Runter zum Fluss

Der folgende Text enthält einige musikalische Selbstverständlichkeiten der vollkommen erwartbaren Art. Ich finde das gerade richtig so, weil doch immer weniger selbstverständlich ist. 

Die Herzdame kommt von einem Termin nach Hause und sagt, sie habe eine Tageskarte. Sie hält sie mir hin. Die Herzdame sagt, ich könne damit doch mal ein wenig herumfahren. Für Content etwa, denn würde ich doch dauernd brauchen.

Wir haben schon seit Beginn der Pandemie und der Home-Office-Zeit keine Abokarten mehr. Es schien uns ratsam, überall Geld zu sparen, die Kurzarbeit, die wegbrechenden Aufträge – und Abokarten sind in Hamburg nicht gerade billig. Mittlerweile weiß ich nicht, ob ich sie jemals wieder bestellen werde. ich habe den Verdacht, es wird preislich nicht mehr hinkommen. Wenn ich viel mit dem Rad fahre, zu Fuß gehe und dazu ein paar Einzelkarten kaufe, wird es wohl auf Dauer günstiger sein, denn ich werde auch künftig viel Home-Office machen. Aber manchmal fehlt mir doch das Gefühl, jederzeit und überall in Busse und Bahnen einsteigen zu können. Ich möchte nicht zu hoch greifen, aber auf eine etwas banale Art war das damals auch ein Stück Freiheit. Und so eine gewisse urbane Selbstverständlichkeit – manchmal fehlt sie mir.

Ich nehme die Tageskarte, ich ziehe mir eine Jacke an, ich gehe zum Hauptbahnhof. Ein Ziel habe ich nicht, ich habe nicht einmal darüber nachgedacht, wo ich hinmöchte, ich war zu sehr mit dem Gedanken beschäftigt, wie wenig ich herumkomme in diesen pandemischen Zeiten, wie wenig ich sehe. Ab und zu fällt es mir auf, auch wenn es mich im Alltag kaum stört, zumindest nicht bewusst. Jetzt aber könnte ich überall hin.

An der Straßenecke vor dem Bahnhof stehen Vatermutterkind und sehen sich um. Es ist eine Dreiergrupppe, bei der ich sofort weiß und auch jeden Betrag darauf wetten würde, dass es Touristen sind. Aber woran erkenne ich das eigentlich? Es sind doch nur Vatermutterkind, die könnten hier um die Ecke wohnen, was weiß ich denn? Und doch, und doch, man sieht es. Es gibt eine gewisse Art, an Ecken herumzustehen, die haben nur Touristen. Vielleicht liegt es daran, dass sie alles so interessiert ansehen, was Einheimische längst nicht mehr wahrnehmen, die Fassaden, die Bäckereien, die U-Bahn-Eingänge. Vielleicht liegt es daran, dass sie alle drei ihre Jacken so ordentlich zugemacht haben, weil sie sich im Hotelzimmer sorgsam auf diesen Spaziergang vorbereitet und sich entsprechend dafür ausgerüstet haben, während Einheimische einfach nur kurz rausgehen – es muss etwas in dieser Art sein. Überall auf der Welt sind wir als Touristen zu erkennen, auf einen Blick. Man steht und ist fremd und jeder weiß es.

Es sind also Touristen in der Stadt, weil gerade erst die Feiertage waren, weil in Bayern noch ein weiterer Feiertag kommt, weil da und auch sonst wo in dieser Woche noch Ferien sind. Nicht übermäßig viele Touristen sind es, aber doch so viele, dass sie um den Bahnhof herum auffallen.

Es war tagelang viel zu warm in der Stadt, laues Pulloverwetter war es mitten im Winter, jetzt aber wird es wieder passend, genau jetzt, in dieser Stunde. Ein halbstarker Wind rüpelt auf einmal durch die Straßen, am Himmel rollt einiges von großem Kaliber heran und der Wetterbericht meldet alles gleichzeitig, Sturm, Regen, Graupel, Schnee, Frost. Es wird gerade dunkel, zum einen wegen der Tageszeit, zum anderen wegen der tiefdunkelgrauen Gebirgsgebilde am Himmel.

Ich steige in die S-Bahn, ich fahre runter zum Fluss, runter zum Hafen, ich denke: In Städten mit Häfen haben die Menschen noch Hoffnung. Bernd Begemann war das. Ich denke dauernd in Liedtexten und Zitaten, womöglich ist das ein Ergebnis meiner Siebzigerschlagerkindheit, es war gar nicht alles schlecht. Es gab schon Situationen, da hat sogar ein Howard-Carpendale-Refrain zum Leben gepasst. „Fremde oder Freunde, wie wird alles sein …“ Aber ich schweife ab.

Die S-Bahn ist viel voller als ich dachte. Ach guck, die machen gar nicht alle im Home-Office. Oder die arbeiten alle im Handel, in der Pflege, im Zoo, in den Schulen, das wird es sein. Die müssen alle fahren, natürlich. Home-Office ist auch ein Privileg, das besser nicht vergessen. Ich springe, Sie wissen natürlich, was jetzt kommt, an den Landungsbrücken raus, und es ist nach all den Jahren, nach ziemlich viel Leben und Geschichten und Erfahrungen immer noch ein Moment, in dem ich verlässlich denke, dass es doch ganz cool ist, in dieser Stadt zu leben. Und es ist immer noch ein gutes Lied.

Ich fahre die Rolltreppe hoch, ich gehe zum Ausgang. Ich mache, was alle machen, was soll man auch sonst machen. Ich bleibe also wie der Rest der Menge abrupt dort stehen, wo sich die Station zur Elbe hin öffnet, wo man die Lichter des Hafens schon sehen kann, den Turm der Landungsbrücken, die Fischbrötchenbuden. Ich bleibe stehen, weil es beeindruckend schüttet. Norddeutsche Hafenromantik gut und schön, aber wir wollen nicht übertreiben, denke ich, und das denken auch alle Touristen. Wir stehen und gucken so in den Regen und in den Abend. Drüben die Bauten für die Musicals, die sind beleuchtet. Spielen die eigentlich? Eine Frau tritt neben mich und fragt mich im exakt gleichen Wortlaut das, was sich gerade denke: Spielen die eigentlich? Ein Grüppchen weiter fragt ein Teenager seine Eltern: Spielen die eigentlich? Wir sind hier alle in sync. Aber keine Ahnung, was mit diesen Musicals ist. Ich passe längst nicht mehr auf, was alles gerade geht und was nicht. Ich mache doch meistens eh nichts und die Regeln ändern sich dauernd.

