Septembersonntag

Es wird zögerlich hell, der Tag wird grau bleiben. Auf dem Hotel gegenüber weht die Hamburgfahne am frühen Morgen so munter im Wind, als sei diese Stadt etwas Lustiges. Über der Alster hängt gerade vergehender weißlicher Dunst wie über meiner morgendlichen Kaffeetasse. Ich gehe durch die Wohnung und sehe aus den Fenstern, also zumindest aus denen, vor denen kein Familienmitglied noch schläft. Auf dem Spielplatz läuft das Eichhörnchen der Frühschicht dermaßen beschäftigt herum, dagegen kann man als Mensch gar nicht ankommen. Ganz egal, wie voll unser Tag ist, wie viel wir heute noch zu tun haben – so eilig wie das Tier werden wir es schon nicht haben. Ein Haus weiter läuft ein anderes Eichhörnchen gerade vom fünften Stock aus senkrecht eine Wand hinunter. Ich wusste gar nicht, dass sie das können. Ich frage mich, ob sie wohl auch bei uns auf den Balkon kommen können? Das ist ein Stockwerk weniger, das müsste dann leicht sein. Da mal Nüsse hinlegen?

Es ist jetzt schon rollkragenkühl am Morgen und das Gehen wird schöner, man kann wieder Strecke machen und atmen. Erste gelbgrüne Laubdekorationsstreifen an Kantsteinen, noch etwas dünn, noch etwas ausgefranst, löcherig und unfertig. Demnächst dann wieder die barocke Üppigkeit des gefallenen Goldes, aber das dauert noch.

Eine Möwe fliegt die Straße von der Alster herauf, eine fliegt sie zur Alster hinunter, wobei sie sich korrekt an die Autospuren halten, eine fliegt links, eine fliegt rechts. Ob sie sich über uns lustig machen?

Ich lese am Morgen die „Karte der Wildnis“ von Robert Macfarlane durch, darin ist viel mehr Natur als hier, denke ich, so viel mehr. Aber die Blaumeise sitzt immerhin auf dem Balkongeländer. Das Elsternpaar sitzt auf der alten Fernsehantenne auf dem Dach gegenüber, die Tauben picken unten in der Sandkiste, und die Krähen fliegen kreisend um den Kirchturm wie in einer Spukgeschichtenillustration für ein Kinderbuch. Müde Blumen auf dem Balkon. Die Duftnessel hält die verblassten Blüten noch stoisch hoch, aber an den Blättern wird ihr immer klammer und kälter, man sieht es ihr an. Das irgendwann draußen vergessene Basilikum hat schon schwärzliche Ränder am Blattwerk, zu retten, ach, zu spät.

Ich schreibe am Küchentisch in einem Notizbuch die letzte Seite voll. Ich lege es zu den anderen vollgeschriebenen Büchern in den Schrank und nehme ein neues aus dem Vorrat. Immer fühlt sich das großartig an, als sei etwas erreicht worden. Das ist selbstverständlich blanker Unsinn, gar nichts wurde hier erreicht. Die Notizen sind nicht einmal geistreich. Ich halte nur den Alltag fest, und der ist bar jeder Originalität. Nein, nichts ist erreicht, nur Zeit ist vergangen, nur Seiten sind beschrieben, und doch, und doch – ich liebe dieses Gefühl. Es ist eines der besten. Ein neues Notizbuch und der Blick ins Regal, sind noch genug da?

Ich gehe Brötchen holen. Zwei ältere Damen, silberhaarig und schon in Winterjacken, kommen mir entgegen, ich höre, wie eine im Vorbeigehen sagt: „Ein Wiener Kaffeehaus hatten wir in dieser Straße hier noch nie.“ Das ist schon wieder seltsam, sehr seltsam sogar, denn in dem gerade durchgehörten Roman Glitterschnitter von Sven Regener geht es immer wieder und wieder um ein Wiener Kaffeehaus in einer bestimmten Straße. Ich muss noch einmal dringend über Wahrscheinlichkeiten und über die Vermischung von Literatur und Wirklichkeit nachdenken, ich bin mit dem Thema noch nicht fertig. Noch lange nicht.

Jetzt höre ich übrigens „Die Enden der Welt“ von Roger Willemsen als Hörbuch, ein etwas harter Wechsel und ein tendenziell überfordernder Einstieg, das mit dem todkranken Kind da – ich bin einfach nicht dickfellig genug für so etwas.

Ich gehe durch den Hauptbahnhof. Vor dem stehen vier junge Männer in Sportkleidung und mit riesigen Sporttaschen, einer sagt gerade zu den anderen: „So lasst uns denn Abschied nehmen.“ Genau so sagt er es, mit einem Satz direkt aus dem neunzehnten Jahrhundert, es fehlt nur noch, dass er die anderen liebe Brüder nennt, aber so weit geht er doch nicht. Sie hauen sich auf die Schultern und gehen auseinander.

Wieder zuhause mache ich die Post von gestern auf, ich kam noch nicht dazu. Eine Verlagsabrechnung: 43 Cent. Dazu höre ich die Ballade vom angenehmen Leben, es passt schon. Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm.

