Ein Link am Nachmittag

Gesehen: Meine Mutter, der Krieg und ich. „Und so hab ich mir auch eingebildet gehabt, dass meine Tamara wird Schönheit.“ Das habe ich sehr gemocht, sowohl den Tonfall als auch die Kameraführung und den Schnitt, schön ruhig war das alles. Also, das habe ich ausgesprochen gerne gesehen. Aber es ist andererseits auch ungeheuer vorhersehbar, was, verstehen Sie mich bitte nicht falsch, gar kein Nachteil sein muss, wirklich nicht. Es ist so vorhersehbar, dass es sich bei einigen Szenen fast wie ein Déjà-Vu anfühlt, etwa wenn sie den alten Herrn besuchen und er so durch sein Wohnzimmer tapert, unbeholfenen Schrittes, wie er erst allmählich vor den Gästen auftaut, dann doch einmal zaghaft lächelt – oder wie sie da mit dem Kamerateam vor den Häusern stehen und nicht recht wissen, kommen sie da rein, kommen sie da nicht rein, ist es das Haus links, ist es vielleicht doch das Haus rechts, wie sie dann in der Szene darauf nach einem Schnitt schon bei Tee oder Kaffee sitzen, wie der alte, der uralte Mensch unsicher in vergilbten Fotos wühlt, zitternde Finger, Schwarzweißdamalsfiguren, Fragezeichen an den Erinnerungen … wie gesagt, ich mag das und ich kenne das gut auch aus manchen anderen Filmen, etwa über Besuche in Ostpreußen oder Siebenbürgen, über ähnliche Versuchsanordnungen im Baltikum, und es gab auch einmal so etwas mit Sibirien, es gab vieles in dieser Art. Ich sehe gar nicht oft Dokus, aber offensichtlich zieht mich das Thema an, das kann ich wohl ableiten, dieser seltsame Schmerz, dass etwas war und nicht mehr ist.

Wäre ich Filmemacher, ich würde es einmal umdrehen. Ich würde die suchende Hauptfigur in die Fremde fahren lassen, in die völlige Fremde, in eine Gegend, in der sie gewiss noch nie war, in der auch ihre sämtlichen Vorfahren sicher nicht waren, also so sicher, wie man eben nur sein kann, zu der sie also nicht den allergeringsten Bezug hat – aber alles würde so ablaufen wie bei den Herkunftsbesuchsfilmen. Das Bedeutungsschwere auf das Fremde verlagern, nicht auf das Erinnerbare. Vage Landschaftsbilder, und aus dem Begleittext geht dann immer wieder hervor, dass es keine Verbindung gibt, nicht die Geringste. Ein Gang über den Friedhof bei der Kirche, Grabsteine werden freigekratzt vom Moos der Jahrhunderte, Namen werden murmelnd vorgelesen, und keinen hat die Hauptfigur je im Leben gehört, keinen einzigen, wie fremd die alle klingen, wie seltsam. Dann natürlich die obligatorische Hausszene, sie stehen vor dieser etwas arm wirkenden Hütte, sie klopfen, sie erhalten nach etwas Hin und Her Einlass von einem Menschen, und so alt, so uralt ist der, da sieht man schon, noch einmal besuchen sie den sicher nicht, den gibt es bald nicht mehr. Schnitt.

Sie sitzen an dem obligatorischen Küchentisch mit der Wachstuchtischdecke, benutztes Geschirr ist in der Spüle aufgestapelt, die Unordnung im Rest der Wohnung ahnt man, der Schmuddel der Greisenwohnung, die Ablagerungen der vielen Jahre. Familienbilder werden aus einem großen Schrank geholt, langsam werden sie ausgebreitet und die Muhme sagt lächelnd: „Da bist du nirgendwo drauf.“ Die Hauptfigur erwidert nachdenklich, in dem sie auf ein Gruppenbild zeigt: „Nein. Und ich bin mit keinem von denen verwandt. Auch nicht mit dem, trotz der Ähnlichkeit.“

Sie nimmt ein anderes Bild in die Hand, sieht es genauer an und sagt dann, während sie das Foto zurücklegt: „Und mit denen auch nicht.“ Kopfschütteln bei beiden. Das nachdenkliche Nicken der Hauptfigur dabei, er oder sie sieht die Gesichter auf den vergilbten Fotos an, die ihm alle nichts sagen, gar nichts, das aber deutlich und mit einigem Nachdruck, alles ist fremd, so dermaßen fremd. Schnitt.

Es wird jemand kennengelernt, der Pastor des Ortes vielleicht, natürlich wie zufällig, im Vorbeigehen, an einem Gartenzaun etwa, er schneidet gerade Rosen oder erntet Radieschen, er grüßt freundlich. Er ist Hobbyhistoriker, natürlich ist er das, er weiß auch, wo im Kirchenbüro die alten Chroniken liegen, kaum noch sind sie zu entziffern. Er erzählt dem Filmteam also – Küchentisch, Kaffee oder Tee – von dem Ort und von den Geschichten, er erzählt von all den Familien, die zu den Geschichten und Familien der Hauptfigur keinen Bezug haben, die weit, weit weg von ihm sind und dazwischen immer wieder die Landschaft, die Wege. Als leerer Möglichkeitsraum wird das alles filmisch nur angedeutet, Ortsschilder und Feldwege im Ungefähren. Alles könnte da sein, das ahnt man, denn es gibt keine erinnerbare Bedeutung, es gibt nur Möglichkeiten, und zöge die Hauptfigur dort morgen hin, sie könnte vollkommen neu anfangen. Mit allem. Das wird nicht gesagt, aber man weiß es doch. Eine Erwähnung wie nebenbei vor einem Haus, es ist nur eine Sekundenszene, leicht bekommt man sie nicht mit. Das Haus da kann man mieten, das ist gar nicht teuer, ein Schild im Fenster, eine Bemerkung, „So wenig, wirklich?“, dann ist der Moment schon vorbei und die Hauptfigur, versteht sich, sieht einmal über die Schulter zurück zu dem Haus, das nachdenkliche Gesicht.

