Papierblumen an Fenstern

16.5., im Heimatdorf der Herzdame. Ich lese nach dem Aufstehen am Dienstag die Außentemperatur an den Menschen ab, die zu früher Stunde schon mit ihren Hunden an den Äckern vorbeigehen. Ich sehe, es ist wieder kalt geworden, Winterjacken, Mützen, sogar Handschuhe werden getragen. Bei der Beerdigung am nächsten Tag wird man sicher etwas frieren und es wird passen, denke ich mir.

Eine ländliche Straße iin Nordostwestfalen, Apfelbäume am Straßenrand, blauer Himmel, weiße Wolken

Morgenspaziergang nach dem Frühstück. Papierblumen an den Fenstern der Grundschule, auch noch bunte Hasen und Eier von Ostern, wie lange so etwas dann immer hängt. Die Herzdame ist auch hier zur Schule gegangen, in diesem Gebäude, hat auf diesem Schulhof gespielt. Ich höre aufgeregtes Kinderlachen hinter Scheiben, vor die eine Lehrerin wegen der blendenden Sonne Vorhänge gezogen hat. Diese Vorhänge haben immer noch die gleichen Farben wie damals in meiner Schulzeit, ein verblasstes Schulgrün, ein ausgegilbtes Behördenorange. Ich weiß bei der Erinnerung sofort wieder, wie sich diese Vorhänge angefühlt haben, das grobe Material, ich erinnere mich sogar noch an den muffigen Geruch des Stoffs, wenn man sich dahinter versteckt hat, was natürlich ohnehin sinnlos war. Ich weiß auch noch, wenn man einmal anfängt, sich zu erinnern, wie es in dem Schrank im Klassenzimmer gerochen hat, in den ich mich gerne für längere Zeit zurückgezogen habe, ich weiß noch, wie da durch einen Spalt am Scharnier Licht hineinfiel, tanzende Staubkörner darin, lange habe ich die beobachtet. Vor dem Schrank währenddessen das Gemurmel der Klasse.

Auf dem Feld weiter hinten, der Schule gegenüber, sitzen ein Hase und eine Krähe verdächtig nahe beieinander und führen, wer weiß, eine uralte Fabel in neuer Inszenierung auf. Aber ich bin zu weit weg, um etwas zu verstehen.

Der Bauer hat gestern gemäht, verwehte Halme treiben vor mir her über den Weg und bilden im unangenehm kalten Wind wirre Muster. Grüne Keilschrift, die sich rasend schnell umgruppiert und immer wieder neu anordnet, niemand kann das lesen.

„Was hast du heute vor“, frage ich kurz darauf die Herzdame im Wohnzimmer, und sie deutet wortlos auf das herumstehende Zeug ihres verstorbenen Vaters, welches sie, so deute ich die ausholende Bewegung, vermutlich in den nächsten Stunden weiter sortieren möchte. Die Art, wie sie darauf deutet, sie erinnert mich an etwas, und nach einer Weile komme ich auch darauf. Indianische Häuptlinge in alten Western deuten so auf Landschaften, mit einer langsamen Bewegung des Armes und der Hand. Kameraschwenk, man sieht die Weite der Prärie, herannahende Büffelherden. Dann wieder das ernste Gesicht es Häuptlings, der da deutet, schließlich die Blicke der Umstehenden, sie verstehen, sie nicken. Ich nicke auch.

Mir fällt beim Frühstück zum ersten Mal auf, dass auf dem Kaffeebecher, aus dem ich hier morgens trinke, etwas steht, in kleiner Schrift oben am Rand, es ist ein zum Frühling passendes Zitat:

And each flower and herb on Earth’s dark breast

Rose from the dream of its wintry rest.

Ist das irgendein Kitsch oder ist es am Ende Weltliteratur, ich googele das natürlich, immer alles nachsehen, und guck an, es ist von Shelley: The sensitive plant. Die wiedergegebenen Zeilen hängen vermutlich auf dekorativ gestalteten Plakaten in Gartenhütten überall auf der Welt, so ein gut verwertbares Zitat ist das. Auf meinem Becher sind darunter bunte, maimuntere Stiefmütterchen abgebildet, pansies, wie man in diesem Kontext sagen muss, denn es ist tatsächlich ein Becher aus England, noch aus dem Laden, den die Mutter der Herzdame viele Jahre hier im Dorf geführt hat. Das Gedicht ist furchtbar lang, es endet so:

For love, and beauty, and delight

There is no death nor change: their might

Exceeds our organs, which endure

No light, being themselves obscure.

Vielleicht auch mal Shelley lesen, warum auch nicht. Es scheint gerade zu passen.

Es wird währenddessen immer kälter und der Wind frischt weiter auf, er treibt einen ins Haus. Von drinnen sieht es draußen aber dermaßen verlockend schön aus, guck doch, die Sonne, so herrlich, und dann geht man also wieder raus, es ist so anziehend, wie es da alles leuchtet, und dann geht man wieder rein, es ist doch einfach zu kalt, dieser Tag hält einen auf Trab.

Ich mache später Englisch mit Sohn II, denn so etwas findet leider auch in den Ferien und kurz vor Beerdigungen statt. Es geht um die indirekte Rede, er sagt, er habe keine Lust dazu, ich sage, das sei mir egal, man müsse eben stets bemüht bleiben. Dann noch Conditional III, wenn er schon früher gelernt gehabt hätte, hätte er es heute nicht mehr nötig gehabt – oder so ähnlich. Gräuliches Grammatikgebastel, wenn man zu lange darüber nachdenkt, bekommt man am Ende selbst keinen geraden Satz mehr heraus, in keiner der beiden Sprachen. Die Herzdame fragt aus dem Nebenzimmer, ob Conditional III zusammenfassend das mit „Hätte, hätte, Fahrradkette“ sei. Im Prinzip ja. Haben die Briten wohl auch so einen Spruch? Das weiß ich nicht.

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Reggae und Raps

Montag, 15.5., im Heimatdorf der Herzdame. Ich sehe die Schlagzeilen im Newsstream am Morgen, es geht da noch um den abgesagten Streik bei der Bahn: „Ein Drittel der Fernzüge fährt nicht“, und direkt darunter in der nächsten Zeile: „Zugverkehr weitgehend planmäßig.“ Woraus wohl zu schließen ist, wenn mein Denkvermögen noch so weit reicht, dass ein Drittel der Fernzüge planmäßig ohnehin nicht fährt, es ist ein wenig erstaunlich. Aber was weiß ich schon, es ist jedenfalls gut, dass wir heute nicht mit dem Zug fahren müssen.

