Eine Dankespostkarte

Rückseite

Ich habe zu danken für die überaus freundliche Zusendung der gedruckten Version der „Erzählenden Affen“, denen ich in der Hörbuchversion nicht recht folgen konnte, ich berichtete. Sehr fein, ich habe mich gefreut! Und ich habe auch gleich damit angefangen. Es passte gerade hervorragend, da ich mit den Notizbüchern der Highsmith jetzt durch bin und mich also nur ein rettendes neues Buch davon abhalten konnte, mit dem Stapel ungelesener Bücher auf dem Nachttisch anzufangen. Das folgt einer etablierten Tradition, die nicht nur mir bekannt sein dürfte.

Und wie ich vermutet hatte, verstehe ich beim Lesen jetzt mehr vom Text und kann deutlich besser folgen. Vielleicht ist es so – aber das ist nur ein erster Verdacht -, dass ich beim gedruckten Buch die letzten gelesenen Seiten eher im Kopf behalte, weil ich sie auch in der Hand halte, weil ich jederzeit zurückblättern könnte, während das Gesagte beim Hörbuch oft auch das Verflogene ist und der Rückweg beim Hören eher unüblich ist?

Na, wie auch immer. Interessantes Buch jedenfalls, aber das sagte ich neulich bereits. Vielen Dank!

 Vorderseite

Diese Karte ist schon wieder ein paar Tage überfällig, ich verstoße gegen meine eigenen Regeln, die besagen, dass Dankeskarten schnell zu schreiben sind, mit den Bildern, die eben da sind. Ich habe jetzt aber unangemessen lange darüber nachgedacht, was es gestern oder heute für Bilder gegeben hat, und es fällt mir nur eine vermutlich vollkommen pointenfreie Szene ein. Was soll ich machen, es ist nichts da. Ich sehe nach wie vor nichts, nur das Home-Office, die Nachrichtenseiten, den Himmel vor dem Dachfenster, alle paar Minuten ist eine Möwe mit dabei, etwas öfter noch eine Taube. Die sehen viel mehr als ich, denke ich. Vogel müsste man sein, wegfliegen und auf alles kacken und … nein, pardon. Die Karte, hier die Karte.

Ich gehe am Sonntag spazieren. Ich gehe durch die Innenstadt, am Rathaus vorbei und runter Richtung Hafen. Es ist nicht warm und es ist nicht kalt, es regnet nicht und es ist nicht klar, es ist ein Tag ohne greifbares Wetter. Es ist Egalwinter, irgendein beliebiger Tag im Januarfebruarmärz und die ganze Stadt kommt mir sterbenslangweilig vor. Ich gehe am Alsterfleet entlang, es sind dort kaum Menschen unterwegs. Ich komme an der Schaartorschleuse vorbei, wobei die Details dieses Bauwerks für unser Bild nicht von Interesse sind. Es ist eine wenig beeindruckende Schleuse, kein imposantes Bauwerk oder dergleichen, sie hat in etwa den Charme einer Tiefgarageneinfahrt, womit ich ihren technischen Wert und auch den für die Stadtentwässerung nicht schmälern möchte. Vor und hinter der Schleuse gibt es etwas zu sehen, den Hafen erkennt man schon, große Kontorhäuser stehen in der Nähe, Kirchtürme sieht man in der Ferne, das schon. Aber die Schleuse selbst ist doch ein eher banales Bauwerk.

Es fließt gerade Wasser ab, von der Alster in die Elbe. Ein tosender Strom bricht aus der Schleuse, und das wiederum kann man schon etwas beeindruckend finden, denn man sieht und hört sofort, welche unfassbare Kraft das Wasser hat. Wie es braust, wie es rauscht, wie es lärmt und brüllt und schäumt, was für ein gewaltiger Druck dahinter sein muss, welche Kraft, man sieht das. Das Wasser übrigens müssen sie sich ausgesprochen hässlich vorstellen. Da, wo es herabstürzt, schäumt es derartig abstoßend uringelb und bräunlich-schmutzig, dass man unwillkürlich an ein Klärwerk denkt, und da, wo es wieder zur Ruhe kommt, wird es tiefgrauschwärzlich und wirkt gleich bedrohlich. Schön geht anders.

Ein junger Mann steht vor dieser Schleuse und sieht zu, wie das Wasser aus ihr herausstürzt. Er lehnt an einer Wand. Ein Knie hat er angewinkelt und hochgezogen, die Hände hat er in den Jackentaschen, auf den ersten Blick wirkt er entspannt. Er sieht in das Wasser, konzentriert sieht er in das Wasser. Er legt den Kopf schief, er wechselt den Blickwinkel, aber er wendet die Augen nicht ab. Er guckt unverwandt in die Wirbel, er sieht immer weiter in die aus der Schleuse brechenden Wassermassen. Er sieht sich an, wie das Wasser tobend strudelt, wie der Schaum weiße und wirre Linien auf das dunkle Wasser krakelt, die von den Wellen gleich wieder verwischt werden, er sieht zu, wie diese Zeichen unentwegt wieder neu entstehen. Er wendet den Blick nicht ab. Er steht da und sieht zu, wie gewaltige Wassermassen mit großer Geschwindigkeit elbwärts abfließen.

Und im Vorbeigehen sehe ich erst, dass er nicht entspannt dort steht. Er steht eher wie jemand, der etwas auf keinen Fall verpassen darf oder will. Ein leicht unwilliges Kopfzucken, als ich vorbeigehe, weil ich einen Moment lang im Bild bin, er sieht an mir vorbei immer weiter zur Schleuse. Ganz genau sieht er dorthin, die Augen ein wenig zusammengekniffen, Konzentrationsfalten auf der Stirn. Er wartet.

Und mehr erfahren wir nicht. Es ist mir auch nur diese Anspannung in Erinnerung geblieben, dieses seltsam lauernde Warten. Groß war der Mann. Jung, gutaussehend, sportlich. Schwarze Lederjacke, schwarze Jeans. Filmfiguren sehen so aus. Filmfiguren stehen so an Schleusen und warten und dann … aber dafür bin ich nicht zuständig.

Ich bin einfach weitergegangen. Ich bin nach Hause gegangen und habe mein Notebook wieder aufgeklappt. Ich habe die Tabs im Browser angesehen und gewartet. Ich weiß auch nicht, worauf, aber ich behalte das Notebook immer weiter im Blick.

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Januvember

Seit Mittwoch habe ich nichts geschrieben, ein gutes Zeichen ist das natürlich nicht. Es war nichts Schlimmes, es war nur zu wenig von allem, vielleicht kennen Sie das Gefühl. Nagende Unzufriedenheit, dumpfes Durchhalten, nein, es war keine gute Woche. Aber wir hatten es doch schön warm und es gab gutes Essen, ja, ja. Die Söhne waren zwischendurch beim Kinderarzt und wurden dort gecheckt und gewartet, Sohn I ist jetzt offiziell größer als die Herzdame.

