Links am Morgen

Jochen über die Bellsche Zahl und Partys.

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Sven über Fahrradstellplätze vor Schulen in Hamburg

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„Es gab „Michael Kolhaas“, ein Lehrstück über Eskalation, ich fühlte mich sehr verbunden und hatte auch gleich Lust, eine Stadt niederzubrennen, so sehr, dass ich mich gedanklich kurz an diesen Ort, den ich niederbrenne, entfernte und dadurch ein Stück der Vorstellung verpasste und folglich nicht wusste, was für einen kleinen Zettel Kolhaas verschluckt.“

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Über Spoiler

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Sie können hier Geld in den allerdings nur virtuell vorhandenen Hut werfen, ganz herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber ganz klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch, die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel. Merci!

Das Eigengrau ist ein Bild des Novembers

Ich mache Ihnen wieder Musik zum Lesen an, Moment. Das hier passt mir recht gut, wenn ich auch bei der Übertragung auf meine Situation vielleicht das body im Titel gegen soul tauschen müsste. Aber egal. Einer der nicht so bekannten Titel von Paul Simon.

Im Fernsehen kommt Wetten dass, so lese ich erstaunt, und in den Medien wird das neue Album von Abba besprochen, was ist das bitte für ein Zusammentreffen, können wir kurz einen Uhrenvergleich …. Ich hatte hier vor vielen Jahren mal eine Nachbarin, ein paar Häuser weiter wohnte sie, die war alt und dement, die war so ein Fall, bei dem sich alle fragten, wie kann die denn alleine, warum macht denn da niemand etwas. Es machte aber niemand etwas. Die hängte sich, sie wohnte im Hochparterre, oft weit aus dem Wohnzimmerfenster, manchmal nur höchst unzulänglich bekleidet, und fragte Passanten nach der Uhrzeit. Und manchmal ergänzte sie, wenn sie die Antwort hörte, ein zutiefst verzweifelt klingendes „Aber welches Jahr denn?“ Irgendwann war sie dann doch weg.

Als ich letzte Woche in Nordostwestfalen war, stand dort auf einer Kommode eine kaum verblichene Dose „Quality Street“, darin vermutlich das süße Konzentrat der gesamten 70er, ich habe die Büchse lieber nicht geöffnet. Die Zeiten gehen seltsam durcheinander, die Tore sind auf, dabei ist es doch noch etwas hin bis zu den Rauhnächten, in denen es routinemäßig und erwartbar zu gewissen Verwirbelungen kommt.

Ich mache das Internet an, das Internet ist klare Gegenwart. Youtube empfiehlt mir auf der Startseite ausschließlich Filmchen, die ich alle schon gesehen habe, das nennt sich dann Algorithmus und ist angeblich intelligent und durchdacht. Es ist aber wie ein Verweis auf das Lesen vor der Zeit der Romane, vor der Leserevolution also, als alle Welt auf einmal so fürchterlich viel las und das übrigens als ungemein schädlich galt, es wurden auch damals schon in Familien Medienzeiten diskutiert, das vergisst man gerne: „Du sollst nicht so viele Romane lesen!“ Vor dieser Kulturrevolution jedenfalls hat man das, was man im Hause hatte, Erbauliches in aller Regel, mehrfach gelesen und vorgelesen, hundertfach womöglich, tausendfach gar im Laufe des Lebens, das Lesen war intensiv, nicht extensiv. Da kannte man die Texte noch, die Reime, die Sinnsprüche, die Bibelstellen, die Breviere, die Märchen, die Fabeln. Das also spiegelt mir Youtube jetzt seltsam verzerrt wider, ich kann mir dort qua Empfehlung immer noch einmal die fünf wilden Schwäne von Hans Wader anhören, ich kann mir immer wieder diesen einen kurzen Clip über das Leben und Sterben von Adalbert Stifter ansehen. Und warum auch nicht. Zu große Auswahl ist eh ein Problem, denke ich, und gucke brav alles noch einmal, immer annehmen, was ist. Ich nehme noch einmal die Sache mit dem sanften Gesetz zur Kenntnis, das ist eine Hypothese von Stifter (aus der Vorrede zu den Bunten Steinen, glaube ich), dahingehend, dass die sachten Veränderungen, die langsamen, allmählichen, kaum sichtbaren Einflüsse, die eigentlich entscheidenden Bewegungen und Entwicklungen in der Welt sind, dass also etwa das über Jahrhunderte gebildete Wurzelwerk im Wald entscheidender für das Gesamte ist als der eine Blitzeinschlag in die hohe Fichte. Da auch mal drüber nachdenken. Oder das mal nachlesen.

Es ist Wochenende. Was mache ich? Ich bewege mich auch nur langsam und kaum sichtbar, ich verwurzele auf dem Sofa. Ich folge dem sanften Gesetz, denke ich, und wenn ich schon dabei bin, kann ich auch ein Hörbuch von Stifter anmachen, ich habe bei Stifter noch Lücken, große Lücken. Ich stehe auf und höre Stifter am Küchenfenster. Mein Blick geht auf den Spielplatz auf dem Kirchhof, das kann ich mir biedermeierlich passend zurechtdenken. Wo heute die Kinder spielen, war früher der Friedhof, wer weiß, was noch unter der Schaukel ruht, das hat auch Geschichtenpotential und in den Rauhnächten … aber ich schweife ab, es wäre dies auch eher etwas für den Gespenster-Hoffmann. Nein, ich denke mir keine Geschichten aus, ich sehe nur zu, wie draußen das Laub fällt. Jetzt auch das der Eiche, und so schnell fällt es, als wäre es auf einmal eine eilige Angelegenheit, als müsse alles weg, weg, bald, heute noch, fort damit. Gestern noch war auf dem Baum die Hälfte des Laubwerks grün, heute schon ist fast alles gelb und bald wird es gar nicht mehr sein, stattdessen wirbeln dann unten die Kinder durchs liegende Laub, und wenn die am späten Nachmittag weg sind, die emsigen Eichhörnchen. Das restliche Laub am Kirschbaum daneben zittert im Wind, und nur an diesem Baum zittert es, alle anderen Bäume stehen mit ruhigen Blättern, warum ist das nun wieder so? Eine unruhige Stelle im Bild ist dieser Baum dort mit seinem Vibratolaub. Die Blätter zittern sich von den Zweigen und erst wenn sie sinken, hören sie auf mit dieser unruhigen Bewegung, sanft erlöst kreiseln sie entspannt zu Boden und liegen dann still, endlich still. Das passt alles sehr schön zu Stifter, denke ich. Ein Nachbar gegenüber hat die erste Lichterkette an der Fensterbrüstung befestigt, es werden bald etliche folgen, das Gesetz der Tradition, willig befolgt.

