Nach Erwerb eines Raffscheins

Um mich herum ein erheblicher Krankenstand, hoch wie lange nicht, teils mit positiven Testergebnissen, teils mit eher traditionellen grippalen Infekten. Man liegt jedenfalls reihenweise flach, leidet und schwächelt. Wenn man Leuten aus dem Gesundheitswesen in den sozialen Medien folgt – ich bin für jeden Tag dankbar, an dem ich nicht dringend auf das System angewiesen bin, es scheint gerade wegzuklappen.

Auf Twitter stirbt mir schon wieder einer aus der Timeline weg und man kann sich, wie deep ist das denn, dann auch fragen, ob man den Toten weiterhin folgt, wohl wissend, dass sie einem bis in alle Ewigkeit folgen werden, wenn niemand ihren Account endgültig löscht – aber das gehört wohl schon in den November, das greift doch vor. Noch ist der Oktober um uns herum golden und festivalartig, jedenfalls solange man nur intensiv genug auf Bäume im Sonnenschein sieht.

Ich habe auf arte die Super-8-Tagebücher von Annie Ernaux gesehen, aber ich habe eventuell nicht durchgehend aufgepasst. Ich bin in etwa im Alter ihrer Söhne, die Kindheit, die dort gezeigt wird, hat Aspekte, die ich wiedererkenne. Tapeten, die wir auch hatten, Weihnachtsgeschenke, die ich auch damals ausgepackt habe, dergleichen. Man kommt ins autobiografische Nachdenken, wenn man Autobiografisches sieht, man treibt erinnerungsbeladen schnell ab, auch wenn man es gerade gar nicht möchte. Davon abgesehen fand ich es sehenswert.

Nebenbei ein Dank für sehr freundliche Kommentare hier und anderswo, die in die Richtung gehen, ich solle mal (wieder) ein Buch schreiben – ich habe kein Thema, pardon. Oder nein, ich habe vielmehr nur Themen, über die ich sicher nicht schreiben möchte. Und ich schaffe pro Tag auch nicht mehr, als man hier und in den Kolumnen lesen kann, mehr Zeit ist gar nicht verfügbar. Ich müsste also, wenn ich ein Buch schreiben sollte, weniger bloggen, wie herausfordernd wäre das denn?

Aber, wie gesagt, ich wüsste auch gar nicht, worüber. Für Fiktives fehlt mir die Zeit und die Besinnlichkeit, von der ich mir einbilde, sie zu brauchen, um überhaupt auf Ideen zu kommen. Später vielleicht einmal. Viel später. Bis dahin suche ich mir weiter nur Blogbares zusammen wie die alten Leute in den Märchen einst den Reisig im Wald, ich schleppe die Bündel nach Hause und werde berichten.

Reisig, ich habe das gerade auf der Wikipedia nachgelesen, wird auch Leseholz genannt, ein überaus anziehender Begriff. Schön: „Im Land Berlin ist der Erwerb eines „Raff- und Leseholzscheines“ erforderlich.“ Als schreibender Mensch braucht man also, so kann man schließen, erst einmal einen gedanklichen Raffschein, den man sich selbst ausstellen muss.

Ich kann meinen jederzeit vorweisen.

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Mittwochmorgen

Am Morgen ist es seltsam warm und die Vögel singen, der Tag fällt aus der Jahreszeit oder er ist eine eigene, was weiß ich. Wir haben den Frühling im Oktober und den Wintersport in Arabien, es ist jetzt alles, wie die Söhne sagen würden, vollkommen random. Die Nachrichtenseiten aufmachen und sich schon vornehmen, sich über gar nichts mehr zu wundern, fröhlicher Fatalismus. Die Hauptschlagzeile auf der Seite der Tagesschau ist, ich scherze nicht: „Alles unklar.“ Ich nicke kenntnisreich.

Ich mache mein Bett und freue mich schon darauf, mich am Abend wieder hinzulegen. Der Mensch braucht kleine Freuden: Ich denke am Morgen gerne daran, wieder ins Bett zu gehen und ich denke am Abend gerne daran, wieder aufzustehen. Ich mag die frühen Morgenstunden und das Einschlafen, ich liebe beides. Ins Bett ist schön, aus dem Bett ist schön, ich habe ein dermaßen schlichtes Gemüt. In den Nachrufen dann später die zusammenfassende Würdigung: Er stand gerne auf und er legte sich gerne hin.

Der Rest des Tages allerdings, der Rest ist doch regelmäßig eher schwierig für mich.

Ich lehne mich mit dem ersten Kaffee in der Hand aus dem Dachfenster ins Dunkel. Auf dem Hotel gegenüber wehen die Fahnen, Deutschland und Hamburg, etwas gespenstisch werden sie von unten beleuchtet. Das weiße Tor auf der Flagge der Stadt blitzt immer wieder auf und verformt sich aufbauschend, südwestliche Böen zerren am Stoff. Unten an der Alster der aufbrandende Morgenverkehr, einen Block weiter die lärmende Müllabfuhr. Ich lasse den Twin-Peaks-Soundtrack laufen, passende Musik ist stets wichtig.