Wir fahren in den Garten. Der Tag ist tatsächlich grau geblieben, das Licht ist langweilig, es ist kühl, es ist kein Gartenwetter. Aber ein Sohn möchte dort Tischtennis spielen und die Herzdame möchte mit dem anderen Sohn eine Wand der Laube streichen. Vor dem Vereinshaus gibt es eine Tischtennisplatte. Die allerdings steht unter einem Pflaumenbaum, der schon reichlich Früchte gelassen hat, die niemand aufgesammelt hat. Sie liegen vor und auch auf der Platte in allen Zuständen des Gammelns. Es riecht unangenehm vergoren, es sieht auch nicht gut aus und wenn man einen falschen Schritt macht, rutscht man auf dem Schmodder aus, liegt im Fruchtbrei, mag wochenlang keinen Pflaumenkuchen mehr und dann ist die Saison auch schon vorbei. Wir spielen dennoch ein wenig, denn wir hatten ja einen Plan.

Die Herzdame gräbt im Garten etwas aus dem Rasen und recherchiert diese Pflanze mit verschiedenen Apps. Sie kommt zu dem Schluss, dass es wohl eine Waldsimse ist. Das habe ich noch nie gehört und es könnte für mich auch einfach ein Witz sein, eine Waldsimse aus der Gattung der Simsen, nee, ist klar. Aber es ist kein Witz. Und im Grunde ist es natürlich grandios, ich kann hier den Bogen zum Macfarlane schlagen, zu seiner vielen Natur – es gibt nämlich auch hier, in meiner gewohntesten und vertrautesten Umgebung, auf den paar Quadratmetern, die ich schon tausendmal gesehen habe, immer noch mehr Natur, als ich ahne.

Dann gehen ein Sohn und ich zu Fuß vom Garten nach Hause, das sind etwas mehr als fünf Kilometer, das ist eine Stunde Weg. Wir reden unterwegs über Gott und die Welt. Beide kommen nicht sehr gut weg dabei, aber wir sind viel schneller zuhause, als wir dachten, so ist das mit guten Gesprächen. Wir denken wieder, wir sollten öfter gehen. Wir würden auch gerne die gemeinsame Ostseewanderung wieder aufnehmen, die ist uns nämlich pandemisch abhandengekommen. Die Idee ist jedoch noch da und ja, es geht irgendwann weiter. Es ist sogar noch Leserinnengeld dafür da, ich habe eine geordnete Buchführung. Apropos Leserinnengeld, der Trinkgeldbericht ist überfällig, ich weiß. Demnächst!

Und apropos Bogen schlagen, hier noch eben die Kurve zum Titel und zum gestrigen Text, in dem ich mich vehement beschwert habe, dass in Herbst-Liedern die Tage keinesfalls länger werden dürfen. Ein Lied, in dem sie kürzer werden, wie es sich doch gehört. „But the days grow short when you reach September.“ Geht doch. Und was für eine schöne kleine Szene, nicht wahr.

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Les feuilles mortes

Das ist auch so ein Ritual, der frühherbstliche Verweis auf meine selbstverständlich neu nachgepflegte Playlist „Les feuilles mortes“, drüben bei Spotify. 50 Varianten des Liedes in deutschen, englischen und französischen Versionen. 3 Stunden und 25 Minuten Laufzeit. Da kann man schon mal ein paar Blättern beim Fallen zusehen, während das läuft. Ich mache das in jedem Herbst exzessiv so, das tut gut. Im Garten schwächelt die Birke bereits erheblich, unter der liegt schon güldenes Geflitter auf dem Rasen und auch auf den übersehenen Kartoffeln im Beet, die Saison beginnt. Im Drogeriemarkt fragte heute Morgen eine Kundin nach Laubsäcken, auf der Straße vor dem Laden fuhr, als ich wieder herauskam, gerade ein LKW vorbei, auf dessen Plane stand Werbung für einen zuverlässigen Winterdienst. Dazu ein Bild von lachend arbeitenden Männern im Schnee. Doch, es geht los, die dunkle Jahreszeit, volles Programm.

Es sind wunderschöne und auch seltsame Versionen in der Playlist dabei. Die von Bob Dylan etwa, sie lässt einen sicher mit dem Gedanken: „Was war das denn?!“ zurück. Die berührende Aufnahme von Eva Cassidy ist, wenn ich da recht informiert bin, aus dem Jahr ihres unfassbar frühen Todes, das reicht auch schon für eine nachhaltig Verstörung. Die Variante von Udo Jürgens ist viel präsentabler, als man vielleicht zunächst denkt, bei der Piaf wiederum muss man mal darauf achten, wie ihre Stimme sich minimal ändert, wenn sie die Sprache wechselt, es ist alles sehr interessant. Die Nichtfranzosen verstolpern sich hier und da, der französische Text ist definitiv einigermaßen schwer zu singen – das kann man unter der Dusche jederzeit leicht nachvollziehen.

Das Lied ist im Original (Text: Jacques Prévert, Musik: Joseph Kosma) einmalig schön und ich preise mein schwächliches Schulfranzösisch hauptsächlich deswegen, weil ich solche Texte gerade noch verstehen und auch heimlich mitsingen kann. Das hat doch etwas. Wobei mir einfällt, dass wir in dieser Familie ein Ritual haben, das etwas seltsam ist. Wenn sich hier nämlich jemand angeklagt fühlt, ob berechtigt oder nicht, wenn sich jemand in die Enge getrieben fühlt, dann sagt er mit disneyhaftem Augenaufschlag zum jeweiligen Ankläger in ersterbender Stimme: „Aber isch ab dir doch ein Chanson komponiert.“

Das hat keinen tieferen Sinn, das blieb nur aus einem Kinderhörspiel (Eule findet den Beat war es, glaube ich) hängen, das wirkt bis heute erfreulich nach. Es nimmt gewissen Szenen die Schärfe und sollte mich die Herzdame jemals verlassen wollen, wozu sie aber gottseidank eh keine Zeit hat, sie weiß jetzt schon, was ich sagen würde. Auch schön.