Die Hauptfigur geht dann noch weiter und etwas ziellos wirkend durch die Gegend und denkt im laut geführten Selbstgespräch über das Fremdsein nach, gute Gedanken hat sie, man möchte sie fast mitschreiben, so gut sind sie, sie scheinen uns alle zu betreffen und auf eine subtile Art wichtig auch für unser Leben zu sein. Der Pastor begleitet die sprechende Figur auf einmal, zuerst nur ab und zu, dann dauerhaft. Man versteht sich gut, man redet viel, man kommt sich näher, der Pastor ist aber auch ein Sympath der besonderen Art, das wird immer deutlicher, und das merken wir auch als Zuschauer.

Bei der Abreise wird schließlich und erwartbar deutlich, dass es zum Pastor nun eine fast freundschaftliche Beziehung gibt, das fiel in den letzten zwanzig Minuten so nach und nach erst auf, und dass also das Fremdsein an diesem Ort damit für immer verloren ist, dass es unrettbar von diesem Dorf und seinen Menschen losgelöst wurde, dass kein Zurück dorthin mehr möglich ist.

Bedauernde Blicke im Rückspiegel, als das Filmteam abreist: „Da kenne ich jetzt jemanden.“ Schlussgedanken über die ernüchternde Unmöglichkeit des Fremdseins in dieser Welt, übe diesen seltsamen Schmerz, dass wieder etwas vertraut geworden ist. Abspann.

So ein Film würde mir auch gefallen, glaube ich.

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Eine Dankespostkarte

Rückseite

Ich habe – wiederum dezent verspätet, pardon! – herzlich zu danken für die überaus freundliche Zusendung von Gründüngung fürs Kartoffelbeet, die hat im Garten tatsächlich gefehlt und wird auch Bienen Spaß machen. Es gab außerdem das Kartenspiel Elfer raus, wobei es eine kleine und irritierende Merkwürdigkeit gibt, vielleicht kann das mal jemand aus meiner Generation kommentieren, ich erinnere mich nämlich deutlich an ganz ähnliche Spielkarten aus meiner Kindheit, aber nicht einmal ansatzweise an das Spiel an sich. Gab es da denn etwas anderes, das auch so aussah? Ich denke schon seit Tagen darüber nach. Und es gab schließlich noch die Briefe von Flaubert, ein schöner Band mit dem anziehenden Titel „Ich schreibe gerade eine kleine Albernheit.“

Vorderseite

Eine ausgesprochen bildarme Woche war das, ich erwähnte es bereits. Der Bildschirm des Home-Office-Computers, der Bildschirm des Privatnotebooks, der Blick aus dem Dachfenster auf dauergrauen Himmel, zwischendurch nur kurz die gleichen Läden wie immer, die Küche, der Wäschekeller, der Staubsauger, die Französischvokabeln von Sohn II, der Satz des Pythagoras bei Sohn I, Schulbuchseiten, was nehme ich da bloß?

Ich zeige Ihnen am besten eine kurze, eine sehr kurze Bewegtbildsequenz, eine kleine Drehung des Autors ist es, eine halbe sogar nur, wenn man es genau nimmt. Sie müssen entschuldigen, es gab sonst einfach nichts zu sehen und Sie stellen sich bitte einmal vor, wie ich im Discounter stehe, vor dem Regal mit den Keksen. Kekse, die ich nicht unbedingt für mich kaufe, eher für die Söhne, aber egal, es liegen daneben auch die Schokorosinen, für die ich eine etwas unselige Schwäche habe und die bei mir zu einer staunenswerten Unbeherrschtheit führen. Die Sequenz fängt also mit diesem kurzen Moment an, in dem ich dort stehe, eine Hand im Regal. Ich greife gerade nach dem wie auch immer heißenden Prinzenrollenverschnitt der Discounterkette, so etwas eignet sich gut für Autofahrten. Es steht keine Autofahrt an, weit und breit nicht, aber so etwas denkt man dann dennoch, also ich jedenfalls, immer auch Vorräte kaufen, der Mensch als Hamster und Versorger. Mein Handy klingelt in dieser Sekunde. Es ist ein Arzt und es wird, ich ahne das, um gewisse Werte gehen. Das ist etwas ärgerlich, weil ich erstens eh nicht gerne telefoniere, zweitens schon gar nicht gerne mit Maske und drittens ganz sicher nicht im Discounter, zwischen etlichen anderen Menschen.

Aber was soll ich machen, wenn ich das Gespräch jetzt wegdrücke, dann erreiche ich die Praxis oder den Arzt vielleicht wieder tagelang nicht oder es passt dann sogar noch schlechter, was weiß ich, also gehe ich doch lieber ran. Ich versuche, möglichst leise zu sprechen, was natürlich kaum gelingt, da dann niemand etwas versteht, mit dieser FFP2-Maske vor dem Mund und mit all den Umgebungsgeräuschen. Ich nuschele Existenzbestätigendes, ja, ich bin es wirklich, ich verifiziere mich durch meinen Geburtstag, die Umstehenden gucken prüfend, ob ich tatsächlich so alt aussehe, wie ich wohl bin. Ich frage „Was?“ und der Arzt fragt das auch, denn wir verstehen beide wenig oder nichts. Er sagt „Ernährung“, er sagt auch „Fett und Kohlenhydrate“, so viel verstehe ich, und ich lege die Kekspackung schuldbewusst zurück, drehe mich nahezu elegant um und stehe, dieser Discounter ist etwas seltsam angeordnet, jetzt direkt vor Gurken, Tomaten, Salat und Paprika. Ich greife nach einem Eisbergsalat und halte ihn in der Hand, so wie gewisse Schauspieler etwas ganz anderes bei einem gewissen Shakespeare-Monolog in der Hand halten. Ich sage ja, das könne ich selbstverständlich umstellen, sicher könne ich das, das sei hier keine Frage. Und ja, wir gucken dann gerne noch einmal in drei Monaten, wir machen dann wieder einen Termin, sicher doch.

Es war nur eine schnelle halbe Drehung. Man bekommt sie oft nicht recht mit, die Schlenker, die Manöver, die Kurven, die Tricks, die Selbstüberlistungen und die Schubse der anderen, die kleinen Bewegungen – aber manchmal eben doch.