Ich führe beim Tischtennis am Vormittag ein jugendfilmtaugliches Grundsatzgespräch mit einem Sohn, weil es etwas zu klären gibt. Ein Ping, ein Pong, ein Satz, nicht aber Spiel, Satz und Sieg. Und wie es in Jugendfilmen so ist, wird man erst viele Szenen und Schnitte später wissen, ob es etwas genützt hat, ob es eher egal war oder nur wieder irgendein hilflos bemühter Schritt vom Wege, oder aber ob am Ende meine Wahrnehmung gar nicht die verbindliche ist und er eigentlich ein Gespräch mit mir geführt hat. Wait and see, wie es ohnehin immer in der Erziehung gilt.

Ich bin mit dem Keyserling durch, mit den Abendlichen Häusern. Die Geschichte endet, wie alles bei ihm, in tiefster Resignation, in der aber kaum unangenehme Bitternis nachzuweisen ist. Ein spezielles Keyserling-Gefühl, nicht so leicht übertragbar. Im Stechlin von Fontane findet man vielleicht eine vage ähnliche Stimmung. Ich beginne daraufhin „Armance“ von Stendhal, das ist sein eher unbekannter und dünner Roman neben den beiden deutlich dickeren Superbestsellern, die er noch geschrieben hat. Deutsch von Arthur Schurig. Es ist ein abrupter Wechsel in der Attitüde nach dem Keyserling, als würde man sich auf einmal gerade hinsetzen und etwas Haltung annehmen, so deutlich ändert sich der Tonfall in den Büchern, vom etwas hinfälligen, wehsüßen Erinnern bei dem einen zur scharfsinnigen, urteilenden Analyse beim anderen, auch wenn es einige Ähnlichkeiten in der Kulisse gibt:

„In diesem Salon hatte die grünsamtene, mit Goldornamenten überladene Wandbekleidung offenbar die Aufgabe, das Licht zu dämpfen, das durch zwei mächtige Spiegelglasfenster in den Raum strömte. Sie gingen auf den einsamen Garten, der durch Buchsbaumhecken in bizarre Abteile zerlegt war. Im Hintergrund ragte ein Reihe Linden auf, die dreimal im Jahr verschnitten wurden. Ihre starre Oberlinie wirkt wie ein Sinnbild des geistigen Lebens im Hause.“

Das Buch Armance von Stendhal, ein Insel-Taschenbuch

Ich fahre zum Einkaufen, das geht hier auf dem Land nur mit dem Auto. Zu Fuß wäre ich dafür erstaunlich lange unterwegs, quasi Tagesreise. Mit dem Fahrrad würde ich nicht alles Zeug mitbekommen, nein, es ist im Moment nicht anders lösbar. Ein Sohn begleitet mich und hört laut Musik dabei, die nach Reggae klingt. Was so dermaßen schlecht zur norddeutschen Landschaft passt, durch die wir fahren, dass es fast schon lustig ist. Reggae und Raps vertragen sich nicht recht, stelle ich fest.

Ein Familienmitglied hat bei mir Lust auf einen bestimmten Schokoriegel angemeldet, den ich im Laden aber hartnäckig nicht finde, obwohl doch klar ist, wo er sein müsste. Hinterher erst fällt mir ein, dass doch neulich in den Nachrichten stand, dass Edeka irgendetwas ausgelistet habe, wegen der Streitigkeiten um die Einkaufspreise, und ich habe bei der Liste der betroffenen Produkte noch gedacht: das brauchst du doch alles eh nie. Nun. Dann gibt es eben etwas anderes, es ist auch egal und ich denke nicht, dass der Wegfall irgendeines Markenartikels für mich ein größeres Problem wäre. Man kann sich auch nicht von allem beeindrucken lassen.

Eine Bemerknis noch am Rande: Es war ein Supermarkt ohne jede Quengelware vor der Kasse. Ich weiß nicht, ob ich das in Hamburg schon einmal gesehen habe, aber ich denke nicht.

Ich mache danach Mittagsschlaf. So einen Mittagsschlaf, nach dem man spontan nicht mehr weiß, wer und wo man ist, was in unangenehmer Weise dadurch gesteigert wird, dass ich hier an verschiedenen Tagen in verschiedenen Räumen ruhe, weil im Hausstand viel herumgeräumt wird. Dann vollkommen planloses Erwachen, sich nur langsam in die Rolle zurückdenken, die Schrift des Drehbuchs erst wieder mühsam scharfstellen, dann zögernd und ohne Begeisterung denken: „Ach ja. Das war es.“ Schließlich aufstehen und vor dem Hinaustreten die Kleider ordnen, wie es früher bei der Bahn auf den Toiletten hieß. Also sehr viel früher. Als man noch großen, sicher allzu großen Wert auf Ordnung gelegt hat.

Komplikationen und Probleme aus Hamburg erreichen mich auch hier auf dem Land per Mail, stelle ich nebenbei unwillig fest. So ein überall verfügbares Netz heißt eben auch, dass man selbst überall verfügbar ist, das ist womöglich gar nicht bis zum Ende durchdacht worden, als man es sich etwas vorschnell so eingerichtet und zunächst toll gefunden hat.

Ich schreibe ein Notizbuch voll und wechsele es gegen ein neues Exemplar ein. Ich habe dabei wieder das vollkommen unsinnige, aber immerhin schöne Gefühl, etwas geschafft zu haben, erreicht sogar. Und dann auch prompt der gleichfalls unsinnige Wunsch, sofort neue Notizbücher zu bestellen, obwohl ich doch in Hamburg einen nicht eben geringen Vorrat davon habe, natürlich habe ich den.

Ich beherrsche mich dann aber mühsam, ich bestelle nicht, ich reiße mich zusammen wie so ein Mensch mit Disziplin und Willenskraft. Denn so stand es im Drehbuch, das ist die Rolle.

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Nachtviolen, Wiesenkerbel

Wo war ich in der Chronik, es war Samstagabend. Am Sonntagmorgen kann man im Heimatdorf sogar draußen frühstücken, das erste Mal gibt es eine Art Sommergefühl in diesem Jahr.

