Er war immer schon da

Cem Basman ist gestorben, ich las es heute auf Twitter. Er war, falls Sie den Namen nicht kennen, einer, der online immer schon da war. Er hat gebloggt, bevor ich gebloggt habe, er hat getwittert, bevor ich getwittert habe, und vermutlich war er bei vielen weiteren Tools oder Diensten immer schon dabei und User der ersten Stunde, bei Tools oder Diensten, die wir heute längst wieder vergessen haben. Er war auch einer der ersten Menschen aus diesem Internet, die ich im sogenannten Real Life kennengelernt habe, es ist schon Ewigkeiten her. Und er war einer der Ersten, der mein Schreiben gut fand, der darin weitere Möglichkeiten gesehen hat.

Er hatte mich auf einen Kaffee eingeladen, vor gefühlten hundert Jahren, nur um mir das zu sagen. Dass aus meinem Schreiben Bücher werden sollten, Artikel, Kolumnen, so etwas in der Art. Dass ich davon doch ganz oder wenigstens teilweise leben können müsste, wenn ich mich online immer so weiter als Marke … Das war noch bevor irgendwer Bloggen und Geld und Schreibaufträge ernsthaft in Verbindung gebracht hat, das war aus heutiger Sicht geradezu hellseherisch. Ich habe mich damals gefreut über das Gespräch, das war eine großartige Bestätigung und Ermutigung, das war ein kräftiger Schubs nach vorne. Er wollte dann meine Pläne verstehen und war überrascht und überhaupt nicht damit einverstanden, dass ich gar keine hatte. Er hätte sie gerne kommentiert, die Pläne, und vermutlich wäre es sinnvoll gewesen.

Ich habe heute erst verstanden, bei wie vielen Menschen er so in Erscheinung getreten ist, ich las es in meinen Timelines auf Twitter und FB. Sowohl als Privatmensch als auch als „serieller Unternehmer“, wie er sich bezeichnete, und als hervorragend vernetzter Immer-schon-da-Mensch in der Online-Szene hat er andere nachdrücklich auf Chancen hingewiesen. Er hat manche zu großen Projekten animiert und andere in wilde Vorhaben eingebunden, teils sehr spontan und wildwest, er hat ihnen neue Aufgaben gegeben, er hat zugetraut und Mut gemacht. Er hat in Möglichkeiten gedacht und ich denke, er konnte das ganz erstaunlich gut. Menschenkenntnis, die hatte er wohl. Die meisten Menschen glauben von sich, eine gute Menschenkenntnis zu haben, aber in Wahrheit haben sie wohl nur wenige. Ich z.B., ich habe sie eher nicht, das habe ich erst peinlich spät verstanden. Aber Cem – das muss man wohl als bewiesen betrachten, er hatte sie.

In den letzten Jahren hat er hier um die Ecke an der Grundschule, auf der auch die Söhne waren, noch etwas ehrenamtlich gearbeitet, ich bin ihm dabei ab und zu über den Weg gelaufen. Die Kinder mochten ihn da, das sah man, er hatte eine angenehme Art, mit ihnen zu reden.

Er war schon eine ganze Weile nicht mehr online, mehrere Jahre nicht. Er hatte andere Prioritäten, nachdem er in der Folge von gesundheitlichen Problemen lange darüber nachgedacht hat, was Prioritäten wirklich sind. Ich hatte den Eindruck, dass er sich aus seiner Sicht gut entschieden hat, und ich hoffe, das stimmt so.

Was ich aber eigentlich nur sagen wollte – dieses Mutmachen, dieses Denken in Möglichkeiten, dieses Motivieren, das war etwas, das mir gut in Erinnerung bleiben wird, das war, der Begriff ist wohl angemessen, vorbildlich.

Über seinem letzten Blog stand: „Vogel fliegt, Fisch schwimmt, ich blogge.“ Ein Satz, mit dem ich immer noch etwas anfangen kann.

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Währenddessen in den Blogs, Ausgabe 24.3.2022

Eine weitere und erfreulich lange Fortsetzung aus Frankreich. Der Text geht auch darauf ein, dass Beziehungen zu Menschen aus Russland im Moment nicht unbedingt einfacher werden. Ich glaube, ich lese zum ersten Mal in einem Blog davon. Oh, und ich sehe gerade, es geht sogar schon weiter, die Kinder kommen zur Schule.

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In dem Gebäude, in dem ich bislang nachmittags Kurse für Kinder angeboten habe, haben wir jetzt einen Freiwilligenstab eingerichtet. In einem Zimmer werden zum Beispiel Lebensmittelspenden gesammelt, in einem anderen flechten wir Tarnnetze.

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Frau Diekmann denkt nach, über das Helfen und das Bewerten.

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Es gibt Deruny, warum auch nicht. Der dort verlinkte Instagram-Account „Chefs for Ukraine“ ist auch interessant. Aus dem Blogtext: „Natürlich hilft es den von Krieg und Flucht betroffenen Menschen wenig, wenn ich Rezepte aus der Ukraine koche. Es fehlen mir zum aktuellen Weltgeschehen die (richtigen) Worte. Es schmerzt, dass viele Werte, mit denen ich groß geworden bin und auch unseren Kindern vermittelte, nicht mehr gelten. Ukrainische Rezepte zu kochen ist daher ein Ventil für meine Sprachlosigkeit, Fassungslosigkeit und Hilflosigkeit.

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Metöken, Periöken, Spartiaten

Von gestern ist noch zu erwähnen, dass die Herzdame am Abend mit Sohn II etliches zum Fach Geschichte durchging, es war die finale und intensive Vorbereitung auf eine Klassenarbeit. Und weil sie sich dabei dauernd drillsergeantmäßig und in verblüffender Lautstärke angeschrien haben, nur aus Spaß, versteht sich (wer lacht, lernt besser, sagt die Psychologie), hatte nicht nur ich, sondern hatten vermutlich das ganze Haus und auch Teile der Nachbarschaft etwas davon, und alle wissen daher jetzt etwas mehr über die Metöken, die Periöken und die Heloten. Erinnern Sie sich? Etwa sechste Klasse war das damals, und ist es heute noch. Ich fand es amüsant, dass die Kinder das immer noch so wie wir lernen, über weite Strecken die gleichen Inhalte, die exakt gleichen Stichwörter, die gleichen Zahlen, die man für eine Arbeit unbedingt parat haben muss, weil man dann eben „Klassisches Griechenland“ befriedigend oder sogar gut kann. Die Polis, Plural Poleis, der Rat der 500, die Strategen, Sparta, Attika, Akropolis, die Pnyx, es fällt einem manches wieder ein, wenn man mit Kindern lernt. Brachliegendes Schulwissen, nur bedingt abrufbereit.

