Brot, Butter, Bienenstich

Donnerstag, 9. November. Gestern am Abend gelesen und gemocht: Das Brot der frühen Jahre, Heinrich Böll. Eine kurze Nachkriegsgeschichte. Dabei wieder gemerkt, dass mir die Zwanziger, Dreißiger und auch Vierziger des letzten Jahrhunderts vorstellbarer und im Geiste besser zu bebildern sind als die Fünfziger, das ist ein deutliches Ergebnis des schulischen und auch selbstgewählten Bildungsschwerpunktes, all der gelesenen Bücher und der gesehenen Filme. Es ging oft eher darum, wie es alles kam und wie es dann war, nicht so sehr darum, wie es direkt danach weiterging. In dem Bereich blieben Lücken.

In meiner Familie wurde auch aus dieser Zeit nichts oder kaum etwas erzählt, so wenig wie aus dem Dritten Reich, es wurde nur immer die Arbeit betont, der Fleiß, die Leistung. Der Satz meiner Großmutter: „Butter ist mein Lebenselixier“, er wird aber auch keine zufällige Äußerung gewesen sein. Es war kein leichter, fröhlicher Satz, und die seltsame Dringlichkeit, mit der sie uns Enkel stets zum Essen aufforderte, wir haben sie als Kinder nicht recht verstanden.

Plötzlich Lust auf Frankfurter Kranz und Bienenstich. Schlimm.

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Ein grauer Home-Office-Tag ansonsten, an dem sich die Hoffnung hauptsächlich darauf richtet, dass bitte keine neuen historischen Ereignisse in den nebenbei laufenden Newsstreams auftreten mögen. Das muss man an diesem Datum stets bis Mitternacht durchgehend denken, denn man weiß nie. Diesem Land ist entschieden zu viel zuzutrauen, der Weltgeschichte sowieso.

Gegenüber der Kirche wird nun der Weihnachtsmarkt aufgebaut, es entstehen die üblichen Holzbuden, Glühwein, gebrannte Mandeln, Wurstverkaufsstände. Es ist ein schwullesbischer Weihnachtsmarkt, „Winterpride“ heißt er und hat eine schon lange Tradition, die Erlöse gehen teils an diverse Hilfsorganisationen, die dort abwechselnd das Personal stellen und ausschenken. Die Musik bleibt, so viel steht fest, frei von Last Christmas etc. und es ist ein zuverlässiger Stadtteiltreff.

Man stellt sich da abends hin und trifft die und den, der Markt ist so gelegen, dass irgendwann alle vorbeikommen, und das immerhin kann nett sein, auch abseits der weihnachtlichen Anmutung.

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Ansonsten in der Bücherei gewesen und weitere Nachkriegslektüre besorgt, Böll, Lenz, Eich, Richter. Mir ist gerade so, der Ernst der Werke spricht mich an, er passt auch in den Monat und zur Lage. Und irgendwo, fällt mir ein, muss hier auch noch ein ungelesener Roman von der Haushofer herumstehen. Den auch mal hervorsuchen, der passt mir jetzt gut ins Konzept.

Ich mochte schon bei der damaligen Schullektüre das Gedicht „Inventur“ vom Eich. Heute gibt es etwa 10.000 Gegenstände in einem Durchschnittshaushalt, lese ich, die Inventur von 2023 wäre unweigerlich ein Vers-Epos und irgendwo darin könnte ich unterbringen: Dies ist mein Günter-Eich-Lesebuch.

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Im Bild heute kein Rettungsring, aber doch etwas Rettendes, nämlich Regenschirme. Man braucht sie hier ab und zu, deswegen hängt die Stadt größere Mengen davon über den Straßen auf.

Bunte Regenschirme als Deko über einer Straße in der Hamburger Innenstadt

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Sie können hier Geld in den allerdings nur virtuell vorhandenen Hut werfen, herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch, die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel.