Zwei Kaffeetassen weiter sehe ich, dass in der Birke drüben am Kirchenbüro lange Goldgirlanden hängen, als hätte man sie wie Lametta daran drapiert. Oktoberlaublocken. Ich trete aus dem Haus und ein älterer Nachbar fragt mich: „Und, stehst du noch in Lohn und Brot?“ Er fragt mich das immer, wenn er mich sieht, es ist eine Frage, die für ihn sicher wichtig war. Ich nehme an, er fragt das alle, die er kennt.

Dann der Arbeitsweg, ich stehe tatsächlich in Lohn und Brot. Runter nach Hammerbrook.

An den Hauswänden Plakate, die zu einer Demo aufrufen: „Miet- und Energiekosten deckeln!“ An einem Briefkasten zwei Aufkleber; „The system is evil“ und „Help the rich!“ Dann weitere Plakate, mit schwarzem Rand diesmal, es wird auf das Ladensterben im kleinen Bahnhofsviertel hingewiesen, es soll einen Trauermarsch für tote Geschäfte geben.

Über den Bürohäusern von Hammerbrook früher Vogelzug, keilförmig dem Wind entgegen, mehrere Geschwader. An einer spektakulär hässlichen Kreuzung wird alles von Bauarbeitern aufgerissen, jetzt ist es da noch schlimmer, ein Unort, das Grauen. Männer mit gelben Helmen sehen in ein riesiges Loch und schütteln den Kopf. „Heilige Scheiße“, sagt einer und nimmt dem Helm ab, „Heilige Scheiße.“ Ein Baggerfahrer beugt sich aus seiner Maschine und ruft; „Ja, was jetzt?“

Mir kommt eine Frau entgegen, die schiebt jemanden, der im Rollstuhl sitzt, und der sieht schrecklich aus. Mit dem stimmt etwas grundsätzlich nicht, er ist ein alarmierender Anblick, da ist etwas grundfalsch, und sie müssen mir erst näherkommen, die Frau und der im Rollstuhl, bevor ich erkennen kann, dass der gar nicht echt ist. Eine menschengroße Puppe sitzt da, bandagiert und mit Kissen gestützt, ein Vorführobjekt für Erste-Hilfe-Kurse vielleicht. Die Puppe hat Klappaugen und als sie neben mir über ein Stück Kopfsteinpflaster geschoben wird, wackelt ein Augenlid hektisch auf und ab, die Puppe zwinkert mir in irrem Stakkato zu, einäugig, das andere klemmt wohl. Dann ein Kantstein und da geht auch noch ein Arm halb hoch, die Puppe zwinkert und winkt mir dabei passiv zu, so wie der tote Ahab damals vom Wal winkte. Was sind das für Tage, die so anfangen, was sind das denn für Tage. „Heilige Scheiße“, murmele ich und gehe in mein Büro.

(Es war dann ein ganz normaler Tag. So ist es ja immer.)

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Figuren in Fenstern

Ein Terminhinweis, Tanja Maljartschuk liest am 19.10. in der Hamburger Zentralbibliothek aus „Blauwal der Erinnerung“. Ich habe das Buch gerne gelesen und werde nach Möglichkeit hingehen.

Apropos Lesen, ich lese abends Drei Geschichten von Flaubert, in der Übersetzung von Elisabeth Edl. Irgendwann vor Jahren habe ich das schon einmal angefangen, vermutlich in älterer Übersetzung, dann weggelegt, jahrelang vergessen, jetzt aber doch wieder vorgenommen. Und wie gut das ist. Flaubert hat Ewigkeiten daran gearbeitet, an diesen drei eher kurzen Geschichten, es war sein letztes Buch und wenn ich den Briefwechsel richtig erinnere, hat er erheblich darunter gelitten, dass er nicht fertig wurde – aber man merkt des den Texten auch an, das Schleifen, das schier endlose Feilen, das Polieren, es sind Sätze und Konstrukte in Perfektion. Das Ende der Geschichte vom Heiligen Julian ist fürchterlich gut, beeindruckend, nachhallend, es ist vielleicht eines der besten Enden, die ich jemals bei Geschichten gelesen habe. Nicht schön, das gar nicht, aber gut.

Ich höre auf den Wegen durch den Alltag und zum Discounter und ins Büro Effie Briest vom ollen Fontane und finde es immer noch gut. Ich habe es damals in der Schule schon gemocht und war damit verhaltensauffällig und ich weiß gut, dass es der Schrecken vieler Schülerinnen war. Gerade neulich wurde das wieder ausführlich auf Twitter diskutiert, das Buch sei so unfassbar langweilig, eine elende Schwarte. Keine Ahnung, warum ich da so anders ticke, aber es gab da neulich einen Dialog mit einem Sohn, der es vielleicht ausreichend erklärt:

Ich: „Was war bei dir jetzt mit Friseur?“

Sohn: „Papa. Du lebst geistig im neunzehnten Jahrhundert. Ich möchte mit dir nicht über Frisuren sprechen.“

Okay.