Allerdings nannten die beiden die Bewohner von Sparta dauernd „Spartiaten“. Das ist vollkommen korrekt, man kann das nachlesen, aber das war wieder ein Begriff – ich könnte wetten, wir haben damals Spartaner gesagt. Ich könnte wetten, ich habe das Wort Spartiaten noch nie vorher gehört. Aber ob das möglich ist, kann ich da denn richtig liegen? Oder ist das wieder einer dieser typischen Zeugenfehler? Dabei fällt mir ein, was ich gerne einmal hätte, nämlich eine Übersicht der veränderten Inhalte in den Lehrplänen – meine Generation gegen die heutigen SchülerInnen. Das würde mich interessieren, all die Neubenennungen, die frischen Fachbegriffe, die Korrekturen, auch die Methodenwechsel etwa in Mathe, die signifikanten Verschiebungen der Inhalte in Bio und Deutsch etc., was alles weggefallen ist, was es bei uns vielleicht noch nicht gab, das würde ich gerne aufgelistet sehen in einer schicken Tabelle. Aber das wird es wohl nicht geben, ich weiß. Schade.

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Falls Sie beim Nachrichtenkonsum auch leicht ins Monothematische verfallen, was zwar naheliegend, aber vielleicht dennoch falsch ist – es gibt z.B. den Newsletter von Sham Jaff: „What happened last week“. Da fällt einem bei der Lektüre, der Text ist jeweils nicht lang, der Rest der Welt wieder ein. Oder zumindest die Teile davon, in denen schon wieder etwas passiert. Es sind jeweils einige Details und Storys enthalten, die im Strom der Hauptnachrichten und Ticker eher nicht prominent vorkamen. Macht einen nicht dümmer, der Newsletter.

Wenn Sie danach immer noch dringend Ablenkung brauchen, lesen Sie Jasmin Schreibers Naturarium, auch das ist ein Newsletter. Der bringt Sie auf andere Gedanken, neulich etwa ging es um betrunkene Insekten. Da es aber um die Natur geht, fällt nicht immer alles vollständig erheiternd und grundpositiv aus, denn da gibt es bekanntlich auch das eine oder andere Problem, mit dieser Natur. Oder eher mit uns, schon klar. Dennoch ist er empfehlenswert, der Newsletter.

Noch ein Buch. Ich lese gerade „Februar 33 – Der Winter in der Literatur“ von Uwe Wittstock“, hier einige Rezensionen dazu. Es ist so geschrieben, wie Dokumentationen heute fast zwingend gefilmt werden, also unterhaltend, mit belebten Szenen, teils frei interpretierend, natürlich recht eng an den Fakten, aber doch eindeutig bunt ausgemalt – und wie bei diesen Dokumentationen auch, man kann das mögen oder nicht. Ich finde lesenswert, dass die Bezüge zwischen den Hauptpersonen dargestellt werden, also wer sich wie kannte und wo begegnete, das kommt bei der Beschäftigung mit Einzelnen kurz. Ansonsten ist das Buch selbstverständlich eher bedrückend, und je mehr Fantasie man hat, desto schlimmer ist es. Aber doch, es interessiert mich. Und es geht um eine untergehende Demokratie, man kann sich nebenbei also schön Bezüge zur Gegenwart basteln, falls man versehentlich noch gutgelaunt ist.

Ein Aufkleber mit dem Text: "Der Struggle so real"

Die Büchereibücher, die ich im Urlaub gelesen habe, habe ich gestern wieder weggebracht. Ich weise noch einmal auf die zwei Romane hin, die mir länger im Gedächtnis bleiben werden, zum einen war das die „Mitternachtsblüte“ von Maria Matios, zum anderen war es das „Internat“ von Serhij Zhadan. Die waren gut, diese beiden Bücher, die haben mich sehr beschäftigt. Auf eine andere Art fand ich auch das „Lächeln meines unsichtbaren Vaters“ von Dmitrij Kapitelman erhellend und horizonterweiternd.

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Am Sonnabend sind wir nicht direkt von Eiderstedt nach Hamburg gefahren. Es fanden mehrere Demonstrationen mit Ukrainebezug im Innenstadtbereich statt, also vor unserer Haustür, wir wären da vermutlich nicht leicht durchgekommen. Daher machten wir Halt in einem „Erlebnisbad“ vor den Toren der Stadt, das ich freiwillig nicht betreten würde, aber ich habe Söhne, die da gerne hingehen. Dort saß ich unter strikter Vermeidung des Kontaktes mit Wasser am Beckenrand und hörte konzentriert „Die Maske des roten Todes“ von Edgar Allen Poe als Hörbuch. Ich kann mit Poe nicht viel anfangen, mit schwarzer Romantik generell nicht, aber diese Geschichte zu hören, während statistisch betrachtet gleich mehrere Gäste hochinfektiös um mich herumalberten – das war schon sehr stimmig. Es ist eine drastische Seuchengeschichte, und wenn Sie eine Poe-Ausgabe greifbar haben, lesen Sie die Story ruhig mal eben nach, sie passt gerade gut und man ist bald durch. Die Geschichte endet schnell, das Leben der beteiligten Personen auch, wie es bei dem Thema und dem Autor naheliegt.

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Hier noch ein lesenswerter Bericht aus dem Berliner Hauptbahnhof.

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Und schließlich Sascha Lobo über Warfluencer. Er benennt da als Beispiel Valeriesssh auf Tiktok, der ich auch folge. Und wenn Sie auf Tiktok sind – ich denke, ihre Beiträge lohnen auch im Nachhinein noch.