Der Blick durch die Krone einer Jurte am Morgen

Gelesen weiter in den Briefen der Kaléko und auch noch etwas in den Erinnerungen von Gabriele Tergit. Letzteres ist ein beunruhigendes Buch, wenn man an die aktuellen Ergebnisse der Nazis in den Umfragen und an die wieder so modern gewordenen Schuldzuschreibungen an Gruppen denkt. So beunruhigend war die Lektüre, danach hatte ich einigermaßen finstere Albträume von noch finstereren Zeiten, und das kam jetzt schon zum wiederholten Male vor.

Ich wäre mittlerweile so etwas von bereit für irgendein Zeichen der politischen Hoffnung, aber das geht Ihnen vermutlich ebenso.

***s

Der Dienstag dann überfüllt, erst lange im Home-Office gearbeitet, dann komplizierte Diskussionen um Schulfragen, danach gab es noch einen belastenden Termin in einem anderen Stadtteil. Grässlich.

Abends Bach gehört, das immerhin. Bach, November und frühe Dunkelheit passen sehr gut zusammen.

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Mittwoch. Während die Krähe mich jetzt bis auf Armeslänge herangezähmt hat, wird, und das überrascht mich, auch der Eichelhäher allmählich deutlich zutraulicher und fliegt nicht mehr weg, wenn ich hinter der Balkontür stehe, nicht einmal mehr, wenn ich mich bewege. Nur die Elstern bleiben hartnäckig bei maximaler Distanz und Skepsis, die vertrauen niemandem und lassen sich kategorisch auf nichts ein. Ich denke, sie hängen an dem Gefühl, dass sie die ausgelegten Nüsse auf eine betont ruppige Art rauben und erbeuten, dass sie nicht etwa einfach nur wie Nutzvieh wegfuttern, was ihnen jemand in einen Trog gelegt hat. Eine Frage des Stolzes wird es sein, Elstern leben wild und gefährlich.

Das Tageshighlight war dann aber ein Buntspecht an den Meisenbällen, der die Kugeln wie in einem Cartoon mit Tom & Jerry zügig weghämmerte, dass die Krümel nur so flogen.

Meisenbälle nachbestellt. Viele.

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Beim abendlichen Spaziergang sehe ich auf dem Hotel gegenüber und auch am Rathaus eine merkwürdige Flagge, da wird also wieder ein Staatsgast in der Stadt sein, der bei mir in der Nachbarschaft übernachtet, aber diese Flagge habe ich noch nie gesehen. In der Mitte sehe ich etwas, das mir zunächst wie ein Tennisball vorkommt, es ist wirklich seltsam. Die Flagge von Kirgisistan, wie ich dann später herausfinde und selbstverständlich nachlese, hier die Wikipediaseite dazu.

Der Ball in der Mitte wird dort als Tündük erläutert, als die Krone einer Jurte, durch die man beim Aufwachen am Morgen die Sonne sieht. Auf der eben verlinkten Seite ist eine Abbildung, durch die wird das Bild vorstellbar, und ich finde, es ist eine sehr hübsche Erklärung für eine Flagge.

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Im Tagesbild reiche ich Ihnen noch einmal einen Rettungsring. Warum auch nicht.

Blick über das Fleet bei der Rathausschleuse vor den Arkaden, im Vordergrund ein Rettungsring an einem Fahnenmast, blaues Abendlicht

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Für eine Handvoll Laub

Vorweg ein herzlicher Dank für die freundliche Zusendung von Eichhörnchenfutter und frischen Notizbüchern, sehr schön!

Uns erreichen die durchritualisierten Lernentwicklungsgesprächsterminmails aus der Schule, womit sich das Schulhalbjahr schon dem Ende entgegen neigt. Ich schicke am Montagmorgen den letzten längeren Text des Jahres ab, womit sich mein freiberufliches Jahr dem Ende entgegen neigt, nur noch drei kürzere Arbeiten sind zu liefern, wobei es mit dem „nur noch“ natürlich immer so eine Sache ist. Ich werde auch im Brotberuf in dieser Woche einen Hebel umlegen, mit dem der allgemeine Jahresschluss beginnt, und so richtet sich langsam alles auf das Finale aus. In jedem Bereich beginnen nun die Vorbereitungen, überall einmal herumgehen und in aller Dezenz „Wir schließen gleich“ murmeln.