Es ist ansonsten, Sie haben es vielleicht bemerkt, Oktober geworden. Ich finde das erstaunlich, es kam plötzlich und unerwartet. Das Wetter passt, das sehe ich ein, das Zeitgefühl passt gar nicht und ich denke mittlerweile, es wurde im März 2020 dermaßen gründlich beschädigt, es wird vielleicht nie wieder etwas passen. Das gehört wohl zur Geschichte der Pandemie dazu, dass wir uns seelisch ein für alle Mal vom Kalender getrennt haben und für den Rest unseres Lebens entfremdet auf Monatsnamen und Jahreszahlen sehen. Diese Zeit ist nicht mehr unsere, diese Zeit ist nicht von hier. Morgen ist Mittwoch. Auch komisch.

Das Wetter war heute gut, was ich leider nur daran gemerkt habe, dass ich beim Herumrennen zwischen zwei Verpflichtungen ganz fürchterlich ins Schwitzen geriet. Es war also warm. Auf dem Boden, ich sah es, als ich an einer Ecke kurz etwas auf dem Smartphone checkte, zertretene Haselnüsse, Eicheln und Kastanien, was hier so als urbaner Herbstschmuck durchgeht.

Als ich mir endlich erschlossen hatte, dass heute vermutlich einer dieser goldenen Oktobertage war, sah ich aus dem Fenster, schließlich doch noch gewillt, die Pracht der Natur wenigstens kurz zur Kenntnis zu nehmen. Da war es allerdings schon dunkel geworden. Im Nachbarhaus, das immerhin, übte ein Elternpaar mit den Töchtern, beide etwa im Alter der Söhne, gerade das Tanzen, Figuren in Fenstern. Paartanz, good old Discofox, es wurde viel gedreht, nach jeweils einem Satz Grundschritt, und es sah gut aus, so ohne Musik, nur die Silhouetten am Fenster, das Wiegen, das Drehen, das Hin und Her. Die wehenden Haare, ich glaube, sie hatten Spaß da.

Weil du dem Leben trotzt, tanzt du den Discofox.“ Olli Schulz hat das einmal gesungen (Dann schlägt Dein Herz). Ich kann den Lindy-Hop-Grundschritt noch, ich habe es dann in der Küche probiert, während die Nudeln kochten. Immerhin, dachte ich, immerhin.

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Späte Tracht

Ich hänge im Schreiben hinterher. Es gibt auch Dinge, Begebenheiten, über die schreibt es sich nicht so leicht. Natürlich muss ich über so etwas gar nichts schreiben, das ist das Schöne an Blogs, es ist und bleibt alles freiwillig, aber andererseits – wenn ich nichts schreibe, weiß ich womöglich gar nicht, was ich denke.

Es gab also die bewegende Trauerfeier für Elena, Journelle. Es waren etliche Menschen aus dem Freundeskreis Internet da, darunter viele, die sich in etwa aus dem Jahr 2005 kennen, lange also schon, jahrzehntelang, so können wir es jetzt sagen. Es war nicht die Art von Bloggerinnentreffen, die wir uns damals vorgestellt hatten und der oft geäußerte Satz beim Wiedersehen, dass man sich einen besseren Anlass hätte vorstellen können, er will wohl weiter bedacht werden und wird es auch.

Die Herzdame hat etwas recherchiert, wie wir die Spende „Statt Blumen“ möglichst sinnreich unterbringen konnten, sie fand diesen Verein, bei dem es ums Schwimmen und um Integration geht, wir nehmen an und hoffen, das wäre im Sinne von Journelle gewesen.

Die Feier fand auf dem Ohlsdorfer Friedhof statt, wo ich lange nicht war. Gott sei Dank, möchte man da einerseits sagen, andererseits – es ist dermaßen schön da. Selbst im strömenden Regen ist es schön, selbst an einem ungewöhnlich kalten, nassen Oktobermorgen. Doch mal die Anlagen dort zum Spazierengehen besuchen, doch mal staunend herumgehen, diese unfassbar herrlichen alten Bäume und riesigen Büsche, diese einladenden Wege, trostreich und beruhigend fand ich die. Ich habe, das fiel mir auf, lange keinen schönen Park mehr gesehen, oder doch nur im Vorbeigehen, ich sollte das wohl ändern. Ich sehe überhaupt zu wenig Natur, das ist alles falsch eingerichtet.

Vor unserer Haustür blüht der Efeu. Spättracht sagen da einige reflexmäßig und zeigen auf die Insekten, die leicht übersehene, unscheinbare Blüten in allzu dezentem Grüngelb ansteuern. Ich stehe morgens im ersten Dämmer am Fenster und sehe runter zum üppigen Efeugeranke am Spielplatzrand, es wird schon im ersten Tageslicht gut besucht. Allerdings nicht nur von Insekten, sondern auch von Junkies, die sich dort kleine Päckchen aus den Zweigen pflücken, von anderen vermutlich in der Nacht für sie sinnig deponiert. Die Wohnlage wird mir gerade nicht sympathischer. Es ist etwas anstrengend hier, zumal ich überhaupt nur wach bin, weil eine volltrunkene Frau auf der Straße um 03:45 randaliert hat, das war sogar mir zu früh. Ein gelalltes Lamento in erheblicher Lautstärke, zuklappende Fenster ringsum, in der Ferne Polizeisirenen, ich möchte das alles gar nicht. Oder nicht mehr.