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Klötze zum Zwecke

Gestern war ich, es wurde bereits kurz erwähnt, im Büro, leibhaftig vor Ort. Zwei Bemerknisse dazu, eines ist allerdings schon zwei Wochen her, vielleicht sogar etwas länger, es fiel mir nur gestern wieder ein. Da war ich auch schon einmal im Büro, nach einer langen, langen Home-Office-Phase, und wie lange ich vorher nicht dort war, das fiel mir im Treppenhaus der Firma auf, als ich sekundenlang überlegt habe, in welchem Stockwerk mein Büro noch einmal war. Ich kam dann schnell wieder darauf, aber diese Frage im Kopf war kurz beunruhigend. Wie sehr man Gewohnheitsmensch ist, und wie sehr zumindest bei mir gilt: Aus den Augen, aus dem Sinn. Die KollegInnen, die ich zwischendurch auf den Fluren getroffen habe, waren hoffentlich neu in der Firma, erkannt habe ich sie nämlich nicht, so ohne eingeblendeten Namen im Fenster der Videocallsoftware. Aber gut, Menschen zu erkennen, das ist eh nicht meine größte Stärke. Und die aus meiner Abteilung konnte ich immerhin sicher zuordnen, das fand ich beruhigend.

Zweitens bin ich zu Fuß zur Arbeit gegangen und habe, nachdem ich eine Woche auf Eiderstedt in der Natur und fast durchgehend zwischen Schafen und anderen attraktiven Nutztieren war, noch einmal neu festgestellt, was für ein unglaublich hässlicher Arbeitsweg das ist, sogar bei ausgesprochen freundlichem Wetter. Dass die Menschen da nicht einmal etwas hingebaut haben, was irgendwie schön sein sollte, sondern ausschließlich Klötze, die geradezu brutal Zwecke erfüllen, dass man da nicht einmal gutmütig sagen kann, es war doch gewiss irgendwie gut gemeint … Nein. War es nicht. Man sieht es. Kein Wille zur Schönheit, nicht einmal zum Design, zum Bild, zur Präsentation. Diese Stadt ist an vielen Stellen nicht nur natur-, sondern klarerweise auch menschenfeindlich, und es gibt an meinem Arbeitsweg ein paar Neubauten an erlesen scheußlichen Stellen, da zahlt man mittlerweile enorm viel Geld dafür, in ausgesprochen unansehnlicher Lage zu wohnen. Ab und zu fällt mir wieder auf, wie erstaunlich das doch ist. Was alles baugeschichtlich schiefgegangen ist, irgendwann nach dem Zweiten Weltkrieg. Oder vor dem Dritten. Pardon, der Zynismus, ab und zu bricht es doch durch.

Auf dem Rückweg von der Arbeit ging ich in den Supermarkt. Da gehe ich fast jeden Tag hin, entweder in den Supermarkt oder in den Discounter, das ist Teil meines Care-Jobs und es kauft sonst niemand in der Familie ein. Mein Einkaufsverhalten führte im Urlaub zu einem heiter misslingenden Smalltalk. Ich sprach mit einem anderen Mann, wir kamen dabei auch auf Lebensmittel und dann lief das Gespräch irgendwie schief, merkte ich, und kam zunächst nicht darauf, woran es lag – aber diese andere geht nie einkaufen, wie er schließlich sagte. Der kennt das alles nicht, was ich da dauernd erlebe. Was ich nur erwähne, weil ich es wieder interessant fand, dass wir schon bei diesen Kleinigkeiten in so grundverschiedenen Welten leben, aber doch dauernd glauben, so viel über andere aussagen zu können und fortwährend auch im Namen anderer herummeinen. Ich bleibe bei meiner Binse: Andere Menschen sind wirklich sehr anders.

Ein Aufkleber gegen Rassismus: "Nationalismus ist keine Alternative"

Beim Einkauf im Urlaub stand ich übrigens an der Kasse, zahlte und wusste: In Hamburg hätte ich dafür etwa zehn Euro mehr bezahlt. Ich kann das gut schätzen, das macht die Erfahrung. Es ist der Großstadt- und Szeneviertel-Aufschlag, und er ist immer noch ein wenig höher, als ich es ohnehin die ganze Zeit vermute, er scheint sich in letzter Zeit sogar noch einmal signifikant erhöht zu haben.

Ansonsten war ich heute beim Urologen, das war der übliche Vorsorgetermin, wovon es nichts zu berichten gibt, abgesehen davon, dass mir im Wartezimmer die Sonne so kraftvoll auf den Rücken schien, dass es auch Juni hätte sein können. Darüber hinaus gab es dabei keine heitere Begebenheit, keinen lustigen Dialog, keine beobachtete Szene, von der dringend erzählt werden müsste, es fiel mir rein gar nichts Besonderes auf, und ich erwähne es überhaupt nur, falls Sie auch mal wieder müssten, oder ein Ihnen nahestehender Mann, versteht sich, dann war das hier nämlich der entscheidende Hinweis.

Immer serviceorientiert bleiben.

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Es folgt Werbung für eine Veranstaltung in Hamburg:

Themen, Pflichten und Klimbim

Der erste Tag nach dem Urlaub war, ich habe es nicht anders erwartet, etwas erschlagend, es ist einfach zu viel Zeug für so wenig Stunden, zu viele Themen, Pflichten und Klimbim, es geht schlicht nicht auf, es kann auch gar nicht aufgehen.

Der einzig berichtenswerte Moment war, als ich aus dem Büro nach Hause kam und die Nachrichten nachlas. Man weiß heute nicht recht, ob man nach zwei, drei Stunden ohne Ticker irgendeine fatale Weltenwendung womöglich verpasst hat, und dann steht man doof da, während um einen herum schon alle die Koffer packen und flüchten. Oder Sonnenblumenöl kaufen, meine Güte.

Ich saß also und las, und der Nachbar, der dauernd Klavier übt, der spielte wieder in der Wohnung neben mir. Was mich fast nie nervt, ich habe die doch etwas längliche Jingle-Bells-Phase aus dem Dezember schon wieder erfolgreich verdrängt. Er spielte ein Stück, das mir vage bekannt vorkam. Das geht mir oft so, bei diesen leisen Tönen durch die Wand, dass ich erst nach einer ganzen Weile darauf komme, was der da eigentlich spielt, obwohl die ganze Zeit schon klar ist, dass es sich um ein gängiges Stück handeln muss. Aber die Pausen, die er macht, die vielen Wiederholungen einzelner Passagen, die Wand zwischen uns – es wirkt alles etwas verfremdend.

Ich las von Mariupol und von Eingreiftruppen, von Belagerungen und Kriegsflüchtlingen. Der Nachbar übte immer weiter Klavier, und dann kam ich darauf: Imagine. John Lennon.