Diese Woche dürfte anstrengend werden, wenn es hier Unterbrechungen im Blog geben sollte, dann liegt es daran, nicht etwa an einem Novembertief, zu dem ich eher nicht neige, im Gegenteil. Es wird dann aber auch, so steht zu hoffen, gegen Ende der Woche die größte Hürde genommen sein. Dann langsam abflauen und die Restwerktage zählen. Na, was man sich so denkt und erhofft.

Im Bild passend dazu ein Rettungsring. Man hat es in Hamburg-Mitte nie weit bis zu so einer Ansicht.

Blick auf die Neubebauung am Baakenhafen, im Vordergrund ein Rettungsring am Geländer des Weges neben dem Elbeseitenarm

Bei der Einkaufsrunde sehe ich in einem Schaufenster heute den ersten Deko-Tannenbaum, pinkfarbenes Plastik, ich fühle nichts. Also nichts Weihnachtliches. Auch nicht ein Fenster weiter, vor den bunten Schokoweihnachtsmännern in Übergröße.

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Unten auf dem Spielplatz steht eine Mutter mit einem kleinen Kind, drei, vier Jahre wird es sein, sonst ist niemand da. Die Mutter sammelt gelbes Laub und wirft die Blätter jauchzend über das Kind, das mit hängendem Kopf neben ihr steht, hoch in die Luft wirft sie die Blätter, sieh doch, wie lustig. Und das Kind steht mit ernstem Blick und sieht sie an. Ob sie jetzt wohl vollkommen verrückt geworden sei, fragt es vielleicht wortlos, steht die da, schmeißt Blätter und macht komische Geräusche, geht man dafür raus oder was, also wirklich. Das Kind dreht sich um und stapft entschlossen mit ernsten Gummistiefelschritten zum Spielplatztor, es hat vermutlich für heute genug von dem Novemberunsinn auf dem leeren Spielplatz.

Die Mutter sieht in den Himmel und atmet.

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Ich lese Novembergedichte, aber die meisten passen nicht recht zu meinem Erleben. Ich müsste deutlich mehr Natur vor der Haustür haben, einen Wald und eine freie, unverbaute Flusslandschaft am besten, um den Versen näher zu sein. Einen Wald und eine Flusslandschaft und auch Hügel, zwischen denen der Nebel am Morgen schön liegen und wabern und verwehen kann. Im November, fällt mir dann ein, kam damals der Heine:

„Im traurigen Monat November war’s

Die Tagen wurden trüber

Der Wind riss von den Bäumen das Laub

Da fuhr ich nach Deutschland hinüber.“

Die heutige Nachrichtenlage würde ihn sicher nicht beglücken, käme er jetzt wieder herüber, darf man wohl annehmen. Als ob sie es jemals getan hätte.

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Währenddessen in den Blogs

Lila schreibt aus Israel. Auch in diesem Text.

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Es wird mehr Mozart gehört

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Die Daily-Irgendwas-Methode

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Sometimes

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Eine kurze Anmerkung zu Schulbussen in den USA

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Germany is always a bit disappointing when you‘re travelling.

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Und wir bilden uns wieder mit Frau Büüsker weiter

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Jeder harkt für sich allein

Sonntag, der 5. November. Jahreszeitlich wiederum passend geht es in zumindest einer meiner Timelines gerade um den Tod und um die Vorbereitung darauf, es wird ein Link geteilt zu einem Patientenverfügungsgenerator der Verbraucherzentralen, das kam mir recht praktisch vor.

Ich halte viel davon, sich mit dem zu beschäftigen, was der Kalender, das Wetter, das Brauchtum und auch manche Familientraditionen für die Monate vorgeben, selbst dann, wenn man die oft religiösen oder grundsätzlich überholten Wurzeln dieser Rückbindungen in die Vergangenheit nicht mehr nachvollziehen kann oder mag. Sie haben dennoch ihre Berechtigung, nehme ich jedenfalls an.