Etwas später das Eichhörnchen unter der Eiche auf dem Spielplatz, possierlich aber immer hektisch, gestresst, getrieben und gehetzt, ein entspannender Anblick geht anders. Es rennt von Eichel zu Eichel wie andere von To-Do zu To-Do, schön ist das im Grunde nicht.

Noch später ein frühes Elternpaar mit einem Kleinkind und Koffern dabei, die haben sicher eine Stunde Überbrückungszeit, bis ihr Zug vom Hauptbahnhof fährt. Niemand sonst ist zu dieser Zeit auf dem Spielplatz, es ist noch zu früh für alles, ringsum sehe ich kaum beleuchtete Fenster. Das Kind will in den nassen Sand und es will vor allem keine Klamotten anhaben, blöde Stiefel, blöde Regenhose, was soll das. Die Eltern lassen es alles ausziehen, helfen auch noch und das Kind schmeißt sich jauchzend in den Sand, strampelt mit den nackten Füßen im Oktobermorgenmatsch. Natürlich wird ihm schnell kalt, und wie ihm kalt wird, bitterkalt. Die Eltern, die in großer Ruhe ein Handtuch aus dem Koffer holen, eine andere Hose. Die das Kind auf dem Schoß abtrocknen, beruhigen, wärmen, es weint jetzt, es ist doch sehr kalt. Die es wieder anziehen, drücken und herzen, die Essen anbieten. Alles langsam und liebevoll, wie schön es ist, wenn das so gelingt.

Apropos Gelingen, apropos Trost: Es gab gebackene Zimtbirnen, nach diesem Rezept. Simpel und gut, das gibt es in der Saison öfter. Langsam und liebevoll habe ich sie gemacht und serviert, also für meine Verhältnisse jedenfalls. Irgendwo anfangen.

Man kann im Winter nicht immer nur Holunderbirnen essen.

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Insiderwissen im Dunkeln

Als ich mit der Herzdame im Kino war und hinterher durch das abendliche Altona ging, fiel ihr auf, dass die Geschäfte in der Einkaufsmeile nicht beleuchtet waren. Ich hätte das nicht gesehen, es gab noch so viel Licht überall, aus den Kneipen, Restaurants etc., auch von den Straßenlaternen. Ich fand um mich herum nichts auffällig dunkel. Aber die Herzdame hatte Recht, natürlich hatte sie das, die Geschäfte waren tatsächlich unbeleuchtet und das war also unser Erstkontakt mit den Energiesparmaßnahmen im urbanen Raum. Bestenfalls mäßig bis gar nicht beeindruckend. Im kleinen Bahnhofsviertel sahen wir dann bei der Rückkehr den Kirchturm vor unserer Haustür nicht, er wird in diesem Winter nachts nicht angestrahlt. Man muss jetzt wissen, dass er da ist. Aber ich weiß es ja, denke ich ins Dunkel, ich weiß es ja. Ich finde Energiesparen gut und ich sehe nachts sowieso nicht prüfend raus, ob der Turm noch da ist. Er ist jetzt Insiderwissen in der Dunkelheit.

Die Temperatur in der Wohnung sinkt erstmals auf 19 Grad, dann weiter auf 18,5. Wir Eltern greifen zu dickeren Pullovern und trinken etwas öfter heißen Tee, die Herzdame hat auch ein Wärmekissen im Rücken. Die Söhne springen nach wie vor eher unbeeindruckt in T-Shirts herum. Ich teste, ob die Heizung überhaupt geht, das ist in diesem Haus nicht selbstverständlich. Sie geht, ich mache sie wieder aus. Ein wenig schaffen wir schon noch ohne.

Online wird mir weiterhin reichlich krisenorientierte Werbung gezeigt. Holzöfchen fürs Wohnzimmer, Powerbanks für den Blackout, kompakte Solaranlagen für den Balkon, Notlagenzubehör aller Art. Auf Tiktok immer wieder die Teelichtofenfilmchen („Leute, es funktioniert wirklich!“), und gleich danach dann die, welche eindringlich vor diesen Konstrukten warnen, kopfschüttelnde Feuerwehrleute, so halb privat („Leute, ganz ehrlich …).

In den Gesprächen die VWL-Erklärbaren, die Inflationsversteher, die Energiemarkttopchecker. Ich halte mich zurück, ich verstehe gar nichts. Jemand in Uniform hält mir ein unscharfes Bild hin: „Kennen Sie diese Inflation?“ Ich, verstockten Blickes, vorsichtig taktierend: „Nein, die habe ich noch nie gesehen.“

Auf der Straße im Vorbeigehen gehört, eine junge Frau sagte das zu ihrer Freundin: „Im Grunde geht mir gerade alles, wirklich alles viel zu schnell.“ Sie gingen dann beide schnell weiter.