Das wäre in einer Geschichte zu kitschig, zu gesucht und zu platt, aber in der Wirklichkeit, da ist das einfach so. Einer liest Kriegsnachrichten, einer spielt ein Friedensliedchen und am Kirchturm vor unseren Fenstern weht die ukrainische Flagge.

So geht es hier gerade zu.

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Ich hatte lange keine Werbung mehr unter diesen Texten, ich werde das auch künftig eher selten haben, aber bei gewissen Kunden mache ich doch gerne eine Ausnahme. Etwa für die untenstehende Veranstaltung, bei der ich damals, vor Corona, mehrmals war und die ich dabei für interessant befunden habe, das Europacamp der Zeitstiftung in Hamburg. Ich werde, wenn es denn alles so eintritt, wie erwartet, in diesem Jahr wieder hingehen, das wird dann die erste Veranstaltung seit dem März 2020 sein, es war damals auch die erste, die abgesagt wurde. Das aktuelle Programm etc. finden Sie unter dem Link unten.

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Es folgt Werbung, sie ist heute gar nicht einmal so unpassend.

Währenddessen in den Blogs, Ausgabe 21.3.2022

Der Krieg ist der neue Joker. Auch interessante Kommentare darunter, die Wahrheitsfindung ist nicht eben simpel. Ich bin immer überrascht, wie viele an so etwas wie eine unweigerliche Mechanik des Marktes glauben, an nichtexistierende Naturgesetze, die sich zwingend auf Preise auswirken, und immer in eine Richtung, das war, ganz im Ernst, eine starke Marketingleistung des Kapitalismus oder des Neoliberalismus, was weiß ich.

Wobei ich aber nicht behaupten würde, irgendetwas tiefer zu durchblicken als der Rest, ich habe weder BWL noch VWL studiert, Gott bewahre, ich interessiere mich überhaupt nicht für … Moment. Gerade fällt mir ein, ich arbeite in einer Finanzabteilung. Contenance.

Ich staune jedenfalls immer noch, das wollte ich nur eben sagen, wie viele Geschäfte und Gastrobetriebe Corona bis heute überlebt haben, das beweist mir ausreichend, dass ich offensichtlich nicht genug von Wirtschaft verstehe. Es ist doch komplett kontraintuitiv, oder nicht?

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Hier eine Fortsetzung aus Frankreich, ich glaube, die hatte ich noch nicht.

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Eine Dankespostkarte

Rückseite

Ich habe zu danken, mehrfach sogar, und zwar einerseits für die Zusendung eines kleinen Bildbandes über die Sonnenallee in Berlin von Klaus Heymach, also vom Fotografen selbst – es gibt gewisse Ähnlichkeiten zum Steindamm hier um die Ecke. Gute Bilder, das mochte ich. Dann gab es noch ein weiteres Kartenspiel, Skyjo. Ich war daran bis jetzt nicht beteiligt und kann dazu also nichts sagen, aber die Herzdame hebt weiter hinten den Daumen, das war also auch gut. Es gab ferner eine große Dose Hausbrand Espresso, die ist noch geschlossen, wird es aber nicht mehr lange sein, denn nach einer Woche auf Eiderstedt freue ich mich auf nichts so sehr wie auf einen guten Kaffee. Den es auf der Halbinsel nirgendwo gibt, wenn man ihn nicht selbst macht, und wir hatten nichts dafür mit, wir haben ohnehin immer zu viel Gepäck, allein die Bücherstapel. Es wird mir wie immer ein feierlicher Akt sein, in Hamburg wieder Kaffee zu trinken, irgendeinen Vorteil soll die Großstadt auch haben. Muss sie auch haben.

Aber das ist nicht alles, wofür ich zu danken habe. Ich habe, es fiel Ihnen vielleicht auf, in den letzten Monaten keinen Trinkgeldbericht geschrieben, was vielleicht etwas ungehörig erschien, es lag aber daran, dass ich das Geld nicht ausgegeben habe, keinen Euro davon, sondern alles gespart habe. Für diese Woche Urlaub auf Eiderstedt, die Sie uns freundlicherweise komplett finanziert haben. Also die Anfahrt, die Wohnung auf dem Hof, die Stunden im Strandkorb und im Stall, die Gänge über die Weiden und zum Leuchtturm in Westerhever, sogar die Stachelbeertrümmertorte aus dem Café im Dorf. Die Einkäufe beim Edeka in der kleinen Stadt Garding, die Gummistiefel für alle, die auch zwingend erforderlich waren. Alles.

Wie großartig ist das denn, wenn ich das Geld so zurücklege, dann ist es noch toller, noch fantastischer, was es ermöglicht. Wir vier danken sehr und herzlich, echtjetztmal. Das war eine zwar im Ergebnis zu kurze, aber doch dringend notwendige Pause, vor allem auch für die Jungs, deren Leben intrapandemisch sonst nur noch aus Ganztagsschule und Bildschirmen besteht.

Die Herzdame und ich haben das Entspannungsziel zwar nicht erreicht, aber das wussten wir vorher, das war sozusagen eingeplant und in Kauf genommen. Es war dennoch wichtig und richtig, und ein wenig Entspannung ist besser als keine.

Vorderseite

Zu diesem Dankestext passt eine klassische Postkarte von der Halbinsel Eiderstedt, vielleicht noch mit einem kleinen Soundeffekt, wie es ihn bei Klappkarten oft gibt. Sie können sich dafür schon einmal Gänsegeschrei denken, aber womöglich etwas anders, als sie es kennen. Wenn Sie einmal ziehende Gänse gesehen haben, so eine Schar am Himmel oder zwei oder drei, dann nehmen Sie die einfach mal zehn oder auch gleich mal zwanzig und mehr, stellen Sie sich vor, es sind geradezu fantastisch viele Gänse über ihnen, in einer Landschaft, in der sonst nichts ist und der Zug der Vögel reicht den ganzen unverbauten Horizont entlang. Es sind keine redenden Menschen um Sie herum, es ist kein Verkehr, es gibt keine Züge, keine Stadtgeräusche, gar nichts, und Sie stehen da vor diesem unwirklichen Zug einer wahren Unzahl von Gänsen am Himmel vor ihnen und die Schreie der Gänse füllen die Landschaft bis zum Horizont. So laut ist das, so viele Vögel sind das, so überaus eindrucksvoll kommt Ihnen das vor, Sie haben das Gefühl, dass man diese Gänse bis zur nächsten Stadt hören muss, wo auch immer die von hier aus ist, dass man im ganzen Land, in ganz Nordfriesland in diesem Fall, in diesem Moment die Gänse hört. Haben Sie das?