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Links am Abend

Die Woche war, wie auch die letzte schon, ungewöhnlich anstrengend. In der Regel finde ich es gut, mehrere Berufe zu haben, wenn aber beide exakt gleichzeitig kompliziert werden und auch noch im Privaten ungewöhnlich viel Konzentration verlangt ist, wird es doch schwierig und ich habe jetzt Muskelkater im Hirn. Normale Texte hier wieder ab Morgen, so in etwa jedenfalls, bloß nicht zu viel versprechen. Eine Dankespostkarte fehlt, die mal zuerst schreiben. Bis dahin gibt es noch ein paar Links.

„Ein Nachteil der dekadenlangen Pandemie ist nämlich, dass man ja nicht mehr krank wird. Also so viral oder bakteriell bedingt. Innen ist in Monat 24 alles kaputt. Aber außen fühle ich mich fast jungfräulich.“

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Was mich davor bewahrt, eine Neurotikerin von Woody-Allen’schen Ausmaßen zu werden, ist meine gleichzeitig sehr starke Impulsivität. Die allerdings unterm Strich dazu führt, dass die vielen Stimmen impulsive Entscheidungen und Handlungen in Nachhinein umherwälzen und durchleuchten, Resultat ist meist Peinlichkeit und Scham. Vielleicht habe ich damit erklärt, warum ich so ungern existiere, warum es bis zum Lebensüberdruss anstrengend ist, ich zu sein?“

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Kondomkauf in Georgien. (Audio, 9 Minuten, gefunden via Frau Nora auf Twitter.

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Wut auf Häuserwänden – feministische Botschaften in französischen Städten.

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Von dem gerade verstorbenen Dieter Mann (hier ein Nachruf) gibt es übrigens eine hervorragende Aufnahme des Romans Professor Unrat von Heinrich Mann, die habe ich im letzten Jahr mit großer Begeisterung gehört und mache es sicher auch noch einmal.

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Etwas Nachdenken über Dislike-Buttons.

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Das kleine Bahnhofsviertel im Fernsehen, der NDR berichtet über ein Haus, an dem ich jeden Tag vorbeigehe. Sohn I hat gerade Gentrification in der Schule, sie arbeiten da mit Beispielen aus New York. Sie könnten auch um den Block gehen.

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Ein gewisser Miles Davis soll es Boris Vian gesteckt haben: dass es da eine Frau gab, eine Deutsche, die es fertigbrachte, gar keine und gleichzeitig eine ganz große Stimme zu haben.Fünf Minuten (Audio) zum zwanzigsten Todestag der Knef.

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Ich habe seit ein paar Tagen ein höchst ungewöhnliches Gefühl, ich habe Lust auf Live-Musik. Was man nach zwei Jahren Pandemie alles empfindet, es ist unergründlich und abgründig. Aber jedenfalls so vor Leuten stehen, die auf der Bühne Spaß haben – im Moment stelle ich es mir schön vor. Die Frau Holofernes brachte mich drauf, sie hatte das hier irgendwo verlinkt.

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Jake Xerxes Fussell kennen Sie vielleicht, wenn Sie ab und zu Folk hören? Hier ein Stück über sein neues Album „Good and green again“, Audio 11 Minuten.

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Genug Musik, nur ein Stück noch, ich sitze im Home-Office und höre mich in fast manischer Manier und Gründlichkeit durch die Geschichte des Blues, die Gattung ist pandemisch auch nicht ganz unpassend. Aber das geht Sie selbstverständlich gar nichts an, denn it ain’t nonody’s businesss if I do.

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Kurz noch zur Küche. Es gab gebratene Nudeln Sweet-Chili-Style, etwa so, ergänzt um Pak-Choi, Salat und eine Handvoll Röstzwiebeln. Das habe ich von einem Asiarestaurant hier um die Ecke gelernt, was alles besser schmeckt, wenn man etwas frischen Salat und ein paar Röstzwiebeln drüberstreut. That was easy! Drei von vier in dieser Familie fanden es sehr gut, die Quote ist für mich okay. Was gab es noch? Ich schreib Ihnen das ab und zu mal auf, manche mögen ja solche Anregungen: Diesen Bauerntopf mit Paprika und Hack, auf den die Söhne ab und zu bestehen, weil sie ihn so gerne mögen.

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Links am Abend

Manchmal wundere ich mich ein bisschen, dass wir alle noch morgens aufstehen, uns anziehen, und Büro spielen. Es ist das oder durchdrehen, wahrscheinlich.

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Das Wort „Durchseuchung“ ist ekelhaft, aber gut, wir machen jetzt mit.

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Über die Autobiographie von Heinz Rudolf Kunze: „Junge, das klang wie da­mals, als wir angegriffen haben.“

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Ofenlachs mit Spinat gegessen, etwa so. Die Pinienkerne waren gewissen Familienmitgliedern verdächtig, sonst kam es gut an. Wieder gedacht: Spinat ist überhaupt sehr gut. Völlig unterschätztes Gemüse.

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Zum Anglizismus des Jahres:

Das Verb boostern füllt also eine Lücke im deutschen Wortschatz und ermöglicht so eine knappe und präzise Ausdrucksweise, und es fügt sich nahtlos ins grammatische System des Deutschen ein. Wie die Impfung selbst ist es damit eine echte Bereicherung.

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Johannes Franzen über Spotify, Neil Young und rechte Podcasts:

Macht wird erzeugt durch Sichtbarkeit, durch die Akkumulation von Aufmerksamkeit als Ressource: Follower, Klicks, Zuschauer, Abonennt*innen etc. bilden soziales Kapital als Massenwährung, die nicht mehr darauf beruht, wen man kennt, sondern wie viele. Und Joe Rogan hat mit seinem DIY Podcast eine ungeheure Menge davon zusammengeschleppt. Die Sendung hat angeblich 11 Millionen Hörer pro Folge und gesendet wird mehrmals die Woche. Damit ist er, wie es in einem Porträt der New York Times hieß, “eines der am meisten konsumierten Medienprodukte der Welt – mit der Macht, Geschmäcker, Politik und medizinische Entscheidungen zu beeinflussen.