Auf dem Balkon haben wir heute den Vogelimbiss wieder eröffnet. Wir bedienen dort Kohlmeisen, Spatzen und auch Rotkehlchen, und zwar, das ist neu, diese drei Arten gemeinsam. Im letzten Jahr kamen die immer getrennt, wie im streng geregelten Schichtbetrieb. Die Absprachen in Vogelreisen werden sich geändert haben. So etwas mitbekommen, die kleinen Veränderungen, das ist mir wichtig geworden.

Ich lese Stifter in der Wikipedia nach, ich lese immer alles nach, das hat sich bewährt. Man unterstellt ihm dort, dass er dahingehend modern war, der Natur so dermaßen viel Raum in seinen Texten einzuräumen, als er dabei dem Menschen und seinen Bestrebungen implizit Raum genommen hat, das sei doch quasi öko, so steht es da, also sinngemäß und nur in etwa, ich schreibe hier kein Referat. Ein interessanter Gedanke ist das jedenfalls. Ich habe nicht genug Zeit für interessante Gedanken, es ist ein Elend, es bekümmert mich.

Apropos, hier ein Artikel über das Klima in der Literatur. Vielleicht müsste man das Beschreibende generell anders denken, überlege ich, weit weg von der im Moment marktbeherrschenden Plot-Literatur, vielleicht müsste oder könnte man auch in der erzählenden Literatur vollkommen anders vorgehen. Weg von den ewigen Heldenreisen, sie haben zu nichts geführt, sie gingen nicht gut aus, wir sind nirgendwo angekommen. Die Heldenreise als Irrrweg betrachtet, das denke ich schon seit einer Weile, Heldenreisen passen nicht in eine Postwachstumsgesellschaft, zu der wir doch werden müssen, auch wenn es noch nicht alle glauben können. Ich kann das übrigens ohne jeden Ehrgeiz in der Beweisführung denken, da ich weder Literaturwissenschaftler noch Romanautor bin, ich bin also unbelastet und keine Rechenschaft schuldig, das ist auch mal schön.

Auf einer Lampe, die draußen am Dachvorsprung über dem Balkon hängt, sitzt oben ein Spatz und hängt unten eine Meise, und je nachdem, wie sehr man innerlich noch Kind ist, glaubt man womöglich, dass die beiden da Spaß haben, Schaukelspaß. Drei andere Spatzen, die für diesen Unsinn überhaupt keine Zeit haben, picken eilig am Meisenball, geschäftig und gierig wie Menschen bei der Arbeit.

Ich komme bekanntlich zu nichts, aber ich würde eigentlich gerne so weiterdenken, über das Beschreiben und das Erzählen. Mit Stifter etwa, auch mit Melville vielleicht. Zwanzig, dreißig Seiten über Walfett in einem Roman unterbringen, wie weit vorne war denn dieser Mann. Wenn Sie auch Hörbücher hören – den Anfang von Moby Dick, den könnte ich auch immer wieder hören. Er ist sensationell gut, er ist geradezu ehrfurchtgebietend.

Wir brauchen noch ein Musikstück, merke ich gerade. Nehmen wir etwas mit „weary im Titel“, immer Bezüge suchen.

Es ist Wochenende, ich habe frei. Also abzüglich des Care-Krempels und der Schulplage, versteht sich. Pardon, wenn das etwas abwertend klingt, die Pandemie und die Folgen, wir sind hier nach wie vor ein wenig durch, to say the least. Aber egal, wir üben natürlich unerschütterlich dennoch Englisch mit den beiden Schülern, oder was gerade so anfällt. I am thinking, I am learning, das passiert jetzt gerade, at this moment, right now, das ist Present Progressive. Sohn I war es, glaube ich, der im fortgeschritten genervten Zustand beim Lernen einmal auf die Form Present Aggresive kam. Zwei Jahre wird das etwa her sein. War da auch schon Pandemie? Nein, aber fast. Little did we know.

Ich lerne mit den Söhnen, ich koche Essen, es gibt Hühnersuppe, das ist Prophylaxe. Ich gehe auf mein Sofa, ich höre immer weiter Stifter, „Katzensilber“ heißt der Abschnitt. Ich kann ihm nicht folgen, ich bin mit den Gedanken gottweißwo. Ich höre alles noch einmal, es ist wie auf Youtube.

Ich drücke Start, ich schließe die Augen, ich sehe nichts mehr, keine Englischbücher, keine Küche. Das Eigengrau ist ein Bild des Novembers, das wäre vielleicht auch ein guter Titel für eine Story gewesen. Eigengrau, das Wort habe ich neulich auf Twitter gesehen, nie vorher ist es mir begegnet. Faszinierend.

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Links am Abend

Die Kaltmamsell hat mich wieder an die Blätter erinnert, die ich zwischenzeitlich völlig vergessen hatte. Was man nicht im RSS-Feed hat, das gibt es nicht. Dabei ist es manchmal sinnvoll, dort nachzulesen, etwa auch das hier zur möglichen Politik der Ampel. Gefällt mir, da mal wieder öfter reinsehen.

Frau Herzbruch macht währenddessen lustige Prognosen. Na gut, lustig ist das eher nicht.

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Giardino zeigt dagegen, wo es rausgeht. Auch wichtig. Apropos raus, hier noch einige Waldspaziergangsbilder. Da könnte man auch gleich wieder, also ich jedenfalls. Und zwar dringend.

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Wütend, visionär, verkannt: Marlen Haushofer. Audio, lang. Es sei sehr empfohlen, das ist aufschlussreich. Wenn Sie allerdings labiler Stimmung sind, hören Sie das lieber nicht, es ist doch harter Stoff.

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Und bei Arte gibt es etwas über Dostojewski, da lernt man wieder was.

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Tante Eugenie

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Hier übt der Nachbar weiter Klavier, immer noch Jingle Bells. Ich denke dabei immer wieder „A tinkling piano in the next apartment“, ich habe einen Ohrwurm dadurch, seit Tagen schon. Ist ihnen mal aufgefallen, dass der dazugehörige Song einen sehr langen Text hat?