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Währenddessen in den Blogs, Ausgabe 29.9.2022

Über den ÖPNV und die Menschen auf dem Land.

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An der Bushaltestelle steht eine Frau und guckt auf ihre Armbanduhr.

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Aus den Fugen – Nachrichten vom Abdrehen. Es fällt selbstverständlich verschieden aus, in meinem Umfeld etwa sehe und höre ich noch kein markantes Abdrehen aufgrund der aktuellen Nachrichtenlage, da gibt es eher skeptisches bis fatalistisches Abwarten oder auch halbtrotziges Ignorieren. Die Stimmung ist nicht gut, das kann man beim besten Willen nicht mehr behaupten, extrem ist sie sicher nicht. Aber, versteht sich – das kann einen Block oder einen Klick weiter schon wieder ganz anders sein. Oder bei Ihnen.

Die Woche ist davon abgesehen ein wahres Biest von Woche, es gab Terminhagel und To-Do-Verwehungen, es ist etwas unschön. Ich komme nicht zum Schreiben, ich erzähle Ihnen nur eben von einem Bild, das ich in ähnlicher Weise hier schon hatte, aber nicht exakt so, nicht dermaßen gemein, böse und treffend. Es passt zu meinen Anmerkungen über das Leben und das Ausdenken, über die Probleme, die unfassbar flachen Pointen in der Wirklichkeit da draußen verträglich zu schleifen. Ich mache das jetzt nicht, ich sage Ihnen nur eben, wie es war. Ich gehe zur Arbeit, am Straßenrand liegt ein Obdachloser, also einer von vielen auf dem Weg. Blauer Schlafsack, ein Arm in einem löcherigen braunen Strickpulli, mehr ist von ihm nicht zu sehen. Er liegt auf einer Isomatte in einem überdachten Durchgang zwischen zwei Straßen, würde man die Kamera einmal nach links und einmal nach rechts schwenken, der Regen wäre im Bild, hastende Menschen unter Regenschirmen in den Toreinfahrten, Sekundenfiguren. Der Obdachlose hat Kartons um sein Lager gestellt, um den Wind abzuschirmen. Auf den Kartons ist ein Aufdruck in roten Großbuchstaben, eine Aufforderung steht da vor dem Kopf des schlafenden Mannes: „KÜHL LAGERN!“

Aber das, wie gesagt, nur am Rande.

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Man schreibt dagegen an

Der 18. Hochzeitstag. Das Handy zeigt mir diesen Termin als 18 Geburtstag von „Zuhause“ an, wie passend ist das denn. Die Herzdame und ich schenken uns Wärmendes, denn die Zeiten, sie sind nun einmal so.

Es regnet. Lang und dünn regnet es, es ist dieser langsame, dennoch gründliche Herbstregen. Man wird sehr nass, während man denkt, dass man schon nicht sehr nass werden wird, und dann ist man es auf einmal und guckt verstimmt. Auf dem Weg zum Einkaufen sehe ich all die schlecht gelaunten Gesichter und ich sehe ein Plakat, auf dem für eine Aufführung von Mozarts Requiem geworben wird. Es weicht im unaufhörlichen Septemberregen allmählich auf, das kommt mir schön und stimmig vor.

Über einer Bushaltestelle ein großes Fenster im zweiten Stock, da sitzt ein Vater mit einem Kind auf dem Schoß innen auf der Fensterbank. Das Kind ist klein, ein Baby noch. Der Vater zeigt nach unten und erklärt, da kommt der Bus, da steigen die Leute aus, guck, wie sie weggehen. Da führt eine Frau ihren Hund aus, da fegt einer den Fußweg vor einem Geschäft. Da guckt einer hoch und macht sich unter seinem Regenschirm Notizen. Das bin ich. Die Augen des Kindes folgen dem Finger des Vaters, es sieht alles und wird alles wieder vergessen, den Bus, die Frau mit dem Hund, den Mann mit dem Besen und auch mich. Ich winke ins Kurzzeitgedächtnis.

Die Menschen um mich herum tragen, das fällt mir nach einer Weile auf, heute nicht die neue Herbstmode. Heute tragen sie eher das alte Zeug aus den Vorjahren, vielleicht weil die neuen Sachen nicht nass werden sollen, vielleicht weil die noch „für gut“ sind. Die erst einmal bei Sonnenschein eintragen.