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Eine ausgestoßene Figur ohne Hoffnung

Ich höre Kafka, Das Schloss, gelesen von Sven Regener. Ich denke viel über den Text nach, zum einen, weil er dazu ungemein einlädt, zum anderen, weil ich mich dauernd frage, was nun genau die besonders markante Stimme von Sven Regener dabei ausmacht. Ich höre das Hörbuch, als ich aus dem Haus gehe, als ich die Straße entlang gehe, als ich beim Theater vorbeigehe. Es läuft eine Leuchtschrift über der Tür dort, die zeigt an, was demnächst in diesem Theater kommt. Es kommt „Das Schloss“, von Franz Kafka. Ich finde das ein klein wenig unheimlich. Ich gehe durch die Stadt, ich höre weiter diesen Romanentwurf. Es geht gerade um die beiden Gehilfen des Landvermessers K., um zwei eher unnütze Gestalten, die er nicht als Gehilfen gewollt hat, die auch keine Hilfe sind, in keiner Beziehung. Die nicht auseinanderzuhalten sind, die vermutlich überhaupt nichts können und mit fortlaufendem Text plötzlich stark altern, bei denen man sich also auf gar nichts verlassen kann, nicht einmal auf ihr Alter. Alberne Figuren mit kindischen Zügen, so sind sie erst einmal gemeint, durch und durch unbrauchbar. Sie tollen über die Seiten.

Ich komme am nächsten Theater vorbei, auf den Stufen zum Haupteingang sitzen zwei junge Männer und sehen seltsam gleich aus, sie sind auch gleich angezogen. Sie hampeln herum, der eine zieht dem anderen die Kapuze über die Augen, sie lachen, sie grinsen mir zu. Albern sehen sie aus. Die Wirklichkeit ist heute wieder übergriffig, denke ich, weiß aber beim Weiterdenken nicht mehr genau, ob nicht doch eher die Literatur übergriffig ist und welche Dimensionen sich hier nun genau wie verschränken. Es ist vermutlich auch egal, aber wenn es mit den Wechselwirkungen so weitergeht, muss ich dringend andere Bücher konsumieren, heitere Familienromane vielleicht, und mit Krieg und Frieden fange ich jetzt doch noch nicht an.

Ich gehe nach Hause, ich muss arbeite, ich habe drei Texte zu schreiben, von wegen Wochenende. Ich tippe und tippe, ich drucke die Texte aus, ich lese sie noch einmal. Alles liest sich anders, wenn man es auf Papier vor sich hat. In allen drei Texten kommt Kafka vor. Das gefällt mir nicht, ich versuche, ihn wieder auszubauen. Es gelingt mir nicht, er taucht in anderen Absätzen einfach wieder auf. Ich gebe mich schließlich geschlagen.

Gucken Sie mal, ich zeige Ihnen noch eben eine Stelle aus dem Schloss (aus dem Schloß natürlich, aber die alte Schreibweise fällt allmählich doch schwer) es geht da gerade um die Beamten, die für den undurchsichtigen und unfassbar bürokratischen Apparat des Schlosses arbeiten. Beispielhaft wird einer von ihnen genauer beschrieben, der Herr Sordini ist es, in diesem Absatz geht es um seinen Arbeitsplatz:

: „… sein Zimmer ist mir so geschildert worden, dass alle Wände mit Säulen von großen, aufeinandergestapelten Aktenbündeln verdeckt sind, es sind dies nur Akten, die Sordini gerade in Arbeit hat, und da immerfort den Bündeln Akten entnommen und eingefügt werden und alles in großer Eile geschieht, stürzen diese Säulen immerfort zusammen, und gerade dieses fortwährende, kurz aufeinanderfolgende Krachen ist für Sordinis Arbeitszimmer bezeichnend geworden.“

Ist das nicht schön? Das fortwährende Krachen der zusammenstürzenden Säulen aus Aktenbündeln? Mir hat das gefallen.

Es gibt, ich habe auch das eher seltsam zufällig gefunden (wenn man übrigens das Wort kafkaesk einmal nachliest, dann findet man die schöne Information, dass es zunächst kafkisch hieß, wie großartig ist das denn), einen alten Film zum Buch, mit einem jungen Maximilian Schell, auch mit z.B. Helmut Qualtinger. Regie führte Rudolf Noelte, die Musik ist auch interessant. Den Film kann man komplett auf Youtube sehen, er ist un-fass-bar deprimierend. Er ist von geradezu erschlagender Ernsthaftigkeit und Ausweglosigkeit, wirklich fortgeschritten bedrückend. Maximilian Schell guckt tragisch, schwankt und scheitert an allem, eine ausgestoßene Figur ohne Hoffnung, es ist furchtbar. Wenn man davon eine halbe Stunde gesehen hat, ich möchte das empfehlen, kann man aber seinen eigenen Alltag immerhin wieder vergnügt zur Kenntnis nehmen, denn dagegen geht es einem doch noch gold, echtjetztmal, dagegen ist alles Ringelpiez. Hier geht es zum Film, hier ist der Wikipedia-Artikel zum Film.

Wenn Sie nur eine einzige Szene sehen wollen (es lohnt sich), springen sie zu 22:30, da beginnt Ks Besuch beim Gemeindevorsteher, er möchte dort seine Beauftragung klären. Sehr kafkisch, die Szene, keine Frage.

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Am Sonnabendmorgen frühstücke ich mit der Herzdame, während ein Sohn lange schläft und ein anderer gar nicht im Haus ist, wir sitzen also nur zu zweit und reden, dazu kommen wir ja sonst nicht. Zwischendurch steht sie plötzlich auf und besieht sich skeptisch das Frühstücksarrangement. Sie tritt ein paar Schritte zurück und blickt immer weiter nachdenklich so über alles hin – dann zieht sie den Tisch etwas nach vorne, schiebt auch ein wenig an den freien Stühlen herum, guckt sich dann wieder alles mit zusammengekniffenen Augen an. Es sei nicht alles perfekt symmetrisch gewesen, sagt sie schließlich, der Tisch habe nicht ganz ordnungsgemäß in Bezug zur Lampe gestanden, das Licht … und sie macht so eine wirbelnde Geste, die vermutlich Chaos, drohendes Tohuwabohu andeuten soll. Sie rückt den leeren Stuhl neben mir vorsichtig noch etwas weiter nach links, sie zieht auch noch einmal abschließend am Tisch, ich frage amüsiert, ob sie vielleicht auch mich noch etwas gerader rücken möchte? Sie schüttelt den Kopf und sagt ernst: „Das habe ich jetzt zwanzig Jahre lang versucht. Irgendwann gibt man auf.“

Verrückt, das kann ich daraus jetzt immerhin ableiten, verrückt bin ich also doch nicht.