Im Garten der Schwiegermutter hängen die noch grünen Johannisbeeren in viel üppigeren Mengen als bei uns an den Büschen, hier ist wie immer alles etwas weiter, größer und grüner, denn so geht es zu im sonnigen Süden, so sieht es aus für unsere von Hamburg geprägte Wahrnehmung. Am Feldrand stehen Nachtviolen, die gut und interessant duften. Einen schönen Namen haben sie, diese Nachtviolen. Unter der Pergola vor dem Haus hubschraubert eine Hornisse mit faszinierend tiefem Brummen durch den Blauregen, in den Büschen daneben hundertfaches Bienensummen, ein natürliches Sedativum, beim zweiten Kaffee schon wieder müde werden. Aus dem Dorf weht beim Frühstück Sonntagskirchenglockenläuten zu uns heran. Im Garten angeregte Spatzendiskussionen, beleidigtes Elsterngeratsche, dazu Meisengetuschel, alles begleitet vom etwas einfallslos, aber dafür umso unentwegter plappernden Zilpzalp. Über uns Lerchen, die habe ich lange nicht mehr gehört. Und um uns herum der Duft von Frühjahrsblüten aus den Beeten. Hin und wieder ist auch eine herbe Rapsnote in der Luft, knapp vor unschön, es weht so durch und vergeht wieder.

Hinten hängt Wäsche auf der Leine, auch einer meiner Pullover ist dabei, gut riechend wie nie in der Stadt. Wissen Sie noch, vor mittlerweile etlichen Jahren, als es diese große Aufregung und all den Spott gab, weil ein Unternehmen in Berlin angeboten hat, die nasse Wäsche der Kundinnen auf dem Land an der frischen Luft in Brandenburg trocknen zu lassen? Die spinnen, die in der Hauptstadt, so hieß es damals. Es mag sein, dass die spinnen, aber gut riechende Wäsche hat was, keine Frage.

An allen Wegen ringsum blüht der Wiesenkerbel, weiße Sprengsel vor dem Grün des aufgeschossenen Getreides. Gerste, wenn ich es im Vorbeigehen richtig sehe. Wiesenkerbel kann man essen, man kann ihn aber auch prima mit Schierling verwechseln, lese ich auf dem Handy nach (Flora Incognita, keine bezahlte Werbung) und probiere dann lieber nicht. Lilafarbener Storchenschnabel steht zwischen den weißen Blüten des Kerbels, bunte Wicken auch, es ist hier alles ansprechend und geschmackvoll dekoriert, kilometerlang.

Ich gehe über die Landstraße und höre ein Sachbuch über Brecht, und über mir die Wolken, sie sind weiß und ungeheuer oben.

Ein Feldweg auf dem Land, im Hintergrund Bäume

Es ist pulloverwarm dabei. In der Sonne ist es zu heiß, im Schatten ist es zu kühl, man zieht sich an, man zieht sich aus. Im Dorf findet irgendeine Veranstaltung statt, Eltern bringen ihre Kinder zum Sportplatz und an der Anzahl und Quote der vorfahrenden Elektroautos sehe ich, dass ein Wandel stattfindet. Das immerhin auch nebenbei registrieren, es ist nämlich das erste Mal, das ich bei einer solchen Zufallsstichprobe denke: Ach guck, es gerät in Bewegung, es passiert tatsächlich, die Mehrheiten werden sich zuverlässig verschieben, bald schon. Warte, warte, nur ein Weilchen, dann kommt Elektro auch zu dir.

Eine aufgemalte Startlinie auf einer ländlichen Straße, man sieht das Wort "Start" auf dem Asphalt

Wenn ich auf diese Art weiterschreibe, wie ich es im Moment mache, fällt mir gerade auf, falle ich unweigerlich in der dargestellten Zeit weiter zurück und der jeweils beschriebene Tag wird mit der Zeit immer länger her sein, jedenfalls wenn ich an den so viel schlechter beschreibbaren Werktagen in Hamburg nicht wieder aufholen werde. Ich frage mich, ob mich das stört oder ob ich das sogar gut finde. Ich bin etwas unentschlossen, aber ich glaube, es ist nun so, wie es ist, denn das Blog bin ja ich, und ich bin gerade so. Langsam und zurückfallend, bremsend, besinnlich und gründlich sein wollend. Bird by bird beschreiben, wie es bei Anne Lamott hieß, das war ein gutes Buch über das Schreiben. Ich habe es vor vielen Jahren gelesen und kann mich natürlich kaum noch erinnern, fand es aber interessant, das immerhin ist hängengeblieben. Und die Geschichte, die damals bei ihr zum Titel des Buches führte, die habe ich auch noch parat. Es war eine familiär-anekdotische Abwandlung des chinesischen Satzes: Wenn Du es eilig hast, gehe langsam. Ein Satz, der zwar eine wandkalendertaugliche Weisheit, aber dennoch meiner Erfahrung nach tendenziell richtig ist.

Wobei ich im Langsamgehen so viel Erfahrung gar nicht habe, ich also über solche Weisheiten vielleicht lieber nicht urteilen sollte.

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Es bleiben Rätsel übrig

Ich sitze am Schreibtisch meines in der letzten Woche verstorbenen Schwiegervaters und schreibe, mir geht die Tinte aus. Ich sehe in den Schubladen nach, weil ich aufgrund gewisser Ähnlichkeiten annehme, dass auch er irgendwo Patronen bereitliegen hatte. Und dem ist auch tatsächlich so. Südseeblau finde ich, etliche Schachteln, und es ist typisch, dass es Südseeblau ist, nicht etwa Königsblau. Immer knapp an der Normalität vorbei, so war er, denke ich und werde es gleich noch etwas weiter ausführen. Sechs, acht Schachteln Südseeblau. Ich mache eine auf, ich mache zwei auf, es ist in allen Schachteln das gleiche Bild, die Patronen sind sämtlich leer. Er wird sie alle nach dem Verbrauch zurückgesteckt haben, aber warum bloß? Das erfährt man dann nicht mehr. Wenn jemand stirbt, bleiben Rätsel übrig.

Willi Buddenbohm

Buddenbohms Willi. So sagt man hier, erst der Nachname, dann der Vorname. Buddenbohms Willi ist damals nach der Schulzeit und der Maurerlehre Bau-Ingenieur geworden, Architekt auch. Das war ein vorgezeichneter Weg, denn seine Eltern und Großeltern kamen aus der Baubranche, Hoch- und Tiefbau, er musste das Unternehmen weiterführen. Da war von Anfang an klar, was er zu werden hatte, zu sein hatte. Aber andere Wege wären doch besser für ihn gewesen, das meinten viele zu wissen, die ihn kannten. Etwas mit Musik wäre es vielleicht gewesen, mit seiner großen Leidenschaft.