Les feuilles mortes also. Hier gibt es noch eine umfangreiche Liste aller Cover-Versionen. Es ist mir ein Fest, wie umfangreich das dort ausfällt. Wie großartig ist es bitte, dass es Nerds für jedes Fachgebiet gibt, die so etwas akribisch anlegen und pflegen.

Ich baue hier gleich noch einmal die wunderbare Talkshow-Version von Yves Montand ein.

In den englischen Versionen stört mich übrigens immer, dass sie da alle von länger werdenden Tagen singen. Seit der oder die Geliebte weg ist, wurden die Tage bei denen länger, und das mag ja emotional stimmen, wer kennt es nicht, es ist aber dennoch Unsinn, wenn es gerade Herbst wird und die Tage damit also deutlich kürzer. Ein Lyrikfehler erster Klasse, da hätte man nochmal rangemusst, das geht so nicht. Am Rande vielleicht auch interessant: Im Französischen trennt das Leben die Liebenden, und zwar tout doucement, sans faire de bruit, im Englischen aber ist der jeweils andere gegangen und also platt schuldig.

Und der Einstieg in die gängige deutsche Version mit „Der Schleier fiel von meinen Augen“, der müsste auch mal dringend mit einem Update versehen werden, der ist mittlerweile doch etwas aus der Zeit gefallen. Das plattdeutsche „Ick denk an di“ von Ina Müller etwa ist dem eigentlich vorzuziehen. Hannes Wader singt deutlich näher am Originaltext, da gibt es keine Klagen, aber ich weiß nicht recht, das fängt mich nicht ein, was daraus wird – es ist sprachlich zu kompliziert und allzu bemüht geworden. Die französische Version ist schlicht, darin liegt der ganze Zauber.

„Doch das Leben trennt immer wieder Liebende, die sich nicht mehr verstehen.“ Versus: „Mais la vie sépare ceux qui s’aiment.“ Spiel, Satz und Sieg Französisch, da wird der Satz schon beendet, während die Deutschen noch ein paar Silben nachholen gehen.

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Eine Dankespostkarte

Rückseite

Ich habe Post bekommen, hoch erfreuliche Post sogar, ein Buch nämlich, ein sicherlich gutes. Tarjei Vesaas, Das Eis-Schloss, aus dem Norwegischen (es gibt mehrere Norwegisch, wissen Sie das? Ich hatte das schon einmal im Blog) übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel. Ich mochte „Die Vögel“ vor einiger Zeit von Vesaas sehr – also wirklich sehr – hier jetzt eine jubelnde Rezension zum Eis-Schloss. Vielen herzlichen Dank an die edle Spenderin! Ich bin entzückt.

 

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Vorderseite

Heute eine Sequenz, die ist so kurz, sie ist quasi nur ein Gif, aber ein bewegtes Bild ist sie immerhin doch. Wie neulich erst erklärt, muss ich für diese Rubrik unbedingt aktuelle Bilder nehmen. Dieses ist von heute Morgen, es ist also fangfrisch und es kam auf unglaubwürdige Art zustande, aber so ist es, das Leben, so ist es nun einmal. Ich fuhr nämlich eine Station mit der S-Bahn, was ich nur noch selten mache, ich habe ja seit achtzehn Monaten nicht einmal mehr eine Abokarte. Gestern aber war ein so dermaßen öder Home-Office- und Hausaufgaben- und Haushalts-Tag, dass ich dachte, ich kann nie wieder einen Text schreiben, wenn ich nicht bald etwas erlebe. Irgendwas, Hauptsache, es findet nicht in Excel oder in einer Lern-App oder in meiner Küche statt. Deswegen, immer alles gleich umsetzen, blieb ich heute nicht zuhause und ging auch nicht zu Fuß ins Büro, wie ich es sonst immer tue, weil ich nämlich mehr Bewegung brauche und auch Zeit für die vielen Hörbücher (immer noch Glitterschnitter vom Regener im Moment, man möchte es gegen Ende aber doch gerne etwas kürzen, es wiederholt sich alles darin schon arg). Nein, ich fuhr vielmehr mit der S-Bahn, weil ich mit der mir eigenen Geistesschärfe auf den Gedanken kam: Da sind Menschen drin. Was ich wiederum, so viel Ehrlichkeit muss sein, nicht etwa aus sozialer Warmherzigkeit und Interaktionsbedüftigkeit heraus dachte, sondern eher aus Contentgeilheit. Ich stieg da also nicht mit wahrer Anteilnahme ein, sondern eher mit einem kalten „Los, macht was!“ im Herzen, so wird der Autor nämlich, wenn er Inhalt braucht, es ist auch nicht immer alles schön an dem Beruf.