Oder lieber instrumental? Schon auch schön. Mit Paul Desmond. Zum Reinlegen.

Und dann gibt es natürlich noch die überaus seltsame Version von Bryan Ferry. Was hält man davon? Es ist kompliziert.

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Leopard vor Laub mit Bild

Zwei Erlebnisse noch, die sich seltsam verbinden und wovon eines auch bebildert wird, ich danke bereits jetzt dem Künstler. Und zwar war ich einerseits in Hagenbecks Tierpark, wovon ich das meiste aber an anderer Stelle verwenden und berichten werde, und zweitens in einem Kletterwald. Klassische Ausflüge zur Ferienzeit. Die Herbstferien sind hier nicht lange her, man vertrieb sich die Zeit, bzw. wir Eltern eher die Zeit der Söhne.

Es ist beim Schreiben oft so, dass ich auf Muster achte, oder eher sogar so, dass ich ein Muster nicht suche, sondern schlicht sehe und darin im besten Fall dann auch schon eine Pointe erkenne, also wenn ich Glück habe (es ist tatsächlich wohl eher Glück als Verstand). Mustererkennung ist oft die Grundlage von mehr oder weniger humoristischen Einlassungen, sieht man Muster, kann man leicht kreativ sein, in welcher Form auch immer. Im besten Fall verbindet ein Muster Bezüge und Inhalte, die nicht zusammenpassen und überraschen, so die einfache Theorie. Vermutlich geht Humor auch ohne Muster, wobei ich da allerdings kein Spezialist bin. Und manchmal machen Muster auch, was sie wollen, sie erscheinen einfach, ob mir dazu nun etwas einfällt oder nicht. Sie machen sich vielleicht manchmal über mich lustig, was ihnen gewiss auch zusteht, bei all den Scherzen, die ich schon über sie oder mit ihnen gemacht habe.

Am klassischen Beispiel des Leopardenmusters, also vermutlich unerwartet wörtlich: Das sah ich im Zoo. Ein klein wenig Leopardenmuster sah ich da, denn die Raubkatze, also die Inhaberin des Musters, lag unter einem Strauch versteckt im Halbdunkel eines lichtergefleckten Käfigbodens. Sonne fiel durch Gezweig und Blätter, wobei man sehr schön erkennen konnte, wie gut ein Tarnmuster wirken kann. Denn man sah dieses Stück Leopard, es handelte sich genauer um einen Leopardenpo, überhaupt nur, weil man als Gast im Tierpark wusste, dass da irgendwo im Geäst etwas zu erwarten war. Also graste man da mit den Augen alles ab, was dort zu sehen war, jedes Stück Boden, jeden Ast – und so viele Stücke und Äste waren das auch nicht, es ist ja kein Safaripark mit reichlich Auslauf. Es war nur eine Art Käfig, es war nur etwas Geäst, darin ein Leopardenpo im Zwielicht. Davor etliche Menschen, die dahin sahen, zeigten und „Da!“ riefen. Immer wieder.

Dann der Kletterwald. Es wird gleich etwas absurd, verbleibt aber ohne Pointe, das ist manchmal so. Da habe ich, während die Söhne und die Herzdame oben gut gesichert durchs Geäst turnten, unten gesessen und Leute beobachtet. Was man eben so macht, wenn man nichts macht. Unter diesen Gästen war auch eine junge Frau in etwas, das wie ein Jumpsuit mit Leopardendruck aussah. Ich habe in den letzten zwei Wochen schon drei Exemplare von diesem Jumpsuit gesehen. Entweder es ist ein Trend oder es ist ein reichlich fortgeschrittener Zufall. Diese Frau jedenfalls kletterte auch, und kletterte dabei an dem Platz vorbei, an dem ich saß, wobei für einen Moment, ich gebe zu, es klingt seltsam, ihr mit diesem Muster bekleideter Po so aus dem Laub sah, dass es exakt dieses Bild ergab, welches ich im Tierpark gesehen habe. Leopardenpo an Laub. Was sagt einem das? Es sagt einem gar nichts. Es ist nur. Wirre Gedanken über Wahrscheinlichkeiten hat man da. Aber noch Tage später dachte ich immer wieder an diese Duplizität der Leomuster, an das etwas obskur gedoppelte Bild, und wie das wohl zu verwerten sei und ob überhaupt. Es kam aber wieder nichts dabei heraus, als nur ein weiterer Blogeintrag. So ist es manchmal, selbst bei sehr auffälligen Mustern in der Wirklichkeit.

Ich saß da auf dieser Lichtung im Kletterwald, um mich herum die hohen Bäume, in die man diese Parcourvorrichtungen aus Brettern und Seilen gebastelt hatte, in denen sich kletternde Kinder, Eltern und Leoparden von Baum zu Baum hangelten. Es war kalt, aber es war schön, es war ein ausgesprochen günstiger Tag, um etwas Wald zu sehen, noch vor der novembrigen Entlaubung.

Moment, ich mache eben Musik an. Ich saß da nämlich und hörte Lee Hazlewood, passend zum angegilbten Laub: My autum’s done come. Das können Sie hier auch anmachen, es ist ein schönes Stück, auch wenn es ohne Video verbleibt.

„Kiss all the pretty ones goodbye
Give everyone a penny that cry
You can throw all my tranquil pills away
Let my blood pressure go on its way

‚Cause my autumn’s done come“

Der Waldboden roch fantastisch intensiv und ich hatte diese etwas schmerzhafte Empfindung, dass ich so etwas zu selten rieche. Wald und Meer, beides müsste ich öfter in der Nase haben, viel öfter und für einen Moment war ich mir sicher, es falsch zu machen, vieles falsch zu machen, weil ich das nicht öfter rieche. Es ist vermutlich gut, dass mich niemand näher beobachtet hat, während ich dort saß und intensiv roch und hörte, ich nehme stark an, man sieht nicht allzu geistreich aus, wenn man sich auf diese Art Mühe mit der Wahrnehmung gibt. Aber egal. Ich saß und roch und hörte, ab und zu fiel ein Blatt von einem Baum, leicht löste sich das Laub der Linde. Es war der Herbst der besseren Art. „Dies ist ein Herbsttag, wie ich keinen roch und hörte“, so steht es nicht bei Hebbel, nein, dort heißt es etwas anders. Bleiben wir bei Lee Hazlewood:

„Bring me water short and scotch tall
A big long black cigar that ain’t all
Hang me a hammock between two big trees
Leave me alone, damned! Let me do as I please
For my autumn’s done come“

Mir wurde langsam kalt, es fehlten ein paar Grad, um längere Zeit draußen stillsitzen zu können. Ich ging etwas herum, hin und her über die Lichtung. Oben die turnenden Söhne, die Herzdame, der Leopard und andere Kletterer, an zwei Tischen weiter hinten auf der Lichtung wartende Eltern vor Keksen, Cola und Thermoskannen. Zwei, drei auf dem Boden spielende Kinder, die noch zu klein fürs Klettern waren.