Moment, ich mache Ihnen noch eben Musik zum Lesen an. Ich höre viel Musik, nur um solche Stücke zu finden, die mit einem Einfall wie diesem beginnen:

„I read a story about a coal fire
That burned for 80 miles underground
Under rivers and across the state line
Without a flame, without a sound.“

Ich halte das für einen schlichten, aber doch verdammt guten Anfang. Jeffrey Martin, es gibt noch weitere gute Stücke von ihm.

Der Wetterbericht bleibt denkbar langweilig. Es ist eine Winterphase von erheblicher Betrübnis und Ödnis, und unangenehm lang ist sie auch noch, keine Neuerung kommt in Sicht. Mal sprühregnet es, mal sprühregnet es nicht, das ist so die Abwechslung. Am Morgen sind immerhin kleine Veränderungen in Luft und Licht zu bemerken, zu ahnen eher nur, jedenfalls wenn man stets bemüht hinfühlt. Dezente Aufhellungen und Erweiterungen im Grau, der Vorhang des Januars hebt sich in Zeitlupe und gibt den Blick auf den etwas lichteren Februar frei, am späteren Vormittag ahnen wir ganz oben sogar so etwas wie Blau. Schneeglöckchen blühen bleich im Beet vor der Haustür und im Fenster des Blumenladens – „Wir sind täglicher Bedarf!“ – geht es immer bunter zu. Korallenblumen, die hatten wir noch nie. Zweige mit Kätzchen zu Preisen, vor denen ich lachend stehen bleibe, sind denn jetzt alle verrückt geworden.

Auf einem Plakat an einer Laterne wirbt einer von der CDU, der möchte sich um die Innenstadt kümmern. Ich habe seinen Namen noch nie gehört und schon nach drei Schritten wieder vergessen, was interessiert mich die CDU.

Ein Laden schließt wegen Corona und macht erst unbestimmt irgendwann wieder auf, der Betrieb lohnt sich im Moment nicht mehr, sagt der Chef den Medien. Bei einem Restaurant ein paar Meter weiter werden die Öffnungszeiten noch einmal verkürzt, bei einem anderen werden sie gerade geändert, und schon wieder kleben neue Zettel in den Fenstern: „Sie können sich nebenan testen lassen!“ In ein Eiscafé ist über den Winter ein Testzentrum eingezogen, das ist ein saisonaler Wechsel der neueren Art. Immer noch gibt es an einigen Kneipen Werbung für Glühwein, für Hot Aperol und für Punsch. Beim Kiosk stecken im Postkartenständer vor der Tür noch „Besinnliche Weihnachtsgrüße“, die wird wohl niemand mehr kaufen. Verspätete Tannenbäume liegen abgetakelt am Straßenrand, bereits von allen Hunden des Stadtteils bepinkelt.

Links und rechts vom Kirchenportal steht das Wort Liebe in mannshohen bunten Großbuchstaben. Das L, das I und das E links von der Tür, das B und das E rechts davon. Eine Frau stellt sich vor die Tür und zwischen die Buchstaben. Sie stellt sich in die Liebe, sie formt ein Herz mit den Händen und lässt sich so von ihrer Familie fotografieren, lächelnd, strahlend. Dann ist ihr Mann dran: „Komm, stell dich auch mal da hin!“ Dann die Teenagerkinder, beide zusammen und Arm in Arm, sie machen die Geste gemeinsam, er eine Hand, sie eine Hand, Bruder und Schwester. Herzchen, Herzchen, Herzchen. „Das ist doch schön“, sagt die Frau zufrieden, als sie die Handyfotos sichtet, und die Meise auf dem Spielplatz hinter der Kirche singt dazu etwas, das vermutlich auch mit großen Gefühlen zu tun hat.

In den Medien sehe ich mehrere Artikel, die sich damit beschäftigen, wie die Welt nach Corona sein wird, ob die neue Normalität die alte Normalität sein wird oder eine andere und wenn, dann welche. Die Überschriften ähneln sich so, dass ich mich einen Moment frage, ob ich den gleichen Tab immer wieder anklicke, aber es sind doch verschiedene Artikel. Ich habe dazu keine Meinung. Ich gehe einfach raus und sehe nach, wie es da ist, und wenn ich etwas bemerke, das anders geworden ist, dann schreibe ich es auf. Ich habe auch keine Pläne oder Hoffnungen, es fühlt sich für mich noch nicht danach an. Einfach weitermachen, wie ich auf Twitter oft schreibe. Es klingt immer wie ein Scherz, nehme ich an, aber es stimmt schon.

Ich blättere durch einen Gedichtband mit Januar-Gedichten. Eine Anthologie deutschsprachiger Lyrik zur Jahreszeit aus der sowieso empfehlenswerten Reclam-Reihe (kein Werbelink, nein). Es gibt da zu jedem Monat einen Band, ich lese oft in den schmalen Büchern und finde immer Neues. Wo der Blick eben hängenbleibt. Aber so gut wie kein Gedicht passt zu diesem Januar da draußen, stelle ich fest, es ist etwas aus der Ordnung geraten. Es ist ein Januar ohne jeden Neujahrsoptimismus, ohne große Wünsche, abgesehen von dem allgegenwärtigen Wunsch des milden Verlaufs. Es ist in Hamburg auch ein Januar ohne Frost, ohne Schnee, ohne jede Wintergemütlichkeit auch, wir waren alle zu lange zuhause. Die Gedichte für diesen Januar müsste man erst schreiben. Nein, die ganze Sammlung passt nicht. Ich müsste zum Novemberband greifen, um das wiederzufinden, was der Stimmung in diesen Wochen und dem Grau vor den Fenstern am frühen Abend entspricht. Ich müsste Januar und November aufeinanderlegen und remixen, Januvember, Novembuar.

Egal. Nächster Band Februar, ich werde berichten.

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Es gab Kötttbullar. So in etwa. Oder wie die Söhne sagen: Das mal öfter machen.

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Schöne graue Bäume.

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Die Herzdame backt und backt währenddessen und wir versorgen weiter die Kranken und Bedürftigen im Umfeld. Resilienzmaßnahmen mit Kalorien.

 

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Mausgrauer Mitttwoch

Ein weiterer mausgrauer Werktag, es war ein, Moment, ich sehe eben nach – Mittwoch.

Ich huste nachts, ich schlafe schlecht, ich träume wirr, mich infiziert zu haben. Es lässt einen nicht mehr los, jetzt sind auch die Träume verseucht. Ein Schnelltest zum Frühstück, reine Routine.

Ich gehe später einkaufen, ich höre drei Gespräche im Vorbeigehen. Sie werden alle recht laut geführt, sie passen zu meinem gestern geposteten Text beim Goethe-Institut, es fallen in den Gesprächen Sätze wie: „Das ist doch eh alles Blödsinn“, „Was richtig ist, das weiß eh keiner mehr“ und „Omikron, Omikron, hör mir bloß auf.“ Im Supermarkt schiebt mir am Eingang jemand seinen leeren Einkaufswagen hin, zeigt auf den Griff und sagt laut: „Hier, nehmen Sie den, da sind frische Viren dran!“ Und guckt dann so lauernd, was ich jetzt mache, und guckt auch schon, ob andere gucken. Was ist mit den Leuten los?

Schon gut, das war eine rhetorische Frage.