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Die Durchseuchung der Kinder, das Alleinlassen der Lehrkräfte, Eltern und Familien, der Erzieherinnen und Erzieher, dazu die absurde Weigerung, Realität und Erkenntnis anzuerkennen, erschüttert mein Vertrauen in unsere Gesellschaft und unseren Staat in den Grundfesten. Das ist auf Jahre irreparabel.

Was, bitte, ist das für ein heilsamer Präsenzunterricht, in dem die halbe Klasse fehlt – und zugleich das Lehrpersonal? Was ist das für eine Schule, in der jedes Kind über kurz oder lang mit einem Virus infiziert wird, von dem wir nicht wissen, wie hoch das Risiko für Langzeitschäden ist? Was ist das für eine Wirtschaftspolitik, die durch Beharren auf Präsenzunterricht verhindern will, dass Eltern als Arbeitskräfte ausfallen, die durch dieses Beharren aber dafür sorgt, dass ihre Arbeitskraft erst recht wegbricht, weil die Eltern sich unweigerlich bei ihren Kindern anstecken, mit dem Risiko langfristiger Leistungseinbußen? Was ist das alles für ein seltsames Theaterstück, in dem wir mit aller Kraft Normalität spielen, während um uns herum Kollegen, Mitschüler, Nachbarinnen erkranken?

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Es knirscht

Am Sonntagnachmittag sehe ich beim Kochen aus dem Fenster und runter zum Spielplatz. Es sind noch Menschen dort unten, es stehen noch Eltern an der Sandkiste, an den Schaukeln und Rutschen, sie werden wohl ihre herumtollenden Kinder in der schnell fallenden Dämmerung noch gerade eben unterscheiden können. Ich sehe auf die Uhr, es ist 17:15, bis dahin also reicht das Tageslicht schon wieder. Das sind doch Fortschritte, denke ich bemüht. Man muss sich die Pluspunkte in diesen Zeiten zusammensuchen, wo es nur geht. Beim nächsten Blick aus dem Fenster ist da unten aber schon alles gewohnt schwarz.

Es gibt Fisch mit selbstgemachter Bordelaise-Knusperkruste, etwa so. Da mir wider Erwarten das Pankomehl, bzw. auch das alternativ zu verwendende Paniermehl fehlt, zertrümmere ich kurzerhand herumstehende Salatcroutons vom Discounter in der Geschmacksrichtung Zwiebel-Knoblauch mit einer ebenso herumstehenden Dose Tomaten und verwende die Brösel, das erweist sich kurz darauf als gute Idee. Nur dass der Küchenboden jetzt beim Betreten des Raumes unangenehm knirscht, wie in einer Ferienwohnung am Strand. Ferienwohnungen! Das war damals.

Egal. Wie der Rest der Familie nach dem Essen sagt: Das Essen war viel besser als das bekannte Fertiggericht, das jetzt nur noch so machen. Okay.

Am Montagmorgen singen auf einmal entschieden mehr Vögel als in der letzten Woche vor der Haustür, ganz so, als hätten sie wie die Menschen auf einen passenden Montag gewartet, um gemeinsam mit dem nächsten Projekt zu beginnen. Ab Montag dann also Frühling 22, bitte pünktlich sein. Ich höre ihren Gesang beim obligatorischen Brötchenholen, und ich weiß, es sind nicht mehr nur die Meisen, es mischen sich jetzt andere Stimmen in den Chor. Ich erkenne die Gesänge nicht, aber es werden wohl Rotkehlchen und Zaunkönige dabei sein, von denen nämlich weiß ich, dass sie in diesen Büschen wohnen. „Ich weiß, wo du wohnst!“, rufe ich einem der Sänger zu, mit solchen Albernheiten gibt er sich allerdings nicht ab. Er singt einfach weiter, und wie schön er singt.

Auf der Speisekarte des Lokals um die Ecke aber, ich sehe es im Vorbeigehen, steht Steckrübeneintopf als Tagesgericht. Es ist noch lange Winter, auch wenn es für die Jahreszeit entschieden zu warm ist.

Am Dienstag fahre ich einen reparaturbedürftigen Rasenmäher durch die Gegend und wieder in den Garten, ich lade ihn aus und schiebe ihn in seinen Verschlag. Feiner Nieselregen, Krähen in den Bäumen, tropfende Zweige, nasser Rasen. Kein Mensch weit und breit, die Gärten liegen leer und brach. Umgestürzte Bohnenstangen, überwucherte Hochbeete, verwehte Laubhaufen. Ich finde vergessenen Rosenkohl, gerade genug für eine Person. Küchenzwiebeln treiben daneben schon aus, leuchtend grüne Spitzen unter verwelktem Mangoldlaub aus dem letzten Jahr.

Ich sammele Weidenzweige vom Rasen, die der Wind in den letzten Wochen aus dem Baum gerissen hat. Ich müsste keine Zweige sammeln, ich will hier nur einen Moment etwas machen, irgendetwas. Die Krähen sehen zu, was ich da treibe. Immer mehr und noch mehr Krähen sehen zu, am Ende fällt etwas Essbares bei meinem Treiben ab? Man weiß doch nie? Spöttische Rufe von oben und von hinten, als sie merken, dass ich da im Ernst nur dünne Zweige sammele. Was soll das werden, was der da macht, ein neues Nest im Januar oder was? Die spinnen doch, die Menschen. Sie lachen heiser und herablassend, als sei ich die clowneske Comedyshow des Tages. Ey, hast du den Menschen gesehen? Gleich fällt der erste Vogel vom Baum vor Lachen, so klingt es.

Ich kann so nicht arbeiten. Ich steige ins Auto und fahre wieder nach Hause, wo ich auch nicht arbeiten kann, aber aus anderen Gründen.

Abwechslung, so wichtig.

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Imre Grimm ist etwas sauer.

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Eine Dankespostkarte

Rückseite

Ich habe zu danken für die überaus freundliche Zusendung der gedruckten Version der „Erzählenden Affen“, denen ich in der Hörbuchversion nicht recht folgen konnte, ich berichtete. Sehr fein, ich habe mich gefreut! Und ich habe auch gleich damit angefangen. Es passte gerade hervorragend, da ich mit den Notizbüchern der Highsmith jetzt durch bin und mich also nur ein rettendes neues Buch davon abhalten konnte, mit dem Stapel ungelesener Bücher auf dem Nachttisch anzufangen. Das folgt einer etablierten Tradition, die nicht nur mir bekannt sein dürfte.