Im November ist das Thema Tod naheliegend, da kann man also wieder ein paar Dinge ordnen und durchsortieren, warum auch nicht, siehe ebenfalls Organspendeausweis etc. Man hat doch seine To-Dos bei allen Themen, wenn man auch, aber das sage ich mir seit Jahren ohne jeden messbaren Effekt, eigentlich im November und Dezember ausdrücklich weniger To-Dos haben sollte.

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Das wird manche vermutlich interessieren, es gibt eine neu erschienene Biografie zu Tove Ditlevsen.

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Endlich einmal wieder viel Zeit mit Lesen am Stück verbracht, ganze Stunden. Es wäre doch einigermaßen beglückend, wenn mir das wieder öfter gelingen würde. Der Bücherstapel neben dem Bett ist angenehm hoch, ich finde das ausgesprochen tröstlich so, und die Aussicht, diese Werke auch tatsächlich zu konsumieren, sie macht es noch besser.

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Bei Regen und 11 Grad mit der Herzdame und einem Sohn am frühen Nachmittag in den Garten gefahren, es gab dort etwas zu tun, es gibt dort immer etwas zu tun. Lange Laub geharkt, hauptsächlich Birke, Eiche und Weide, gut zu unterscheiden. Dabei wieder mit Genuss Siegfried Lenz gehört, die Deutschstunde. Die Herzdame und der Sohn hörten anderes bei der Arbeit, es war ein eher stoisches Harken im Regen ohne familiären Austausch. Jeder harkte für sich allein, mit Text oder Musik unter der Kapuze. Das Laub flog und fügte sich, die Rechen arbeiteten sich voran, der Regen regnete grau und stetig und wir, der Garten und die ganze Stadt wurden gleichmäßig nass. Eine einfache Übung im Stoizismus, im Weitermachen, leicht zu bewältigen, gesund und nützlich. So überaus angenehm, danach wieder nach Hause zu kommen, sich einen Tee zu machen und die nassen, kalten Klamotten gegen das Gemütlichste zu tauschen, was gerade zu finden ist. Und dann sogar noch frisch gebackenen Kuchen vom Vormittag in der Küche zu haben, die Herzdame hatte vorgesorgt, es war sehr gut so.

Dann auf das Sofa, durch die Wände hörte ich wieder die Musik der verrückten Nachbarin, sie spielte den ganzen Tag immer wieder I will always love you, in der Version von Whitney Houston. Und noch einmal. Und noch einmal.

Ich setzte mir Kopfhörer auf, ich schottete mich wieder ab. So what.

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Im Bild heute musikalisch etwas unpassend die Roland-Kaiser-Hools. Ich lebe in einer Großstadt, man muss hier stets mit allen möglichen Gruppierungen rechnen.

Ein gesprühter Schriftzug an einer Wand: Roland Kaiser Hools

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Die Gegenwart vor der Haustür

Sie erinnern sich an das Bild von gestern, das mit dem weißen Schriftzug „Love“ an der Mauer? Ich biete noch etwas Kontext, in welchem Umfeld Love hier stattfindet, und Sie werden gleich wieder denken, jetzt übertreibt er aber … nun, dem ist nicht so.

Wir haben da also diese Ziegelmauer im Bild, es ist die Rückseite der Kirche vor unseren Fenstern. Rechts von dem Schriftzug „Love“ und nicht mehr im Bild ist eine metallene Treppe, darauf sitzt ein haltlos wirkender Junkie, in sich zusammengesunken wie ein Mensch ohne Knochen, vor seinen Füßen das übliche Zubehör, das ihm zu diesem Zustand verholfen hat. Links vom abgebildeten Mauerwerk der Backstage-Bereich der wöchentlichen Essensausgabe in der Kirche, es werden gerade gespendete Lebensmittel palettenweise von Freiwilligen verräumt. Auf der anderen Seite der Kirche dann die lange Schlange der Hungrigen und  Bedürftigen, da werden die Lebensmittel an die Wartenden ausgegeben.