Denn damit kannte er sich aus, mit Tonqualität, Sound, mit Rockgeschichte, mit Klassik auch, mit Hifi, mit nahezu allem, was mit Musik zu tun hatte, technisch und auch künstlerisch. Damit hat er unendliche Stunden seiner Freizeit zugebracht, dafür hat er ein Vermögen ausgegeben, für den besten Sound, für die ultimativen Aufnahmen und die bestmöglichen Verstärker, die feinsten Kopfhörer und immer so weiter, ein Enthusiast besonderer Ausprägung. Noch im Krankenhaus in der letzten Zeit hatte er sein Equipment dabei, und nicht zu knapp. Seine Kenntnisse der Musikgeschichte, ich erwähnte es neulich schon, waren umfassend, bis an die Gegenwart heranreichend, seine Musiksammlung war absurd vielfältig. Man kann mit etwas Mühe einen Schwerpunkt in den Sechzigern ausmachen, aber das war längst nicht alles, er ist da nicht stehengeblieben. Er war anderen, mir etwa, teils deutlich voraus. Neben ihm war ich stockkonservativ. „Er hat für die Musik gebrannt“, sagt die Herzdame, und das ist ein wenig witzig, weil er Unmengen CDs gebrannt hat, Tausende.

Keine leichte Kindheit gehabt, ich springe etwas hin und her, pardon. Ich glaube, dass man oft vergisst, wie schwer Kindheiten damals waren, bei vielen von denen, die mir nur wenige Jahrzehnte voraus waren, welche unfassbare Härte damals noch in der Welt und in den Eltern war. Er hat manchmal darüber geredet, es war nicht gut auszuhalten und man mochte es sich alles lieber nicht vorstellen. Kinder wurden auf Spur gebracht, so nannte man es, und was für Abgründe liegen in diesem Satz.

Dennoch blieb er, wie es bei Ringelnatz ähnlich hieß, etwas schräg ins Leben gebaut. Er war nie vollständig angepasst, im Benehmen nicht, in der Haltung nicht, in den Ansichten nicht. Immer ansatzweise Hippie gewesen, Rocker auch, Exot, Sonderling, Exzentriker, bunter Vogel. Immer soweit es ging, und manchmal ging es recht weit. Freiheit war sein Lebensthema, immer gesucht, nie wirklich gefunden.

Die Musik und das Dorfleben hat er zusammengebracht, hat im Posaunenchor in der Kirche gespielt, ist nebenbei Dorf-DJ gewesen. Einer, der jede Party retten konnte, ankurbeln konnte, laufen lassen konnte. Er hat Stimmungen gemacht und gedreht, er war für Feste mitverantwortlich, die in dieser Gegend heute noch Legende sind, in einer Weise vielleicht, wie man sie sonst nur aus der irischen Literatur kennt. Solche spektakulären Feste, von denen es kein vollständiges Bild gibt, weil sich alle Beteiligten dermaßen dem Alkohol und der guten Stimmung hingegeben haben, dass hinterher nur Erinnerungstrümmer mühsam zusammenzufegen sind, immer unzureichend, immer fern der Wahrheit, aber man weiß jedenfalls – das waren noch Nächte, meine Güte, was waren das für Nächte. Die Älteren im Dorf sortieren heute noch, wer wann wo dabei war und was gemacht hat. Weißt du noch, dieser Abend.

„Er hat Musik gemacht, und es hat gepasst. Und dann hat er es gedreht, die Stimmung und alles.“ So habe ich es hier gestern gehört, als sich jemand daran erinnerte, und auch das ist natürlich eine Kunst, immer die genau richtige Musik zu finden für den Moment und für die Stimmung der Feier, für die Gesellschaft, sei es nun Schlager, sei es Hendrix oder Blues oder Blaskapelle oder sonst etwas, er hat es einfach gewusst, was es jetzt sein musste, ganz genau hat er es gewusst, immer ein Treffer nach dem anderen.

Die Party bei dem Tierarzt damals, viele, viele Jahre ist es her, irgendwann spät nachts noch die Partykracher, und bei dem Lied „Da steht ein Pferd auf dem Flur“ stand da dann wirklich eines, es ist im Grunde ein Wunder, dass nicht alle Beteiligten vor Lachen gestorben sind. Solche Abende. Längst sind sie nicht mehr wahr, diese Geschichten, und doch war es so. Es gibt Fotos von diesen Feiern, es gibt auch einige Filme, die gewisse Anwesende schwer belasten, ich kenne sie. Und ich bin mir daher sicher, es wurde hier auf eine Art gefeiert, die in Großstädten eher unbekannt ist. Und er immer mittendrin, an den Schalthebeln des Ganzen. Er hatte einen Ruf, er hat ihn bis heute. Damals die Feiern mit Willi, anerkennendes Nicken, seliges Erinnern. Und meine Güte, was ging es den Leuten schlecht danach. So musste das.

Er hat sich etwas bunter als andere angezogen, er hat auch andere Bücher gelesen, er hat etwas anders gekocht. Er hat sich früh für ausländische Küchen interessiert, als das hier noch kein Trendthema war, noch lange nicht. Chinesische Küche, bevor es in jedem Dorf ein Restaurant dieser Art gab, er ist sogar nach China gereist. Indische Küche. Auch Ayurveda und so etwas, irre abgelegenes Zeug aus damaliger Sicht. Makrobiotik, sehr spezielle Fachgebiete, keines davon mehrheitsfähig. Er hat sich immer in diese Themen gekniet, er hat jedes Spezialgebiet voll mitgenommen, bis hin zum Expertentum, sich dann überall ausgekannt. In der Garage stehen noch unbenutzte Pinsel und Acrylfarben und Malereilehrbücher, das mit der Kunst hat er nicht mehr so geschafft, wie er wollte. Aber er hätte sicher, wenn es ihm noch möglich gewesen wäre.

In der Kleinkindzeit der Söhne war er ein grandioser Großvater. So einer, der den Kindern alles durchgehen ließ, der ihnen alles erlaubt hat, auch die Sachen, bei denen man als Eltern Augenzucken bekam, sich mühsam beherrschen musste und von Sicherheitsregeln sprach, als sei man selbst der Ältere, und ich nehme an, das war manchmal eine vollkommen adäquate Rollenverteilung. Mit ihm ging manches, was mit uns nicht ging. Auch die absurden, die zu großen Geschenke hat er gemacht, ganz selbstverständlich. Das erzählt die Herzdame ähnlich auch aus ihrer eigenen Kindheit, er war ziemlich anders als andere Väter, nicht nur, weil er mit ihr gemeinsam stundenlang Musik aus dem Radio aufgenommen hat. Und ich weiß auch, dass er mit schwierigen Jugendlichen aller Art, die ihm im Beruf und anderswo begegneten, gut umgehen konnte. Das passte so zusammen, er hat geholfen, wenn er konnte, und er hat sie alle mal machen lassen. Denn das war oft das, was andere nicht so gut konnten – die mit den Problemen einfach mal machen lassen.