Der Regen wird weniger, ich gehe los, wir gehen los. Die Treppen runter, unten stehen wie immer die Ausrufer: „Hafenrundfahrt!“ Die verstehen etwas von Marketing, denn sie rufen auch das, was wirklich zählt, wenn man sich ansieht, wie sich die Touristen in den Böen und Schauern in ihre Jacken verkriechen, wie sie in den Taschen nach Mützen und Handschuhen graben: „Alle Schiffe sind beheizt!“ Es ist mittlerweile nachtdunkel geworden und eine Frau fragt in schöner Arglosigkeit einen dieser Ausrufer mit Erstaunen in der Stimme: „Jetzt fahren noch Schiffe!?“ Der Mann bejaht lachend. Die Frau fragt, wo die denn hinfahren, die Schiffe. Der Mann erklärt, dass die durch den Hafen fahren, weil nämlich: Hafenrundfahrt. Er betont das Wort dabei theatertauglich gründlich und amüsiert sich. Die Frau sagt: „Ach so, nur im Kreis herum.“ Der Mann sagt mit ausholender Geste, die den ganzen Hafen umfasst, von der Elbphilharmonie bis hin zu Blohm & Voss: „Also das ist ja nun nicht irgendein Kreis, Madame!“ Sie berät sich mit ihrer Gruppe, will man da jetzt mitfahren? So im Kreis?

„Guck mal, die Kräne“, sagt ein Vater zu seinem Kind, das nicht mehr ganz so klein ist. Er zeigt zum anderen Ufer und das Kind sagt desinteressiert: „Ja. Kräne eben.“

Ich denke: „Die gewaltigen Tiere mit metallenen Krallen,

mit Neonlicht-Augen, und die Container, die fallen

unter grandiosem Gepolter in den hungrigen Bauch

eines uralten Frachters – und sein Herz, es poltert auch.“

Gisbert zu Knyphausen war das. Es ist ein Sommerlied, aber diese Stelle ist schön und passt immer, wenn man die Kräne sieht.

Ein anderer Vater nimmt sein noch kleines Kind und tut so, als wolle er es in die Elbe werfen, das ist ein Spaß. Aber die Elbe wellt so schwarz und ist dabei so seltsam weiß und wild krakelig liniert, ein Hafenfährenmotor brüllt gerade so unangenehm nah und laut auf, das Kind findet den Spaß überhaupt nicht witzig und schreit wie am Spieß, die Mutter schimpft.

Ein Bild, das sich wiederholt: Vatermutterkind stehen und beraten. Ob sie da nun mitfahren und mit welchem Schiff und wann. Ich höre das im Vorbeigehen, es geht um die Strecken, um die Preise, die Inzidenzen, die Dauer der Fahrt, G2, wie geht das hier eigentlich, die Uhrzeit, und sie müssten ja auch mal was essen. Aber keine Hafenrundfahrt ist auch keine Option. Oder doch? Sie stehen und reden.

Ein Paar steht vor dem blau beleuchteten Schaufelraddampfer und überlegt. Mir wird bestimmt schlecht, sagt sie, da sind doch Wellen, und sie zeigt auf die Elbe, in der es gerade etwas mehr schwappt, weil ein Frachter vorbeifuhr. „Wird dir auch schlecht, über die Reling halte ich dich gerne.“ Das darf auch nicht fehlen.

Ich setze mir Kopfhörer auf und höre Vier Stunden vor Elbe 1 laut und sehe dabei elbabwärts. Das habe ich noch nie gemacht, aber das war dermaßen gut, vielleicht mache ich das bald wieder. Runter zum Fluss, runter zum Hafen, und dort die richtigen Lieder hören, die alten Lieder, die guten Lieder. Wie schön ist das Wort Schleusenbekanntschaft. Wie gut ist der Anfang des Songs, wenn man dabei im Wind steht und dahin sieht, wo nach ein wenig Fahrt die Nordsee liegt, Helgoland. Das waren noch Zeiten, als wir da einfach hingefahren sind.

Die Touristen machen dauernd Fotos, obwohl es doch längst dunkel ist. Sie fotografieren Hafenlichter, ich nehme an, dass die in den Reiseführern stehen. Ich kenne keine Reiseführer über Hamburg, aber es wird dort vielleicht empfohlen. Abends in den Hafen, die Lichter, die Lichter, sehen Sie sich die Lichter an. Und sie sind auch schön. Da vorne die Rickmer Rickmers, der alte Dreimaster. Ein blasses und sehr schmales Stück Mond hängt in der Takelage zwischen jagenden Wolkenfetzen, also wenn das kein Motiv ist? Das könnte auch ein Buchcover sein, Gespenstergeschichten der Weltmeere, ich hatte so ein Buch mal als Kind. Unheimlich war das, ganz schlimm.

Mehr Menschen bleiben stehen und fotografieren den Mond am Mast. Dann gucken sie auf ihre Handys und freuen sich, da haben sie doch etwas. Eine Frau fotografiert die Musicalbauten am anderen Ufer und hält damit ihre Gruppe auf: „Wartet mal, ich mache schnell ein Bild für die Mädels.“ Und dann schickt sie es vermutlich per Whatsapp in Mädels-Gruppen, guck mal, guck mal, ich war da. Nicht drin, aber dran. Sie freut sich über ihr Bild, auch sie hat jetzt was.

In Städten mit Häfen haben die Menschen noch Hoffnung, und sei es nur die auf ein gutes Bild, und warum auch nicht. Eine Frau steht frierend neben ihrem Mann, sie zittert sichtlich und sagt: „Glühwein, ich brauche jetzt Glühwein.“ Ein Hafenrundfahrtausrufer hört das und sagt ihr, wo sie den kriegen kann. Sie bedankt sich und sagt im Weggehen zu ihrem Mann: „Die sind alle so nett hier.“ Das hört man in Hamburg auch nicht jeden Tag.

Menschen steigen von einem Schiff, sie waren auf einer Hafenrundfahrt, es passiert wirklich. Sie sehen auf ihre Handys, ob die Bilder etwas geworden sind, sie nicken. Eine Hafenfähre nach Finkenwerder klappt rumpelnd die Gangway ein, sie fährt gleich ab. Im Saal des unteren Decks sitzen Menschen, die nicht raussehen, die sich nicht umsehen, die nicht einmal aufs Handy sehen. Die fahren nicht rund durch den Hafen, die fahren durch den Hafen nach Hause oder zur Arbeit. Am Kai stehen andere Menschen, halten ihre Handys auf die Fähre und machen Fotos von Menschen, die keine Fotos machen: „Für die ist das normal!“

„Ich verstehe noch nicht, was hier wohin fährt“, sagt eine Frau, die Abfahrtszeiten von Schiffen auf einer Tafel nachliest. „Aber ich“, sagt ihr Mann und sie rollt die Augen.

Vor dem knallroten Feuerschiff, das heute ein Restaurantschiff ist, wird auf einem Plakat in ebenso knallroter Schrift geworben: „Kostenlose Antigentests!“ Dahinter das Gebäude von Gruner & Jahr. Ein Mann zeigt darauf und fragt: „Hier, ist das nicht Dings?“ Sein Freund nickt, ja, das ist Dings.

Es regnet schon wieder, es windet, es ist kalt, es wird immer kälter. Ein großer Mann hat seine viel kleinere Frau oder Freundin unter seinen Mantel genommen, vor mir geht ein merkwürdiger Vierfüßler. Ich höre sie kichern und laut lachen, weil sie den Gleichschritt nicht sofort hinbekommen und dann bleiben sie stehen, sie taucht aus dem Mantel auf und sie küssen sich.