Am Kassenhäuschen diskutierten welche. Was gab es da zu diskutieren? Die wollten rauchen. „Nein, hier darf man nicht rauchen, das ist ein Wald“, hieß es da. Ein Arm wies im Kreis, tatsächlich, überall Bäume. Blankes Unverständnis bei den Rauchern, das sei ja nun eher eine Lichtung als ein Wald, also genau genommen. Sie zeigten zu den Bänken und Tischen, auf denen keine Aschenbecher standen, warum standen da denn keine Aschenbecher, da hätte man doch welche hinstellen können. „Und wenn wir nur am Tisch?“ „Nein, hier darf man nicht rauchen, das ist ein Wald. Im Wald raucht man nicht, das weiß man doch.“ Aber, und sie zeigten immer wieder zu den Bänken und Tischen, um diese Tische herum, da sei doch nur so, was war denn das, Sand? Da könnte man doch? Und dann fiel die Antwort, über die ich mich immer noch freue. Es war vielleicht der beste Satz des Monats und ich bin gar nicht sicher, ob das alle nachvollziehen können, warum ich bis heute manchmal daran denke und dann leise lache: „Nein, Sie dürfen hier nicht rauchen. Das ist ein offizieller Wald.“

Vielleicht kennen Sie Gerd Brunzema von Instagram oder Twitter, er macht prima Druckgrafiken. Und gucken Sie mal, er hat eine passende Grafik gemacht, die kann man bei ihm natürlich auch erwerben. Keine bezahlte Werbung, nein. Nur eine Kneipenidee, als wir uns darüber unterhielten, wie man in Druckgrafik und Text mit Ideen und Szenen umgeht. Das kommt dann dabei heraus, wenn man doch wieder ausgeht und Menschen trifft.

Grafik fünf Bäume

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Vögel vor Messing

Da brauchen wir einen Sonnenuntergangston in der Musik, vielleicht den in der Stimme von Bedouine, für mich eine der schönsten Stimmen überhaupt. Also im Moment, versteht sich.

Ich fuhr durch Niedersachsen. Ich fuhr in die untergehende Sonne, es war anstrengend. Obwohl ich auf der Autobahn war, fuhren viele langsam, ich auch. Man sah nichts, es blendete, und wie es blendete, frontal auf den großen Scheinwerfer zu, mit 90 Stundenkilometern fuhren wir direkt in die Sonne und es dauerte, bis ich mich endlich hinter einen LKW hängen konnte, der das gleißende Licht mit seiner Plane für ein paar Minuten und Kilometer verdeckte. Dieses Licht, das kurz darauf den Ton veränderte, von greller Strahlung zu mildem Messingleuchten, während der Himmel weiter oben an einigen Stellen noch tieftürkisblau war, die Wolken davor aber schon nachtschwarz ausfederten, Tuschezeichnungen mit unfassbar mühsam ausgearbeiteten Details. Unten die Bäume neben den Äckern, teils schon kahl, scherenschnittklar vorm altgolden auslaufenden Horizont, ebenso die riesigen Windräder, präzise wie technische Zeichnungen auf jetzt dunkelblauem Karton, rotes Warngefunkel an den Stämmen. Dann mehrere Vogelgruppen, quer über den Abendhimmel, grob Richtung Süden peilend. Kraniche und Gänse meine ich erkannt zu haben, aber das heißt nicht viel, was erkenne ich schon. Zwei Dreiergruppen, dann ein Sechser, dann zwölf Vögel, wie neulich schon bei den Krähen am Kirchturm. Alle Anzahlen waren durch drei teilbar, warum das nun wieder, „stelle eine begründete Vermutung an“, würde es im Bio-Arbeitsheft des einen Sohnes heißen, mir hat die Home-School das Gehirn doch ernsthaft verbogen. Sieben Schwäne jedenfalls flogen da nicht, wenn ich schon bei Vögeln und Zahlen bin (Volkslied: fünf Schwäne, Grimm: sechs Schwäne, Bechstein: sieben Schwäne, Andersen: elf Schwäne, auch das eine merkwürdige Zählung, da mal drüber nachdenken).

Dann drei Kraniche vor der Sonne, schwarze Vögel auf Messingscheibe, wie einer dieser Dekoteller aus den Fünfzigern, die bei den Großmüttern standen oder hingen, aber mit invertierten Farben. Der Sekundenbruchteil, in dem diese drei Kraniche präzise vor dem glimmenden Rund platziert waren, wie schön war das denn.

Danach wieder Gänse, ein V bildend, ganz tief flogen sie. Die Spitze des Buchstabens zeigte Südwest und direkt neben der Sonne bildeten sie als Formel auch kleiner O, dann zerflatterte das schon wieder, formierte sich um, und man kann dann ja nicht stehenbleiben, da auf der Autobahn, auch wenn es gerade noch so hinreißend ist, was man vor sich sieht. Man kann da nicht rechts ran und sich schnell abschnallen und die Tür aufreißen, aus dem Auto springen, zum Himmel zeigen und „Sieh doch! Sieh doch!“ rufen. Aber es wäre mir schon danach gewesen und ich sagte zur Herzdame auf dem Beifahrersitz, die gerade mit einem Sohn auf der Rückbank Grammatik übte, adverbiale Bestimmungen des Ortes und der Zeit, also etwa wir fuhren abends über die Autobahn, zur Herzdame jedenfalls sagte ich, schreib mal bitte auf, Vögel vor Messing.

Und immerhin kennen wir uns lange genug, dass sie das dann nebenbei einfach macht und sich nicht weiter wundert. Vögel vor Messing, okay. Das war die Nachricht, ich habe sie gerade auf dem Handy gelesen. So war das.