Einmal halb um die Kirche herum, auf einer kleinen Fläche neben dem Spielplatz, wo an der Mauer äußerst dekorativer Wein wächst und gerade herbstlich bilderbuchmäßig aussieht, beten fünf Männer gen Mekka. Warum sie das hier draußen tun und nicht in der Moschee um die Ecke, das weiß ich nicht, dass sie es hier aber tun können, ist vielleicht, mit etwas Glück, auch als gutes Zeichen zu sehen, als kleiner Aspekt religiösen Friedens.

Ich weiß nicht, wie es heute ist, vor ein paar Jahren jedenfalls hatte die Gemeinde hier eine gute Beziehung zur Gemeinde der Moschee ein paar Meter weiter, es gab auch gemeinsame Veranstaltungen. Vielleicht ist das immer noch so. Vielleicht gibt es auch eine viel schlechtere Erklärung für das, was ich sehe.

Vor den betenden Männern der Spielplatz, darauf drei Väter mit Kleinkindern, die von ihnen geschaukelt werden, heute sind keine Mütter im Programm. Das kommt vor, wenn es auch der seltenere Anblick ist, aber über die Jahre, und ich habe das gut im Überblick, steigt die Männerquote auf diesem Platz deutlich. Langsam, aber eben auch unübersehbar.

Gegenüber sehen wir ein Plakat in einer Wohnung im ersten Stock, da wird vermutlich eine Mietwohnung in Eigentum umgewandelt, eine Maklerwerbung ist es. Die Preise von so etwas sieht man in meinen Kreisen schon seit vielen Jahren nicht mehr nach, nicht einmal, um darüber zu lachen, sie sind viel zu absurd.

Vor den Fenstern der zu verkaufenden Wohnung eine Zone-30. Sie interessiert kategorisch niemanden, man kann da so schön beschleunigen.

Vor der Kneipe an der Ecke des Platzes stehen einige Männer, rauchen und trinken Bier. Im Fenster des Etablissements hängt wieder der jahreszeitlich obligatorische Grünkohlhinweis, an den ich mich noch aus dem letzten Winter erinnere, und mir kommt es gerade so vor, als ob es neulich erst war. Mit vegetarischer Option gibt es ihn, den Grünkohl.

Zwischen den parkenden Autos an der Kirchenrückwand ein Obdachloser im nassen Schlafsack.

So in etwa das Gesamtbild, einmal um die Kirche herum. Ziemlich viel Gegenwart auf ein paar Metern, denke ich immer wieder, und dabei war ich noch gar nicht im Hauptbahnhof mit seinem trubeligen Leben, dabei war ich nur eben ein paar Meter vor der Tür und einmal um die Kirche herum.

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Ansonsten das Tagebuch von Stefan Zweig durchgelesen. Jetzt die Briefe von Mascha Kaléko, der erste Band, und sie geht da gerade, 1956 ist, in ihren Schilderungen etwa zwei Gehminuten von dem eben Geschilderten entfernt herum, in einem sehr kalten Winter. Hamburg in Eis und Schnee beschreibt sie, wie es meine Söhne kaum noch kennen. Der letzte Eiswinter war in ihrer Kleinkindzeit, danach gab es keinen mehr.

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Und noch eben ein neues Bild, ich lege mal etwas Liebe nach, nicht wahr, der Bedarf scheint doch erheblich zu sein.

Ein Aufkleber "Liebe für alle" (Schriftzug in einem Herz) vor der Rückseite des Maritimen Museums und einem Fleet

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Zwischen Böll und Brecht die Demo

Freitag, der 3. November Gestern am Abend noch weiter in Stefan Zweigs Tagebuch gelesen. Seine Notate zum Kriegsverlauf klingen 1915 etwas atemlos nach Sportberichterstattung, was ich nicht als Kritik meine, natürlich nicht, sondern nur als Feststellung, dass es den Menschen damals auf die denkbar schlechteste, grauenvollste Art auch so vorgekommen sein wird. Immer wieder die Gerüchte und dann das bange Warten auf die Sonderausgaben der Zeitungen, denen auch nur bedingt zu trauen war. Ich glaube, ich kann es mir noch halbwegs vorstellen, meine Söhne allerdings werden es kaum noch können, sie sind ja nicht einmal mehr mit den gewöhnlichen Ausgaben von Zeitungen vertraut. Tempi passati.