Und wie ich vermutet hatte, verstehe ich beim Lesen jetzt mehr vom Text und kann deutlich besser folgen. Vielleicht ist es so – aber das ist nur ein erster Verdacht -, dass ich beim gedruckten Buch die letzten gelesenen Seiten eher im Kopf behalte, weil ich sie auch in der Hand halte, weil ich jederzeit zurückblättern könnte, während das Gesagte beim Hörbuch oft auch das Verflogene ist und der Rückweg beim Hören eher unüblich ist?

Na, wie auch immer. Interessantes Buch jedenfalls, aber das sagte ich neulich bereits. Vielen Dank!

 Vorderseite

Diese Karte ist schon wieder ein paar Tage überfällig, ich verstoße gegen meine eigenen Regeln, die besagen, dass Dankeskarten schnell zu schreiben sind, mit den Bildern, die eben da sind. Ich habe jetzt aber unangemessen lange darüber nachgedacht, was es gestern oder heute für Bilder gegeben hat, und es fällt mir nur eine vermutlich vollkommen pointenfreie Szene ein. Was soll ich machen, es ist nichts da. Ich sehe nach wie vor nichts, nur das Home-Office, die Nachrichtenseiten, den Himmel vor dem Dachfenster, alle paar Minuten ist eine Möwe mit dabei, etwas öfter noch eine Taube. Die sehen viel mehr als ich, denke ich. Vogel müsste man sein, wegfliegen und auf alles kacken und … nein, pardon. Die Karte, hier die Karte.

Ich gehe am Sonntag spazieren. Ich gehe durch die Innenstadt, am Rathaus vorbei und runter Richtung Hafen. Es ist nicht warm und es ist nicht kalt, es regnet nicht und es ist nicht klar, es ist ein Tag ohne greifbares Wetter. Es ist Egalwinter, irgendein beliebiger Tag im Januarfebruarmärz und die ganze Stadt kommt mir sterbenslangweilig vor. Ich gehe am Alsterfleet entlang, es sind dort kaum Menschen unterwegs. Ich komme an der Schaartorschleuse vorbei, wobei die Details dieses Bauwerks für unser Bild nicht von Interesse sind. Es ist eine wenig beeindruckende Schleuse, kein imposantes Bauwerk oder dergleichen, sie hat in etwa den Charme einer Tiefgarageneinfahrt, womit ich ihren technischen Wert und auch den für die Stadtentwässerung nicht schmälern möchte. Vor und hinter der Schleuse gibt es etwas zu sehen, den Hafen erkennt man schon, große Kontorhäuser stehen in der Nähe, Kirchtürme sieht man in der Ferne, das schon. Aber die Schleuse selbst ist doch ein eher banales Bauwerk.

Es fließt gerade Wasser ab, von der Alster in die Elbe. Ein tosender Strom bricht aus der Schleuse, und das wiederum kann man schon etwas beeindruckend finden, denn man sieht und hört sofort, welche unfassbare Kraft das Wasser hat. Wie es braust, wie es rauscht, wie es lärmt und brüllt und schäumt, was für ein gewaltiger Druck dahinter sein muss, welche Kraft, man sieht das. Das Wasser übrigens müssen sie sich ausgesprochen hässlich vorstellen. Da, wo es herabstürzt, schäumt es derartig abstoßend uringelb und bräunlich-schmutzig, dass man unwillkürlich an ein Klärwerk denkt, und da, wo es wieder zur Ruhe kommt, wird es tiefgrauschwärzlich und wirkt gleich bedrohlich. Schön geht anders.

Ein junger Mann steht vor dieser Schleuse und sieht zu, wie das Wasser aus ihr herausstürzt. Er lehnt an einer Wand. Ein Knie hat er angewinkelt und hochgezogen, die Hände hat er in den Jackentaschen, auf den ersten Blick wirkt er entspannt. Er sieht in das Wasser, konzentriert sieht er in das Wasser. Er legt den Kopf schief, er wechselt den Blickwinkel, aber er wendet die Augen nicht ab. Er guckt unverwandt in die Wirbel, er sieht immer weiter in die aus der Schleuse brechenden Wassermassen. Er sieht sich an, wie das Wasser tobend strudelt, wie der Schaum weiße und wirre Linien auf das dunkle Wasser krakelt, die von den Wellen gleich wieder verwischt werden, er sieht zu, wie diese Zeichen unentwegt wieder neu entstehen. Er wendet den Blick nicht ab. Er steht da und sieht zu, wie gewaltige Wassermassen mit großer Geschwindigkeit elbwärts abfließen.

Und im Vorbeigehen sehe ich erst, dass er nicht entspannt dort steht. Er steht eher wie jemand, der etwas auf keinen Fall verpassen darf oder will. Ein leicht unwilliges Kopfzucken, als ich vorbeigehe, weil ich einen Moment lang im Bild bin, er sieht an mir vorbei immer weiter zur Schleuse. Ganz genau sieht er dorthin, die Augen ein wenig zusammengekniffen, Konzentrationsfalten auf der Stirn. Er wartet.

Und mehr erfahren wir nicht. Es ist mir auch nur diese Anspannung in Erinnerung geblieben, dieses seltsam lauernde Warten. Groß war der Mann. Jung, gutaussehend, sportlich. Schwarze Lederjacke, schwarze Jeans. Filmfiguren sehen so aus. Filmfiguren stehen so an Schleusen und warten und dann … aber dafür bin ich nicht zuständig.

Ich bin einfach weitergegangen. Ich bin nach Hause gegangen und habe mein Notebook wieder aufgeklappt. Ich habe die Tabs im Browser angesehen und gewartet. Ich weiß auch nicht, worauf, aber ich behalte das Notebook immer weiter im Blick.

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Januvember

Seit Mittwoch habe ich nichts geschrieben, ein gutes Zeichen ist das natürlich nicht. Es war nichts Schlimmes, es war nur zu wenig von allem, vielleicht kennen Sie das Gefühl. Nagende Unzufriedenheit, dumpfes Durchhalten, nein, es war keine gute Woche. Aber wir hatten es doch schön warm und es gab gutes Essen, ja, ja. Die Söhne waren zwischendurch beim Kinderarzt und wurden dort gecheckt und gewartet, Sohn I ist jetzt offiziell größer als die Herzdame.