Am nächsten Morgen dann, ich twitterte es bereits, Sonnenaufgang über Nordostwestfalen. Ich sehe morgens aus dem Fenster, Wind kommt gerade auf. Trockene Blätter rascheln über die Landstraße, als müssten sie eilig zu einem Termin, hastende Schrittchen, federleichtes Volk in großer Eile. Vielleicht vor dem November weg, der kommt dahinten, man sieht ihn schon, er hat Regen dabei. Ein früher Trecker fährt den Blättern langsam hinterher. Eine Katze auf einem Zaunpfahl sieht den Blättern und dem Trecker gelassen nach.

Mehrmals kam dazu der Hinweis auf Twitter, dass auf diese Art doch Bücher anfangen, Kinderbücher vor allem, mit so einem Blick auf die Straße, und dann der Wind, das kennt man doch. Aber wie es so ist, es geht hier vermutlich nicht mit dem Erscheinen magischer Zeichen oder Personen weiter, wobei ein Restrisiko natürlich immer bleibt, so vermessen und allzu nüchtern möchte ich nicht sein, und genau in diesem Moment hebt die hereingekommene und vor mir dösende Katze den Kopf und sieht mich durchdringend an, so ist es ja immer. Aller Voraussicht nach wird sie jedoch nicht zu mir sprechen, sondern nur wieder ich zu ihr, wird der Tag auch ansonsten ruhig und gewöhnlich verlaufen, wird dies also kein Kapitelanfang sein, sondern einfach nur ein Blogtext vor einem weiteren Blogtext, dem dann ein weiterer und noch einer folgt, ganz ohne Plot, Timing und Struktur. Aber andererseits – was weiß man schon.

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Links am Abend

Kleine Perlen

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Ein Hinweis für den Freundeskreis Notiz- und Tagebuch: Es gibt da was von Patricia Highsmith. Das mal vormerken.

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George Brassens und die Deutschen (Audio, 30 Min)

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Darauf ein Lied von ihm, was sonst.

Auch schön, es ist mir gerade nebenbei über den Weg gelaufen, das Album, auf dem Paco Ibáñez Brassens singt. Wenn Sie das interessiert, gesungene Dichtung auf Spanisch, da finden Sie auf Youtube auch etwas. Schöne Sachen. Wie unglaublich tragisch er klingt, ganz egal, was er singt. Würde er „Maikäfer flieg“ singen, nur als willkürliches Beispiel, es wäre ein Lied, mit dem man im November untergehen könnte. So ein Sänger ist das. Ich verstehe gar kein Spanisch, egal.

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Wenn etwas verboten ist

Alltag fressen Blog auf, es ist wirklich etwas mühsam im Moment. Einiges aus den letzten Tagen aber noch, Nebenbeinotizen sind es nur. An einem Wochenendmorgen ging ich zum Bahnhof, um Blumen und Brötchen zu holen, das klingt wie ein Lehrbuchsatz über Wörter mit B, merke ich gerade. Am Bahnhof gab es bürgerkriegsähnliche Zustände, an denen die meisten Passanten allerdings achtlos vorbeiliefen, eher desinteressierte Blicke zur Seite. Ein Bild, das schwer verständlich wäre, würde man Fußballfans und ihr Verhalten am Wochenende nicht seit Jahren kennen. Da wurden also wieder welche noch vor dem abendlichen Spiel aus der Stadt geworfen. Lautsprecherdurchsagen von Polizeiwagen: „Hiermit erteilen wir einen Verweis“. Die Aufforderung, diese Stadt zu verlassen, man denkt gleich an Western, wenn man so etwas hört, diese Stadt ist zu klein für uns beide. Viele, viele PolizistInnen, Polizeiwagen und eine auf der Straße eingekesselte Fangruppe, hupende Autos, entnervte Busfahrer, Fangejohle. Dann wurde noch gesagt, dass man die unbändige Truppe jetzt augenblicklich zu einem Zug geleiten würde, zu einem Zug nach Lübeck, von wo aus dann alle beliebig weiterreisen durften, nur eben nicht zurück nach Hamburg, das auf keinen Fall, es wurde mehrfach gesagt und betont. Zugbrücken, dachte ich, Zugbrücken waren damals doch ganz praktisch. Nach Hamburg, so wurde weiter erklärt, durften die unwillkommenen Gäste erst wieder nach 22 Uhr. Solche Präzisierungen sind verständlich, aber auch amüsant, denn um 22 Uhr wird bekanntlich nichts besser oder auch nur anders, an keinem Tag. Aber gut, Platzverweise werden stets zeitlich begrenzt, ja, ja.

Auf dem Bahnhofsvorplatz lagerten jedenfalls etliche Polizistinnen und Polizisten in voller Kampfmontur, gerüstet wie Actionfiguren vor dem letzten Gefecht. Sie saßen in Einsatzwagen, sie standen vor Einsatzwagen, sie gingen gelangweilt herum. Sie liefen zu Einsätzen, sie rauchten eine oder redeten. Sie standen grimmigen Blickes und sprungbereit zur Verfügung, sie warteten auf weitere Order. Drei standen etwa, als ich gerade dort vorbeiging, in einer Reihe, warteten da nebeneinander auf etwas, ruckelten noch einmal Teile ihrer Ausrüstung zurecht, ob auch alles da war und richtig saß. Hinter ihnen ein weißes Pavillonzelt, es gehörte zu einer Kreuzfahrtgesellschaft, die hier ihre mit dem Zug anreisenden Gäste empfing. Direkt über den Polizisten konnte man den werbenden Schriftzug in großen Buchstaben lesen: „Hier ist das Lächeln zu Hause.“

So viel zum Bild des Morgens. In den letzten Absätzen kamen Busse vor, da habe ich ein Lied, fällt mir gerade ein. The innocence mission, Karen und Don mit Green Bus. Ein leicht perlender Song, ich mag ihn sehr. Und das Lächeln der Sängerin, überhaupt die Ausstrahlung der beiden.

An einer Ampel auf dem Rückweg wartete neben mir ein Mädchen im Grundschulalter, es sagte zu einem kleineren Jungen, den sie an der Hand hielt, zum kleinen Bruder also vermutlich: „Wenn etwas verboten ist, dann musst du es einfach nicht machen. Das ist ja jetzt nicht so schwer.“ Sie zog das o in dem Wort so sehr lang und sie sah ihn auch sehr streng an, weil es doch ernsthaft nicht zu verstehen war, wie dermaßen simple Regeln der Lebensführung ignoriert werden konnten. Also wirklich.

Dann standen wir da weiter und warten. Die Ampel zeigte Rot, und bei Rot geht man nicht, das ist nämlich verboten. Dachte ich.