Ich fahre nach Hause, ich gebe der Herzdame die Tageskarte. Ich sage: „Also, wenn du wieder mal eine hast …“

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Zwei, drei Kapitel weiter

Nur ganz kurz. Mir lief am Morgen schon wieder der Begriff „Pandemietreiber“ über den Weg, auf Twitter, auf FB, in den Nachrichten, wo auch immer, es ist auch egal. Natürlich war es eine Negativformulierung, es wird immer nur gesagt oder eher ausgerufen, wer gewiss kein Pandemietreiber sei. Man muss sich dann selbst ableiten, wer es eigentlich ist, wer es sein kann, die üblichen Verdächtigen. Unstrittig haben wir gerade eine Pandemie, die irgendwie getrieben wird, es muss also etwas geben, muss jemanden geben. Ich habe dann, kleine Serviceleistung, einmal gegoogelt, wer oder was alles kein Pandemietreiber ist. Dann haben wir es alle einfacher, wenn man das mal so listet, dachte ich. Ich bin ein großer Freund der Übersicht und der Zusammenfassungen. Es verhält sich also wie folgt:

Der Handel, die Schulen, die Büros, die Clubs, die Gastronomie, die Hotellerie, der Tourismus, das Camping, die Reiserückkehrer, der Urlaub, die Schulen, die Kitas, die Heime, die Fitness-Studios, die Schausteller, die Dichte in den Zügen, die Heilbäder- und Thermen, die Kinder, die Vereine, der Sport, die Fußballspiele, der Karneval, die Kinos, Weihnachten, die Ungeimpften, der Nahverkehr, das Modellprojekt der Stadt Augustusburg und auch ich und wir sind keine Pandemietreiber. Haben Sie das? Man kann das auch auswendig lernen.

Aber der Rest jedenfalls, der ist vielleicht schon ein Pandemietreiber. Da also mal besser aufpassen, da mal Maßnahmen ergreifen.

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Diskontinuität und Konsensfiktion. Nützliche Begriffe! Zur Diskontinuität vielleicht noch ein Gedanke für Menschen in einem gewissen Alter, denn es gibt da einen Bezug, denke ich: Wenn man Geschichtsbücher liest, weiß man, dass man in Fünfzigjahresschritten durch Epochen und Kapitel eilen kann. Wir haben z.B. klare und deutlich unterschiedliche Bilder von 1850 und 1900. Oder von 1900 und 1950, da hat jeder sofort Bildmaterial vor Augen. Ich habe mir irgendwann klarmachen müssen, dass das auch mich betrifft, dass es auch mein Leben betrifft. Ich bin deutlich über 50, ich bin also längst in einem anderen Kapitel des Geschichtsbuchs gelandet. Ich bin nicht mehr da, wo ich qua Geburtsjahr und Kindheit zuerst vorkam, wo ich geprägt wurde, wir haben längst zur nächsten oder auch schon übernächsten Epoche geblättert. Ich bin ein Vertreter des Damaligen in einer neuen Welt, ich komme noch aus dem Abschnitt „Westdeutschland 1945 bis 1990“, und natürlich ist dieses Land längst nicht mehr mein Land. Das kann ich unbewegt feststellen, weil es normal ist und selbst dann normal wäre, wenn es, was allerdings kaum denkbar ist, überhaupt keine weltbewegenden Krisen, sondern einfach nur irgendwelche Entwicklungen gegeben hätte. Wie auch immer, möglichst elegant aus der Zeit und der Welt zu fallen, das ist eine Aufgabe, die allen ab einem gewissen Alter unweigerlich zugeteilt wird, glaube ich.

Ich bin nicht sicher, wann eigentlich nach 1990 das nächste Kapitel begann, ich müsste mal in ein Schulbuch sehen. Vielleicht steht das aber auch noch gar nicht fest, so etwas dauert immer eine Weile. Und vielleicht schaffe ich es sogar noch ein Kapitel weiter, die Abschnitte in den Lehrwerken zur Geschichte folgen meist keiner exakten Zahlenlogik, es geht auch nach kulturellen oder politischen Brüchen. Es ist also gut möglich. Wie auch immer das Kapitel dann heißen wird, ich weiß jetzt schon sicher: Ich werde darin fremd sein. Das ist eine Binse, ich weiß, aber es ist doch ab und zu bedenkenswert, glaube ich. Man muss den Anspruch auf Kontinuität aufgeben, wir leben einfach zu lange dafür. Der Kontinuitätsanspruch meiner Generation ist vermutlich an vielen Stellen längst Teil des Problems.

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Eine Dankespostkarte

Rückseite

Ich habe etwas verspätet zu danken für die Zusendung von mehreren Kartenspielen, die auf dem Wunschzettel waren, nachdem die Herzdame neulich auf Twitter danach gefragt und enorm viele Antworten bekommen hat, ich erwähnte es bereits. Wir testen uns da mal spielerisch durch! Und es gab neulich schon ein, wie heißen denn die noch einmal – Pop-it, das war es, es wurde uns ein Pop-it zugeschickt, ein Sohn hatte da großen Bedarf. Es kamen heute auch noch zwei Google-Nest-Minis, für jeden Sohn eines – wie immer ganz herzlichen Dank für alles!

Vorderseite

Ein einfaches Bild, auch wenn es zunächst etwas ungewöhnlich klingt. Stellen Sie sich bitte mich vor, wie ich in waagerechter Ausrichtung vor einem großen Buchregal schwebe, etwa in Höhe des dritten Regalbodens von unten, in normaler Buchhöhe pro Brett gerechnet. Ein schwebender Autor also, ganz wie die schwebende Jungfrau, nur ohne Tisch oder Gestell darunter, auch ohne bühnenreifes Gewand, nur in alltäglicher Montur, Jeans und Pullover. Meine rechte Hand weist aus dieser obskuren und schwerkraftwidrigen Position heraus in das Regal, und zwar genau dahin, wo keine Bücher, sondern eine seit Jahren unbenutzte Hausbar steht. Wir trinken schon lange keine harten Spirituosen mehr, aber man kippt so etwas ja auch nicht gerne weg, es wird doch nicht schlecht. In der ersten Reihe der Flaschen sehen wir Wippermann Wacholder, Alter Laux Himbeere, Averna, Hiller Moorbrand, einen Grappa Chardonnay und Strothmann Weizen, von dem ich mir nicht erklären kann, wie er da hinkommt, sowie eine schlanke Dose Schmieröl.

