man auch. Einmummeln, ein ausgesprochen schönes Wort ist das. Kommst Du noch mit rauf, wir mummeln uns ein.

Apropos schönes Wort, im Felix Krull kam es im Hotel zum wiederholten Sex, was Thomas Mann mit „Wir einten uns erneut“ beschreibt, auch interessant. Das mal bei Gelegenheit als Frage umformulieren und privat anwenden: „Einen wir erneut?“ So kommt man durch die Literatur auch zu kleinen Zielen, denn die Bücher, sie wirken eben auf uns.

Die Minuten, bis der erste Kaffee am Morgen fertig ist, sie ziehen sich. Hüpfen und Klappern in der kalten Küche. Unwillige Familienmitglieder wecken, verschiedene Heißgetränke zureichen, Heizungen andrehen, Socken darauf fürsorglich anwärmen. Schulbrote schmieren, Dominosteine dazu legen, „weil das Leben ist doch hart genug“, wie wir damals gesungen haben. Die letzten Tage ziehen sich bei allen, ob in den Büros oder in den Schulen. Nächste Woche noch die letzten Klassenarbeiten. Man hat es als Kind schon gehasst, man findet es als Elternteil kaum lustiger.

Einen Sohn wecke ich versehentlich zwei Stunden zu früh . Es liest sich so lapidar, die shakespearesche Dramatik muss man sich bitte dazu denken. Irgendwas mit nächtlichen Erscheinungen, Entzweiung vom Vater und dessen Flucht in die eisige Kälte.

Im Büro bei manchen die langsam aufkommende Unsicherheit, ob man jetzt schon frohe Weihnachten wünschen soll oder nicht. Sieht man sich noch einmal, spricht man sich noch einmal, ab wann bist du eigentlich weg. Am Ende wünscht man sich das Jahreszeitliche doch wieder zehnmal, wie immer. Dir auch, dir auch, dir auch, ja, dir auch. Allgemeines Abbröckeln in die Urlaube, in die Feiertagsruhe. Abwesenheitsnotizen verweisen schon auf 2023. Ab sofort zu sämtlichen Anforderungen „Aber nicht mehr in diesem Jahr!“ sagen. Als ob es einem viel Raum verschaffen würde. Zeitillusionen hat man, wenn nicht schon Wahnvorstellungen.

Wenn man sich dick eingemummelt hat, wenn man Zeit hat und wenn sogar die Heizung funktioniert, wenn das Heißgetränk noch dampft und ausreichend Herzensternebrezeln noch im klug versteckten Vorrat liegen, dann hat man es kommodig, so sagt man es im Plattdeutschen.

Auch das ein sehr schönes Wort: Nächste Woche wollen wir es aber mal kommodig haben. Ja, mach nur einen Plan.

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