Währenddessen, noch ein Satz für die Chronik, gibt es jetzt in allen Familien, mit denen wir freundschaftlich verkehren, mindestens einen Corona-Fall, das ging doch etwas schneller als erwartet. Alle paar Stunden kam eine entspreche Nachricht, so muss man sich das vorstellen, aber dummerweise im Ernst, nicht als humoristisch sein sollende Übertreibung.

Schließlich der Abendspaziergang durch den prompt einsetzenden Nieselregen. Leere Läden, leere Kneipen. Nur die üblichen Pegeltrinkerinnen sitzen da, wo sie immer sitzen. Vor einem heute geschlossenen Restaurant stehen die Bänke und Tische im Regen, nasses Holz.  Ein älteres Ehepaar in Partnerlookoutdoorjacken setzt sich dort gerade an einen Tisch. Er fegt mit dem Ärmel Wassertropfen vom Tisch, sie packt Stullen aus papierenen Päckchen, sie grinsen beide. Da haben sie einen guten Platz gefunden, das denken sie wohl, und sie rücken eng an die Hauswand, wo der Regen nicht so sehr hinkommt, sie essen Brot und kauen und grinsen und verstehen sich gut.

Im Dönerimbiss ein paar Meter weiter sitzen die beiden Verkäufer und essen Döner. Vielleicht haben sie sich gegenseitig einen gemacht, vielleicht haben sie sich gegenseitig die üblichen Fragen gestellt und „Mit scharf!“ gesagt. Sie gucken raus, während sie essen, in die Dunkelheit, in den Regen.

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Es müsste etwas anders werden

Ich habe heute nicht viel zu sagen, ich habe alles schon hier drüben gesagt, beim Goethe-Insitiut, für das ich etwas über die Stimmung geschrieben habe. Also über ein enorm schwieriges Thema.

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Ansonsten bin ich auf eine seltsame Art verstimmt. Ich weiß nichts mit mir anzufangen. Ich ziehe die Jacke an, ich weiß nicht, wo ich hingehen soll, ich ziehe sie wieder aus. Ich gehe in mein Abstellkammerarbeitszimmer, es sieht im Moment aufgeräumt und gemütlich darin aus, aber ich weiß nicht, was ich da soll. Ich gehe zum Kühlschrank, ich sehe hinein, ich will nichts essen. Ich setze mir Kopfhörer auf, ich weiß nicht, welche Musik ich hören möchte. Ich lege mich hin, ich schlafe nicht ein.

Es müsste irgendetwas grundsätzlich anders werden, glaube ich. Vielleicht müsste die Pandemie mal aufhören, das könnte sein.

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Nachdem ich auch beim xten Anlauf das Sachbuch (Erzählende Affen, ich berichtete) als Hörbuch einfach nicht zureichend verstanden habe, verschiebe ich den Genuss des Werkes kurz entschlossen, bis ich mit der gedruckten Version neu starten kann, das wird besser sein. Es ist doch zu interessant für mich, um dauerhaft nur ein Drittel mitzubekommen.

Ich habe stattdessen das Schloss angefangen, Kafka, das ist gar nicht mal so unpassend zurzeit, will mir scheinen. Es gibt da eine Version, die wird von Sven Regener gelesen. Eine merkwürdige Hörerfahrung ist das, da ich die prägnante Stimme doch mit seinen eigenen Werken verbinde, mit den gesungenen und geschriebenen Texten von ihm. Ich werde die Erwartung nicht los, dass irgendwann eine Nebenfigur mit dem Namen Lehmann auftaucht, ich höre vielleicht auch mehr Humor, als in diesem Text vorhanden sein kann, aber ich mag es sehr. Nach der ersten halben Stunde bin ich äußerst zufrieden mit der Wahl.

Ich lese zwischendurch weiter im Tagebuch der Patricia Highsmith. Haben Sie übrigens mitbekommen, das ging durch die Feuilletons, dass man die Ausgabe kritisch sieht, weil man ihren Rassismus und Antisemitismus geglättet hat, weggelassen hat? Schwieriges Thema. Sie soll, aber so weit bin ich noch nicht, auch von diesen Problemen abgesehen, mit fortschreitendem Alter immer menschenfeindlicher geworden sein. Aber das nur am Rande, bei Interesse hier mehr.

Am 3.9.1947 jedenfalls ein Eintrag für den Freundeskreis historische Schreibgeräte, den wollte ich Ihnen noch zeigen:

„Ratschlag an junge Schriftsteller: Nähere dich der Schreibmaschine mit Respekt und Förmlichkeit. (Sind meine Haare gekämmt? Ist der Lippenstift richtig aufgetragen? Und vor allem, sind meine Manschetten sauber und sitzen richtig? Die Schreibmaschine erspürt schnell jede Nuance von Respektlosigkeit und kann auf die gleiche Weise doppelt so stark und mühelos zurückschlagen. Die Schreibmaschine ist in erster Linie aufmerksam, feinfühlig wie du selbst und viel effizienter in ihrer Arbeit. Schließlich hat sie letzte Nacht auch besser geschlafen als du und auch ein wenig länger.“

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Es sind die kleinen Dinge, es sind die kleinen Nudeln

Das Spiegel-Cover zur Impfpflicht haben in meinen Timelines viele als Tiefpunkt empfunden, als ungeheuerliche Entgleisung, als grobe Fehlleistung. Ich sehe das ähnlich, aber mir fiel dabei noch etwas anders auf. Ich folge auf Twitter vielen Journalistinnen, ich habe für sie eine Liste angelegt (Irgendwasmitmedien, findet man in meinem Profil) und es gibt da einen Aspekt, über den ich noch einmal länger nachdenken könnte: Diese Liste informiert mich für meinen Geschmack durch die dort geteilten Links und Statements besser (und wesentlich schneller) als die Medien, für die diese Journalistinnen schreiben. Das ist das eine, aber es gibt noch eine Steigerung: Meine natürlich handverlesene Liste von Leuten aus etlichen Medien wirkt auf mich auch fast durchgehend zurechnungsfähig, verlässlich, ehrlich bemüht, sachorientiert und/oder auf eine Weise politisch bemüht, die ich transparent und oft vollkommen nachvollziehbar finde. Für die Medien, für die sie schreiben und die sie in ihrer Gesamtheit also redaktionell darstellen, gilt das nicht unbedingt.

Und ich würde etwa am Beispiel der Pandemie und im Rückblick sagen, dass es für mich nennenswert sinnvoller war, einer Reihe mir kundig vorkommender Expertinnen zum Thema zu folgen, als einer Nachrichtenseite. Ich meine das nicht als Bashing, daran habe ich kein Interesse, ich schreibe immerhin selbst für Medien und sehe die nicht als „die anderen“, ich finde diese Verschiebung einfach nur bemerkenswert und nicht zwingend erfreulich. Es gibt Medienmarken, die würde ich sehr gerne weiter mögen. Das ist aber nicht immer die leichteste Übung. In den letzten zwei Jahren war es tendenziell sogar recht anstrengend, to say the least.