Moment, ich mache Ihnen noch eben Musik zum Lesen an. Ich höre viel Musik, nur um solche Stücke zu finden, die mit einem Einfall wie diesem beginnen:

„I read a story about a coal fire
That burned for 80 miles underground
Under rivers and across the state line
Without a flame, without a sound.“

Ich halte das für einen schlichten, aber doch verdammt guten Anfang. Jeffrey Martin, es gibt noch weitere gute Stücke von ihm.

Der Wetterbericht bleibt denkbar langweilig. Es ist eine Winterphase von erheblicher Betrübnis und Ödnis, und unangenehm lang ist sie auch noch, keine Neuerung kommt in Sicht. Mal sprühregnet es, mal sprühregnet es nicht, das ist so die Abwechslung. Am Morgen sind immerhin kleine Veränderungen in Luft und Licht zu bemerken, zu ahnen eher nur, jedenfalls wenn man stets bemüht hinfühlt. Dezente Aufhellungen und Erweiterungen im Grau, der Vorhang des Januars hebt sich in Zeitlupe und gibt den Blick auf den etwas lichteren Februar frei, am späteren Vormittag ahnen wir ganz oben sogar so etwas wie Blau. Schneeglöckchen blühen bleich im Beet vor der Haustür und im Fenster des Blumenladens – „Wir sind täglicher Bedarf!“ – geht es immer bunter zu. Korallenblumen, die hatten wir noch nie. Zweige mit Kätzchen zu Preisen, vor denen ich lachend stehen bleibe, sind denn jetzt alle verrückt geworden.

Auf einem Plakat an einer Laterne wirbt einer von der CDU, der möchte sich um die Innenstadt kümmern. Ich habe seinen Namen noch nie gehört und schon nach drei Schritten wieder vergessen, was interessiert mich die CDU.

Ein Laden schließt wegen Corona und macht erst unbestimmt irgendwann wieder auf, der Betrieb lohnt sich im Moment nicht mehr, sagt der Chef den Medien. Bei einem Restaurant ein paar Meter weiter werden die Öffnungszeiten noch einmal verkürzt, bei einem anderen werden sie gerade geändert, und schon wieder kleben neue Zettel in den Fenstern: „Sie können sich nebenan testen lassen!“ In ein Eiscafé ist über den Winter ein Testzentrum eingezogen, das ist ein saisonaler Wechsel der neueren Art. Immer noch gibt es an einigen Kneipen Werbung für Glühwein, für Hot Aperol und für Punsch. Beim Kiosk stecken im Postkartenständer vor der Tür noch „Besinnliche Weihnachtsgrüße“, die wird wohl niemand mehr kaufen. Verspätete Tannenbäume liegen abgetakelt am Straßenrand, bereits von allen Hunden des Stadtteils bepinkelt.

Links und rechts vom Kirchenportal steht das Wort Liebe in mannshohen bunten Großbuchstaben. Das L, das I und das E links von der Tür, das B und das E rechts davon. Eine Frau stellt sich vor die Tür und zwischen die Buchstaben. Sie stellt sich in die Liebe, sie formt ein Herz mit den Händen und lässt sich so von ihrer Familie fotografieren, lächelnd, strahlend. Dann ist ihr Mann dran: „Komm, stell dich auch mal da hin!“ Dann die Teenagerkinder, beide zusammen und Arm in Arm, sie machen die Geste gemeinsam, er eine Hand, sie eine Hand, Bruder und Schwester. Herzchen, Herzchen, Herzchen. „Das ist doch schön“, sagt die Frau zufrieden, als sie die Handyfotos sichtet, und die Meise auf dem Spielplatz hinter der Kirche singt dazu etwas, das vermutlich auch mit großen Gefühlen zu tun hat.

In den Medien sehe ich mehrere Artikel, die sich damit beschäftigen, wie die Welt nach Corona sein wird, ob die neue Normalität die alte Normalität sein wird oder eine andere und wenn, dann welche. Die Überschriften ähneln sich so, dass ich mich einen Moment frage, ob ich den gleichen Tab immer wieder anklicke, aber es sind doch verschiedene Artikel. Ich habe dazu keine Meinung. Ich gehe einfach raus und sehe nach, wie es da ist, und wenn ich etwas bemerke, das anders geworden ist, dann schreibe ich es auf. Ich habe auch keine Pläne oder Hoffnungen, es fühlt sich für mich noch nicht danach an. Einfach weitermachen, wie ich auf Twitter oft schreibe. Es klingt immer wie ein Scherz, nehme ich an, aber es stimmt schon.

Ich blättere durch einen Gedichtband mit Januar-Gedichten. Eine Anthologie deutschsprachiger Lyrik zur Jahreszeit aus der sowieso empfehlenswerten Reclam-Reihe (kein Werbelink, nein). Es gibt da zu jedem Monat einen Band, ich lese oft in den schmalen Büchern und finde immer Neues. Wo der Blick eben hängenbleibt. Aber so gut wie kein Gedicht passt zu diesem Januar da draußen, stelle ich fest, es ist etwas aus der Ordnung geraten. Es ist ein Januar ohne jeden Neujahrsoptimismus, ohne große Wünsche, abgesehen von dem allgegenwärtigen Wunsch des milden Verlaufs. Es ist in Hamburg auch ein Januar ohne Frost, ohne Schnee, ohne jede Wintergemütlichkeit auch, wir waren alle zu lange zuhause. Die Gedichte für diesen Januar müsste man erst schreiben. Nein, die ganze Sammlung passt nicht. Ich müsste zum Novemberband greifen, um das wiederzufinden, was der Stimmung in diesen Wochen und dem Grau vor den Fenstern am frühen Abend entspricht. Ich müsste Januar und November aufeinanderlegen und remixen, Januvember, Novembuar.

Egal. Nächster Band Februar, ich werde berichten.

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Es gab Kötttbullar. So in etwa. Oder wie die Söhne sagen: Das mal öfter machen.

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Schöne graue Bäume.

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Die Herzdame backt und backt währenddessen und wir versorgen weiter die Kranken und Bedürftigen im Umfeld. Resilienzmaßnahmen mit Kalorien.