Wir hatten in Hamburg einmal einen Hausmeister, der beim Blick auf unser Namenschild sagte: „Ich kannte mal einen Buddenbohm.“ Das hören wir nicht eben oft, das hören wir eigentlich nie. Wir kamen dann darauf, dass dieser Hausmeister bei Projekten dabei gewesen ist, die der Vater der Herzdame geleitet hatte, aufwändige Kaufhausumbauten waren das, aberwitzig komplizierte und eilige Großvorhaben. Wir fügten die Teile im Gespräch zusammen und irgendwann fragte er die Herzdame endlich: „Echt jetzt, der Verrückte ist also ihr Vater?!“

Es war keine Beleidigung, es lag viel begeisterte Anerkennung in dieser Frage. Denn der war mal ein Typ, dieser Bauleiter.

Er hat bei unserer Hochzeit eine Rede gehalten, von der heute noch, nach all den Jahren, Gäste von damals beeindruckt sind, obwohl sie vermutlich überhaupt kein Wort verstanden haben von dem Friedewalder Platt, in dem er gesprochen hat. Er hat sich den Leuten eingeprägt, er hat etwas ausgestrahlt, aber er hat sich kaum dafür interessiert, was andere von ihm gehalten haben.

Es war nicht einfach, die passende Musik für seine Beerdigung auszusuchen. Wir haben da länger dran gesessen, ich erwähnte es neulich schon. Wir dachten uns, zum Schluss muss etwas kommen, das passt, muss noch einmal, ein letztes Mal etwas kommen, das die Stimmung dreht. Und ich glaube, wir haben es gefunden. Der leere Schaukelstuhl im Video, der an Roy Orbison erinnert, macht es noch besser.

Aber natürlich, man weiß nicht, was er für sich ausgesucht hätte, man kann es nicht wissen. Es gab keinen hinterlassenen Plan für diese Gelegenheit. Er hätte es sicher viel besser als wir gewusst.

Aber wenn jemand stirbt, bleiben Rätsel übrig.

Well, it’s alright, ridin‘ around in the breezeWell, it’s alright, if you live the life you pleaseWell, it’s alright, doin‘ the best you canWell, it’s alright, as long as you lend a hand

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Einäugige Blumen

Nach der Ankunft in Minden am Sonnabend wollen wir noch eben Blumen zum Muttertag kaufen, auf der Weiterfahrt mit dem Auto ins Heimatdorf, wobei wir aber vorher nicht recht bedacht hatten, dass die Öffnungszeiten der Blumenläden in einer Gegend, die von Hamburg aus betrachtet sicher als Provinz zu bezeichnen ist, natürlich ohne es abwertend zu meinen, nicht zwingend mit denen im Hamburger Hauptbahnhof korrelieren. Wir sind nach all den Jahren in der Mitte der Großstadt dezent verwöhnt und die Läden hier, sie sind alle schon geschlossen.

An einer Ausfallstraße sehe ich schließlich doch noch Pflanzen, Preisschilder und blühende Blumen in Kübeln am Straßenrand, ich rufe „Links!“ und die Herzdame hält einigermaßen abrupt und biegt dort ein. Was ich nur deswegen erwähne, weil ich danach eine ganze Weile und mit zunehmender Erheiterung beobachten kann, wie es anderen auch so wie uns geht, bis hin zum Bremsen mit quietschenden Reifen vor dem Geschäft – man hält hier noch in letzter Minute und rettet sich und damit vermutlich auch den nächsten Tag. Erleichterung auf den Gesichtern der Einkaufenden. In meiner Familie hat der Muttertag keine Tradition, meine Mutter wäre eher pikiert, wenn ich mich ausgerechnet an diesem Tag bei ihr melden würde („Was soll das denn jetzt!“), aber andere Familien sind in dieser Beziehung anders, ich verstehe das. Und die Ironie aller bewussten Vermeidungen gilt auch hier, ich habe an diesem Tag also ebenfalls etwas sorgsam zu beachten, genau wie alle anderen. Tatsächlich fühlen sich aber Tag und dazugehörige Riten für mich eher fremd an und ich bin nicht eben gut darin, die Söhne an den Muttertag zu erinnern. Bei dem Wort passiert in mir einfach zu wenig, eine weitgehend assoziationsfreie Zone. Diese vielen Geschichten vom Vergessen, von Undank und Enttäuschung oder umgekehrt von großer Freude und Familienglück habe ich nie erlebt. Aber wir regeln alles noch, trotz besonderer Umstände und spezieller Stimmung, trotz Reisetag.

Dann nach dem Pflanzenkauf eine kurze Debatte im Auto, ob es nun „Einäugige Susanne“ oder „Schwarzäugige Susanne“ heißt. Die Herzdame hat die etwas piratenhaft anmutende Bezeichnung für die Pflanze im Sinn, ich dagegen die gärtnerisch korrekte Version. Und ich habe so selten Recht, es ist mir geradezu ein Anliegen, es dann auch zu erwähnen, wenn es doch einmal eintritt. Die Herzdame wird aber, ich kenne das schon, ihre falsche Bezeichnung so konsequent einfach weiterhin benutzen, dass sie im Rahmen der Familiengespräche schon bald vollkommen richtig, wie lange gewohnt klingen wird, und meine Wortwahl daher als seltsam abgehobene, sprachspießige und humorlose Besserwisserei daherkommen wird. Man muss erkennen, wo man nichts gewinnen kann.

Dann Abendessen im Garten. Das erste Mal sitzen wir bei einer Mahlzeit draußen, wie spät das in diesem Jahr stattfindet, vermutlich ein Negativrekord. Die Amsel tritt währenddessen auf der Schornsteinbühne auf und begleitet uns musikalisch, mit großer Ambition und grandiosem Auftritt. Nach dem Essen rücken die Herzdame und ich uns noch zwei Gartenstühle in die Sonne am Feldrand. Man kann gerade eben noch entspannt im letzten Licht sitzen, etwa ein Grad lang noch, länger sicher nicht mehr. Wir lassen uns, wie es bei Keyserling heißt, dort „wohlig von der Abendsonne vergolden.“

Blick über einen noch kahlen Acker, im Vordergrund einige Rapsblüten, im Hintergrund ziegelrote Bauernhäuser

Wir schaffen immerhin zwanzig Minuten auf diese Art und haben also auch das erreicht; wir haben da nur so gesessen und es war schön. Mitte Mai.