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Zwischendurch, ohne jeden Zusammenhang zum vorigen Absatz und vermutlich zum wiederholten Mal, eine Newsletterempfehlung: Teresa Bücker. Zumindest was meinen Posteingang betrifft, ist es mit Abstand der interessanteste Wochentext, der per Mail kommt. Mutiges Denken, möchte ich meinen. Siehe auch Patricia dazu.

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Mittlerweile gibt es drei Familien im engeren Umfeld mit Corona-Fällen. Ich halte das eben für die Chronik fest, so sieht es hier jetzt also aus. Statistisch gesehen habe ich es vermutlich schon und weiß es nur noch nicht. Bei jedem Husten „Na, jetzt?“ denken. Oder die Herzdame in diesem Sinne fragen, die Söhne, die morgen routinemäßig wieder zur Schule gehen, bis sie das wöchentlich größer werdende Infektionsangebot dort doch noch annehmen. Ich bin mit der Gesamtsituation unzufrieden, es klingt vielleicht durch.

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Beim Brötchenholen am Sonntagmorgen singt ein Vogel erstens überhaupt und zweitens auch schon mit diesem gewissen Schmelz … Ich bleibe kurz stehen, ich höre kurz zu, ich lächele womöglich entgegen der Gewohnheit. Beim Bäcker gibt es 20% auf alle Weihnachtsartikel, auf Lebkuchenmänner im Rentenalter und schon etwas blass gewordene Kekse in Tannenbaumform mit buntem Zuckerguss. Ich finde, das reicht nicht als Rabatt, wenn doch die Vögel am Morgen schon so singen, mit diesem Schmelz. Ich finde, Weihnachten muss sofort weg, alles muss raus, und zwar dringend. 50% Nachlass müssten dort stehen, 75%, ach was, umsonst wäre noch zu viel. Wer will das jetzt noch essen, macht Platz auf der Verkaufstheke, backet dem Herrn neue Kekse. Ich bin grauenvoll unduldsam, wenn etwas durch ist. Jahreszeiten, Feste, Phasen – was weg kann, das musss weg.

Am Nachmittag merken die Herzdame und ich, dass es spürbar später dunkel wird, dieser jährliche Moment, in dem man auf die Uhr sieht und gemeinsam nickend „Ach guck!“ sagt. An einer der struppigen Hortensien in einem Straßenbegleitbeet prangt eine fette Knospe in derart leuchtendem Grün, in so unerwartet draller Üppigkeit, man sieht direkt einmal dahin, wo man sonst nie hinsieht, wenn man nicht gerade einen Hund dort kacken lässt.

Im Garten, das wissen wir, auch ohne erst nachzusehen, ist die Kornelkirsche wieder uneinholbar weit vorne.

In der Wohnung aber blühen seit gestern die Narzissen im Topf am Fenster, frisches Gelb. Die Hälfte des Januars ist geschafft.

 

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Ich lese weiter in den Tagebüchern der Patricia Highsmith. Am 3.6.1948:

„Telefonate – vor allem Ferngespräche – sind mir zuwider, auch wenn ich sie nicht selbst bezahlen muss. Distanz ist so aufregend, so geheimnisvoll und ja am Ende doch durch die Größe der Erde und die Grenzen der Luftfahrt beschränkt. Ich will nicht, dass eine menschliche Stimme sie einfach überwindet.“

Videocalls wären eher nicht so ihr Ding gewesen, könnte man meinen.

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Ich höre das Buch „Erzählende Affen“, von Samira El Ouassil und Friedemann Karig. Es geht um das Erzählen, also interessiert es mich, und weil es mich interessiert, höre ich nicht zu. Denn ich stolpere dauernd über Sätze, über die ich weiter nachdenken könnte oder müsste, und zack, habe ich schon den nächsten nicht gehört. Ich nehme an, ich höre nur ein Drittel vom Buch, den Rest denke ich durcheinander und nebenbei, um das Wort quer zu vermeiden. Mir fiel früher schon einmal auf, dass ich bei Sachbüchern schlechter zuhöre als bei erzählenden Texten, denn bei Sachbüchern will ich dauernd mitdenken, bei Erzählungen bin ich zumindest etwas passiver und dulde im Kopf, dass sich da irgendwas abspult, für das ich gerade nicht zuständig bin. Mit anderen Worten, ich kann dem Buch über Erzählungen kaum folgen, weil es keine Erzählung ist, wie meta ist das denn. Das Buch ist dennoch interessant, es ist an vielen Stellen auch mein Thema, ich denke, ich werde es auch noch in der gedruckten Version auftreiben und die Verständnislücken dann Stück für Stück auffüllen.

***

Ich koche Stifado mit Kritharaki, nach diesem Rezept. Das ist gut. Seltsam und neu, diese Lust auf Rezepte mit einer gewissen zeitlichen Erstreckung und etwas höherem Komplikationsgrad. Zwei Stunden Schmoren, das ist super, da möchte ich bitte die ganze Zeit (jetzt mit Schürze um!) zusehen, wie die Blasen im Bräter aufsteigen, das ist schön. Ab und zu rühren, nebenbei ein Hörbuch laufen lassen, das ist ein guter Nachmittag. Auch eine Pandemiefolge, nehme ich an, das hatte ich sonst nicht.

Der Herzdame schmeckt es. Die Söhne finden Stifado nicht so gut, halten aber die Kritharaki, welche sie noch nicht kannten, für viel besser als alle anderen Nudeln. Die wollen sie jetzt öfter. Auch ein Erfolg, denke ich, auch ein Erfolg. Es sind die kleinen Dinge, es sind die kleinen Nudeln. Morgen mache ich eine Suppe mit diesen Nudeln. Hoffentlich dauert sie lange.

Gerade sehe ich noch, ein Teil der Überschrift dieses Textes kommt auch hier als Schlusssatz vor, das ist doch schön. Und wie heiß es da noch: „Ansonsten passiert nicht viel hier auf dem Lande. Wir warten darauf, dass die Pandemie vorbei ist.“ Nicht nur auf dem Land, möchte man da ergänzen, nicht nur auf dem Land.

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Eine Dankespostkarte

Rückseite

Ich habe schon wieder zu danken, zum einen für die freundliche Zusendung des neuen Romans der von mir sehr geschätzten Elizabeth Strout: Oh, William! Zweifellos eine Bereicherung auf dem Nachttisch, hier noch eine Rezension dazu. Zum anderen für die ebenso freundliche Zusendung einer Schürze (schwarz, schlicht, mit dem Schriftzug einer Whiskymarke in aller Dezenz darauf), nachdem ich hier kurz einen gewissen Mangel daran erwähnt hatte. Das war prompt und überraschend, sehr fein!

Drittens kam soeben ein Posten Notizbücher, eine ganz hervorragende und große Auswahl sogar, es ist herrlich. Ganz herzlichen Dank an alle!