Ich setzte mich, wie man sich heute eben setzt, als zweite Person in eine Vierersitzgruppe. Schon drei Personen wären seltsam eng, das fühlt sich dann nicht mehr gut an, aber zwei gehen gerade noch, und entsprechend waren alle Vierergruppen im Waggon besetzt, immer zwei Personen sich schräg gegenüber. Mir schräg gegenüber saß eine junge Frau, sagen wir ruhig eine sehr junge Frau, sagen wir einfach, sie war zwanzig Jahre alt. Die sah aus dem Fenster auf das vorbeiziehende Hammerbrook, dann sah sie kurz mich an, so desinteressiert, wie es der Situation sicher angemessen war, dann sah sie wieder aus dem Fenster in das Großstadtgrau, Behördenhochhäuser, Hotels, Bürobauten, Baustellen, da war nichts, was Blicke festhalten konnte. Dazu hörte sie etwas über Kopfhörer. Ich hielt es für Musik, was allerdings etwas vorschnell war. Jetzt das Gif und der unglaubwürdige Teil, glauben Sie es mir einfach trotzdem, es stimmt schon.

Und zwar hob sie kurz darauf ihre rechte Hand und hielt sie in etwa vor ihr Herz. Einen Moment lang schwebte sie da so vor ihrem Oberkörper in der Luft und die Frau schloss dabei ihre Augen. Dann legte sie die Hand mit unaussprechlicher Sanftheit und zeitlupenhaft langsam auf ihrem Herzen ab, also jedenfalls in etwa dort, wo ich ihr Herz vermutete, und hielt sie dann dort auf eine authentisch theatralisch wirkende Art, was wie ein Widerspruch klingt, aber so ist der Mensch, oder so kann er wenigstens sein. Ihre Augen blinzelten immer schneller, füllten sich mit Wasser und röteten sich etwas, das brauchte keine Minute, nicht einmal eine halbe. Sie sah noch einmal schnell zu mir, denn das war nicht gut, dass ich ihr gegenübersaß. Sie wollte jetzt nicht gesehen werden, das verstand ich sofort. Und das sah ich auch ein und erhob mich wieder, ich musste eh aussteigen, die Station meines Büros kam schon in Sicht. Sie fing jetzt leise an zu reden, in das Mikro am Kopfhörerkabel, und sie sprach sehr schnell, leise, hochkonzentriert und in langen, langen Sätzen, von denen ich nicht sicher weiß, in welcher Sprache sie gesagt wurden. Dabei holte sie ihr Handy heraus und prüfte, immer weiterredend, mit der Kamera, ob und wie desolat sie aussah, sichtlich bemüht, ihre Gesichtszüge möglichst unbewegt zu halten. Ein Tropfen am oberen Rand der OP-Maske, ein dunkleres Blau an dieser Stelle, eine winzige Farbänderung.

Und da steht man dann als contentgeiler Autor im Gang der S-Bahn, auf einmal doch voll warmer Anteilnahme, mit der man dann aber nirgendwo hinkann, weil man in dieser Stadt nicht einfach andere Menschen anspricht, auch dann nicht, wenn sie unerwartet vor einem weinen, und wie gesagt, ich musste eh raus, was soll man machen, ein Werktag, business as usual. Nur in Kurzgeschichten läuft so eine Szene dann anders weiter, nicht aber in Blogs. In Blogs geht man und erfährt keine Fortsetzung.

Wieso ich aber neuerdings dauernd weinende Menschen sehe, wenn ich zur Arbeit gehe oder fahre – was ist eigentlich los da draußen?

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Links am Abend

Ich habe dummerweise gar keine Zeit für Texte, etwa weil ich mit dem Sohn, der mittlerweile in der achten Klasse des Gymnasiums ist, wieder Mathe übe. Textaufgaben, Sie wissen, ich liebe das. Irgendwelche Zierfischfreaks haben ein Aquarium, das ist so und so lang und so und so breit und so und so hoch, bis dahin ist es noch einfach, wenn nicht tückischerweise – und Mathepädagogen sind tückisch, da gibt es nichts – zwischendurch die Einheiten klammheimlich gewechselt werden, und dann schaufeln die Fischfreunde da natürlich immer ein paar Kubikirgendwas Kieselchen rein, wie hoch steigt das Wasser, das messen die Spinner da natürlich nach, und welches Volumen haben eigentlich die Fische. Ich habe mittlerweile eine solche Aversion gegen die Aquaristik, Sie können es sich nicht vorstellen. Der andere Sohn strapaziert nebenbei mein Schulfranzösisch auf eine Weise, dass mir ganz blümerant wird und ich konnte mir früher auch mal deutlich leichter merken, welches Gemüse nun weiblich oder männlich ist. Légumes! Ich habe das Wort noch nie im echten Leben verwendet, aber ich weiß es noch, immerhin. Stellt sich sowieso raus, bis 7. Klasse weiß ich Französisch noch ganz gut. Die Vokabeln sind nahezu alle noch im Kopf vorhanden, was aber damals danach geschah, also ab Klasse 8., das ist mir vollkommen unklar. Das habe ich alles nie gehört, nie geschrieben, nie gesehen. Wie aber habe ich das Fach überhaupt überleben können? 

Egal, das nur am Rande. Hier ein paar Links, wenigstens das.