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Gleichförmiges fliegt vorbei

Gleich hinter dem Hamburger Hauptbahnhof steht „HIPPIE“ auf einem Zaun am Gleis, ansonsten sieht man abgestellte, aufgestapelte Container mit Reederei-Logos und dahinter aufragende Kräne. Flüssiggaswaggons, wartende Lastwagen, Baustellen, Baumaschinen aller Art und Lagerhallen, es sieht dauernd nach Arbeit und Bruttosozialprodukt und Industrieland aus vor dem Zugfenster. Bis Hannover immer wieder die Container auf Nebengleisen und neben den Gleisen, immer wieder Hamburg-Süd und Maersk und andere. All die Waren und das Zeug, das von Süden auf Hamburg zustrebt und dann in die Welt geht oder umgekehrt, was weiß ich, es ist ein unübersichtliches Hin und Her im globalen Handel. Ein Güterzug mit Hunderten von Neuwagen in den Trendfarben der Zeit darauf, dunkelgrau und anthrazit.

Um mich herum reden im Waggon alle Englisch, vor, hinter und neben mir, es geht international zu im Metronom von Hamburg nach Hannover, das passt zu den Waren, die im Güterverkehr an uns vorbeitransportiert werden. Die Welt und die Waren reisen durch Niedersachsen, das darauf stoisch mit immer mehr Raps reagiert. Es tut eben, was es kann, wie wir alle.

Ab und zu ragen alte Backsteineinfamilienhausgiebel in Vorortsiedlungen über die bunt besprühten Lärmschutzwände an den Schienen. Aus den Kinder- oder Schlafzimmern in diesen Häusern kann man auf fahrende Züge blicken, man kann tagsüber reisenden Menschen winken und nachts auf vorbeirasende Lichter sehen, so entstehen hier vermutlich die Träume.

Ein Sohn kündigt an, uns künftig kategorisch nicht mehr im Auto begleiten zu wollen, er findet jetzt Züge cooler. Besser als überhaupt kein Erfolg in der Erziehung, denke ich mir.

Auf einem Zaun am Gleis steht „LOVE“ in sehr großen Buchstaben, sogar mehrfach steht es da. It must be love, love, love. Ich sitze etwas ungünstig, ich kann nicht durchgehend hinaussehen und habe kein vollständiges Bild, aber ab und zu sehe ich doch den Landschaftspostkartenhimmel über Norddeutschland im Mai.

Kaufland, Takko, McDonald’s, Kreissparkassen, Tankstellen. Gleichförmiges fliegt vorbei, alle Ortschaften ähnlich zusammengebastelt. Der Zug hält, ein ICE muss vorgelassen werden, darin sitzen die mit den anderen Fahrkarten, die haben es eiliger als wir, die haben mehr Geld oder die sind nur auf Dienstreise.

Vor dem Bahnhof in Lüneburg hält ein Bus, der fährt zu einem Fähranleger, so steht es dran. Da würde ich jetzt auch gerne hin, zu irgendeiner Fähre. Am Anleger mit baumelnden Beinen sitzen und gucken, wie Menschen aussteigen und einsteigen, mehr nicht. Und dann vielleicht noch ein, zwei Stunden lang nur zusehen, wie der Fluss so vorüberzieht. Egal, unser Zug fährt schon weiter. Aber in der Theorie, so denke ich mir, würde das jetzt tatsächlich gehen. Ich könnte aus dem Zug springen und dann rein in den Bus dort drüben, ich könnte zu diesem Fähranleger fahren und mir das da ansehen, es wäre alles im Ticket mit drin und ich finde es nach wie vor großartig. Wenn die Söhne ab jetzt dieses Gefühl haben werden, jederzeit fast überall einsteigen zu können, werden sie die Welt in Bezug auf die Mobilität grundsätzlich anders wahrnehmen als meine Generation. Und das ist doch was.

Dann üppiger Flieder, der über die Gleise ragt, wippende Dolden vor alten Dienstgebäuden der Bahn. Darüber und dahinter sich drehende Windradflügel, die rotweißen Spitzen kreisen durch blauen Himmel.

In Keyserlings „Abendliche Häuser“, ich lese es während der Fahrt, ein passender Satz dazu: „Die Glastüren zur Veranda standen offen und der Duft des Flieders drang herein, der wie eine Mauer aus weißem und hellblauem Gewölk den Garten einhegte.“

In Eschede ein blauer Wegweiser zur Gedenkstätte, den habe ich auf der letzten Fahrt nicht gesehen.

Auf einem Sicherungskasten neben der Strecke steht „ARMUT“, lilafarbene Schrift auf dunklem Grund. Fast sieht es schön aus.

In Hannover steigen wir um in die S-Bahn nach Minden. Die ist brechend voll, es gibt nur noch Stehplätze. Menschen mit Rädern benutzen diese rabiat als Rammbock, um doch noch hineinzukommen, es ist immer wieder verblüffend, wie allgemein und selbstverständlich Rücksichtslosigkeit geworden ist. Ich stehe anderthalb Stunden zwischen jungen Männern, die irgendwohin fahren, um sich dort planmäßig zu betrinken, es ist wirklich ein Trend an diesem Wochenende. Sie lachen jetzt schon bei dem Gedanken, dass es heute vielleicht nicht alle wieder nach Hause schaffen werden, höhö. Diese Phase ist bei mir schon entschieden zu lange her, ich bin nicht mehr der Richtige, um dafür noch Verständnis zu zeigen, bekenne aber immerhin, sie irgendwann damals gehabt zu haben. Die größten Kritiker der Elche waren früher selber welche, man kennt das dank Herrn Bernstein.

Wie auch immer, ich stehe anderthalb Stunden in dieser Bahn und hasse alles, dann erreichen wir endlich Minden. Da steht die Herzdame am Gleis, und wie toll ist das denn.

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Aufbruch

Wir reisen Samstagmittag ab, was ein ungünstiger Zeitpunkt ist, jedenfalls wenn es vorher noch zwei, drei Stunden gibt, die nicht mit Terminen und To-Dos gefüllt sind. Denn dann fällt, wir haben das das getestet, den Mitreisenden quasi im Minutentakt etwas ein, was besser auch noch mitgenommen werden soll. Habe ich eigentlich? Brauche ich nicht vielleicht? Würde man das hochrechnen, es ergäbe einen Umzug des Hausstandes. Man verlagert sich im Laufe der Stunden gedanklich allmählich komplett und braucht schließlich im Zweifelsfalle alles, auch für ein paar Tage.

Dann noch einmal und noch einmal überlegen, ob man dies oder jenes wirklich eingepackt hat, in was auch immer. Besser erneut nachsehen, aber worin war es denn bloß? Es ist eine Art Slapstick-Inszenierung mit Koffern und Rucksäcken.