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Dann Brahms gehört, Deutsches Requiem. Gut gefunden, aber doch dabei eingeschlafen.

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Im Spam-Ordner sehe ich nun wieder mehr zur spanischen Weihnachtslotterie, so schreitet das Jahr voran.

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Am Nachmittag in der Bücherei. Ich habe allerdings keine Ahnung, was ich eigentlich möchte, ich gehe da nur so zwischen den Regalen herum, entdecke die Möglichkeiten und mag, dass es hier eine so große Bücherei gibt. Bei den Romanen einfach einmal bei A anfangen und nachsehen, was dort so alles herumsteht. Es beginnt mit Aaron, ich habe den Vornamen vergessen, pardon. Zwischen Böll (viele Bände) und Brecht (noch viel mehr Bände) von draußen wieder die Geräusche einer Demoauflösung, vermutlich die geplanten Proteste nach den Freitagsgebeten. Es klingt ein wenig nach Krawall, nur kurz, bei Döblin ist schon alles wieder still. Aber wieder das Blaulicht überall, es ist das Kennzeichen dieser Wochen in der Stadtmitte, und es wird sich heute noch über Stunden hinziehen, alle paar Minuten flackert es auf. Immer wieder auch die unverständlichen Lautsprecherdurchsagen aus Richtung des Bahnhofs, dann Musik, dann auf einmal erstaunliche Stille, sogar ohne Verkehrsgeräusche, dann wieder Krach, über uns ein Hubschrauber. Auf dem Hin- und Rückweg mittlerweile ganz selbstverständlich überall die Polizeitruppen, um den Bahnhof herum, im Bahnhof, man geht da so durch.

Am nächsten Tag werde ich es alles wieder nachlesen können. Grundsätzlich, so sah ich gestern, bleiben propalästinensische Demonstrationen erst einmal weiterhin verboten, es wird mit der Gefahrenlage begründet.

Im Bild heute etwas Liebe, sie scheint doch weiträumig zu fehlen. An dieser Mauer bei uns um die Ecke aber , da ist noch etwas.

Der weiße Schriftzug Love an der roten Backsteinmauer einer Kirche, davor Herbstlaub auf dem Boden

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Die Glühweinkonstante

Mittwoch, der 1. November. Bei einem zufälligen Treffen mit einem Freund auf der Straße die erste Weihnachtsmarktverabredung getroffen. So weit sind wir nämlich schon, die machen in Hamburg in diesem Jahr ungewöhnlich früh auf, diese Märkte, Mitte November schon, und das ist … gleich.

Bratwurst und Glühwein kosten, so lese ich am Morgen, auf den Hamburger Weihnachtsmärkten noch so viel wie im Vorjahr. Eine Konstante, eine Konstante, das gibt es ja heute kaum noch. Beide Produkte finde ich allerdings auch konstant eher wenig attraktiv.

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Und ein weiteres saisonales Bemerknis fällt noch an, In Hamburg fährt ab sofort wieder der Kältebus. Und was es da diesmal für einen Bedarf geben wird, ich mag es mir nicht vorstellen.

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Donnerstag, der 2. November. Home-Office, lang und breit, das bringt die Jahreszeit bei mir so mit sich und es wird sich noch steigern lassen. Danach das erste Mal und gewissermaßen programmgemäß novembrig das Tageslicht verpasst, als ich endlich das Notebook zuklappte und rausging zum Einkaufen, da wurde es gerade schon dunkel. Ein kurzer Moment der Irritation, es kommt doch immer recht plötzlich, obwohl es immer so kommt. Der ritualisierte Blick auf die Uhr, das kurze Nachdenken, ob das überhaupt alles so passen kann.

Aber es stört mich nicht weiter, es ist alles recht so. Ich finde es gemütlich, nicht belastend. Die Mehrheit in meinen Timelines scheint das anders zu sehen, die gehören alle eher Frühjahrsfraktion.