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Ich wurde auf Twitter mehrfach darauf hingewiesen (vielen Dank!), dass die im letzten Text erwähnte Kuh vermutlich eine Schauspielerin war (hier die notwendige Erläuterung dazu ). Das klingt vollkommen plausibel, so wird es selbstverständlich gewesen sein, die hatte da Probenbetrieb, aber ich merke auch wieder: Es ist so eine Sache mit dem Gedächtnis. Bei einer Gegenüberstellung würde ich nämlich glatt sagen: Nein, diese Kuh war es nicht. Die sah anders aus, das Kuhbild in meiner Erinnerung weicht deutlich ab. Nachdenken über Kühe im Theater, das sind so die Probleme des Spätkapitalismus, meine Güte.

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Noch vor dem Erscheinen des Menschen

In einem Kommentar zum letzten Text wurde zum wiederholten Male vorgeschlagen, das Abschlusslied doch bitte gleich voranzustellen, so dass es beim Lesen als Soundtrack laufen kann. Tatsächlich schreibe ich auch so, es ist der Soundtrack beim Tippen. Es ist einen Versuch wert, heute läuft zum Blogartikel im Hintergrund also bitte: Echoes in the wind von den Lost Brothers. Es passt schon.

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Ich gehe abends durch den Hauptbahnhof. Am Zug in eine andere deutsche Großstadt stehen zwei und küssen sich. Sie hält einen Koffer und eine Tasche mit Proviant, er hält nur sie, und wie er sie hält. Ganz eng stehen sie und küssen die Stellen, die bei vollbekleideten Herbstmenschen für Lippen irgend erreichbar ist. Zwischendurch zeigt sie immer wieder auf die offenen Türen des Zuges, sie geht auch kurz darauf zu, dann aber doch zwei Schritte zurück und ein letzter Kuss, noch einer und noch einer, und dann fährt der Zug schließlich ab, sie ist nicht drin und sie lachen und küssen, sie gehen Hand in Hand zur Rolltreppe, er nimmt ihren Koffer und wir blenden hier ab.

Ich sitze auf einer Bank am Gleis. Der nächste Zug fährt nach Wien, es ist ein dunkelblauer Nachtzug, vor dem küsst sich niemand, aber das wird nur Zufall sein. In einem Abteil für vier Personen sitzen auf den unteren Pritschen zwei Frauen, sie öffnen eine Flasche Prosecco, es schäumt, sie lachen. In kein anderes Fenster kann man bei diesem Zug hineinsehen, heruntergelassene Jalousien überall, als sei es schon mitten in der Nacht.

Ich gehe in einen Drogeriemarkt im Bahnhof. Das junge Paar vor mir kauft mehrere Packungen Kondome, diskutiert aber in der Kassenschlange leise, wer überhaupt Geld dabeihat und wer die jetzt bezahlt. Ich habe auf dem Weg zu diesem Einkauf Tschechow gehört, die Geschichte von der Dame mit dem Hündchen. „Diesmal aber liebte er wirklich“, der entscheidende Satz. Ich habe die Geschichte mittlerweile zum dritten Mal gehört, glaube ich, sie wird immer besser. Ich höre beim Spazierengehen sicher ein Fünftel der Texte nicht, weil ich mit den Gedanken woanders bin. Ich müsste alles fünfmal hören, um es wirklich zu kennen, mindestens. Es ist aber auch egal, ich muss über die Texte keine Klausuren schreiben, es geht hier nicht um Leistung.

Man kann jetzt abends wieder auf diese Winterspaziergangsart in hell erleuchtete Restaurants hineinsehen, das mag ich. Zwei volle Rotweingläser werden in einem Fensterausschnitt erhoben und stoßen in meinem Augenwinkel aneinander, das freundliche Pling denke ich mir im Vorbeigehen dazu. Kellner beugen sich mit blaugrünen Wasserflaschen über Tische und schenken jemandem nach. Ein junger Mann hilft einer älteren Dame in einen sehr roten Mantel, sie lächelt und nickt. Weiße Stoffservietten werden geknüllt und auf leere Teller geworfen. Zwei Frauen in einem asiatischen Restaurant stecken die Köpfe über zwei Suppenschüsseln zusammen, dass ihre Stirnen sich fast berühren, sie sehen Fotos auf einem Handy an. Ein Mann greift in einer fast leeren Hotellobby nach der Hand einer Frau, die unsäglich gelangweilt zum Fenster sieht, wie lange dauert das hier noch. Er senkt den Kopf über ihre Hand. Ein Kellner geht auf die beiden zu und dreht kopfschüttelnd wieder ab.

Vor einem Restaurant steht eine Raucherin ohne Jacke fröstelnd in der Kälte, zündet sich eine Zigarette an und schließt beim ersten Zug lange die Augen.

Im Blumenladen auf der Ausgehmeile gibt es rosa Pfeffer, den Stiel zu 2,50, so steht es auf einem handgeschriebenen Schild. Den geliebten oder geschätzten Menschen ruhig einmal Pfeffer mitbringen, warum auch nicht. Ich stehe vor dem Schaufenster des geschlossenen und nur schummerig beleuchteten Ladens und denke, so also sieht das Laub vom Pfeffer aus. Wieder was gelernt heute. Doch gut, wenn man mal vor die Tür geht.

An der Ampel fährt ein Auto an mir vorbei, das hat einen Anhänger hintendran, einen kleinen Viehanhänger, einen ganz kleinen. Auf dem steht eine Kuh, eine Schwarzbunte. Es ist sicher naheliegend, dass es Anhänger für einzelne Kühe oder Bullen gibt, es ist nur ein so überaus seltsamer Anblick in der Mitte der Millionenstadt, dass da jemand am Samstagabend sein Rind durchs Szeneviertel fährt. Es wird einen Grund geben, es gibt immer einen Grund, und irgendwer kann immer alles erklären. Ich sehe diesem Tier nach, wie es weitergefahren wird.