Dann das Bild dazu, es ist eiderstedttypisch einfach. Eine Weide vor ihnen, bis zum Horizont, flach wie ein Blatt Papier, und die Sonne steht gerade so, dass das Grün darauf nicht langweilig märzmatt aussieht, sondern tiefdunkelgrün, fast spätsommerlich, dramatisch durchschattiert. Das täuscht, aber es sieht gut aus. Dieses Grün also, soweit sie nur sehen können, und man kann hier enorm weit sehen. Am Horizont in doppelter Kirchturmhöhe wattierte Ölbildwolken. Man möchte dringend auf Landschaftsmaler umschulen, wenn man diese Wolken sieht und dort, da steht tatsächlich ein Kirchturm. Wie im Landschaftsmallehrbuch für Anfänger sieht das aus, ein Beispielbild ist das, with a happy little church. Ein Graben zieht sich durch die Weide vor uns, schnurgerade zum Horizont hin. Verwelktes Gras an den Uferstreifen, die Himmelsspiegelung im Wasser, ein ungemein sattes Schwarzblau mit einem Glitzern im leichten Wind, dass man unwillkürlich an Metallic denkt und das, so denkt man, das könnte man aber schwer malen, wie würde man das denn bloß machen, Landschaftsmaler haben es auch nicht immer leicht. Auch dieses Blau ist eine Täuschung, versteht sich, in Wahrheit ist das Wasser in den Gräben auf Eiderstedt zu dieser Jahreszeit schlicht baustellenpfützenfarben, es ist eher unschön und einfach schlammig, aber jetzt gerade, jetzt sieht man das nicht und der Graben sieht aus wie aus einem Naturfilm. Aus einer dieser wunderschönen Dokus ist er, die man abends seufzend sieht und dabei denkt, oh, da möchte ich aber auch mal hin. Es ist alles eine Frage des Lichts und des Moments. Hinten ein kaum noch zu erkennendes Geflatter in der Luft, dicht über dem Wasser, der abziehende Reiher ist das.

Auf der Weide steht ein struppiges Pony, ein kleiner Schimmel. Der sieht so aus, dass man gleich weiß, das ist ein Tier, dass dauernd draußen steht. Das sieht dermaßen robust und angeschmuddelt aus, das gehört da hin, unter den freien Himmel. Es grast, was soll es auch sonst machen. Neben ihm ein Schaf. Dichte Wolle, untenherum ist es fast schwarz vom Schlamm. Die beiden grasen nebeneinander, in gemütlicher Gesprächsentfernung, so sieht es jedenfalls aus. Ringsum ist alles leer, bis zum Kirchturm hin, die beiden könnten sich weit, weit voneinander entfernen, aber sie grasen nebeneinander. Wir können uns vorstellen, dass sie Freunde sind, die mögen sich, die beiden, das ist eine angenehme Vorstellung. Sie grasen gemächlich von links nach rechts durch das Bild und über ihnen ziehen die Gänse in hoher Reisegeschwindigkeit von rechts nach links. Hunderte, Tausende, wer will das schätzen, es ist unwägbar. Mehr Gänse, als ich jemals sah, so viele allemal. Das Pony und das Schaf sehen nicht hoch, sie kennen das vermutlich schon, ziehende Gänse eben, wie in jedem Jahr, März eben. Vielleicht sehen auch die Gänse nicht runter, sie kennen das auch alles schon, Nordfriesland eben, und nur der Mensch steht da und gafft und denkt und grast dabei nicht und fliegt und zieht auch nicht und staunt nur, und ob das nun ein Vorteil für unsere Art ist, wer weiß. Die Weide sieht sehr schmackhaft aus, in diesem Licht jedenfalls, sogar im März, aber ins Gras beißen, das ist bei den Zweibeinern etwas anderes als bei den beiden noch winterfelligen Freunden da. Ins Gras beißen möchte man nicht, das Zusehen muss reichen.

So sind die Bilder auf Eiderstedt, so einfach. Grüne Fläche, blauer Strich, leicht schattierte Watte am Horizont, Vögelgestrichel, zwei Nutztiere. Fertig. Man macht sich keinen Begriff, wie schön das sein kann.

Noch einmal: Vielen Dank für diese Woche. Im Sommer fahren wir wieder hin. Wir haben es zumindest fest vor.

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Währenddessen in den Blogs, Ausgabe 17.3.2022

Über Idioten. Irgendwo auf Twitter stand auch das Wort „Testosterongehampel“, das schien mir passend. Das ist auch etwas, womit ich nicht gerechnet hätte, dass mir Testosterongehampel dermaßen prominent und wie ernst gemeint, wie eine ganz gewöhnliche Nachricht also, gleichberechtigt neben Meldungen über die Inflationsrate und Gesetzesvorhaben in den Tickern begegnet: „Musk fordert Putin zum Zweikampf“. Ich denke nicht, dass diese Zeile da per Naturgesetz ohne jede Einordnung in den Meldungen stand, ich halte es eher für ein deutliches Versagen, sie so zu bringen, das sind die Abgründe des Ticker-Journalismus oder überhaupt der Medien, an die ich immer öfter Anforderungen habe, die sie durchaus nicht mehr erfüllen.

Ich werde immer konservativer, haltungskonservativer, linkskonservativer, das ist das Alter und ich werde es wohl ausleben. Mit dem Krückstock fuchteln, wo es mir angebracht scheint.

Draußen sehe ich Vögel, bunte Gänse sind es. Sie sind so nah, ich kann sie sogar erkennen, es sind Nilgänse. Ich lese Nilgänse nach. Eine Nilgans hat damals, am Anfang von allem, das Weltenei gelegt, so lese ich, aus dem der Schöpfergott Amun als „Der große Gackerer“ hervorging. Das gefällt mir, denke ich, das ist ein schöner Begriff. Der große Gackerer. Ja, der hat alles gemacht. Eine dermaßen plausible Annahme ist das.