Vorderseite

Wie gestern notiert, ist es nicht einfach mit den Bildern im tristen Januar, aber ich arbeite hier natürlich mit allen Tricks und schnippele Ihnen daher mal eben etwas zusammen, aus zwei mach eins, und schon ergibt es hoffentlich Sinn und alles, passen Sie auf. Ich gehe morgens das übliche Brötchen für die Herzdame holen. Es ist noch früh, es ist noch dunkel, auf den Straßen und Wegen ist kaum etwas los. Im Hochparterre eines Altbaus sehe ich im zügigen Vorbeigehen einen Mann in seiner Küche sitzen, er wird etwa zwanzig Jahre älter als ich sein. Ein einfaches Bild also wieder, wie oft in diese Rubrik. Eine dunkle Straße, ein erleuchtetes Fenster. Im kleinen Ausschnitt, den ich beim schnellen Hochsehen wahrnehmen kann, sehe ich Küchenmöbel, ein paar hängende Pfannen und Töpfe, einige Kochbücher in einem Regal. Es hängt noch Weihnachtsdeko am Fensterrahmen, bunte Lichter. Der Mann sitzt und trinkt aus einem Becher, vermutlich Kaffee. Er liest ein Buch. Wir sehen nur seinen Kopf und noch etwas vom Oberkörper, das Buch, den Kaffeebecher, die Küchenwand, das ist alles. Das ist schon das obere Bild, wir teilen die Karte in zwei Hälften. In der unteren Hälfte sehen wir den exakt gleichen Ausschnitt, alles passt genau untereinander, aber es wirkt anders, denn es ist hell geworden, es ist die Mittagszeit. Der Küchenhintergrund ist jetzt aufgrund der Lichtverhältnisse schlechter zu erkennen, die Lichterkette am Fensterrahmen leuchtet nicht mehr. Der Mann aber sitzt immer noch in der Küche. Wie am Morgen sitzt er, in der einen Hand einen Becher, in der anderen Hand ein Buch.

Das ist alles. Zwischen diesen Bildern liegen etwa vier, fünf Stunden, ich habe nicht genau aufgepasst. Ich stelle mir vor, er hat da die ganze Zeit so gesessen. Er hat das Buch vielleicht fast durchgelesen. Einen Roman vielleicht, in einem Rutsch. Ich weiß genau, wann ich zuletzt mehrere Stunden am Stück gelesen habe, wann ich einen Roman an nur einem Tag komplett durchgelesen habe. Das war auf Eiderstedt, das ist eine Weile her, mehrere Monate. Nur dort gelingt mir das, immer wieder gelingt es mir dort sogar, aber im Alltag ist es mir vollkommen unmöglich. Ich stelle es mir schön vor, das zu können. Was machst du heute? Ach, ich setze mich mal in die Küche und lese ein Buch.

Das ist sehr, sehr weit weg von mir, auch wenn ich das Motiv wie fast immer um die Ecke gefunden habe. Ein Bild aus der Nachbarschaft, aber es handelt sich hier doch um eine Postkarte mit exotischem Flair.

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Öffne das Fenster, schreibe ein Lied

Man hat, so lese ich, überall Schwierigkeiten mit dem Durchhaltemodus, der doch allein in der Lage ist, uns durch Januar und Februar zu bringen, durch den entweihnachteten und also weitgehend funktionslosen Restwinter von betrüblicher Länge, der durch eine mittlerweile gut abgehangene Pandemie auch nicht gerade einfacher wird. Ich habe da kein Rezept, ich mache auch nur weiter und sonst nichts. Immer ein Tag nach dem anderen, wie sie gerade anfallen. Morgens und mittags gehe ich raus, aber ich sehe dabei kaum etwas, es fällt mir nichts mehr auf, es ändert sich hier nichts mehr, nicht einmal das Wetter, alles ist erstarrt. Die Lokale ringsum bleiben leer, die Läden werden nur schwach besucht, die Zettel mit den Regeln in den Schaufenstern kennen wir auch schon, die vielsprachigen 2G-Hinweise überall, die liest eh niemand mehr. Die Schlange vor dem einen Test-Zentrum da ist neuerdings deutlich länger geworden, okay. Eine Änderung, hurra. Aber sonst – nichts.

In einem zugekackten und zertretenen Beetstreifen in einer ungeliebten Ecke des Stadtteils, die man nach Einbruch der Dunkleheit eher nicht mehr aufsucht, zwischen zerknüllten Masken, Scherben und Kippen kommen grüne Spitzen aus der vermüllten Erde. Das werden mal Narzissen, wenn sie nicht vorher jemand zertritt, aber das dauert noch. Da mal öfter nachsehen.

Am Straßenrand auf dem Weg zum Discounter liegt – es liegt hier wirklich dauernd was am Straßenrand, ich denke mir das nicht aus – ein Intensivkurs Französisch, auf Schallplatte. Eine gut erhaltene Box ist das, drei oder vier Platten werden da sicher drin sein. Wie mühsam das gewesen sein muss, damit zu lernen, immer eine Hand am Tonarm, immer nochmal ansetzen, wenn man etwas wiederholt hören wollte. Wie mühsam und kompliziert damals überhaupt alles war, und es ist uns nicht einmal aufgefallen. Und nach all den Jahren sortiert das also jemand aus, weil er oder sie jetzt endgültig denkt: „Ach, lass mal. Kommste doch nicht mehr zu.“ Aber wie viele Jahre das noch irgendwo als Mahnmal im Regal gestanden haben muss. Oder jemand kann jetzt endlich alles, das kann auch sein.

Ich höre den Frankenstein von Shelley, als ich an den Platten vorbeigehe, aber ich breche das Hörbuch genervt ab. Zu langatmig, zu rührselig, zu unlogisch. Ich bin ungnädig, und ich weiß doch eh, wie es ausgeht. Ich höre stattdessen Eduard von Keyserling, Schwüle Tage. Das dauert nur zwei Stunden, dann wird schon nach formvollendetem Handlungsbogen an der Liebe gestorben, und wie elegant, wie stilvoll, so muss das sein. Der strenge Vater in der Erzählung verlangt von seinem etwas lax veranlagten Sohn, er solle doch bitte „Tenue haben“, da bin ich gleich wieder im Französischen: Un peu de tenue, das braucht man gerade im Januar. Ein wenig Benehmen, Ordnung, Niveau und Zug.

Ich lerne später mit einem Sohn Französisch für die Schule, ohne Schallplatten, aber mit einer App. Es geht um die Befehlsform, schließe die Tür. Ich bastele einfache Sätze aus den Vokabellisten zusammen. Wiederhole. Hör zu. Öffne das Fenster, schreibe ein Lied. Das klingt wie ein dämlicher Postkartenspruch: „Öffne das Fenster, schreibe ein Lied“, das klingt ein wenig nach der esoterischen Ecke, nach Ratgeberwellness und Lifestylekolumnen. „Öffne das Fenster, schreibe ein Lied“, sage ich zum Sohn, und der sagt es dann auf Französisch. Da klingt es gleich besser, fast geistreich. Französisch müsste man können! Vielleicht mal einen Intensivkurs machen, ich weiß, wo einer liegt.

Ich gehe am Abend noch einmal raus. Ich gehe durch den Hauptbahnhof, über die Bahnsteige, durch die Wandelhalle. Mir fällt nichts auf, es gibt nichts zu sehen. Aber draußen gewesen. Stets bemüht.