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Lang, gründlich und abwägend über Neophyten. (Audio)

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So the first step is recognizing that you, too, need rest. Don’t just want it, don’t just fantasize about it, don’t just talk about it and then deny it, but need it, require it, in order to keep going. The second step is advocating for the structures that make it possible — on a personal, professional, and societal level — so that others can ask and receive rest too.Kommt mir alles gut und richtig und wichtig vor, in dem Text. Leider vergessen, wie ich den Artikel gefunde habe, vagen Dank an irgendwen! Internet eben.

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Vom Genuss der Irrelevanz. Glückwünsche zum Bloggeburtstag in den Süden! Danke für die Beständigkeit und Verlässlichkeit, ich mag so etwas.

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Ich habe noch nicht reingesehen, aber diese Rezension zu “Trigonometry” klang interessant.

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Dieses Buch ebenfalls mal einplanen, klingt auch gut.

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Ich höre gerade “Glitterschnitter” von Sven Regener, gelesen natürlich von ihm selbst. Hier eine Rezension, die recht gut hinkommt. Passt. Wobei es mir gerade gelegen kommt, dass ich bei dem Buch durch leichte Unaufmerksamkeit nichts Wesentliches verpasse. Die reden da einfach alle immer weiter und ab und zu ist es witzig, doch, ich mag es.

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Wo der Algorhitmus den Menschen schlägt – und umgekehrt. Gerd Gigerenzer im Interview. (Audio)

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Muddy Waters und Sonny Bow Williamson.

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Eine Dankespostkarte

Rückseite

Es kam Geschenkpost! Ein Buch von Stephen Moss über Schwalben, dieses hier. Es ist ein Buch von großer Hübschigkeit, es soll aber auch einen feinen Inhalt haben, so las ich in Rezensionen. Und eine große Standluftpumpe kam auch – wir haben vier Fahrräder, wir pumpen hier dauernd etwas auf, man möchte das möglichst einfach gestalten. Es stand nicht dabei, von wem beides kam, der Dank geht ins Ungewisse. Bereits vor einiger Zeit schon gab es von einer Leserin auf ganz anderem Zustellungsweg selbstgestrickte Socken für die Söhne, das sei hier auch endlich erwähnt, und zwar mit herzlichem Dank.

Vorderseite

Ich muss Dankespostkarten schnell schreiben, sonst klemme ich bei dem Thema auf ganz seltsame Art. Wenn ich sie aber schnell schreibe, dann ist es eine Szene aus den letzten Tagen, die hier abzubilden ist, insofern müssen per definitionem auch gänzlich nebensächliche Motive vorkommen, es wird nicht anders gehen. Und Sie wissen, ich halte mich nicht an das herkömmliche Kartenformat, auf meinen Karten sind Videosequenzen, manchmal sogar mit Tonspur oder Lichteffekten, aber eben nur als Text.

Heute also nur eine Kleinigkeit, im Grunde sogar ein klassischer Fall von: „Gehen Sie weiter, es gibt nichts zu sehen.“ Ich zeige es Ihnen aber dennoch, denn ich habe sonst nichts zu zeigen, es gab nur Home-Office. Und zwar sitze ich mit einem Sohn, dem gerade dringend Imbiss-Essen zugeführt werden muss, weil er soeben spontan ein Stück gewachsen ist, am Rande eines Platzes in der Nähe einer S-Bahn-Station. Es ist warm, man kann draußen noch entspannt herumsitzen, es ist ein Moment im sweet September. Unter einer Brücke in der Nähe steht einer und spielt auf einer Anlage sehr laute, basslastige Reggae-Musik und tanzt exaltiert dazu, als würde er allen vorleben wollen, wie selig uns der Reggae machen kann. Die Melodien und Rhythmen wehen herüber zu uns, gehen aber zwischendurch im Verkehrslärm und im S-Bahn-Geratter unter, es ist eine ausgesprochen großstädtische Geräuschkulisse. Ein paar Meter weiter lagern etliche Menschen, die allesamt, wie man unschwer erkennen kann, ein weit fortgeschrittenes Alkoholproblem haben. Einige dieser Menschen sprechen eine osteuropäische Sprache, einige sprechen Deutsch. Man kennt sich wohl in dieser Szene, man kann sich teils auch über die Sprachgrenzen hinweg verständigen, zumindest auf das Weiterreichen von Flaschen. Die Menschen machen nichts, abgesehen von dem, was sie vermutlich sehr oft tun, also trinken. Und sitzen, liegen und reden. Einer singt auch, aber leise.

Auftritt Polizei, gleich in Truppstärke, sechs oder acht Personen, weiblich und männlich in gleicher Anzahl. Sie tragen vorschriftsmäßig Masken, die lagernden Menschen natürlich nicht. Die Polizei bittet höflich um Räumung des Platzes, und das Wort höflich steht da nicht umsonst. Ausgesprochen höflich bitten sie um diese Räumung und einer der Menschen auf dem Boden sagt mit einiger Mühe etwas, das klingt wie: „Selbstverständlich, gerne“, nur mit weniger und eher unklaren Konsonanten. Die Information wird langsam durch die Gruppe gereicht, übersetzt und dann angeregt diskutiert. Eine Frau sammelt Sachen ein und fragt, wo man denn jetzt hin gehen könne? Ein Polizist erklärt, dass dieser Platz geräumt werden solle, mehr nicht, und er erläutert weiter, wo nach seiner Auffassung dieser Platz endet. Er zeigt dabei etwas vage in eine Richtung, eine weitere Frau mit halbvoller Wodkaflasche in der Hand folgt dem Hinweis mit den Augen und fixiert dort hinten mühsam einen Punkt. „Sehr wohl“, sagt sie dann, „sehr wohl.“