Ich weiß nicht, was ich lesen soll, ich weiß nicht, was ich hören soll. Vielleicht weil die Jahreszeit wechselt, die Stimmung, die Atmosphäre. Mir scheint alles unpassend, wenn nicht sogar störend, selbst der Fontane, und das will etwas heißen. Ich bringe sämtliche Büchereibücher weg, ich finde den Gedanken gerade unangenehm, sie bis zu einem bestimmten Termin gelesen haben zu müssen. Ich lese so wenig zurzeit, so schlecht, so unkonzentriert. Dann doch lieber etwas aus dem Bestand nehmen, denke ich, es sind ja reichlich Bücher in der Wohnung, auch ungelesene. Ich überlege, was ich lesen möchte, ich will eigentlich gar nichts lesen. Vielleicht möchte ich etwas hören. Ich höre Blues, ich höre Jazz, ich höre Ambient Lounge, ich weiß nicht, was ich hören will. Ich höre „Nordic atmospheric Jazz“, aber wenn man schon bei solchen Playlists landet, dann will man, so denke ich, im Grunde doch nur irgendwo ein Nebelhorn an der Küste hören, uns sonst gar nichts. Ich stecke die Kopfhörer weg, ich gehe um den Block, ich höre Schritte und Verkehr.

Ich gehe zum öffentlichen Bücherschrank. Auch mal etwas dem Zufall überlassen. Einfach mal das lesen, was kommt. Es kommt der Herr Kagge, das Buch heißt Stille und es steht da, bis ich es mitnehme. Es ist doch eher platt, in solchen Momenten so ein Buch zu finden, es ist eher zu flach und zu schlicht, nicht wahr. So macht es das Leben, aber als Autor soll man dann bitte auf raffinierte Pointen kommen. Fair ist das auch nicht, ich stelle es immer wieder fest. Das Leben besteht aus Klischees und die Pointen kommen mit dem Holzhammer, jedenfalls oft, wenn nicht meistens. Man schreibt im Grunde nicht darüber, man schreibt dagegen an. Wie sinnlos ist das denn.

Ich gehe nach Hause, ich mache gar nichts. Ich lege mich aufs Bett, ich denke, ich kann ja einfach mal liegen, aus dem Fenster sehen und nachdenken. Ich schlafe sofort ein, in Sekunden. Ich schlafe zwei Stunden und muss mir danach erst wieder mühsam klarmachen, wer ich bin, in welchem Zeitalter ich lebe und wo überhaupt. Dann fällt es mir nach und nach alles wieder ein, meine Berufe, die Krisenzeit, Hamburg und alles, und natürlich auch, dass ich mit der richtigen Frau verheiratet bin.

Immerhin, denke ich, immerhin. Doch irgendwas richtig gemacht. Ich sehe aus dem Fenster, nicht vollkommen unzufrieden.

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Für mein weltliches Defizit

Wenig gibt es zu erzählen, kaum etwas ist passiert, nur dass mir morgens auf dem Arbeitsweg jetzt schon die ersten Menschen in vollem Winter-Ornat begegnen, in dicker Jacke und mit Wollmütze, Schal und Handschuhen, mit allem also. Wo bleibt da die Steigerungsmöglichkeit, worin besteht das Potential, was machen die, wenn es Winter wird. Auf Twitter laufen die Heizungsdiskussionen, die ersten schalten in diesen Tagen an, andere empören sich selbstverständlich darüber, lachen darüber, spotten darüber, können mehr ab. Aufzählungen von Accessoires, Armstulpen und Pulswärmer, Wärmflaschen etc.

6 Grad sind es da draußen am Morgen, unsere Wohnung bleibt noch ein paar Tage bei mindestens 21 Grad, Sommerreste. Uns geht’s ja noch gold. Erste Schneebilder kommen aus Österreich, aber da muss ich ja nicht hin.

Ansonsten fortschreitende Erkältungsverblödung, negative Tests und währenddessen viel zu viel administrativer Ballast der komplett irren Art, man müht sich so durch und die Woche ist schon wieder sehr lang, geht aber vermutlich vorbei. Dabei auch mal dem Kalender vertrauen. Ein Sohn soll für die Schule ein elaboriertes Baumtagebuch führen, Herbstbeobachtungen en Detail sind gefragt. Ich bin ein wenig neidisch, ein Baumtagebuch kommt mir viel attraktiver vor als das, was ich da am Notebook gerade beruflich mache. Wie verändert sich die Eiche, und das dann als Aufgabe aber so etwas von ernst nehmen und guck mal, ein Eichhörnchen. Das wäre es jetzt.

Auf dem Wochenmarkt vor dem Büro steigen währenddessen die Preise für das Mittagessen weiter. Ich bin da jetzt raus, ich habe Schnittchen dabei, anderen geht es ähnlich. Man steht vor den Ständen und sagt sich frühere Preise auf.

Ich lese abends Katerina Poladjan, Zukunftsmusik, hier eine Rezension dazu. Angenehme Abendlektüre ist das, melancholisch im Tonfall. Mag ich.

Ansonsten die Nachrichten lesen, Musik hören und Herbstgefühle pflegen, das immerhin, und das auch gründlich.

Wenn du bedenkst

Dass das Ganze nichts auf sich hat

Jeder vollzieht seine Endlichkeit

In einer anderen Stadt.