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Im Auftrag ihrer Majestät

Es kann nicht jeden Tag solche Inhalte wie bei der Fahrt zum Hafen geben, es gibt auch normale Montage der eher öden Art. In diesem Zusammenhang aber schon einmal ein Dank an die Leserinnen, die so überaus freundlich Trinkgeld für weitere Tageskarten eingeworfen haben, ich werde das selbstverständlich demnächst zweckgebunden verwenden und berichten.

Ich gehe am frühen Morgen ein Brötchen für die Herzdame kaufen. Das tue ich nicht etwa, weil die Herzdame dringend ein Brötchen brauchen würde. Ich rede ihr den Wunsch eher ein, als dass sie den selbst äußert, ich muss aber, so habe ich gemerkt, einen einigermaßen plausiblen Grund haben, um an Home-Office-Tagen morgens vor die Tür zu gehen. Die Variante, einfach „nur so“ um den Block zu gehen, die funktioniert bei mir nicht. Eventuell bin ich durch jahrzehntelange und intensiv ausgelebte Effizienzbemühungen im Beruf und anderswo doch nachhaltig beschädigt worden. Ich sage der Herzdame also, dass sie ein vor mir besorgtes Brötchen braucht, sie ist auch nicht ausdrücklich dagegen, das genügt mir.  Ich gehe vor die Tür, zweckgebunden, im Auftrag ihrer Majestät, so gehört das. Schnell und zielstrebig gehe ich, eine wichtige Aufgabe zu erfüllen, man muss sein Effizienzdenken auch austricksen können.

Am Straßenrand liegt schon wieder ein Karton mit Büchern. Alte Reclamhefte sind es diesmal, noch aus der Zeit, als sie nicht gelb waren (1970 wurde die Farbe gewechselt, die Siebziger waren eben ein buntes Jahrzehnt). Obenauf liegt der Wallenstein von Schiller, ich muss etwas überlegen, ob ich den eigentlich mal gelesen habe. Ich glaube nicht, ich habe noch schlimme Lücken bei den Dramen. Es gibt die klassischen Dramen mittlerweile auch als Hörbücher auf Spotify, die habe ich alle noch vor mir, und ich bin gespannt, ob und wie das verständlich wird, wenn nur eine Person alle Rollen liest. Ich googele im Weitergehen Wallenstein und Schiller und Zitat auf dem Handy, ich möchte den erstbesten Fund gut und nachdenkenswert zu finden. Alles als Inspiration nehmen! Ich lese: „Denn aus Gemeinem ist der Mensch gemacht, und die Gewohnheit nennt er seine Amme.“ Das ist doch einmal ein ansprechendes Zitat. Schiller! Da auch ab und zu mal reinsehen.

Danach mache ich gemeines Home-Office aus Gewohnheit.

Viel später am Tag stehe ich in der Küche und koche, es gibt Lachs nach Hausfrauenart, ich fühle mich da als Hausmann einfach mit angesprochen. Ich saue mich beim Kochen fürchterlich ein, saure Sahne an schwarzem Rollkragen. Ich denke, ich müsste eine Schürze tragen, aber ich würde mir dann immer wie in einem Sketch vorkommen, warum auch immer, ich weiß es gar nicht. Mit Schürzen kocht man so prätentiös, oder nicht? Ich gehe ins Wohnzimmer zur Herzdame, um ihr diesen bemerkenswert flachen Gedanken mitzuteilen. Die Herzdame hört gerade ein Hörbuch, es läuft in diesem Moment der Satz: „Sie legten Schürzen über ihre festlichen Gewänder.“ Und schon diese absurden Zufälle, diese wunderbaren Übereinstimmungen zwischen gehörtem Text und Wirklichkeit sind für mich ein starkes Argument für Hörbücher. Was ich mich immer über diese Treffer freue!

Wenn man Bücher auf die herkömmliche Art liest, passiert dergleichen eher nicht. Es sei denn, man fährt Zug, liest eine Passage über Dortmund, sieht zwischen zwei Absätzen aus dem Fenster und fährt da gerade durch. Aber man fährt ja gar nicht mehr Zug.

Egal. Noch ein paar Links.

Es gibt also ernsthaft Menschen, die Rollkragen nach innen klappen. Ich bin entsetzt.

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Das Ende des Pyrozäns

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Ich lese Lehrerblogs und lerne sogar aus Versehen dabei, hier etwa das „argumentum ad verecundiam“. Kannte ich nicht.

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Noch ein Lied: Nie wieder Krieg.

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Sie können hier Geld in den allerdings nur virtuell vorhandenen Hut werfen, ganz herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber ganz klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch, die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel. Merci!

Links am Abend

Vorweg ein Dank an Herzdame, die heute das Blog etwas aufgehübscht und das Theme gewechselt hat. Die eine fegt hier durch, der andere in der Küche, manchmal haben wir doch eine gelungene Aufteilung, glaube ich. Nun ein paar Links.

Ein schöner Instagram-Account zur Abwechslung, rein ins Bildungsbürgerlich-Biedermeierliche, Schreibtische genießen, besonders anziehend ist das vermutlich für Menschen wie mich, ohne a room of one’s own: Classical Study Rooms.

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Für die weitere und im Moment nur allzu verständliche wirkende Flucht ins Private: A brief compendium of the Neo-Victorians. Ich finde diese Leute sehr angenehm verrückt und ich merke gerade, ich brauche dringend einen dreiteiligen Tweed-Anzug, nur fürs Home-Office.

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Fünf Minuten zum 85. Geburtstag von Paolo Conte.

Und wenn wir schon dabei sind:

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49 Minuten über Bettina Wegner. Kennen Sie übrigens No woman no cry von ihr?

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„Meine Reporter-Kolleginnen und -Kollegen in Mannheim und anderswo dürfen nicht mehr ohne Security-Personal zu diesen Spaziergängen, und ich bin gespannt, ob es womöglich auch in der nordbadischen Provinz irgendwann so kommt, dass unsereiner nicht mehr über eine Demonstration berichten kann, ohne angeschrien, beleidigt oder geschubst zu werden. Kamera aus der Hand schlagen: andernorts auch schon sehr beliebt. Ich will das alles gar nicht glauben, und vermutlich übertreibe ich nur maßlos, dennoch habe ich ein mulmiges Gefühl, selbst hier draußen, in der vermeintlichen Idylle.“

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Über Wälzer – gefunden via Anke Gröner auf Twitter.

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Ich hatte mir schon seit Wochen vorgenommen, einmal wie die Kaltmamsell zu schreiben: „Zum Nachtmahl servierte ich …“, aber für mich klingt das Wort Nachtmahl so, als müsse das ein besonderes Gericht sein, ich hatte nie Zeit für Aufwand. Heute habe ich es endlich erledigt, zum Nachtmahl servierte ich Ochsenschwanzragout an Bandnudeln. Und es war sehr gut.

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Runter zum Fluss

Der folgende Text enthält einige musikalische Selbstverständlichkeiten der vollkommen erwartbaren Art. Ich finde das gerade richtig so, weil doch immer weniger selbstverständlich ist. 