Sie gibt den Hinweis weiter. Die Lagernden stehen stöhnend auf und packen ihre verstreuten Sachen ein, einige haben noch Fragen. Die Damen und Herren von der Polizei beantworten alles freundlich und geduldig, überhaupt werden alle immer noch freundlicher, bis es schließlich ein Spaß wird, sich bei dieser Aktion möglichst formvollendet zu benehmen. Einer der Trinker sammelt ein herumfliegendes Papierschnipselchen auf und verbeugt sich vor einer Polizistin, ob er wohl eben an den Mülleimer hinter ihr treten dürfe, wo er das Papier dann mit großer Geste einwirft und etwas von schöner Ordnung murmelt, dann auf den Boden zeigt, der jetzt aussieht wie gefegt. Die anderen Polizisten beantworten währenddessen weiter Fragen und erklären dies und das, es geht um Uhrzeiten und Plätze, was man darf und was man nicht darf.

Die platzverwiesenen Menschen verabschieden sich schließlich von der Polizei, jeder wünscht die Tageszeit, einige winken, dann stützen sie sich gegenseitig und ziehen in Zeitlupe ab und etwa hundert Meter weiter. Die Uniformierten gehen zurück zu ihren Autos. Sie sehen noch einmal zurück und lachen, es ist, soweit ich das erkennen kann, kein herablassendes Lachen.

Und sonst ist nichts weiter passiert, und so etwas gibt es also auch noch. Man würde es natürlich eher in einer Zeitung oder einem Blog davon lesen, wenn die Szene eine irgendwie unangenehme Wendung genommen hätte. Polizeigewalt, wüste Schlägerei, Racial Profiling, etwas in der Art. Aber nichts davon, gar nichts. Das vielleicht auch mal festhalten?

Ich denke schon.

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Links am Morgen

Ich habe für das Goethe-Institut etwas über den Wahlkampf geschrieben.

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Ein pimmeliges Verfahren. Der juristische Aspekt des mittlerweile auch international renommierten Pimmelskandals.

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Die Verdorfung der Literatur

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Es gibt Nusstorte, aber sie ist schon etwas älter.

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Eine schlüssige Ableitung der Katastrophe.

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Ich habe Tina Uebels “Dann sind wir Helden” gelesen. Ein hervorragend geschriebenes Buch, gutes Thema auch, die Entwicklung der Figuren habe ich gemocht, die Sprache, die Gründlichkeit der Darstellung und die Sache mit G20 – für HamburgerInnen ist die besonders unbedingt lesenswert. Für Leserinnen weiter südlich kommen aber auch Berge vor, zahlreich sogar. 

Ich habe außerdem “Die Bienen und das Unsichtbare” von Clemens J. Setz angefangen. Es geht um künstliche Sprachen und ich fand schon den Einstieg ganz unerwartet interessant und mitreißend. Bewegend geradezu. Jetzt schon eine Empfehlung, nach nur zwei, drei Kapiteln.

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Eine euphorische Rezension über Glitterschnitter. Das also auch mal vormerken.

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Eine Geschichte vom Helfen. Auf Spotify übrigens findet man “Die vier Tage von Jean Gourdon” von Émile Zola als Hörbuch, eine etwas längere Erzählung, die eine fulminante Beschreibung einer Flutkatastrophe enthält. Ein Fluss tritt über die Ufer und reißt alles mit sich, tötet Mensch und Vieh, zerstört Häuser und Ortschaften. Unheimlich, aber in Frankreich im vorletzten Jahrhundert, also weit weg von uns.

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Spaziergangsmenschen in Herbstmode

Ich höre weiter „Sterben im Sommer“ (Zsuzsa Bánk), bei einer Alsterrunde am frühen Abend beende ich es. Das Ende ist schön, und wenn man sich dafür an einem Spätsommertag an ein Ufer stellt, um es in Ruhe zu hören, dann ist es sogar noch viel schöner. Das war unerwartet, aber ich stand da sensationell passend für die letzten Sätze. Ich sehe weiter den Clan (auf arte), einmal also Ungarn, einmal Belgien. Ich finde es seltsam erholsam, so viel von Ungarn zu hören, ohne dass es dabei um den dort regierenden Unsympathen geht, ich finde es auch unterhaltsam, bei den Bildern aus Belgien, bei denen überhaupt nicht betont wird, dass sie aus Belgien sind, die Kleinigkeiten zu entdecken, die eben doch darauf hinweisen, dass es sich um Bilder aus einem anderen europäischen Staat handelt. Im Handeln der Figuren auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu achten, das macht Spaß. Europa kann so sympathisch und interessant sein, ab und zu muss man auch darauf wieder hingewiesen werden. Vermutlich kommt mir nach wie vor zu wenig, viel zu wenig Literatur und überhaupt Kultur aus Litauen, Slowenien, Norwegen, Montenegro, dem Baskenland usw. unter, vermutlich ist da eine Lücke, eine entsetzliche Lücke.