Ich lese Somerset Maugham: „Die halbe Wahrheit – keine Autobiografie“. Darin gleich am Anfang eine Passage über Politiker:

„An den bedeutenden Staatsmännern, die ich […] kennenlernte, vermochte ich keine herausragenden Fähigkeiten zu entdecken. Ich schloss daraus, vielleicht etwas voreilig, dass nicht besonders viel Intelligenz vonnöten sei, um eine Nation zu regieren. Seitdem habe ich in verschiedenen Ländern zahlreiche Politiker kennengelernt, die hohe Ämter bekleideten. Noch heute staune ich über ihre intellektuelle Mittelmäßigkeit. Ich fand, dass sie über die alltäglichsten Dinge des Lebens kaum Bescheid wussten und dass sie nur selten differenziert dachten oder eine lebendige Phantasie besaßen. Zeitweilig schien mir, dass sie ihr hohes Amt einzig ihrer Redegabe verdankten, denn es dürfte einigermaßen unmöglich sein, in einer demokratischen Gesellschaft an die Macht zu kommen, wenn man nicht imstande ist, das Ohr der Öffentlichkeit zu gewinnen.“

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Falls mir überhaupt jemals der Gedanke gekommen ist, dabei sein zu wollen, wenn Geschichte geschrieben wird: Ich revidiere diesen Wunsch.

Dieser Blogeintrag der stets lesenswerten Vanessa ist ein gutes Beispiel für eine naheliegende Entwicklung. Der Krieg kann nicht dauerhaft einziges Thema sein, das hätte auch keinen Sinn, aber er bricht doch überall und immer wieder durch. In so vielen Texten gerade ein Absatz, ein Halbsatz, eine Erwähnung. Die Blogs sind durchsetzt mit Krieg, alles ist durchsetzt mit Krieg. Natürlich auch mit Corona, aber eher nicht mit Klima, da haben wir übrigens wieder das Problem, das ganz große.

Hier auf Eiderstedt ist die Nachrichtenlage zunächst weit weg, es geht hier um andere Dinge. Es wehen keine blaugelben Flaggen in den Dörfern, es kleben keine Peace-Zeichen in den Schaufenstern, es gibt keine aktuellen Graffitis an den Stromkästen und Mauern. Es gibt auch keine Kneipen, in denen permanent Fernseher mit Nachrichten laufen, keine oder kaum Kioske, bei denen man im Vorbeigehen schon die Schlagzeilen sieht, die Ausrufezeichen, die Horrorbilder. Keine digital gesteuerten Leuchtreklamen mit wechselnden Bildern am Straßenrand, die zwischendurch auch Tickermeldungen anzeigen oder Spendenaufrufe einblenden.

Aber wenn man mit jemandem spricht, dann merkt man es doch. Nicht unbedingt direkt. Aber wie schon bei Corona, es ist diese erdrückende Unplanbarkeit, dieses allgegenwärtige „Man weiß ja nicht, was noch alles kommt“, dieses Abwinken, dieses Verstummen, wenn es um das Große und Ganze geht, dieses Nichtmehrvorausschauen, jetzt schon im dritten Jahr und mit neuen, deutlich erweiterten Problemen. Man sieht nicht mehr so gerne und schon gar nicht leichthin nach vorne, selbst bei der Planung der nächsten Urlaubswochen, bei der Buchung der nächsten Ferienwohnung kommt so ein eingeschobener Satz der Vorsicht, der Skepsis: „Na, wer weiß.“ Der Pessimismus, der Realismus, der Fatalismus, was auch immer.

Die Söhne sind im Stall, die Söhne sehen hier viel seltener aufs Handy, und wenn sie abends fernsehen, dann durchgehend alberne Comedyserien, die ich kaum aushalten kann. Das ist aber gut, denke ich, das ist bestimmt auch einmal gut für sie.

Ein Sohn kommt am Nachmittag aus dem Stall, er hat Stroh im Haar. Er hat Stroh überall, er hat Schafschiet an den Schuhen, ein durchdringender Geruch nach Scheune und Tier umgibt ihn, nach Pferd, Schaf und Mist. Das steht ihm alles sehr gut, finde ich, und sehe einigermaßen bemüht darüber hinweg, was er gerade alles auf dem Boden verteilt. „Was sind eigentlich thermobarische Waffen“, fragt er mich.

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Bei Nicole Diekmann geht es um den letzten Satz, aber man muss schon alles lesen, um es richtig würdigen zu können. Wer nicht auf Twitter ist, wird diesen Link vielleicht auslassen wollen.

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Die Auspizien des März

Ich gehe die Wege zwischen den Fennen entlang, von denen ich bis eben gerade dachte, dass sie mit V geschrieben werden. Warum eigentlich? Das Sprachgefühl ist auch so eine seltsame Sache.

Am ersten Graben, über den der Weg geht, steigt dicht neben mir ein Reiher auf, ein riesiger Vogel mit elegant gebogenem Hals, der gemächlich und fast geräuschlos losfliegt, ungemein lässig wirkt das, und er fliegt auch nur hundert Meter weit. Er lässt sich auf der Weide wieder nieder und sieht zu mir herüber, ob ich da bald mal vorbei bin oder was, ich störe nicht unerheblich, sagt sein Blick. Nicht weit von ihm entfernt sitzen etliche rastende Schwäne im Feld, Singschwäne werden es sein, die Schnäbel so hell. Weiter hinten Kanadagänse, der helle Streifen am Kopf, der dunkle Hals, und zwar ist es eine ganze Armee, wenn ich das Wort in diesen Zeiten einmal so friedlich gebrauchen darf. Sie haben einen ganzen Acker besetzt, sie ruhen sich dort ein paar Stunden aus, sie werden bald weitermüssen. Ganz still und unbewegt sitzen sie da, auf den ersten Blick sehen sie aus wie dunkle Steine, weit über das Feld gestreut.

Über ihnen ein aus Vögeln gebildeter Pfeil am Himmel, das ist eine andere Gänseart, nehme ich an. Erkennen kann ich es nicht. Da, noch ein Pfeil, und noch einer. Es ziehen Trupps quer über den Himmel. Pfeile, Geschwader, wilde Horden und auch sortierte Einheiten in strenger Formation. Ich bleibe stehen und sehe nach oben: Der Vogelzug war pünktlich. Es ist eine ungeheure Bewegung unter den Wolken, es ist ein Reisegeschehen, wie ich es noch nie sah, und doch fällt es erst auf, wenn man stehenbleibt und Zeit für das Bild hat.