Ich ziehe mich auf rationale Verteidigungspositionen zurück und mache einfach nicht mit. Wir fahren nach NRW, da kann man, glaube ich, zur Not alles kaufen, Zahnbürsten, Unterhosen, Ladekabel, Medikamente, beerdigungstaugliche Oberbekleidung, Tischtennisschläger, das ist dort immerhin ein zivilisiertes Bundesland. Also in weiten Teilen.

Im Hamburger Hauptbahnhof laufen beeindruckend viele Betrunkene in fröhlichen Grüppchen herum, das überaus innige Verhältnis dieser Gesellschaft zum Alkohol ist gut zu erkennen. Es ist zwar kurz vor Muttertag, sieht aber sehr nach Vatertag aus, es ist etwas verwirrend. Lauter kostümierte und unterschiedlich stark angeschickerte Wanderparty-Inszenierungen, die nach Junggesellenabschied, rundem Geburtstag, Firmenausflugs-Event und was auch immer aussehen, Menschen mit Plastikkrönchen, Party-Accessoires und Sekt- oder Bierflaschen in den Händen. Dazwischen enorm viele Reisende in teils großen Familiengruppen, die zielstrebig durch die Wandelhalle hasten und Koffer und Kinder hinter sich herzerren, es ist hier gerade der vermutlich unentspannteste Ort der Stadt. Eine Frau hält ein Pappschild hoch, auf dem „4-Tage-Woche“ steht. Ich kann um sie herum keinen Demo-Kontext erkennen, aber gut, hat sie das Thema eben geschickt platziert, wie wir sehen. Auch eine Strategie.

Ein Mann diskutiert laut mit der Frau, die ihn an der Hand hinter sich herzieht, er sagt, als er an mir vorbeigeht, laut zu ihr: „Ich mag einfach keine Menschen!“ und weist mit der Hand auf die etwas irre wirkende Menge um ihn herum. Ich hebe den Daumen, um meine spontane Zustimmung zu signalisieren, er sieht mich an und sagt: „Nur Sie! Sie mag ich!“ Wir highfiven uns gestisch, wir finden uns sympathisch.

Die Söhne holen sich noch eben Essen bei einem Imbiss, weil sie schon seit zehn Minuten aus dem Haus sind und seitdem auf den ganzen 500 Metern zum Bahnhof nichts konsumiert haben. Weil das vermutlich alle Teenager im Bahnhof denken und empfinden, ist der Imbiss etwas voll und es dauert und dauert. Wir erreichen unser Gleis erst drei Minuten vor der Abfahrt des Zuges. Eine Minute vor der Abfahrt des Zuges wird das Gleis noch einmal spontan geändert und es folgt meine sportliche Höchstleistung des Jahres bisher, treppauf, treppab, die ich immerhin souverän absolviere. Nur Sekunden später sind wir alle im richtigen Zug, der sensationell pünktlich abfährt, und kurz vor Hannover habe ich auch schon wieder halbwegs normalen Puls.

Geht doch.

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Kishon und Kafka

Am Freitag gebe ich auf, diese Woche ist an Absurdität kaum noch zu überbieten, was für ein lächerlich überzogenes Drehbuch. Ich habe nicht Psychologie studiert, aber manchmal glaube ich doch, typische Versuchsanordnungen im Umfeld zu erkennen. Ich bin nur eine Woche alleine mit den Söhnen, und es findet alles, was auch nur ansatzweise kompliziert werden oder entgleisen und eskalieren kann, an diesen paar Tagen statt. Wenigstens habe ich in der Wartezone des Polizeireviers ausreichend Gelegenheit, mir darüber Gedanken zu machen. Meine Güte.

Keine Details, und es ist auch nichts passiert, es kostete am Ende nur wieder Zeit, so viel Zeit, bitte weitergehen. Zusammenfassend jedenfalls eine Mischung aus Kishon und Kafka, es klingt lustiger, als es war. Wie hieß es damals in der Muppet-Show: I am the bear currently known as not amused.

Lange Telefonate mit der Herzdame. Wir organisieren dieses und jenes, und dann auch noch den Rest und Weiteres. Wenn Sie sterben, hinterlegen Sie doch bitte vorher Ihre Zugangsdaten, besonders zu allem, was Geld kostet, wir haben da gerade ein Learning, wie man heute sagt. Wir überlegen anschließend auch noch für uns, ob wir eigentlich gegenseitig … man will gar nicht darüber nachdenken, aber die Wirklichkeit stößt einen darauf, wieder und wieder. Und so schlecht sind wir da gar nicht. Aber natürlich, man kann immer noch etwas verbessern, man kann an der Strategie feilen, denn wirklich top sind wir auch nicht. So schwer ein Todesfall in der engeren Familie jedenfalls ist, etwas optimieren kann man auch dabei.

Ich fahre ansonsten am Freitag mit mehr Tomatenpflanzen am frühen Morgen U-Bahn, als ein Mensch überhaupt alleine tragen kann. Aber wenn ich erst einmal seelisch komplett durch bin, wird mir auch so etwas egal. Alles einfach dennoch machen, dann wachsen einem manchmal auch spontan Orang-Utan-Arme, mit denen man erstaunliche Mengen Zeug umklammern und kilometerweite tragen kann. Die Tomaten sind jetzt in der Erde, vermutlich in letzter Minute. Wäre ich gärtnerischer Krankenpfleger, ich hätte einige der floralen Patienten gerne noch etwas länger beim Erwachen aus dem Koma beobachtet, aber keine Zeit, keine Zeit.

Im Garten wäre es ansonsten recht schön, habe ich immerhin gedacht, während ich dort hektisch einen Pflegefall nach dem anderen verbuddelte. Es sieht nett aus dort, es klingt auch gut, es riecht sogar gut, so angenehm fliederig-fröhlich. Vielleicht in der übernächsten Woche noch einmal nachsehen. Aber im Moment sieht es ein wenig so aus, als sei 2023 das Jahr der komplett verpassten Saison.

Nun, etwas Chance besteht noch, es werden wohl weitere Monate nachgeliefert.

Kurz vor dem Verlassen des Gartens noch zwei Radieschen direkt aus dem Beet gegessen. Etwas klein, etwas sandig, aber gut, aber meine.