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Weiter viel im Tagebuch von Stefan Zweig gelesen: „Ich sollte Gesellschaft meiden, ich bin zu erbittert gegen Verlogenheiten.“ (1914).

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Im Stadtteil hängen die ersten Flugblätter, die sich gegen Israel richten. Sie werden schnell von Passanten wieder abgerissen, soweit ich es mitbekomme. Gleichzeitig beginnen die Jüdischen Kulturtage in Hamburg, die man sich bei der Planung sicher in einem friedlicheren Kontext vorgestellt hat. Die Synagogenbesichtigung sehe ich leider zu spät, die hätte mich interessiert.

Im Bild das Schauspielhaus um die Ecke. Was sie da auf die Bühne bringen, das ist eher nicht mein Fall, was sie draußen aufhängen, das aber meistens doch.

Ein großes Banner am Schauspielhaus: Nein zu Antisemitismus und Terror - ohne wenn und aber

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Arbeit und Alltäglichkeit

Noch Dienstag, der 31. Oktober. Der Titel dieses Eintrags stammt aus dem Tagebuch von Stefan Zweig, ein sehr kurzer Eintrag Anfang 1915 ist es, „Arbeit und Alltäglichkeit.“ Man kann nicht vieles aus diesem Tagebuch in die Gegenwart übernehmen, aber das schon. Solche Tage gibt es sicher quer durch alle Zeiten, seit der neolithischen Revolution und wohl bis ans Ende unserer Geschichte.

Viel in seinem Tagebuch gelesen, seine schnell abklingende Kriegsbegeisterung 1914, die Ernüchterung 1915, die Sorge um den allgemeinen kulturellen Rückschritt.

Außerdem Mozarts Requiem komplett durchgehört, ich vertrage klassische Musik gerade erstaunlich gut. Das mal ausnutzen. Ich verbringe nun wie geplant deutlich mehr Zeit abseits des Computers und ich nutze sie altmodisch, mit Büchern und Musik, mit Spaziergängen, mit Kochen und mit hochkonzentriertem Nichtstun, mit Raufaserbetrachtungen. Zusammensuchen, was einem noch guttut, das wird jetzt wichtiger. Ich nehme an, es geht nicht nur mir so.

Ein Regenfeiertag war es ansonsten, den die Herzdame und ich für Administratives, Organisatorisches und kleinere Werke nutzen. Mit einem Sohn außerdem Philosophie gelernt, Utopie, Eutopie und Dystopie.

Ich gehe am Nachmittag durch Geniesel und durch die Hafencity. Ich sehe nach, ob ich in diesem Stadtteil irgendwo noch nicht war. Das ist selbstverständlich der Fall, da dort immer noch permanent gebaut wird, eine neue Wohn- und Büroschachtel nach der anderen entsteht. Viele Feuerwehrfahrzeuge stehen vor der Großbaustelle, auf der es gerade diesen grauenvollen Unfall mit vier Toten gab, es war wohl auch überregional in den Nachrichten. Sie sind immer noch bei den Bergungsarbeiten im Fahrstuhlschacht.

Ein neues Wandbild sehe ich, vom irischen Künstler Ache zur Erinnerung an Uwe Dierks gesprüht, er war ein beliebter Verkäufer der Hamburger Obdachlosenzeitung Hinz & Kunzt. Autos, die an dem Haus vorbeifahren, verlangsamen einen Moment, Handys werden kurz aus Fenstern gehalten, das Bild hat offensichtlich sein Publikum.

Ein großes Mural, ein Porträt eines Hin-und-Kunzt-Verkäufers

Einige Bäume auf dem Spielplatz vor unserem Haus verlieren heute ihr Laub in einer Geschwindigkeit, als müssten sie zwingend pünktlich zum 1. November kahl sein, es regnet bei jedem Windstoß Hunderte Blätter herunter und es sieht überzeugend so aus, als sei der goldene Herbst für uns in diesem Jahr nur für einen einzigen Tag buchbar gewesen. Es wird schon alles wieder abgeräumt, Kulissenwechsel, nächstes Bild Winter.