Auf Eiderstedt ist Nebensaison, nur die Hamburger haben jetzt Ferien, es sind kaum Touristen hier. Aber was da oben gereist wird … Unglaubliche Mengen sind in Bewegung. Aus dem Süden werden sie alle kommen, es geht weiter in den Norden, nach Skandinavien vermutlich, ich kenne mich nicht aus.

Zum ersten Mal im Leben sehe ich auch einen dieser Schwärme unvorstellbarer Größe, die im Flug dauernd die Formation ändern, das kannte ich bisher nur aus Tierfilmen. Eine gewaltige Animation, das Bild wandelt sich, es dreht sich, es verformt sich, eine schwarze Wolke, die disneyhafte Fomen aus sich heraus gebiert, die in zwei Teile zerfällt, wieder zusammenschmilzt, sich mehrfach verdreht und verquirlt, die nach oben aufgeht, dann links und rechts Ausbuchtungen bildet, dann Pfeilspitzen und ich denke kurz, jetzt geht es los, die Zeichen, die Zeichen, aber dann fliegt der Schwarm einfach nur vorüber, in einer Geschwindigkeit, die ich nicht für möglich gehalten hätte, jagend wie eine Sturmböe. Ein schwarzes Orakelgebilde, das nicht spricht und nichts zeigt, nur ein abstraktes Gebilde, das vergeht wie verweht, verflogen, verflattert.

Vögel ziehen, sinken auf die Äcker, steigen auf, landen, kreisen, überall ist Flugverkehr. Einige reisen langsam und stetig, andere als ginge es um ihr Leben, in höchster Eile geht es voran.

Auspizien, das Wort kenne ich noch aus Asterix, von dem ich also doch fürs Leben gelernt habe, wir haben es schon damals vermutet. So verweilen und nach oben sehen, den ziehenden Vögeln zusehen, stundenlang.

Nein, das wäre zu anstrengend. Hinlegen müsste ich mich dabei, der Rücken, der Rücken. Ein Feldbett müsste ich haben.

Alle Vogelformationen, die über Nordfriesland ziehen, sind so weit oben, landen so weit weg von mir, dass ich kaum eine Art erkennen kann. Das tröstet mich etwas darüber hinweg, dass ich auch auf zwei Meter Abstand die meisten nicht erkennen könnte, Naturtrottel der ich bin, entfremdeter Stadtmensch. Ich denke Kiebitz und Lerche, also nur als Beispiel, aber ich weiß es nicht genau, es kommt nur so ungefähr hin. Ich denke, es wäre noch etwas schöner, wenn ich es wüsste, wenn ich doch bloß ein wenig mehr wüsste. Da vorne jagen Austernfischer über die Gräben, signalfarbene Schnäbel und strenges Schwarzweiß im Gefieder, die immerhin sind einfach. Aber die ziehen auch nicht.

Für einen Moment sehe ich eine rote Fahne in den Ackerfurchen, da läuft ein Fuchs, die Jäger sagen Lunte zu seinem Schweif. Am Wegrand liegt ein halber Hase, der Unterkörper wurde schon verzehrt, dunkles Blut im Gras. Nicht weit davon sitzen zwei Krähen und lassen mich erst einmal passieren, bevor sie sich diesen Hasen einmal näher ansehen.

Der Wind kommt von der Nordsee und ist noch winterlich kalt, was kann man Mitte März erwarten. Hier und da stehen hoch oben strahlend weiße Möwen im drängenden Wehen, auch große Greifvögel sehe ich als Silhouetten über den Feldern, geduldig beobachtend. Die Schwäne auf dem Feld knabbern an Halmen, der Wind knabbert an meinen Ohren.

An den Rändern der Gräben das verdorrte hohe Gras aus dem letzten Sommer, es zischelt im Wind, es flüstert, es tänzelt im Südwest. Wellen gehen unaufhörlich durch die Reihen, choreographiert sieht das aus. Hinter einer Wegbiegung steht eine große Scheune, gelbe Flechten auf dem längst vergrauten Holz, dicke Moospolster auf dem Dach. Hinter dem Gebäude ist es auf einmal windstill, ist es schon Mai. Die Luft ist hier ungeahnt warm in der Mittagssonne und duftet überwältigend intensiv nach Kraut und Erde. Auch die Vögel klingen hier anders und ein erster Schmetterling schwankt bunt über kurzhalsige Narzissen, Mückenpünktchen um ihn herum. Zehn, zwanzig Maimeter gehe ich nur durch diese Wärmeinsel, dann ist schon wieder gnadenlos März. Wieder der Eiswind, das mattgelbe Grasgeschaukel, die müdgrünen Weiden mit den sandfarbenen Flecken der Winterkargheit, die betongrauen Wege, der nur blassblaue Himmel, die harsche Seeluft.

Ein Strauch am Wegrand. Ein hingehockter Strauch mit kräftigem Stamm, der ist im Sturm großgeworden, und das sieht man ihm an. Moosbesetzt ist auch er und seine Zweige sehen aus wie angespannte Muskeln, als würde er mit großer Kraftanstrengung alles von sich im Wind zusammenhalten, die ganze Zeit, sein Leben lang, nie nachgeben, keine Lässigkeit jemals. Sehr groß ist er nicht dabei geworden, aber doch stark und dicht, und in seinen Zweigen zwitschert es, ohne dass ich einen Vogel sehen könnte. Das Geäst ist zu verworren, darin wohnt es sich gut, im größten Gewirr brütet man gerne. Wer kennt es nicht.

Ich sehe wieder nach oben, die Vögel ziehen über mich hinweg. Über Eiderstedt, über Nordfriesland, über Schleswig-Holstein und weiter, hunderttausend Vögel und mehr. Ich sollte mehr rausgehen, das deute ich aus der Vogelschau. Der Augur auf weiter Flur.

Ich gehe zurück auf den Hof (keine bezahlte Werbung, nein, aber wir sind zum neunten Mal hier, das sagt auch etwas aus), ich sehe mir die Schafe, die Lämmer, die Pferde, die Katzen und den Hund an. Dafür gibt es keinen lateinischen Begriff, glaube ich, aber schön ist es ebenfalls. Unter den Dachbalken des Stalls sehe ich noch keine einzige Schwalbe, aber lange dauert es nicht mehr, bis auch ihre Saison beginnt. Vielleicht kommt die erste schon morgen, übermorgen, am Wochenende. Die alten Nester sind noch da, bezugsfertig hängen sie unterm Dach.