Die Herzdame kommt von einem Termin nach Hause und sagt, sie habe eine Tageskarte. Sie hält sie mir hin. Die Herzdame sagt, ich könne damit doch mal ein wenig herumfahren. Für Content etwa, denn würde ich doch dauernd brauchen.

Wir haben schon seit Beginn der Pandemie und der Home-Office-Zeit keine Abokarten mehr. Es schien uns ratsam, überall Geld zu sparen, die Kurzarbeit, die wegbrechenden Aufträge – und Abokarten sind in Hamburg nicht gerade billig. Mittlerweile weiß ich nicht, ob ich sie jemals wieder bestellen werde. ich habe den Verdacht, es wird preislich nicht mehr hinkommen. Wenn ich viel mit dem Rad fahre, zu Fuß gehe und dazu ein paar Einzelkarten kaufe, wird es wohl auf Dauer günstiger sein, denn ich werde auch künftig viel Home-Office machen. Aber manchmal fehlt mir doch das Gefühl, jederzeit und überall in Busse und Bahnen einsteigen zu können. Ich möchte nicht zu hoch greifen, aber auf eine etwas banale Art war das damals auch ein Stück Freiheit. Und so eine gewisse urbane Selbstverständlichkeit – manchmal fehlt sie mir.

Ich nehme die Tageskarte, ich ziehe mir eine Jacke an, ich gehe zum Hauptbahnhof. Ein Ziel habe ich nicht, ich habe nicht einmal darüber nachgedacht, wo ich hinmöchte, ich war zu sehr mit dem Gedanken beschäftigt, wie wenig ich herumkomme in diesen pandemischen Zeiten, wie wenig ich sehe. Ab und zu fällt es mir auf, auch wenn es mich im Alltag kaum stört, zumindest nicht bewusst. Jetzt aber könnte ich überall hin.

An der Straßenecke vor dem Bahnhof stehen Vatermutterkind und sehen sich um. Es ist eine Dreiergrupppe, bei der ich sofort weiß und auch jeden Betrag darauf wetten würde, dass es Touristen sind. Aber woran erkenne ich das eigentlich? Es sind doch nur Vatermutterkind, die könnten hier um die Ecke wohnen, was weiß ich denn? Und doch, und doch, man sieht es. Es gibt eine gewisse Art, an Ecken herumzustehen, die haben nur Touristen. Vielleicht liegt es daran, dass sie alles so interessiert ansehen, was Einheimische längst nicht mehr wahrnehmen, die Fassaden, die Bäckereien, die U-Bahn-Eingänge. Vielleicht liegt es daran, dass sie alle drei ihre Jacken so ordentlich zugemacht haben, weil sie sich im Hotelzimmer sorgsam auf diesen Spaziergang vorbereitet und sich entsprechend dafür ausgerüstet haben, während Einheimische einfach nur kurz rausgehen – es muss etwas in dieser Art sein. Überall auf der Welt sind wir als Touristen zu erkennen, auf einen Blick. Man steht und ist fremd und jeder weiß es.

Es sind also Touristen in der Stadt, weil gerade erst die Feiertage waren, weil in Bayern noch ein weiterer Feiertag kommt, weil da und auch sonst wo in dieser Woche noch Ferien sind. Nicht übermäßig viele Touristen sind es, aber doch so viele, dass sie um den Bahnhof herum auffallen.

Es war tagelang viel zu warm in der Stadt, laues Pulloverwetter war es mitten im Winter, jetzt aber wird es wieder passend, genau jetzt, in dieser Stunde. Ein halbstarker Wind rüpelt auf einmal durch die Straßen, am Himmel rollt einiges von großem Kaliber heran und der Wetterbericht meldet alles gleichzeitig, Sturm, Regen, Graupel, Schnee, Frost. Es wird gerade dunkel, zum einen wegen der Tageszeit, zum anderen wegen der tiefdunkelgrauen Gebirgsgebilde am Himmel.

Ich steige in die S-Bahn, ich fahre runter zum Fluss, runter zum Hafen, ich denke: In Städten mit Häfen haben die Menschen noch Hoffnung. Bernd Begemann war das. Ich denke dauernd in Liedtexten und Zitaten, womöglich ist das ein Ergebnis meiner Siebzigerschlagerkindheit, es war gar nicht alles schlecht. Es gab schon Situationen, da hat sogar ein Howard-Carpendale-Refrain zum Leben gepasst. „Fremde oder Freunde, wie wird alles sein …“ Aber ich schweife ab.

Die S-Bahn ist viel voller als ich dachte. Ach guck, die machen gar nicht alle im Home-Office. Oder die arbeiten alle im Handel, in der Pflege, im Zoo, in den Schulen, das wird es sein. Die müssen alle fahren, natürlich. Home-Office ist auch ein Privileg, das besser nicht vergessen. Ich springe, Sie wissen natürlich, was jetzt kommt, an den Landungsbrücken raus, und es ist nach all den Jahren, nach ziemlich viel Leben und Geschichten und Erfahrungen immer noch ein Moment, in dem ich verlässlich denke, dass es doch ganz cool ist, in dieser Stadt zu leben. Und es ist immer noch ein gutes Lied.

Ich fahre die Rolltreppe hoch, ich gehe zum Ausgang. Ich mache, was alle machen, was soll man auch sonst machen. Ich bleibe also wie der Rest der Menge abrupt dort stehen, wo sich die Station zur Elbe hin öffnet, wo man die Lichter des Hafens schon sehen kann, den Turm der Landungsbrücken, die Fischbrötchenbuden. Ich bleibe stehen, weil es beeindruckend schüttet. Norddeutsche Hafenromantik gut und schön, aber wir wollen nicht übertreiben, denke ich, und das denken auch alle Touristen. Wir stehen und gucken so in den Regen und in den Abend. Drüben die Bauten für die Musicals, die sind beleuchtet. Spielen die eigentlich? Eine Frau tritt neben mich und fragt mich im exakt gleichen Wortlaut das, was sich gerade denke: Spielen die eigentlich? Ein Grüppchen weiter fragt ein Teenager seine Eltern: Spielen die eigentlich? Wir sind hier alle in sync. Aber keine Ahnung, was mit diesen Musicals ist. Ich passe längst nicht mehr auf, was alles gerade geht und was nicht. Ich mache doch meistens eh nichts und die Regeln ändern sich dauernd.

Der Regen wird weniger, ich gehe los, wir gehen los. Die Treppen runter, unten stehen wie immer die Ausrufer: „Hafenrundfahrt!“ Die verstehen etwas von Marketing, denn sie rufen auch das, was wirklich zählt, wenn man sich ansieht, wie sich die Touristen in den Böen und Schauern in ihre Jacken verkriechen, wie sie in den Taschen nach Mützen und Handschuhen graben: „Alle Schiffe sind beheizt!“ Es ist mittlerweile nachtdunkel geworden und eine Frau fragt in schöner Arglosigkeit einen dieser Ausrufer mit Erstaunen in der Stimme: „Jetzt fahren noch Schiffe!?“ Der Mann bejaht lachend. Die Frau fragt, wo die denn hinfahren, die Schiffe. Der Mann erklärt, dass die durch den Hafen fahren, weil nämlich: Hafenrundfahrt. Er betont das Wort dabei theatertauglich gründlich und amüsiert sich. Die Frau sagt: „Ach so, nur im Kreis herum.“ Der Mann sagt mit ausholender Geste, die den ganzen Hafen umfasst, von der Elbphilharmonie bis hin zu Blohm & Voss: „Also das ist ja nun nicht irgendein Kreis, Madame!“ Sie berät sich mit ihrer Gruppe, will man da jetzt mitfahren? So im Kreis?