Ungarn ist das einzige Land, aus dem mich jemals eine formvollendete Abmeldung vom Blog erreicht hat. Der überaus freundliche Hinweis einer mir bis dahin unbekannten Hinterbliebenen per Mail war das, in der stand, dass ich dort nun eine Leserin weniger habe, eine Dame, die ich früher einmal gekannt habe: „Sie hat sie immer gerne gelesen.“ Wann erfährt man so etwas schon als Autor? Eine Trauermitteilung war das, eine Leserin weniger. Ich habe mich damals für den Hinweis bedankt, und ich habe bei den nächsten veröffentlichten Texten an diese Leere in Ungarn gedacht, an diese Nichtmehrleserin am Balaton.

Ich denke immer noch manchmal daran.

Auf der Alster sehe ich Segel dicht an dicht, eine Überfülle an Booten, ein schwappendes Verkehrschaos. Diese Stadt ist zu groß und zu freizeitgeil für so einen kleinen aufgestauten See. Stand-Up-Paddler mit freien Oberköpern, austrainierte Muskeln im letzten Sonnenlicht. Oben der Himmel ist dezent weiß bewölkt, wolkig eingefasst und da, wo am Mittag noch das tiefe Blau war, ist er jetzt fast unangenehm süßlich lilafarben, so ein blasses Fliederlila ist das, und Achtung, Klischeeverdacht, an einigen Stellen ahnt man auch ein unvermeidliches Rosa. Man kennt das so aus jedem Aquarellkurs am Meer, man würde es sich nicht hinhängen.

Auf dem Fußweg am Ufer, im schon tiefer werdenden Baumschatten, stehen und gehen Spaziergangsmenschen. Die tragen schon Herbstmode, vermutlich deswegen, weil sie die gerade gekauft haben, neue Kollektion. Und dann zieht man die Sachen eben an, und dann steht man da im arg neu aussehenden und noch unpassend herbstbraunen Übergangsjäckchen am Ufer und sieht auf die halbnackten Wassersportler, die in dieser geradezu abgeschmackten Kitschpostkartenkulisse da noch einmal die Sommerinszenierung aufführen. Bis zur letzten Vorstellung am, Moment, Donnerstag, wenn der Wetterbericht stimmt, führen sie die noch täglich auf, und dann räumen wir das Lila, das Rosa, die Segelbötchen und die Boards und den ganzen Sommer weg und machen die Übergangsjacken zu und spannen die Schirme auf.

Ich sehe mir das künstlerisch eher zweifelhafte Lila da oben noch einmal an. Aus ihm heraus kommt mir etwas entgegengetaumelt. Ein Lindenblatt ist es, das auf meiner Jeans landet, ein Blatt mit einer streifigen Ahnung von Gelb.

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Links am Morgen

Warum wird Kindern so viel zugemutet?

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Kaufen Sie kein Elektroauto!

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Kidding?

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Die Wahlomatisierung der Demokratie

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54books fragte auf Twitter nach Zitaten aus Filmen, Büchern etc. im Sprachgebrauch, und die Antworten sind allemal unterhaltsam genug für eine Kaffeepause.

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Ich sehe ausgesprochen selten Serien, aber die belgische Serie “Clan” gefällt mir, auch wegen der ungewöhnlichen Erzählweise. Hier eine Rezension dazu, sehen kann man die zehn Folgen gerade bei bei arte.

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Die Kürbissaison mit den ersten beiden Hokkaidos aus dem eigenen Garten gestartet, mit dieser Suppe, bewährt aus den Vorjahren. 

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Eine Instagram-Empfehlung, ich mag die Bilder von Natela Grigalashvili.

 

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Montag

Zum Wochenanfang erst einmal um 5 Uhr morgens so gegen ein niedriges Möbelstück im noch nachtdunklen Flur rennen, dass das Schienbein blutet. Okay, denke ich, und schreie trotz des jähen Schmerzes nicht laut herum, denn alle schlafen noch und es nützt ja auch nichts und ich bin mittlerweile alt genug, um mich manchmal halbwegs zusammenreißen zu können, okay, denke ich, auch diese Woche ist also ein harter Hund. Da mal mithalten!

Ich steige fluchend und knurrend in die Dusche. Blut in der Wanne, es verquirlt sich mit dem heißen Wasser in Richtung Ausguss. Farbige Schnörkel auf Weiß, ich denke unwillkürlich an den Buchtitel von Wondratschek: „Früher begann der Tag mit einer Schusswunde.“ Auf was man so kommt!

Ich gehe humpelnd ins Büro. An der großen und vielspurigen Kreuzung, die auch noch unfassbar hässlich ist, ein überdimensionierter urbaner Affront gegenüber Fußgängern ist das da eigentlich, stehen zufällig gleich drei SUVs in der ersten Reihe an der roten Ampel. Schwarz, riesig und monströs sind diese Autos. Sie sind von verschiedenen Herstellern, aber sie sind im gleichen Geist gebaut. Als die Ampel auf Grün umspringt, geben alle drei Fahrer Gas, und wie sie Gas geben. Jetzt nur nicht verlieren, Erster sein, Bester sein, Schnellster sein, drei röhrende Motoren, die Fahrzeuge schießen gleichzeitig nach vorne. Es ist alles dermaßen lächerlich, denn die drei Fahrer, Männer natürlich, sie wollen am Ende auch nur in irgendein Büro, meine Güte. Ja, toll, du warst heute echt schnell im Großraumbereich, Respekt, du wilder Krieger, du Hektor unserer Tage.