Wenn ich das nächste Mal nach Eiderstedt komme, füttern sie schon wieder Nachwuchs darin. Ich werde berichten, nehme ich an.

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Währenddessen in den Blogs, Ausgabe 15.3.2022

Es gibt ukrainische Knoblauchbrötchen. Der einleitende Absatz dort ist in dieser Art jetzt öfter zu lesen – man möchte das Thema gar nicht, es ist aber nun einmal da, man kommt nicht daran vorbei, seelisch nicht, auch sonst nicht. Und helfen will man doch, und man tut es dann auch. Unten im verlinkten Artikel folgen weitere Rezepte aus der Ukraine, man kann vielleicht noch mehr Foodblogs so entdecken. Ich finde es nicht abwegig, sich auch über die Küche der Krise anzunähern, ich finde das eher naheliegend und richtig.

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Ein Literaturhinweis zu Odessa: Isaak Babel, den auch einmal vormerken. Und hier noch ein ganz kleines Fundstück, ein Satz ist es nur – da mal drüber nachdenken, wie das auch für uns gerade gilt, wie es in jedem Jahr gilt. Ich neige dieser Haltung vor jedem Jahreszeitenwechsel zu, auch zum Herbst hin. In einem anderen Blog eine Rezension zu Kurkow: „Es ist ein ganz besonderes, ja aufregendes Buch und ich wünschte, es wäre nicht erst der unselige Angriffskrieg auf die Ukraine gewesen, der mich überhaupt erst darauf aufmerksam gemacht hat.“ Kurkow steht hier auch auf der Leseliste.

Ich habe gerade „Mitternachtsblüte“ durchgelesen, ein Roman von Maria Matios, aus dem Ukrainischen von Maria Weissenböck, hier eine Rezension dazu. Das Buch fand ich hervorragend. Es erhellt die Geschichte der Bukowina, wenn man bei der Gegend von Erhellen überhaupt reden kann, das Wort passt nicht einmal, bei der furchtbaren Geschichte. Es spielt im letzten Weltkrieg, also in Nummer II, wenn wir einmal annehmen wollen, dass Nummer III noch nicht begonnen hat. Die Meinungen gehen da gerade auseinander, wie man wohl sagen muss. Jetzt lese ich „Internat“ von Serhij Zhadan, aus dem Ukrainischen von Juri Durkot und Sabine Stöhr, da ist man im aktuellen Kriegsgeschehen, und zwar tief drin. Auch dazu eine Rezension. Es gibt eine auffällige Verbindung zwischen den Büchern und damit auch zwischen den Kriegen, das sind die Opfer, die manchmal nicht einmal verstanden haben, wer da nun gerade wen und warum – und es ist auch egal, es ist immer das gleiche Leid, der gleiche Tod, die gleichen Verletzungen.

Von Zhadan habe ich schon letzte Woche „Die Erfindung des Jazz im Donbass“gelesen (Deutsch wieder von Durkot/Stöhr), und wenn Sie eine Ahnung bekommen wollen, wie die Gegend da eigentlich aussieht – lesen Sie diesen Roman, da entsteht ein Bild.

Der Kaffeehaussitzer denkt auch über den Krieg nach, er fängt bei Remarque an und endet bei den Nachrichten: „Das alles geht mir durch den Kopf, während dieses über neunzig Jahre alte Buch neben mir liegt. Es sind ungeordnete und unstrukturierte Gedanken; voller Fassungslosigkeit und Wut ob der Nachrichtenmeldungen aus der Ukraine, die täglich schlimmer werden.

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Es ist Krieg, was soll ich noch schreiben. Eine Frage, die sich viele jetzt stellen. Wenn man aber an die letzten Kriege denkt – wir können an diese Kriege nur denken, weil Menschen geschrieben haben. Wir haben Tagebücher, Romane und Geschichten aus diesen Zeiten gelesen, wir haben sie lesenswert gefunden. Nun sind wir die Schreibenden, es ist eine Feststellung ohne Dünkel, Pathos oder Beben. Es ist einfach so. Weitermachen.

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Über leere Blicke.

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Frau Herzbruch über Logik und Vorhersagen.

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Bei anderen Themen kommt der Krieg am Rande vor, etwa hier, bei der Aussaat, da ragt er in einen Halbsatz des Textes, der ansonsten von der Schönheit der Fachvokabeln geprägt ist. Ich verstehe gar nicht alles, es ist ein wenig wie bei maritim geprägten Texten, in denen detailreich die Besonderheiten der Takelage erklärt werden – es klingt gut und anziehend, aber wiederholen könnte man das nicht, wenn man kein Segler oder Matrose ist. Ich finde es, pardon, das passt hier gar nicht her, ein wenig schade, dass mein Brotberuf nicht auch von altehrwürdigen Fachvokabeln geprägt ist, sondern von hohlen Anglizismen der eher depperten Art. Als ich damals noch im Antiquariat gearbeitet habe, als ich dort gerade begonnen hatte, las ich dauernd im Hiller, „Wörterbuch des Buches“, denn darin stand alles, was es an Fachvokabular zum Thema Buch gab – also zur Hardware, nicht zu Texten darin. Ich habe die sehr gemocht, diese Vokabeln, es fühlte sich bereichernd an, die zu kennen.

Ich schreibe dies auf Eiderstedt. Direkt neben mir, nur eine Wand weiter, ist ein großer Schafstall, in dem über hundert Schafe mit ihren Lämmern stehen. Je Schaf sind es ein bis zwei Lämmer, und der Bauer hat viele Bereiche mit Gattern abgesteckt. Es gibt lauter Einzelzimmer für Mutterschafe in der großen Scheune, und so ein abgesteckter Bereich, das ist ein Hock, Mehrzahl Höcker. Wieder etwas gelernt. Auch friedliche Dinge lernen, das ist wichtig.

Apropos Landwirtschaft. Wenn Sie sich bitte mal kurz einen norddeutschen Geflügelzüchter vorstellen, etwa Richtung Ostholstein, mit einer sehr breiten und gemächlichen Aussprache, und wenn dieser Landwirt dann von seinen Puten spricht – dann ist dieser Plural Puten im Klang identisch mit dem, was die Amerikaner in den Nachrichten sagen, wenn es um Putin geht. Es klingt genau gleich. Faszinierend. Aber das nur am Rande.

Sprühkunst: Der Kopf von Putin, daneben steht "Putina"

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