Sucht sich Erfüllung

Für sein weltliches Defizit

Einzig Musik hält mit der Trauer Schritt.“

Der Herr Hüsch hat das geschrieben. Ich bin gar nicht traurig, aber wenn es doch nun einmal saisonal gefragt und passend ist.

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Von Tauben und Menschen

Ich gehe am Morgen zum Arzt und lasse mich einmal gegen etwas anders impfen, nicht immer nur gegen das allmählich doch langweilig werdende Corona-Virus. Ruhig auch mal den Grippeschutz mitnehmen, dachte ich mir, das Immunsystem liebt die Abwechslung. Der Mensch, der mich da impft, hat das vielleicht gerade erst gelernt, denn er sagt sich selbst beim Handeln alle Schritte lehrbuchmäßig und leise auf, mir ist das sehr sympathisch: „Erst das Alter prüfen. Unter 60. Den Namen mit der Karte abgleichen.“ Das geht auf diese Art weiter, und ich finde, es macht so eine ruhige, sichere Atmosphäre, wenn Selbstverständlichkeiten fachgerecht aufgesagt werden. War es nicht so, dass japanische Zugführer alle Schilder benennen müssen, die sie während der Fahrt sehen? Um sich selbst und andere dauernd ihrer Aufmerksamkeit zu versichern? Vielleicht sollte ich das im Home-Office auch machen, am Ende nützt es etwas und man fühlt sich besser in den eigenen Routinen? „Ich öffne das Notebook. Ich mache das Notebook an. Ich melde mich an.“ Wie ein Pilot beim Check im Cockpit, wie ein japanischer Zugführer auf der Strecke, wie ein Impfender in der Arztpraxis, Sicherheitsrituale, Beschwörungen. „Ich mache Excel auf. Excel ist offen.“ Und, Stunden später dann: „Ich hau meinen Kopf an die Wand“. Aber eben fachgerecht.

Vor einer Bäckerei – Sie merken, es findet hier enorm viel vor oder in einer Bäckerei statt, das liegt aber nur daran, dass es dermaßen viele davon gibt – sitzt eine sterbende Taube. Sie ist schon so hinüber, so halb jenseitig, dass wohl auch ein ambitionierter Tierfreund keine Rettungsaktion mehr starten würde, hier geht es um Minuten, zumindest sieht es sehr danach aus. Sie kippt schon seitlich weg, die Augen verdrehen sich und der Morgenwind fährt ihr in diesem Moment kalt unter das Gefieder und plustert es ein letztes Mal auf, der feine Flaum an ihrem auf einmal exponierten Bauch gerät in wellige Bewegung. Die Taube liegt dabei unter einem Schild, auf dem steht: „Softer Genuss.“

Im Bahnhof selbst fliegt eine Taube gerade in, na was wohl, eine andere Bäckerei, die Verkäuferin dort macht ausladend abwehrend wedelnde Gesten mit den Händen, den lästigen Vogel zu verscheuchen, und es ist ein absurder Zufall, dass im Imbiss nebenan eine andere Verkäuferin gerade parallel gleiche Gesten vollführt, allerdings nicht gegen eine Taube, sondern gegen eine vermutlich Drogensüchtige, die zerlumpt, in eine schmutzige Decke gehüllt, die Kunden im Geschäft anbetteln möchte. Weg sollen sie, der Vogel und die Frau, bloß weg.

Nach altem Gesetz kommt alles immer dreimal, und die letzte auffällige Taube des heutigen Logbuch-Eintrags sehe ich dann vor dem Bahnhof. Sie ist bereits eine Weile tot und sie wird auch schon entsorgt, und zwar von den Möwen, die hier dafür zuständig sind. Sie haben die Taube bereits zerteilt, der Körper liegt schon zerfetzt und eine Möwe fliegt gerade mit einer abgetrennten, losgerissenen Taubenschwinge davon, die sie im Schnabel trägt, ein großes Beutestück. Und so kam es also endlich, dass heute ein Vogel mit drei Flügeln über mir kreiste, was gemäß einer alten Weissagung … pardon. Ich schweife ab, das gehört nicht hierher.

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Auf arte gesehen und interessant gefunden: Anjelica Huston erzählt James Joyce.

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Als Hörbuch gehört: Undine von De La Motte Fouqué. Vor langer Zeit schon einmal als Buch gelesen und als hölzern bis ledrig erinnert, das war aber ganz falsch. Tatsächlich ist es sprachlich schön. Ich hätte mich auch nicht erinnert, dass die Wurzel allen Übels in der Geschichte nicht in Undine selbst liegt, sondern im Wunsch ihres Vaters, sie möge es zu einer Seele bringen, was im Kontext der märchenhaften Erzählung gewissermaßen als unheilvolles Karrierestreben zu betrachten ist. Da haben wir es wieder, da haben wir es wieder.