Es gibt in Hamburg eine Soko Autoposer. Die sollen die Typen jagen, die ihre Autos übertunen und in der Stadt damit nachts illegale Rennen gegeneinander fahren. Die Damen und Herren aus dieser Soko könnten sich morgens auch einfach an diese Ampel stellen, alle Vorkommnisse dort notieren, zack, Jagd vorbei, that was easy.

Ein Mann auf der anderen Straßenseite, sechs Spuren weiter. Er lehnt an der Ampel und sieht in etwa so müde aus, wie ich mich noch fühle. „Just do it“ steht groß auf seinem knallbunten Hoodie, „Just don’t“ steht in seinem grauen Gesicht.

Unter der Brücke drei Obdachlose, eng aneinander liegen sie da im Dreck, im Lärm und in kaputten Klamotten und zerschlissenen Schlafsäcken. Vor ihnen eine große Papiertüte mit letzten Habseligkeiten, auf der Tüte steht: „Haute Couture.“ Die Aufschrift auf den Tüten und Kartons, die Obdachlose bei sich haben, ist fast immer zynisch. Im letzten Jahr sah ich irgendwann, ich schrieb auch darüber, den Obdachlosen unter dem Karton von „Maisons du Monde.“ Was für eine unfassbare Gemeinheit.

Eine Frau steht vor einem der Bürogebäude in Hammerbrook und wühlt in ihrer Handtasche. Sie wühlt immer schneller und guckt zwischendurch bittend zum Himmel, sie wühlt jetzt eindeutig hektisch, sie weint. Sie hat etwas nicht mit, vermutlich war es enorm wichtig, sie schluchzt. Vielleicht ist es auch ganz anders, vielleicht ist es noch schlimmer, man kann es im Vorbeigehen nur raten. Jedenfalls aber: Tränen am Montagmorgen, da ist die Woche dann auch bereits gelaufen, nehme ich an.

Im Vergleich, denke ich, im Vergleich geht’s mir ja noch gold. Es ist nur ein Montag, es ist nur eine dieser Wochen.

Just do it.

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Dreimonatstage

Morgens um fünf Uhr, wenn ich aufstehe, ist es fußkalt und stockdunkel in der Wohnung, ist Pullover- und Dickesockenzeit, ist mittlerer bis später Oktober und das ist nicht der mit dem Gold, oh nein. Gegen neun, zehn Uhr am Vormittag geht es schon langsam auf einen früheren Monat zu, im spätsommermilden Windchen wehen Septemberspinnen am Balkon vorbei, kleines, ganz kleines und nur hauchfeines Geprange der vorbeiziehenden Glitzerfädchen vor Postkartenhimmel, dazu Kirchenglocken und Kinderlachen vom Spielplatz. Man möchte aufstehen, rausgehen und dem Vorbeigewehten hinterhergehen, man möchte Landschaften sehen und Strecke machen. Es ist Wanderwetter, bis zum Meer möchte man gehen, den Flüssen nach, in meinem Fall also der Elbe nach. Und um elf Uhr brät der August uns dermaßen die Fenster gar, dass man schon wieder alles von sich werfen möchte, in was man sich am frühen Morgen noch fröstelnd gekuschelt hat, dass man da einfach nur noch sitzen möchte, aber möglichst im Schatten und mit Schirmchengetränk und Klingklangeiswürfeln darin. Bis es am frühen Abend schließlich wieder vier Wochen später werden wird und um zehn dann noch einmal. So läuft das hier gerade. Ich ziehe mich dreimal am Tag um, wie in einem älteren englischen Roman.

Wir haben die Kindergeburtstage durch. Mein Zukunftsteam, wie ich den Nachwuchs neuerdings launig nenne, ist jetzt 12 und 14 Jahre alt. Im Grunde müssten wir mit der Zählung des Alters einmal aussetzen, weil sie doch im letzten Jahr nicht recht Kinder sein durften, aber so läuft es natürlich nicht.

Ich habe ein freies Wochenende, also von Kindergeburtstagen und Haushalt, Hausaufgaben, Lernen etc. einmal abgesehen. Ich habe jedenfalls keinen bezahlten Job zu tun, keinen Text zu schreiben, keine Deadline zu fürchten, ich habe es tatsächlich geschafft. Das ging jetzt erstaunlich schnell, neulich war doch erst das Vorhaben dazu hier verzeichnet, jetzt kommt schon die erfolgreiche Umsetzung. Das ging sogar zu schnell für mich. Ich fühle mich nicht gut vorbereitet, ich sitze etwas ratlos herum und denke: „Ja, was jetzt“. Man muss eben alles erst üben, man muss alles erst lernen. Auch Pausen.

Ich höre „Sterben im Sommer“ als Hörbuch, Zsuzsa Bánk. Nicht eben die amüsanteste Lektüre, versteht sich, aber herbstlich angemessen und Ungarn – auch mal interessant.

Ansonsten der Rücken, der Schreibtisch, das Problem. Ich sitze hier dummerweise etwas schmerzverkniffen und leise stöhnend. Ich mache also alles aus und gehe, im Gehen wird es besser. Das habe ich so beschlossen. Sicherheitshalber gehe ich aber zur Alster und nicht an die Elbe. Das Meer ist für heute dann doch zu weit und um die Alster verläuft man sich gewiss nicht in eine unwägbare Ferne.

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