Wie kommt es nun zu diesem seltsamen Bild? Das kam so. Ich bin nach dem Einkaufen in üblicher Eile und schwer bepackt in den Flur eingebogen, in dem dieses Regal steht, und ich bin aufgrund einer äußerst unseligen Kombination von rutschigen Schuhen und einer kleinen Pfütze auf dem Boden, die andere Familienmitglieder an diesem Regentag dort mit tropfnassen Klamotten hinterlassen haben, auf dem Laminat lächerlich slapstickmäßig ausgerutscht, und zwar dergestalt, dass es mir die Füße wie im Kino nach oben gerissen hat und ich kurz darauf mit Schmackes auf Schulter und Kreuz knallte, was übrigens immer noch prächtig schmerzt und schön bunt schillert, aber darum geht es nicht. Es geht viel mehr um die Flugbahn. Denn man hat ja Reflexe, großartige Reflexe hat man, die allerdings nicht immer zur Gefahrenabwehr geeignet sind.

In diesem Fall wollte ich mich noch während des kurzen Aufenthalts in der Luft irgendwo festhalten. Ein im Grunde naheliegender Einfall, der Mensch an sich sucht ja dauernd irgendwo Halt, so auch ich, so auch in diesem Moment. Meine Hand griff also zum Regal, etwas anderes war gar nicht verfügbar, aber sie griff dann doch nicht zu, denn ich dachte – was man in Bruchteilen von Sekunden alles denken kann! – dass es vielleicht keine allzu gute Idee wäre, ein nicht in der Wand verschraubtes Regal voller Bücher und Flaschen als Halt zu wählen. Und ich sah – was man in Bruchteilen von Sekunden alles sehen kann! – was ich sonst nie bewusst sehe, weil hier nämlich mangels Bedarfs niemand die Hausbar neugierig ansieht, dass da aus mir vollkommen unklaren Gründen Schmieröl zwischen den Schnapsflaschen steht, wer weiß, wie lange schon, jemand wird es dort vergessen haben. Und als ich unsanft landete, äußerst unsanft, wie ich ergänzen muss, dachte ich auf dem Boden liegend noch: „Schnaps und Schmieröl. Das mal in einen Text einbauen.“ Und dann erst fing es an, großflächig wehzutun und ich dachte minutenlang eher unklar.

So war das. Und ich habe dann auf den Schreck, ob Sie es glauben oder nicht, weder Schnaps noch Schmieröl getrunken.

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Zwischen Bartleby und Frankenstein

Am Montag war der erste Werktag, der erste Home-Office-Tag für mich also. Das Konzept Berufstätigkeit überzeugt mich auch nach mehreren Jahrzehnten Testphase noch nicht recht, der innere Bartleby ist nach Urlaubstagen und -wochen stark in mir. Die Herzdame kann mit ihrem Job etwas später anfangen und bricht am frühen Morgen noch spontan zu einer Boostergelegenheit für die Söhne auf, das läuft besser und schneller als gedacht, sie sind ruckzuck wieder zurück. Haben wir auch das erledigt, eine Sorge weniger. Am Mittwoch dann unweigerlich der Schulanfang in Hamburg, dabei ist von Präsenzunterricht auszugehen. Ich kann das nicht richtig finden, ich finde aber auch Home-School nicht richtig, ich weiß nicht, was richtig ist. Ich möchte sehr gerne mit dem Thema nichts mehr zu tun haben. Wieder der Bartleby, ich möchte lieber nicht, I would prefer not to. Mit dem nahm es allerdings auch kein gutes Ende, mit dem Bartleby, der taugt nicht als Vorbild.

Lieber überlegen, was ich wohl möchte. Da mal drüber nachdenken.

Am Abend und beim Einkaufen, Kochen etc. höre ich den Frankenstein von Mary Shelley als Hörbuch, da geht es um einen Mann, der ehrgeizzerfressen zu viel will, der alles, alles erreichen möchte und dafür sämtliche Grenzen überschreitet. Und da man auch da weiß, dass es nicht gut ausgeht, kann man diese Variante des Wollens ebenfalls gleich abhaken.

Andererseits muss ich gar nicht nachdenken, was ich möchte oder nicht. Es ist ein Stapel Aufgaben da, es gibt schon etwas zu tun, es liegen bereits Themen vor und To-Do-Listen herum. Einfach weitermachen. Okay. So war es letztes Jahr auch, ich erinnere mich.

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Immer interessant: Die Monatsnotizen von Nicola Wessinghage.

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Es regnet den ganzen Tag

Es regnet den ganzen Sonntag, oder zumindest immer dann, wenn ich aus dem Fenster sehe, und das ist oft. Unten auf dem Spielplatz stehen Mütter und Väter in gedeckten Regenklamotten, die kleine Kinder in leuchtend bunten Regenklamotten während eines Schauers schaukeln. Weder die einen noch die anderen wirken so, als würde das irgendwem Spaß machen. Aber man ist immerhin mal draußen gewesen, denn man muss doch … ja, ja. Wer kennt es nicht.

Es ist ansonsten ein Räum- und Revierreinigungstag. Wir takeln Weihnachten ab und verstauen es wieder im Keller, wir klauben die festliche Dekoration aus den Regalen, von den Tischen und den Nägeln an den Wänden, die alten Kalender entsorgen wir gleich mit. Wir entkugeln und entkerzen den Baum, wir werfen ihn vom Balkon. Wie immer stehe ich dabei unten und sichere, wie immer liegen schon drei, vier andere Bäume am Straßenrand. Wir stellen die letzten überlebenden vier Schokoweihnachtsmänner ins Flurregal, wo alle dauernd vorbeigehen: „Zum baldigen Verzehr.“ Wir bringen auch die Abstellkammer von Grund auf in Ordnung, so dass ich darin wieder arbeiten kann. Sehr wohnlich und gemütlich sieht es darin jetzt aus, fast zu wohnlich und gemütlich, um ernsthaft zu arbeiten. Wir räumen sogar noch die eher finsteren Ecken der Wohnung und den unzumutbar überfüllten Kellerverschlag auf. Wir legen, wo wir schon dabei sind, etwas von dem mittlerweile unbenutzten Kinderspielzeug für spätere Enkel oder andere kleine Menschen beiseite. Größere Mengen Lego sind dabei, vieles ist noch halb oder ganz aufgebaut – was das alles mal gekostet hat! Wahre Schatztruhen legen wir da an und bei manchen Dingen zucken wir Eltern kurz erinnerungsselig, bevor wir es endgültig verschwinden lassen. Nicht aber die Söhne: „Klar kann das weg.“ Das ist okay, das gehört so.

Wir stehen dann kurz zu zweit und sinnend vor all der etwas aufreizenden Aufgeräumtheit und murmeln ein jahreseinleitendes „So!“, ohne dabei allzu motiviert oder überzeugt zu klingen. Man kann sich selbst auch nicht immer alles glauben, man kennt sich doch schon so lange.

Ich lese zwischendurch kurz weiter im Tagebuch von Patricia Highsmith. Ein Eintrag von ihr im Oktober 1942: „Guter Tag. Aber nicht meiner.“

Ansonsten höre ich beim Räumen, Sortieren, Kochen etc. immer weiter den Fontane, die Irrungen, Wirrungen. Wie dankbar ich gerade für die Erfindung der Hörbücher bin, sie retten mir die Tage und die Stunden. Ob es wohl der erste deutsche Roman ist, in dem eine Dame über die Freuden des Shoppings (so wörtlich) spricht? Es wird da als eine aus England übernommene und ganz neue Sitte erwähnt, im Jahr 1878. Und es wird dann als nett empfunden, auf diese neue Art heiter von Laden zu Laden zu ziehen, „und immer überall mit so schönen Dingen.“ Das gab es vorher nicht, das machte man bis dahin nicht.

