Am Morgen ist es seltsam warm und die Vögel singen, der Tag fällt aus der Jahreszeit oder er ist eine eigene, was weiß ich. Wir haben den Frühling im Oktober und den Wintersport in Arabien, es ist jetzt alles, wie die Söhne sagen würden, vollkommen random. Die Nachrichtenseiten aufmachen und sich schon vornehmen, sich über gar nichts mehr zu wundern, fröhlicher Fatalismus. Die Hauptschlagzeile auf der Seite der Tagesschau ist, ich scherze nicht: „Alles unklar.“ Ich nicke kenntnisreich.
Ich mache mein Bett und freue mich schon darauf, mich am Abend wieder hinzulegen. Der Mensch braucht kleine Freuden: Ich denke am Morgen gerne daran, wieder ins Bett zu gehen und ich denke am Abend gerne daran, wieder aufzustehen. Ich mag die frühen Morgenstunden und das Einschlafen, ich liebe beides. Ins Bett ist schön, aus dem Bett ist schön, ich habe ein dermaßen schlichtes Gemüt. In den Nachrufen dann später die zusammenfassende Würdigung: Er stand gerne auf und er legte sich gerne hin.
Der Rest des Tages allerdings, der Rest ist doch regelmäßig eher schwierig für mich.
Ich lehne mich mit dem ersten Kaffee in der Hand aus dem Dachfenster ins Dunkel. Auf dem Hotel gegenüber wehen die Fahnen, Deutschland und Hamburg, etwas gespenstisch werden sie von unten beleuchtet. Das weiße Tor auf der Flagge der Stadt blitzt immer wieder auf und verformt sich aufbauschend, südwestliche Böen zerren am Stoff. Unten an der Alster der aufbrandende Morgenverkehr, einen Block weiter die lärmende Müllabfuhr. Ich lasse den Twin-Peaks-Soundtrack laufen, passende Musik ist stets wichtig.
Zwei Kaffeetassen weiter sehe ich, dass in der Birke drüben am Kirchenbüro lange Goldgirlanden hängen, als hätte man sie wie Lametta daran drapiert. Oktoberlaublocken. Ich trete aus dem Haus und ein älterer Nachbar fragt mich: „Und, stehst du noch in Lohn und Brot?“ Er fragt mich das immer, wenn er mich sieht, es ist eine Frage, die für ihn sicher wichtig war. Ich nehme an, er fragt das alle, die er kennt.
Dann der Arbeitsweg, ich stehe tatsächlich in Lohn und Brot. Runter nach Hammerbrook.
An den Hauswänden Plakate, die zu einer Demo aufrufen: „Miet- und Energiekosten deckeln!“ An einem Briefkasten zwei Aufkleber; „The system is evil“ und „Help the rich!“ Dann weitere Plakate, mit schwarzem Rand diesmal, es wird auf das Ladensterben im kleinen Bahnhofsviertel hingewiesen, es soll einen Trauermarsch für tote Geschäfte geben.
Über den Bürohäusern von Hammerbrook früher Vogelzug, keilförmig dem Wind entgegen, mehrere Geschwader. An einer spektakulär hässlichen Kreuzung wird alles von Bauarbeitern aufgerissen, jetzt ist es da noch schlimmer, ein Unort, das Grauen. Männer mit gelben Helmen sehen in ein riesiges Loch und schütteln den Kopf. „Heilige Scheiße“, sagt einer und nimmt dem Helm ab, „Heilige Scheiße.“ Ein Baggerfahrer beugt sich aus seiner Maschine und ruft; „Ja, was jetzt?“
Mir kommt eine Frau entgegen, die schiebt jemanden, der im Rollstuhl sitzt, und der sieht schrecklich aus. Mit dem stimmt etwas grundsätzlich nicht, er ist ein alarmierender Anblick, da ist etwas grundfalsch, und sie müssen mir erst näherkommen, die Frau und der im Rollstuhl, bevor ich erkennen kann, dass der gar nicht echt ist. Eine menschengroße Puppe sitzt da, bandagiert und mit Kissen gestützt, ein Vorführobjekt für Erste-Hilfe-Kurse vielleicht. Die Puppe hat Klappaugen und als sie neben mir über ein Stück Kopfsteinpflaster geschoben wird, wackelt ein Augenlid hektisch auf und ab, die Puppe zwinkert mir in irrem Stakkato zu, einäugig, das andere klemmt wohl. Dann ein Kantstein und da geht auch noch ein Arm halb hoch, die Puppe zwinkert und winkt mir dabei passiv zu, so wie der tote Ahab damals vom Wal winkte. Was sind das für Tage, die so anfangen, was sind das denn für Tage. „Heilige Scheiße“, murmele ich und gehe in mein Büro.
(Es war dann ein ganz normaler Tag. So ist es ja immer.)
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