„Guck mal, die Kräne“, sagt ein Vater zu seinem Kind, das nicht mehr ganz so klein ist. Er zeigt zum anderen Ufer und das Kind sagt desinteressiert: „Ja. Kräne eben.“

Ich denke: „Die gewaltigen Tiere mit metallenen Krallen,

mit Neonlicht-Augen, und die Container, die fallen

unter grandiosem Gepolter in den hungrigen Bauch

eines uralten Frachters – und sein Herz, es poltert auch.“

Gisbert zu Knyphausen war das. Es ist ein Sommerlied, aber diese Stelle ist schön und passt immer, wenn man die Kräne sieht.

Ein anderer Vater nimmt sein noch kleines Kind und tut so, als wolle er es in die Elbe werfen, das ist ein Spaß. Aber die Elbe wellt so schwarz und ist dabei so seltsam weiß und wild krakelig liniert, ein Hafenfährenmotor brüllt gerade so unangenehm nah und laut auf, das Kind findet den Spaß überhaupt nicht witzig und schreit wie am Spieß, die Mutter schimpft.

Ein Bild, das sich wiederholt: Vatermutterkind stehen und beraten. Ob sie da nun mitfahren und mit welchem Schiff und wann. Ich höre das im Vorbeigehen, es geht um die Strecken, um die Preise, die Inzidenzen, die Dauer der Fahrt, G2, wie geht das hier eigentlich, die Uhrzeit, und sie müssten ja auch mal was essen. Aber keine Hafenrundfahrt ist auch keine Option. Oder doch? Sie stehen und reden.

Ein Paar steht vor dem blau beleuchteten Schaufelraddampfer und überlegt. Mir wird bestimmt schlecht, sagt sie, da sind doch Wellen, und sie zeigt auf die Elbe, in der es gerade etwas mehr schwappt, weil ein Frachter vorbeifuhr. „Wird dir auch schlecht, über die Reling halte ich dich gerne.“ Das darf auch nicht fehlen.

Ich setze mir Kopfhörer auf und höre Vier Stunden vor Elbe 1 laut und sehe dabei elbabwärts. Das habe ich noch nie gemacht, aber das war dermaßen gut, vielleicht mache ich das bald wieder. Runter zum Fluss, runter zum Hafen, und dort die richtigen Lieder hören, die alten Lieder, die guten Lieder. Wie schön ist das Wort Schleusenbekanntschaft. Wie gut ist der Anfang des Songs, wenn man dabei im Wind steht und dahin sieht, wo nach ein wenig Fahrt die Nordsee liegt, Helgoland. Das waren noch Zeiten, als wir da einfach hingefahren sind.

Die Touristen machen dauernd Fotos, obwohl es doch längst dunkel ist. Sie fotografieren Hafenlichter, ich nehme an, dass die in den Reiseführern stehen. Ich kenne keine Reiseführer über Hamburg, aber es wird dort vielleicht empfohlen. Abends in den Hafen, die Lichter, die Lichter, sehen Sie sich die Lichter an. Und sie sind auch schön. Da vorne die Rickmer Rickmers, der alte Dreimaster. Ein blasses und sehr schmales Stück Mond hängt in der Takelage zwischen jagenden Wolkenfetzen, also wenn das kein Motiv ist? Das könnte auch ein Buchcover sein, Gespenstergeschichten der Weltmeere, ich hatte so ein Buch mal als Kind. Unheimlich war das, ganz schlimm.

Mehr Menschen bleiben stehen und fotografieren den Mond am Mast. Dann gucken sie auf ihre Handys und freuen sich, da haben sie doch etwas. Eine Frau fotografiert die Musicalbauten am anderen Ufer und hält damit ihre Gruppe auf: „Wartet mal, ich mache schnell ein Bild für die Mädels.“ Und dann schickt sie es vermutlich per Whatsapp in Mädels-Gruppen, guck mal, guck mal, ich war da. Nicht drin, aber dran. Sie freut sich über ihr Bild, auch sie hat jetzt was.

In Städten mit Häfen haben die Menschen noch Hoffnung, und sei es nur die auf ein gutes Bild, und warum auch nicht. Eine Frau steht frierend neben ihrem Mann, sie zittert sichtlich und sagt: „Glühwein, ich brauche jetzt Glühwein.“ Ein Hafenrundfahrtausrufer hört das und sagt ihr, wo sie den kriegen kann. Sie bedankt sich und sagt im Weggehen zu ihrem Mann: „Die sind alle so nett hier.“ Das hört man in Hamburg auch nicht jeden Tag.

Menschen steigen von einem Schiff, sie waren auf einer Hafenrundfahrt, es passiert wirklich. Sie sehen auf ihre Handys, ob die Bilder etwas geworden sind, sie nicken. Eine Hafenfähre nach Finkenwerder klappt rumpelnd die Gangway ein, sie fährt gleich ab. Im Saal des unteren Decks sitzen Menschen, die nicht raussehen, die sich nicht umsehen, die nicht einmal aufs Handy sehen. Die fahren nicht rund durch den Hafen, die fahren durch den Hafen nach Hause oder zur Arbeit. Am Kai stehen andere Menschen, halten ihre Handys auf die Fähre und machen Fotos von Menschen, die keine Fotos machen: „Für die ist das normal!“

„Ich verstehe noch nicht, was hier wohin fährt“, sagt eine Frau, die Abfahrtszeiten von Schiffen auf einer Tafel nachliest. „Aber ich“, sagt ihr Mann und sie rollt die Augen.

Vor dem knallroten Feuerschiff, das heute ein Restaurantschiff ist, wird auf einem Plakat in ebenso knallroter Schrift geworben: „Kostenlose Antigentests!“ Dahinter das Gebäude von Gruner & Jahr. Ein Mann zeigt darauf und fragt: „Hier, ist das nicht Dings?“ Sein Freund nickt, ja, das ist Dings.

Es regnet schon wieder, es windet, es ist kalt, es wird immer kälter. Ein großer Mann hat seine viel kleinere Frau oder Freundin unter seinen Mantel genommen, vor mir geht ein merkwürdiger Vierfüßler. Ich höre sie kichern und laut lachen, weil sie den Gleichschritt nicht sofort hinbekommen und dann bleiben sie stehen, sie taucht aus dem Mantel auf und sie küssen sich.

Ich fahre nach Hause, ich gebe der Herzdame die Tageskarte. Ich sage: „Also, wenn du wieder mal eine hast …“

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Sie können hier Geld in den allerdings nur virtuell vorhandenen Hut werfen, ganz herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber ganz klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch, die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel. Merci!