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Über den Film „Don’t look up“, den ich gestern auch erwähnt habe.

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Ein Nebelmorgen

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Rund um mich herum sterben Eltern, Leute kaufen sich Häuser am Ende der Welt, aber nur selten am Meer …

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Ehrungen, Währungen

Das Jahr beginnt mit dem Weltuntergang. Das liegt allerdings nur daran, dass wir gemeinsam den Film Don’t look up auf Netflix sehen und das Timing unabsichtlich so geschickt hinbekommen, dass der alles auslöschende Komet die Erde genau um Mitternacht erwischt. Auch gut, dann hat man das Schlimmste schon hinter sich. Ich finde den Film fürchterlich schlecht, aber egal. Man kann mit Kindern gut darüber reden, man kann auch die Idee interessant finden, das immerhin. Eine leichte Anmutung von Home-School im Abgang, wir diskutieren zu später Stunde noch ethische Fragen.

Es ist vermutlich das erste Silvester seit meiner Kindheit, an dem ich keine einzige Rakete sehe. Denn das mit dem reduzierten Böllern, das hat ausgerechnet hier im kleinen Bahnhofsviertel bestens funktioniert. Ich lese auf Twitter anderes, ich weiß, dass da bei Ihnen und auch bei Ihnen viel angezündet wurde. Aber ich höre hier nur einige vereinzelte Raketen, ich sehe sie nicht, sie sind zu weit weg, sie sind hinter Dunst und Häusern. Auf der Straße unten wird ein wenig geknallt, die Betonung liegt aber auf wenig, sagen wir ruhig sehr wenig. Eine bemerkenswert ruhige Nacht ist das. Am nächsten Morgen gehe ich Brötchen holen, es sieht da draußen alles aus wie im letzten Jahr. Es sind nur wenige Menschen unterwegs, wie an jedem Feiertagmorgen, einige Reisende im Hauptbahnhof nur, und die erkennt man sofort als Reisende. Das sind keine Übriggebliebenen von Partys, die desorientiert und mit erheblichem Restalkohol taumelnd in ihre Vororte abziehen. Das sind Menschen, die hier zu den Festen Verwandte besucht haben und planmäßig rückreisen, frisch geduscht und mit ordentlich gepackten Koffern. Auch auf dem Weg zum Bahnhof ist kaum Müll zu sehen. Keine Raketenstöcke liegen herum, keine Böllerfetzen, keine im Regen aufgeweichten Knallerpackungen, nicht einmal leere Sektflaschen stehen am Straßenrand oder liegen in Scherben. Jede laue Sommernacht hinterlässt hier deutlich mehr Partymüll als dieser Jahreswechsel. Na, mir soll es recht sein.

Das Jahr beginnt sauber und vorschriftsmäßig. Ich leite daraus nichts Orakelhaftes ab, ich schreibe das nur mit und wundere mich.

Ich lege in der Küche schon einmal die Frühstückszutaten, die Teller und das Besteck heraus, ich höre dabei „Irrungen, Wirrungen“ von Fontane. Das ist der Roman mit den entscheidenden Szenen bei „Hankels Ablage“, manche wissen das vielleicht noch aus Schulzeiten. Sven Görtz liest mir vor, seine Stimme passt ausgezeichnet zum Neunzehnten Jahrhundert. Ich erwähnte es bereits, aber er wird gerade mein Beruhigungsmittel erster Wahl, da sei das noch einmal betont. Es gibt viele Hörbücher von ihm, vielleicht reichen sie für ein Jahr. Ich finde einen Satz besonders gut, ich will mir den merken. Ich diktiere ihn mir schnell ins Handy, ich sage dabei natürlich auch, woraus der ist, der Satz. Das Handy wandelt mein Diktat in Schrift um, und recht wacker macht es das, um es in zu Fontane passendem Tonfall auszudrücken. Allerdings steht da dann: „Fontane: Ehrungen, Währungen.“ Was habe ich denn bitte für eine Aussprache? Ehrungen, Währungen, Das klingt wie ein Roman in Zentralbankkreisen, das klingt gar nicht schlecht. Aber etwas simmelmäßig vielleicht? Beststellertauglich klingt es, aber ich verstehe leider nichts von Währungen, ich kann dazu nichts ausführen. Ich verwerfe die Titelidee also gleich wieder mit einer inneren Grandezza, als hätte ich bei Gefallen mal eben einen Roman daraus machen können.

Die Familie schläft noch stundenlang. Ich setze mich ans Notebook, ich schreibe: „Dass Jahr beginnt mit dem Weltuntergang.“ Anfänge sind wichtig, sagt man, und dieser klingt interessant.

Später gehen die Herzdame und ich runter an die Alster. Auch dort ist alles gepflegt, keine Verwüstungen sind zu sehen, keine Trümmer, keine rauchenden Reste. Sehr viele Menschen gehen auch bei eher schlechtem Wetter im Kreis um die Alster, die einen so herum, die anderen so herum. Sie stellen dabei immer wieder fest, ich höre es mehrfach im Vorbeigehen, dass sehr viele Menschen im Kreis um die Alster gehen. So auch ich, so auch wir. Das Leben ist ein langer, ruhiger Mainstream.

Man kann aber jederzeit da raus, wenn man möchte, es hängen überall Rettungsringe am Ufer bereit.

 

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Ich habe hier im Medienmenü, in dem ich freundlicherweise auch vorkomme, zwei neue Podcasts gefunden, die ich testhören werde. Vielleicht ist auch für Sie etwas dabei.

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Kein Jahresrückblick

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The same procedure

Wir folgen der in diesem Blog hinlänglich etablierten Tradition: Kein Silvester ohne diese Bilder. Es handelt sich beim Folgenden also um die Erinnerung an eine norddeutsch-ausgelassene Silvesterparty in einem kleinen Ort bei Hamburg. Der Abend ist mittlerweile bereits zwei Jahrzehnte her und längst nicht mehr wahr. Deutlich erkennt man die sogenannte Hanseaten-Ekstase in meinem Blick.

Denn man muss gerade die süddeutschen und besonders die rheinländischen Leserinnen und Leser gelegentlich daran erinnern: wir hier oben im Norden, wir sind gar nicht so. Wir können auch ganz anders:

Hanseaten-Ekstase

Gleicher Abend, nur einen Meter weiter: Die Herzdame, liebreizend wie stets und dabei auf diese einmalige nordostwestfälische Weise in strahlender Herzlichkeit gut gelaunt:

Die Herzdame

So viel zur Tradition.

Nun starb ein Jahr. – Man lästre nicht am Grabe!