Dann schon wieder Packen für die nächste Reise nach Nordostwestfalen. Mit allen Familienmitglieder Abfahrt- und Ankunftszeiten diskutieren, vier Personen, vier Meinungen, ich veratme alles. Alle möglichen Geräte und Kabel aus den Zimmern zusammensuchen, alles laden und sortieren. Gefühlt verbringt man in jedem Jahr mehr Zeit damit, es gibt überhaupt viel zu wenig, das einfacher wird. Das denke ich auch beruflich oft, und nicht nur bezogen auf meinen Job, der Trend geht gesellschaftlich in die falsche Richtung, zumindest meinem Eindruck nach. Wir nutzen auch die Digitalisierung gerne, um Dinge noch schwerer zu machen und sie gleichzeitig offline zu verunmöglichen, was man am Beispiel des Online-Bankings gut und gründlich ausführen könnte, und so war es doch eigentlich nicht gemeint, Sie erinnern sich vielleicht. Es sollte alles leichter werden, einfacher, schneller auch.

Vielleicht sollte man tatsächlich einmal aus Protest gegen das fortwährende Anwachsen der Komplikationen im Leben komplett offline verreisen, nur mit Notizbuch. Eine Postkarte pro Woche schreiben. Erinnern Sie sich noch an den Geschmack von Briefmarken? Meine Güte, was einem so einfällt.

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Ich bin so dumm, du bist so dumm

Auf dem Weg zur Arbeit warte ich am Donnerstag im Hauptbahnhof auf eine S-Bahn, während neben mir eine Frau in einem klassischen Business-Outfit mit einer Banane telefoniert, also angeregt in die Frucht hineinspricht, aus der wohl auch zumindest für sie hörbare Antworten kommen, wie es aussieht. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen geht es um ernste Themen. Das ist einerseits normal verrückt, wie es in einer Millionenstadt eben zugeht, hier laufen sie ja alle frei herum und machen seltsame Dinge, aber andererseits ist es nicht mehr so interessant wie früher, weil es am Ende wieder nur irgendein blöder Prank einer schwachsinnigen Show ist. Man kann also gar nicht in Frieden hinsehen und sich heimlich amüsieren, man muss immer die Befürchtung haben, damit irgendwie reinzufallen oder später mit einem dämlich gaffenden Gesichtsausdruck auf Tiktok zu landen. Ich ignoriere die Dame also standhaft, die fortwährend neben mir mit der Banane telefoniert. Das sind so die Aufgaben, die einem die Außenwelt schon vor 8 Uhr zumutet. Es ist nicht immer leicht, aber dies war immerhin noch zu bewältigen.

Dann Arbeit, Arbeit, Arbeit. Und so verging meine Zeit, die auf Erden mir gegeben war. Ab und zu denke ich das, und schön ist das ja nicht.

Ich habe im weiteren Verlauf des Tages ausreichend Grund, mir über die Dummheit anderer Menschen Gedanken zu machen, was ich immer interessant finde, da ich mich auch nicht für besonders schlau halte, ich sympathisiere da sozusagen zunächst reflexmäßig. Aber ich habe doch manchmal Anlass zu denken, und das darf ich vielleicht insgeheim erfreulich finden, dass ich auch erwiesenermaßen nicht der allerdümmste Mensch auf Erden bin, es gibt schon noch Steigerungen. Das ist auf der einen Seite etwas erleichternd, es ist andererseits aber leider meist betrüblich, da ich das in der Regel nur anhand von Sätzen oder Handlungen anderer feststelle, die mich irgendwie beeinträchtigen. Und das wiederum ist ein wenig schade, denn ein anlasslos gutes Gefühl für das eigene Denkvermögen ohne vorhergehende Vergleiche wäre vielleicht doch erstrebenswerter.

Aber am Ende ist auch das, ich kenne das schon, nichts als ein dummer Gedanke.

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Was so bleiben soll

Der Mittwoch war dann ein einziges Desaster, da gibt es nichts zu beschönigen. Und zwar war es aus Gründen, die darzulegen rauchende Wut mir nicht nahezulegen scheint, ein Desaster durchgehend vom Morgen bis Mitternacht und womöglich auch danach noch, aber da habe ich dann geschlafen. Dafür immerhin dankbar sein, ich kann schlafen. Fast nie habe ich damit irgendwelche Probleme, wie sie so viele andere Menschen dauernd haben, ich sehe das dermaßen oft in den Timelines, all die Schlaflosigkeiten in the wee small hours, in denen ich meist schon wieder aufstehe. Aber gut, man kann auch nicht jedes Problem mitnehmen in nur einem Leben.

Meine Wetter-App hat ein neues Design, wie ich am Donnerstagmorgen äußerst unwillig feststelle, denn ich gehöre mittlerweile zu den Personen, die auf Updates in der Regel gut verzichten können, wenn sie keine signifikanten Funktionsverbesserungen mit sich bringen. Designänderungen finde ich stark überschätzt, das liegt natürlich an meinem Jahrgang und ist der Lauf der Welt, man wird immer konservativer in Kleinigkeiten, langsamer in der Anpassung auch, und viele Dinge und Prozesse sollen allmählich bitte so bleiben, wie sie sind, denn ich sah, es war gut. Aber auch hier gilt, das kann man selbstverständlich anders sehen, etwa wenn man Mediendesignerin ist und beruflich irgendwie tätig sein möchte. Ich verstehe das.

Wo war ich. In dieser App sehe ich jedenfalls auf einmal Werbung, im Moment für eine neue Seite des Landes Schleswig-Holstein, sie heißt „Wasserstark“, und es geht dabei wieder um die Selbstverständlichkeit des Klimawandels. Da finden sich nämlich Informationen zu Binnenhochwasser (auf Eiderstedt z.B. ein Problem), Starkregen und Sturmflut, das Land hält sich und die Einwohnerinnen für „wasserstark“, wenn sie damit souverän umgehen können. Der Klimawandel greift jetzt also auch die Sprache an, man muss wirklich mit allem rechnen. Meldung aus den potenziellen Sturmflutgebieten künftig stets „mit wasserstarken Grüßen!“ beenden.

Zur nächsten Hitzewelle und Dürreperiode sehen wir dann vermutlich etwas mit „sonnensuper“ oder „trockentoll“, vielleicht ist es bereits in Vorbereitung.

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Bei der Kaltmamsell lese ich am Donnerstagmorgen, dass Heather Armstrong gestorben ist, Dooce, und wenn Sie schon ziemlich lange Blogs lesen oder schreiben oder auch nur ab und zu die Szene verfolgen, dann wissen Sie vermutlich, wer das war. Es trifft mich etwas mehr, als es mir an einem turbulenten Werktagsmorgen recht sein kann, aber es ist, wie es ist. Hier die CNN-Meldung dazu, ich habe im Moment keine Zeit, den besten Artikel zu suchen. Ich sehe auf den ersten Blick keine längere Meldung in einem deutschen Medium zu diesem Tod, jedenfalls in keinem seriös sein wollenden, und das spricht auch wieder Bände.

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