Später lerne ich noch Geschichte mit Sohn II, nächste Woche die Klassenarbeit. Es geht um den Übergang vom Paläolithikum zum Neolithikum, etwa 9000 v.Chr. war das. Erst die Altsteinzeit, dann die Jungsteinzeit, der Mensch wird sesshaft, baut Korn an und hält Tiere. Er erfindet dabei versehentlich auch die Arbeit und den Besitz, was wir übrigens bis heute ausbaden müssen, wie bitter ist das eigentlich. Elftausend Jahre meins, meins, meins, elftausend Jahre das morgendliche „Wir müssen jetzt aufstehen.“

Ich schlage das Geschichtsheft des Sohnes auf und sehe mit väterlicher Freude seinen ersten Satz. In großen schwarzen Buchstaben und fett unterstrichen steht da auf dem Deckblatt, noch vor dem Erscheinen des Menschen im Holozän: „Was bisher geschah.“

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Das Laub ist jetzt in Mecklenburg

Der letzte Text ist schon vier Tage her, wie ist das nun wieder möglich, wo sind die Stunden, die Tage. Wo sind sie gebliehieben, das war jetzt kein Schreibfehler. Sie sind verpufft, sie wurden versemmelt, sie wurden veralltagt. Auf einmal steht in der Bäckerei schon die ganze Weihnachtsdeko, komplett mit Rentier aus Stroh und Attrappengeschenkkartons in rotem Glanzpapier, auf einmal gibt es dort wieder Baumkuchen. Schulkinder werden, es ist früh am Morgen, hereingeweht und bestellen Rosinenbrötchen. Es stürmt, es regnet, irgendwo gibt es auch Eisregen, höre ich später im Radio. Eisregen klingt nach Winter. Irgendwo wütet ein Tornado, irgendwo gibt es keinen Zugverkehr mehr.

Zwischendurch melde ich mich einen Tag krank, weil jede Zelle meines Körpers nach Ruhe verlangt. Ich lege mich hin und höre so enorme Mengen Golo Mann am Stück, dass ich hinterher fließend in seinem Satzbau reden kann, es sind sehr schöne erweiterte Infinitive dabei. Ich höre mir den Untergang der Weimarer Republik an. Papen, Schleicher, Brüning, erhebend ist das nicht gerade, also bleibe ich einfach liegen, dann geht es. Sollten Sie die Geschichte Deutschlands von Golo Mann einmal lesen oder hören, achten Sie doch bitte darauf, wie elegant er es vermeidet, einen gewissen rechtsextremen Diktator beim Namen zu nennen. Und mit welcher Sachlichkeit er über seinen schreibenden Vater und seinen schreibenden Onkel schreibt, mit welch nüchterner Einschätzung. Golo Mann war ein durch und durch Konservativer, aber noch einer von der Art, die man aushalten konnte. Die gibt es ja heute kaum noch. Beim Hören aber immer wieder die Frage, ob Geschichtsbücher nicht noch mehr Spaß machen würden, wenn die Schulbildung nicht fast alles gespoilert hätte? Okay. Kleiner Scherz.

Dann sitze ich doch wieder im Home-Office. Die Heizung ist kaputt, ich trinke heißen Tee und trage Pullover, ich sage siehste, es geht auch ohne und so spart man Geld. Die Söhne fragen, ob die Heizung denn repariert wird. Eine gute Generation, denke ich, sie stellen die richtigen Fragen. Ich schreibe mit kalten Fingern am Notebook, es werden keine Texte aus den angefangenen Sätzen, alles bricht ab. Am Haus gegenüber wird ein Gerüst aufgebaut, ein riesiges Gerüst, denn es ist ein großes, hohes und altes Haus mit einem malerischen Hansestadtgiebel ganz oben, historisierende Gründerzeit. Bis über diesen Giebel hinaus ragt das Gerüst jetzt, noch über mein Dachfenster, wo doch sonst nur Himmel ist, krähen- und möwendurchflogen. Die Gerüstbauer fügen die Teile in routinierter Geschwindigkeit zusammen, ein großer Metallbaukasten wird da bespielt. So müsste man schreiben können, denke ich. Einen Satz fest und verlässlich in den anderen verschrauben, bei jedem Wetter, in jeder Stimmung, hier bitte, das Gerüst, da steht es. Der schon recht alte Chef der Gerüstbaufirma steht unten, guckt hoch und nickt knurrend, die Daumen in den Gürtel gehakt: Okay, Feierabend.

Der Sturm rüttelt später wild an diesem Gerüst, das man ihm da einfach in den Weg gestellt hat, und wenn das jetzt fällt, denke ich beim Tippen, dann kracht es mir in mein Dachfenster und auf meinen Schreibtisch, und dann war es das hier aber, memento mori. Ein natürlicher Tod wäre das und so schlecht nicht für einen überzeugten Norddeutschen, bitte, da hast du deinen verdammten Wind.

Ich mache das Dachfenster auf und sehe raus. Der Himmel ist in rasender Bewegung, Wolken in Fetzen, die Luft lärmt tief grollend, unten von der Alster her kommt die Kaltfront direkt auf mich zu. Lass den Sturm ins Herz hinein, und versuche gut zu sein, Wolfgang Borchert war das. Vielleicht hat er es sogar hier in der Nähe geschrieben, ich weiß es nicht. Und an der Elbe, lese ich, steigt die Flut, Katwarn-Meldungen auf dem Smartphone. Das ist alles gut und schön, es ist später Oktober mit einer Ahnung von November, das darf und das soll auch so.

Ein Sohn hastet durch den quertreibenden Regen zu seinen Sozialstunden, er gibt Essen an Bedürftige aus. Die stehen Schlange vor der Tür, die drücken sich in Hauseingänge und an Fassaden und werden nass, sehr gründlich werden die nass. Der Sohn sagt, es waren wieder viele heute.

Die Herzdame und ich gehen zu den LEGs in die Schule der Söhne, Lernstandentwicklungsgespräche, heißt es, glaube ich. Die wievielten das wohl sind? Ich rechne kurz nach, bin mir dann aber nicht sicher, ich komme durcheinander und überhaupt, man muss auch nicht alles zählen. Das habe ich schon am Morgen gedacht, als um den Kirchturm zwölf Krähen flogen. Bin ich Graf Zahl oder was. Ich gehe in der Schule auf die Toilette, an der Wand steht: „Wer das liest, ist doof.“ Die Generation ist okay, originell ist sie nicht.

Der Sturm fordert Laub, der Sturm bekommt Laub, große Mengen davon, die reißt er fort, die rafft er zusammen, die nimmt er plündernd mit, die sind jetzt in Mecklenburg. Was auch immer die da mit unserem Laub machen. In einem Innenhof hier stehen vier junge Bäume schlagartig kahl und sehen dermaßen verschreckt und verprügelt aus, sie werden vermutlich bis Mai brauchen, um sich davon zu erholen.