Doch: Wenn das Leben einer Schule gleicht

Dann war dies Jahr ein schwachbegabter Knabe

Und hat das Ziel der Klasse nicht erreicht.“

(Mascha Kaléko, Nekrolog auf ein Jahr)

Nein, es war, wie es hier hin und wieder anklang, kein gutes Jahr für mich, auch nicht für uns. Ich glaube nicht, dass ich jemals so desolat an einem Silvesterabend angekommen bin, so erschöpft, gestresst, ausgelaugt und innerlich gealtert. Nein, es war kein gutes Jahr.

Neulich sah ich auf Twitter wiederholt die Frage, was denn nun gut gewesen sei in diesem Jahr, da haben viele Menschen findige Antworten geschrieben, sogar erfrischend einfache und direkte, denn natürlich passieren weiterhin dauernd gute Dinge. Ich habe bemüht wie stets darüber nachgedacht, hatte aber spontan keine einzige gute Idee. Also keine jedenfalls, die auch in erlebbarer Zeit beschreibbar und überhaupt mitteilbar war. Bei einigen gute Entwicklungen muss ich – ich habe mir das Wort hier drüben ausgeliehen – ungewohnt intimitätskleinlich sein und mich leise und verhalten freuen.

Allerdings bin ich vermutlich sowieso eher für das Beobachten von Kleinigkeiten bekannt, nicht für die großen Knallernachrichten. Also nenne ich zwei Marginalien, sie sind beide aus der letzten Zeit. Ich nehme sie symbolisch für das, was gut war und ist, trotz allem. Zum einen schickte mir da gerade eine Leserin einen kurzen Brief, handgeschrieben, sehr gute Handschrift, und zwar war das keine Blogleserin. Sondern eine, die meine Kolumne in den Lübecker Nachrichten mag. Eine, ich bin da recht sicher, ältere Dame, und sie schrieb da, ich darf das hoffentlich wiedergeben, sie würde die Texte ab und zu ausschneiden und weiterreichen. Was mich daran erinnerte, dass ich im Heimatdorf der Herzdame vor langer Zeit einmal Blogtexte von mir auf einem Klo gefunden habe, die lagen da zur Unterhaltung bereit. Das eine war zur Anfangszeit der Geschichten und Notate hier, das andere war in der letzten Woche. Ich freue mich enorm über so etwas, lange und gründlich und ganz untypisch für mich. So etwas trägt und hält und treibt an, wie auch die eingeworfenen Münzen im virtuellen Hut, die Geschenksendungen, die netten Zeilen dabei, die freundlichen Verlinkungen, eventuell auch die Rückmeldungen von Kunden nach eingesandten Texten. Also kurz, das Schreiben, das war und ist das Gute. Immer wieder, immer weiterschreiben. Vielen Dank für all die positiven Reaktionen und Kommentare, auch wenn die Inhalte hier nicht immer erbaulich waren.

Zum anderen war ich mit der Herzdame gestern im Garten. Wir waren schon länger nicht mehr da, denn es ist Winter und wir kommen sowieso zu nichts. Wir wollten aber doch einmal Laub harken, nachdem der Rasen jetzt in der etwas widerlich anmutenden Zwischenwärme zum Jahreswechsel nicht mehr gefroren ist. „Laub harken“ ist bei uns ein Ausdruck mit magischen Folgen, wir können das als Formel aussprechen und damit die Söhne augenblicklich verschwinden lassen. Sie haben sofort andere Verabredungen, sie entdecken auf einmal längst vergessen geglaubte soziale Verpflichtungen neben den Bildschirmen, sie fliehen dahin, sie verblassen aus dem Bild, in wenigen Minuten vollzieht sich das.

Wir fuhren also nur zu zweit in die winterlich verlassenen Gärten auf der Insel. Die sie umfließende Bille lag noch unter einer Eisschicht, Gänse und Enten saßen vereinzelt darauf. Spätnachmittägliches Nebelgewölk wehte sachte wie Hauch darüber hin, am Ufer standen die unbelebten Lauben neben den leeren Beeten und kahlen Hecken in der frühen Dämmerung, es war ein fantastischer Anblick. Die alte Trauerweide am Ufer zupfte mit dürren Fingern Watte aus den wabernden Schwaden. Niemand war da, nur wir waren in der weitläufigen Kolonie. Das stimmt sicher nicht, es ist immer noch jemand da, es werkelt immer noch jemand irgendwo, es sitzt immer noch jemand irgendwo in einer Hütte, aber wir sahen niemanden. Es gab da nur uns beide auf dem Rasen vor der Laube. Hauchfeiner Sprühregen in der Luft, es war nass und kalt und wintertrüb. Eine große Horde Krähen zog über uns marodierend von Baum zu Baum, krähend und kakelnd und kreischend. Es gab enorm viel zu besprechen bei denen und dauernd musste dabei der Standort gewechselt werden. Die Fichte, die Eiche, die Birke, fünfzig oder hundert Vögel gar zogen alle Viertelstunde einen Baum und eine Parzelle weiter, stritten sich wieder und wieder um die besten Plätze auf den Ästen und waren infernalisch laut dabei, sie hatten viel Grund, sich anzuschreien. Wenn sie zwischendurch doch einmal weit genug weg waren, weil ein Baum ganz hinten in der Anlage oder am anderen Ufer der Bille sie plötzlich interessierte, hörten wir die leere Stille des Winterabends, in der die Tropfen aus der Dachrinne an der Laube in die Regentonne fielen, wo sie mit einem endlos wiederholtem und dezembrig dezenten Pling ein Loch in das Eis schlugen. Dann doch wieder die krachmachende Krähenhorde.

Die Herzdame harkte Laub, ich ging herum und suchte nach Fotomotiven, man muss sich Arbeit auch sinnig aufteilen. Die Krähen fielen in die mächtige Eiche auf der brachliegenden Nachbarparzelle ein, nein, sie erschienen dort dramatisch und düster drohend wie in einem Horrorfilm, das beschreibt es besser. Wir sahen hoch und sahen dabei auch diesen anderen Vogel auf einem der unteren Äste. Ein großer Vogel, eine ungewöhnlich breite Statur. Ich dachte erst, da sei eine Katze in den Baum geklettert, eine ziemlich große Katze allerdings. Aber es war eine Eule, die dort aß, eine Waldohreule vermutlich, wir haben das später nachgelesen. Weder die Herzdame noch ich haben bisher jemals in freier Wildbahn eine Eule gesehen, wir standen staunend. Große Eulen sind ein erhabener Anblick. Unbewegt saß sie da im Krähenkrawall. Dann flogen die Krähen auch schon wieder rastlos weiter, und die Eule flog ohne zu zögern gleichzeitig ab und unter ihnen her, als sei dieser Krähenschwarm ihre übliche Begleitung, ein routiniertes Arrangement. Sie gingen auch alle genau gleichzeitig in die Kurve um die Pappeln herum … wie geht das zu. Wie unfassbar elegant sie flog, was für ein Bild das war, diese riesige, geräuschlose Eule unter den lärmenden Krähen. Als ich vor Monaten bei uns über dem Spielplatz den Bussard gesehen habe, da flog der auch unter den Krähen herum, ist das ein Zufall? Was machen die da, die großen Greifvögel, haben die ein Abkommen mit dem Gelichter?