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Dunkelkalendarisches

Dienstag, der 31. Oktober. Ich gebe mir an diesem Tag noch mehr Mühe als sonst, heute nicht zu versterben, weil es mir als Pointe nach dem letzten Text mit der Sargerwähnung doch etwas zu billig und abgeschmackt wäre. Immer alles mitdenken, stets bemüht bleiben.

Ich habe dann, wo ich schon bei dem Thema bin, das mit Totensonntag, Volkstrauertag, Halloween, Allerseelen, Allerheiligen, auch das mit den Raunächten und was es da noch so alles Dunkelkalendarisches gibt, noch einmal in der Wikipedia nachgelesen, wie fast in jedem Jahr. Ich kann es mir nicht gut merken, was davon wann ist, was bedeutet und sich woraus ableitet. Es hatte auch keiner dieser Tage in meiner Kindheit einen nennenswerten Inhalt, glaube ich. Das kam alles kaum vor, abgesehen vom Reformationstag, bei dem man zu Grundschulzeiten mit der Klasse in die Kirche ging und sich dort dann fürchterlich langweilte. Aber nicht einmal dabei bin ich mir sicher. Eine verwehte, vage Erinnerung habe ich noch, dass meine Großmutter in Lübeck am Totensonntag auf den Friedhof ging, aber es kommt mir nicht wie eine besonders vertrauenswürdige Erinnerung vor und ist vielleicht nur ein Fantasiegespinst.

In diesem Jahr werden wir zum Totensonntag wohl ins Heimatdorf der Herzdame fahren, weil ihr verstorbener Vater dort in der Kirche abgekündigt wird. Ich kannte weder den Begriff noch den Brauch, mir ist so etwas bisher nicht begegnet. Danach werde ich mich dann auskennen, nicht jedes Lernen ist erfreulich.

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Gesehen: Die sehr empfehlenswerte Doku über Sixto Rodriguez in der ARD-Mediathek: Searching for Sugar Man. Eine Geschichte mit Moral, will einem scheinen, aber man darf sie sich Gott sei Dank selbst ausdenken, und das ist immer erfreulich.

Gehört: Ein musikalisch in ein deutlich anderes Genre fallendes Werk, nämlich die Winterreise, und zwar, das habe ich vielleicht noch nie gemacht, am Stück und komplett. Nebenbei habe ich auch sämtliche Texte nachgelesen, um neben dem Schubert auch den Müller angemessen zu würdigen, also auch die Texte der Lieder, die keine allfälligen Gassenhauer auf den Klassiksendern sind. Herr Quasthoff sang für mich, Herr Barenboim spielte dazu Klavier, es war hervorragend. Ich war am Morgen eher zufällig darauf gekommen, denn es ist natürlich noch keine Zeit für die Winterreise, aber es war ein freier Tag, es interessierte mich gerade, und ich blieb dann doch hängen und genoss lange.

Ein kleiner Vorgriff auf den November war das, besonders gegen Ende der Sammlung hin und dann natürlich beim finalen, so finsteren Leiermann, aber weit weg von dieser Stimmung sind wir jahreszeitlich ohnehin nicht mehr.

Ein verstörendes Lied, denke ich immer wieder, und auch ein irritierendes, bewegendes Gedicht.

Ich höre jetzt ganz anders, weil es draußen endlich kühl genug ist, um die guten Over-Ear-Kopfhörer wieder zu benutzen, die mich im Sommer in den Wahnsinn treiben würden, weil sie wärmen wie eine dicke Wollmütze. Jetzt also viel besserer Sound als im Sommer und auch das in der Stadt so oft rettende Noise-Cancelling.

Es ist eine Wohltat und trägt entscheidend dazu bei, dass ich klassische Musik fast nur in den dunkleren, kälteren Jahreszeiten höre.

Im Bild heute, ohne jeden Zusammenhang, die Cap San Diego, also schon wieder etwas für den Freundeskreis Nostalgie. Warum auch nicht. Im Hintergrund der Katamaran nach Helgoland, der hatte gestern seine letzte Fahrt. Winterpause, Sturmsaison.

Die Cap San Diego im Hamburger Hafen

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