 

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Mausgrauer Mitttwoch

Ein weiterer mausgrauer Werktag, es war ein, Moment, ich sehe eben nach – Mittwoch.

Ich huste nachts, ich schlafe schlecht, ich träume wirr, mich infiziert zu haben. Es lässt einen nicht mehr los, jetzt sind auch die Träume verseucht. Ein Schnelltest zum Frühstück, reine Routine.

Ich gehe später einkaufen, ich höre drei Gespräche im Vorbeigehen. Sie werden alle recht laut geführt, sie passen zu meinem gestern geposteten Text beim Goethe-Institut, es fallen in den Gesprächen Sätze wie: „Das ist doch eh alles Blödsinn“, „Was richtig ist, das weiß eh keiner mehr“ und „Omikron, Omikron, hör mir bloß auf.“ Im Supermarkt schiebt mir am Eingang jemand seinen leeren Einkaufswagen hin, zeigt auf den Griff und sagt laut: „Hier, nehmen Sie den, da sind frische Viren dran!“ Und guckt dann so lauernd, was ich jetzt mache, und guckt auch schon, ob andere gucken. Was ist mit den Leuten los?

Schon gut, das war eine rhetorische Frage.

Währenddessen, noch ein Satz für die Chronik, gibt es jetzt in allen Familien, mit denen wir freundschaftlich verkehren, mindestens einen Corona-Fall, das ging doch etwas schneller als erwartet. Alle paar Stunden kam eine entspreche Nachricht, so muss man sich das vorstellen, aber dummerweise im Ernst, nicht als humoristisch sein sollende Übertreibung.

Schließlich der Abendspaziergang durch den prompt einsetzenden Nieselregen. Leere Läden, leere Kneipen. Nur die üblichen Pegeltrinkerinnen sitzen da, wo sie immer sitzen. Vor einem heute geschlossenen Restaurant stehen die Bänke und Tische im Regen, nasses Holz.  Ein älteres Ehepaar in Partnerlookoutdoorjacken setzt sich dort gerade an einen Tisch. Er fegt mit dem Ärmel Wassertropfen vom Tisch, sie packt Stullen aus papierenen Päckchen, sie grinsen beide. Da haben sie einen guten Platz gefunden, das denken sie wohl, und sie rücken eng an die Hauswand, wo der Regen nicht so sehr hinkommt, sie essen Brot und kauen und grinsen und verstehen sich gut.

Im Dönerimbiss ein paar Meter weiter sitzen die beiden Verkäufer und essen Döner. Vielleicht haben sie sich gegenseitig einen gemacht, vielleicht haben sie sich gegenseitig die üblichen Fragen gestellt und „Mit scharf!“ gesagt. Sie gucken raus, während sie essen, in die Dunkelheit, in den Regen.

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Es müsste etwas anders werden

Ich habe heute nicht viel zu sagen, ich habe alles schon hier drüben gesagt, beim Goethe-Insitiut, für das ich etwas über die Stimmung geschrieben habe. Also über ein enorm schwieriges Thema.

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Ansonsten bin ich auf eine seltsame Art verstimmt. Ich weiß nichts mit mir anzufangen. Ich ziehe die Jacke an, ich weiß nicht, wo ich hingehen soll, ich ziehe sie wieder aus. Ich gehe in mein Abstellkammerarbeitszimmer, es sieht im Moment aufgeräumt und gemütlich darin aus, aber ich weiß nicht, was ich da soll. Ich gehe zum Kühlschrank, ich sehe hinein, ich will nichts essen. Ich setze mir Kopfhörer auf, ich weiß nicht, welche Musik ich hören möchte. Ich lege mich hin, ich schlafe nicht ein.

Es müsste irgendetwas grundsätzlich anders werden, glaube ich. Vielleicht müsste die Pandemie mal aufhören, das könnte sein.

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Nachdem ich auch beim xten Anlauf das Sachbuch (Erzählende Affen, ich berichtete) als Hörbuch einfach nicht zureichend verstanden habe, verschiebe ich den Genuss des Werkes kurz entschlossen, bis ich mit der gedruckten Version neu starten kann, das wird besser sein. Es ist doch zu interessant für mich, um dauerhaft nur ein Drittel mitzubekommen.

Ich habe stattdessen das Schloss angefangen, Kafka, das ist gar nicht mal so unpassend zurzeit, will mir scheinen. Es gibt da eine Version, die wird von Sven Regener gelesen. Eine merkwürdige Hörerfahrung ist das, da ich die prägnante Stimme doch mit seinen eigenen Werken verbinde, mit den gesungenen und geschriebenen Texten von ihm. Ich werde die Erwartung nicht los, dass irgendwann eine Nebenfigur mit dem Namen Lehmann auftaucht, ich höre vielleicht auch mehr Humor, als in diesem Text vorhanden sein kann, aber ich mag es sehr. Nach der ersten halben Stunde bin ich äußerst zufrieden mit der Wahl.

Ich lese zwischendurch weiter im Tagebuch der Patricia Highsmith. Haben Sie übrigens mitbekommen, das ging durch die Feuilletons, dass man die Ausgabe kritisch sieht, weil man ihren Rassismus und Antisemitismus geglättet hat, weggelassen hat? Schwieriges Thema. Sie soll, aber so weit bin ich noch nicht, auch von diesen Problemen abgesehen, mit fortschreitendem Alter immer menschenfeindlicher geworden sein. Aber das nur am Rande, bei Interesse hier mehr.

Am 3.9.1947 jedenfalls ein Eintrag für den Freundeskreis historische Schreibgeräte, den wollte ich Ihnen noch zeigen:

„Ratschlag an junge Schriftsteller: Nähere dich der Schreibmaschine mit Respekt und Förmlichkeit. (Sind meine Haare gekämmt? Ist der Lippenstift richtig aufgetragen? Und vor allem, sind meine Manschetten sauber und sitzen richtig? Die Schreibmaschine erspürt schnell jede Nuance von Respektlosigkeit und kann auf die gleiche Weise doppelt so stark und mühelos zurückschlagen. Die Schreibmaschine ist in erster Linie aufmerksam, feinfühlig wie du selbst und viel effizienter in ihrer Arbeit. Schließlich hat sie letzte Nacht auch besser geschlafen als du und auch ein wenig länger.“

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