Diese Eule dort im Baum jedenfalls. Man geht in den Garten, man erwartet absolut nichts, nur das Wintergrau, die Leere, den Regen, die frühe Dämmerung, die Kälte, die Nässe, die Ödnis, den Rasen, das welke Laub und den Kompost. Und dann sitzt da diese riesige Eule. Das war auch sehr gut. Auch über so etwas kann ich mich lange freuen. Immer überall genau hinsehen.

Kommen Sie gut rüber, bewahren Sie unbedingt Haltung, denken Sie geradeaus, ich schließe mit den besten Wünschen zum Neuen Jahr. Wir sehen uns drüben, wenn Sie mögen.

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Links am Abend

Ein Museum mit Quelle-Fertighaus und Milchbar. Das würde ich auch gerne einmal sehen. Und überhaupt, man könnte mal wieder ins Museum gehen, also wenn man wieder irgendwo hingeht.

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Zurück in Ekel. Ein Feature beim NDR. Ekel liegt an der Sorge, oben bei Kiel. Eine norddeutsche Geschichte, eine normale Geschichte, so besonders wie alle.

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Antje Schrupp über die Dummheit, sie verlinkt da auf einen Text im Standard, sehr lesenswert.

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Die Herzdame hat auf Twitter nach Kartenspielen für die Familie gefragt und unfassbar viele Antworten bekommen. Falls Sie im nächsten Lockdown Karten spielen wollen – hier entlang, da ist für alle etwas dabei.

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Ich möchte außerdem noch eine Buchempfehlung loswerden, eine dringende sogar. Also nicht zeitlich gesehen dringlich, das gar nicht. Aber inhaltlich. Nämlich den Deutschen Herbst von Stig Dagerman, der mir als Geschenk gesendet wurde und zu dem ich endlich gekommen bin – und mit welcher Begeisterung habe ich den gelesen. Übersetzt und liebevoll herausgegeben wurde das Buch von Paul Berf. Der Schwede Dagerman hat im Herbst 46 Deutschland bereist und darüber Reportagen geschrieben, ohne ein Reporter im Wortsinn zu sein, er war Romanautor, er hat Geschichten geschrieben (die demnächst auch mal lesen, sie liegen hier schon bereit). Es sind eindringliche Texte, man vergisst sie nicht mehr. Zweifach hat mich das Buch erwischt, und wie es mich erwischt hat. Zum einen durch die Erinnerung an den Umstand, wie es nur etwa zwanzig Jahre vor meiner Geburt in diesem Land aussah und wie es hier zuging – zwanzig Jahre nur! Das ist, wie lange auch immer ich darüber nachdenke, vollkommen unglaublich. Das Jahr 2000, das war doch gerade eben erst, das haben wir doch alle noch parat, nur mal als Vergleich. Man kriegt es nicht in den Kopf. Ich wuchs in einem Land auf, das mir heil, gut ausgestattet und friedlich vorkam. Ich habe lange eine Stabilität und Dauerhaftigkeit in meiner Umwelt und meinem Alltag vermutet, die es darin gar nicht gegeben haben kann. Wie war das möglich? Man kann es wieder und wieder durchdenken, es wird mit jedem Jahr rätselhafter, je weiter wir uns davon entfernen. Diese Geschwindigkeit, in der das damals ging. Zwanzig Jahre waren das nur, so dermaßen nah war das an mir dran. Und das heißt auch, man kann es doch umdrehen, das in weiteren 20 Jahren alles in einem ebenso unvorstellbaren Ausmaß anders sein kann als jetzt. Wie oft sollte man das wohl bedenken?

Zum anderen beschreibt der Herr Dagerman seine Szenen auf eine Art, die ich verehrungswürdig finde. Auf diese Art, so denke ich beim Lesen immer wieder, auf diese Art möchte ich etwas beschreiben können. Immer von anderen lernen, immer abgucken, wie etwas geht. So muss man das machen, dieses Können mal anstreben. Wirklich ein bemerkenswertes Buch, eine wie gesagt dringende Empfehlung.

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Bilder. Auch wichtig.

Am Straßenrand hat jemand am Abend einen Stapel Spiele abgestellt. Da wurde wieder ein Kinderzimmer ausgemistet oder eine ganze Kindheit beendet, eine Phase vielleicht nur, wer weiß. Am nächsten Morgen sind die meisten Spiel schon weg, haben vielleicht dankbare Abnehmer gefunden, im besten Fall sogar begeisterte Kinder. Nur ein Puzzle liegt da noch, das hat jemand auf dem Boden verstreut. Vielleicht war es keine böse Absicht, auch mal positiv denken. Vielleicht hat jemand nur versehentlich dagegengetreten. Oder es war ein schnüffelnder Hund, der den Karton mit der Nase geöffnet hat. Die bunten Pappteilchen weichen in Pfützen auf, dieses Puzzle setzt niemand mehr zusammen. Etwas weiter steht eine dieser schwarzen Tafeln, in die man weiße Plastikbuchstaben stecken kann, die meisten sind schon abgefallen. Man erkennt aber noch: Missu, love, wish here. Diese Satzfetzen wurden auch irgendwo nicht mehr gebraucht oder gemocht. Für das melodramatische Ende von Kurzgeschichten wären die eher nicht brauchbar, die kleinen Restbuchstaben und die verstreuten Puzzleteilchen, aber hier am Straßenrand an einem regnerischen, diesigen Hamburger Morgen, da machen sie sich ganz gut.

Das Wetter hat sich geändert, es ist nicht mehr kalt, es ist jetzt nasskalt. Der Großteil der Familie bezweifelt ernsthaft, dass man bei diesem Wetter rausgehen kann. Nur ich gehe raus, ich lebe wild und gefährlich. Die Weihnachtsmärkte in der Innenstadt sind verschwunden, eine letzte große Tanne steht noch kugelgeschmückt in der Fußgängerzone. Vor den Blumenläden stehen palettenweise kleine Töpfchen mit Klee. Plastikschweinchen oder Schornsteinfegerfiguren stecken darin, manchmal auch die Jahreszahl 2022. Die Stadt ist bestenfalls mäßig voll, die Läden sind eher leer, es gibt kaum Schlangen vor den Türen. Ein Tourist fragt mich vor dem Rathaus nach dem nächsten Haltepunkt der Doppeldeckerbusse, mit denen man hier Stadtrundfahrten machen kann. Was nützt denn heute eine Stadtrundfahrt, denke ich, die Stadt sieht doch überall gleich grau und trist und hässlich aus.

Die Herzdame backt währenddessen zuhause einen Limettenkuchen. Ich sage später beim Kaffee immer wieder „Das ist ein verdammt guter Kuchen“, in der Betonung von Dale Cooper, und ich meine es so ehrlich wie er damals.