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Wie kalt ist uns eigentlich

In Hamburg ist der Hafengeburtstag, wir flüchten also aufs Land, tief ins Binnenland, nach Nordostwestfalen, wo man kein Schlepperballett kennt. Die Herzdame hat ohnehin einen Termin im Heimatdorf, aber ich bin bei Großveranstaltungen tatsächlich gerne nicht in Hamburg. Es ist das erste Mal, dass Sohn I mit einer gewissen Selbstverständlichkeit nicht mitkommt, er hat einfach anderes vor. So ist das also mit den eigenen Wegen, so unaufgeregt und gelassen kann sich das ereignen und ist dann eben so. Man wird sich daran gewöhnen.

Ich gebe also ein kleines Vermögen für eine Tankfüllung aus und wir fahren durch Niedersachsen. Es ist fast schon Routine, dass wir dabei umgeleitet werden, durch wer weiß welche Gegenden. Irgendwann habe ich sicher auf diese Art das ganze Bundesland einmal durchfahren, jedes Fitzelchen Landstraße kennengelernt, alle Ortsschilder gesehen und jeden grottenhässlichen Kreissparkassenbau umkurvt. Zwischen zwei Dörfern, von denen ich noch nie gehört habe, wird das Tempo mit Schildern begrenzt, alle paar Meter kommt ein neuer Hinweis auf die schadhafte Fahrbahn. Das ist oft nur ein pflichtschuldiger Hinweis auf ein unauffälliges Löchlein im Asphalt, also früher war es das zumindest, diesmal aber ist es eine ernsthafte und besser zu beachtende Warnung vor einer schwer lädierten Buckelpiste, holperig, schadhaft, ungepflegt, und das hört gar nicht auf, noch ein Kilometer, noch einer, und dann noch viele. Ich kann mich an eine Zeit erinnern, denke ich in mir selbst unangenehmer Boomer-Manier, da war die Infrastruktur dieses Landes noch in Schuss, fast überall. Und wie viele andere arglosen Zeitgenossinnen habe ich das für selbstverständlich gehalten, was doch eine historische Ausnahme und im Weltvergleich auch ein eher rares Privileg war. Manches lernt man eben spät.

Noch einmal werde ich so eine Zeit jedenfalls nicht erleben, vermute ich, und finde es nicht einmal besonders tragisch, nur interessant. In den Medien geht es jetzt neben den ganzen anderen Krisen immer öfter um den als sicher angenommenen Wohlstandsverlustbei uns, aber ich merke, dass ich angesichts der Fülle von Krisen mittlerweile weniger zum Doom-Scrolling neige, eher zum Doom-Watching & -Writing. Alles aufschreiben, was auffällt, die Veränderungen, die Schäden, die Maßnahmen, die Hoffnungen auch, die Lichtblicke. Dieses Schreiben fällt am Ende einfach nur unter Bewältigungsstrategie, und warum auch nicht. In seinem Newsletter „Der siebte Tag“ fragt der Journalist Nils Minkmar gerade: „Was ist Deutschland für ein Land, wenn es nicht immer reicher wird?“ Ich halte das für eine wichtige Frage, eine sehr wichtige. Hier ein interessanter Artikel zum noch viel weiteren Zusammenhang, da wird es dann erst richtig spannend und ich wundere mich schon lange, wie wenig darauf herumgedacht wird und wie wenig hilfreiche Antworten es bisher gibt. Das Einmalige unseres Zeitalters, so wird es einmal in den Geschichtsbüchern stehen – ich bin mir da sogar ziemlich sicher – ist die vollkommene Visionslosigkeit. Egal. Zurück zur Infrastruktur, immer zuerst das, was man sieht.

Neulich etwa auch der Bahnhof in dieser einen Kleinstadt an der Küste – wie verfallen, wie ruinenhaft kann ein Bahnhof denn bloß sein. Wie kaputtgespart kann ein Gebäude noch stehen und wieso wachsen da riesige Büsche zwischen den Gleisen. Das alles denke ich mir so, während ich über diese Landstraße in Niedersachsen holpere, die man als Motorradfahrer vermutlich schon als Abenteuer begreifen muss.

Im Heimatdorf der Herzdame liegt bei ihren Eltern die Regionalzeitung auf dem Wohnzimmertisch, darin lese ich einen Bericht über eine Nachbarstadt, in der das Schwimmbad den Winter über komplett geschlossen bleiben wird. Aus Kostengründen, versteht sich. Neben der Zeitung der Brief eines Energieversorgers, darin ein krasser Preissprung, was sonst, niemand hat etwas anderes erwartet. Aber was macht das aus, was hat das für Folgen. Und wie ist es eigentlich in den Büros und wie wird das im November, Dezember, wer heizt wie, wie geht es wem damit, darüber spricht man nun. Und machen wir jetzt doch zum ersten Mal den Kamin an oder nicht. Wenn man ihn einmal anhatte, so sagt meine Schwiegermutter, und sie hat wie immer Recht, dann kann man ja ab sofort nicht mehr ohne.

Die Abwägungen also, das Hinfühlen: Wie kalt ist uns eigentlich? Und hilft Suppe? Es stellt sich heraus: Suppe hilft. Hat sie immer schon. Man kann das in Romanen und Geschichten nachlesen, die Bücher müssen gar nicht so alt sein.

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