Ich gehe auf den Wochenmarkt. Am Käsestand sagt der Mann: „Sie müssen nichts sagen, ich weiß doch, was Sie wollen.“ Wenigstens ein Mensch, denke ich, wenigstens einer. Ich bin nicht gänzlich unverstanden.

Im Park spielt ein junges Mädchen mit einem ebensolchen Hund, und das Fell des Hundes hat den gleichen Farbton wie die Übergangsjacke des Mädchens und wie auch das Laub, welches sie herumtollend in der auf einmal durchblitzenden Sonne aufwirbeln. Es ist ein idyllisches Fernsehwerbungsbild, an dem ich da lustlos vorbeigehe, es ist ein ach so schönes Herbstreklameplakat, und ich höre im Geiste die Sanostolmelodie von damals und gehe extra durch tiefe Pfützen. Wenn der Autor häufig lustlos ist, sagt eine Stimme in meinem Kopf. Ich habe damals schon gedacht, warum soll man denn bitte nicht lustlos durch Pfützen schlurfen dürfen, wenn einem doch danach ist? Ich habe damals nicht vieles richtig gedacht, glaube ich, aber das dann doch: Man hat ein Recht auf seine Lustlosigkeit. Kinder gegen Sanostol, die Bewegung gab es nicht, ich hätte sie gründen sollen. Hätte, hätte, Fahrradkette.

Noch ein trauriges Lied, dann ist Wochenende. Habe ich es geschafft, ganz frei zu haben? Nein, das habe ich nicht. Aber ich werde einfach so tun, als würde ich nur aus Spaß schreiben und wissen Sie was, ich werde es mir glauben.

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Seegetier von heikler Beschaffenheit im Herbst

Hier und da sind einige Äste an früh kapitulierenden Bäumen fast schon entblättert (es sind vor allem einige Linden, die da voreilig schwächeln, jetzt wohnt der Wind in den Zweigen, heißt es bei der Kaléko), im Wetterbericht für die nächsten Tage steht aber noch etwas von üppigen 20 Grad und der Nachbar übt seit Stunden Jingle Bells am Klavier, wobei er allerdings immer nur bis „all the way“ kommt, das erlösende „Oh what fun“ bleibt hartnäckig aus, fast möchte ich es ihm durch die Wand laut vorsingen. Egal, im Mittelwert ist dieses Gemisch dann also der 18. Oktober.

Die Außengastronomie lebt am Abend noch einmal auf, lautes Gemurmel an den Straßen und auf den Plätzen, Gläserklingen, Besteckgeklimper, gerufene Bestellungen, Sommergeräusche. Es wird nicht überall so sein, glaube ich, aber hier endet die Außengastronomie Ende des Monats, danach sollen die AnwohnerInnen Ruhe haben, bis März oder so, es gibt dann nur noch vereinzelte Glühweinstände. Auch deswegen wird jetzt jeder Abend bis zur letzten Minute genutzt, das Ende ist nah.

In den Hauseingängen sitzen hier und da Menschen, die sind nicht obdachlos und verzweifelt und verfroren, die sind nur jung und entspannt, die vercornern da den Abend.

Ich drehe die Abendrunde durch den Hauptbahnhof und über die Szenemeile, ich sehe nach allem, ich warte auf das Bild des Tages und warten Sie mal, ich habe da neulich was gefunden, fällt mir gerade ein, ich suche das mal raus.

Und zwar bei Jenny Odell, in ihrem Buch „Nichts tun“, Deutsch von Annabell Zettel. Das Buch habe ich bereits auf Englisch gelesen und etwas merkwürdig wenig verstanden, das ging mir sprachlich irgendwie quer, ich fand es sperrig und hölzern – aber inhaltlich war es doch interessant, ein gutes Thema ist das, ein sehr gutes sogar. Ich lese es jetzt auf Deutsch noch einmal, finde es ähnlich sperrig, verstehe aber deutlich mehr. Und die Odell jedenfalls zitiert dort, meine, Güte, was für ein langer Anlauf, John Steinbeck, und zwar einen Absatz aus der Einleitung der „Straße der Ölsardinen“:

„Es gibt Seegetier von so heikler Beschaffenheit, dass es einem unter den Händen zerbricht oder zerrinnt, wenn man es fangen will. Man muss ihm Zeit lassen, bis es von selbst auf eine Klinge kriecht, die man ihm hinschiebt, und es dann behutsam aufheben und in einen Behälter mit Meerwasser gleiten lassen. Auf ähnliche Art muss ich wohl dieses Buch schreiben: die Blätter hinlegen und es den Geschöpfen der Cannery Row überlassen, wann und wo sie darüber hinkriechen und sich darauf tummeln wollen.“

Da bekomme ich erstens sofort Lust, die Straße der Ölsardinen wieder einmal zu lesen, sie steht hier sogar im Regal und in Griffweite, da bin ich zweitens aber hell entzückt und geradezu hingerissen von diesem Bild des Schreibens. So abends um den Block gehen und sehen, was einem ins Bild gerät, was einem auf die Notizbuchseite gerät. Jenny Odell verwendet den etwas pompösen Begriff Beobachtungs-Eros.

Pardon, wo war ich? Ich drehe die Abendrunde durch den Hauptbahnhof und über die Szenemeile, ich sehe nach allem, ich warte auf das Bild des Tages und ich sehe es erst kurz vor meiner Haustür, nachdem ich schon die ganze lange Parade der Außengastro freundlich nickend und winkend abgenommen und alle Schaufenster gesichtet habe. Da steht eine junge Frau in einem nach französischem Film aussehenden Mantel vor dem Fenster einer Kneipe und spricht eine lange Nachricht in ihr Handy. Dann tippt sie auf den Bildschirm, vermutlich auf Senden, sieht kurz zum Himmel, lächelt, drückt das Handy an ihr Herz und sieht sehr, sehr glücklich und hoffnungsvoll aus. Ja, denke ich, so ein Abend, so eine Luft noch einmal.

Ansonsten war Schulanfang in Hamburg. Ein Sohn meldete sich am Morgen nach etwa 5 Minuten Unterricht krank und kam wieder nach Hause, that escalated quickly. Nur leichte Kost gab es heute für ihn, etwas Täubchen, etwas Franzbrot. Ach nein, das war die andere Familie mit Budden- vorne.

Noch ein trauriges Lied? Bitte sehr.

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