Am Nachmittag hänge ich ein neues Bild von Gerd Brunzema auf, den Herrn hatte ich neulich schon hier im Blog erwähnt. Affordable Art, da gibt es doch auch eine Messe oder so etwas. Oder gab es damals, als es noch Messen gab, was weiß ich. Die Herzdame hat in der letzten Woche viele Bilder an unsere Wände gehängt und damit unseren wohnungsinternen Umzug endlich beendet. Vielleicht schreibt sie darüber noch etwas, bei Instagram hat sie bereits Bilder gepostet. Wir schaffen es damit in kein Wohnmagazin, aber wir sind so weit bemüht. Ich habe dabei gemerkt, dass ich gerne mehr Kunstwerke hätte, zu denen es einen besonderen Bezug gibt. Da mal dran arbeiten.

Wir haben ein ganz kleines Bild von Katja Kelm, wir haben eines von Friederike von Criegern, eines von Rasmus Hirthe, von Menschen, die wir kennen. Ein Kiki Thaerigen fehlt noch, ich bestelle gleich mal die Bärenbibliothek, die passt sicher sehr gut neben das Regal. Zack, erledigt. Jahrelang ignoriert man leere Wände, eines Morgens aber wacht man auf und denkt: „Bilder. Auch wichtig.“ Es ist doch seltsam, wie es so in einem zugeht.

Ich sehe am Abend mit der Herzdame und einem Sohn eine französische Corona-Komödie auf Netflix. Ich finde sie schlecht, sie hat aber immerhin ein paar zuverlässige slapstickhafte Lacher und auch bekannte Menschen im Ensemble, die ich aus anderen Filmen kenne und gerne wiedersehe, man muss auch nicht immer hohe Ansprüche haben. Ich habe schon lange nicht mehr bei einem Film gelacht, fällt mir auf. Und ich finde es interessant, wie die Coronazeit in Filmen ankommt. Es ist der erste Film zu dem Thema, den ich sehe, glaube ich. Also der erste erzählende Film, dokumentarisch gab es schon mehrere, auch gute. Flache Maskenwitze gibt es selbstverständlich in dieser Komödie, banale Scherze über den Mindestabstand, die werden sicher auch einmal gut im Theater wirken. Scherze über hysterische oder auch allzu nachlässsige Vorsichtsmaßnahmen, über ausbleibende oder stattfindende Solidarität, über das Home-Office und die Home-School, über die Videocalls und über verbotene Grill-Partys im Innenhof. Das ist also das, was bleibt, das wird dann allmählich zur Pandemie-Folklore. Das Klatschen vom Balkon, die Ausgangssperren, die Lücken im Supermarktregal. Ein kitschiges Ende hat der Film, in etwa auf dem Niveau von Puzzleteilchen im Regen vielleicht. Es gibt eine moralische Botschaft und einen Dank an alle, die sich eingesetzt haben. Na gut, dagegen ist nichts einzuwenden. Hier eine Rezension, sie endet betont versöhnlich, und warum auch nicht. Alles versöhnlich beenden, die Texte, die Tage, das Jahr.

Ich habe bisher noch keinen Roman mit Coronabezug gelesen, auch keine Kurzgeschichte und kein Gedicht. Sicher sind längst welche in Arbeit, im Druck, vielleicht sogar schon im Handel erhältlich und ich weiß es nur nicht. Die Musiker waren im Jahr 2020 die schnellsten. Songs zur Pandemie gab es zuerst, im Sommer schon. So wie den hier, musikalisch gefällig, lyrisch eher noch ausbaufähig:

„Paper masks hide our faces
But the love in our eyes remains.“

Na ja, sagte er und guckte streng. Übrigens haben wir gerade gemerkt, dass Sohn II eine einzelne Augenbraue heben und dabei so spockmäßig kritisch gucken kann. Nur er kann das, niemand sonst hier, deswegen muss er das jetzt dauernd machen, weil wir das so toll finden. Eine Begabung, jemand von uns hat eine Begabung.

Kann ich das bloggen, frage ich ihn. Er hebt eine Augenbraue.

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Wir werden langsamer, wir stürzen

Ich lese weiter in den Tage- und Notizbüchern der Patricia Highsmith. Das Buch muss Sie nur interessieren, wenn Sie sich entweder besonders für Tage- und Notizbücher oder aber sehr für Patricia Highsmith interessieren, sonst eher nicht. Es ist ein spezielles Vergnügen, ich lese es sehr gerne, aber ich ahne eine kleine Zielgruppe.

Ich hatte da gerade einen besonderen Lesemoment, den ich hier verzeichnen möchte, weil er etwas abgrenzt. Wir haben den etwa 21. Monat der Pandemie und jetzt erst ist es mir nämlich passiert, dass mir beim Lesen von Alltagsschilderungen – sie geht da abends immer wieder aus, sie trinkt ein paar Drinks mit Freunden, sie knutscht auf Restauranttoiletten wild herum, sie zieht von Bar zu Bar durch die Nacht, sie geht in eine Ausstellung, sie isst mittags in einem Imbiss, sie spricht dauernd mit Menschen, die sie irgendwo persönlich trifft und dabei eventuell sogar berührt, sie lernt vor allem fortwährend neue Menschen kennen und die sozialen Konstellationen ändern sich pausenlos und dynamisch –das Ganze eigentümlich fremd, unwirklich und fern vorkam. Präpandemisch eben. Der Alltag der alten Welt hat etliche Monate vorgehalten und mein Denken nach wie vor bestimmt, war weiterhin meiner Welt zugehörig, es blieb alles präsent und gewöhnlich, aber allmählich überwiegt doch endgültig das Neue, das Veränderte und Pandemische im Erleben. Es ist nicht mehr nur ein Moment, ein Monat, ein Jahr oder zwei, es ist jetzt die Gegenwart. Okay. Oder eben nicht okay, aber was soll man machen. Man hat keinen Anspruch darauf, dass die Welt immer gleichbleibt, das hatten die Generationen vor uns auch nicht.

Ich gehe früh am Montagmorgen zum Einkaufen, weil ich noch vor dem erwarteten Massenandrang nach dem Fest damit durch sein möchte. Um acht Uhr ist alles noch angenehm überschaubar. Als Frühaufsteher gehört man unweigerlich zu einer schrägen Minderheit, das hat manchmal Vorteile. Neue Ware wird überall eingeräumt, Weihnachtszeug wird gerade zur Seite geschoben und mit roten Sonderpreisschildchen versehen. Eine Angestellte beim Discounter steht vor dem Regal mit der gekühlten Festessenaktionsware und fragt einen Kollegen, ob das auch alles rausgeräumt werden solle. „Alles raus“, sagt der nickend, „alles raus.“ Und er macht eine ausholende Geste mit dem Arm, die das ganze Regal umfasst, das ganze Fest, die ganze Saison. Schluss jetzt, weg damit.

Bei den Schnittblumen in den schwarzen Eimern vorne am Eingang, es ist immer schön, wenn etwas berechenbar pünktlich ist, gibt es die ersten Tulpen, rote und gelbe Blüten, etwas mager fallen sie noch aus. Der Mann von der Security sieht grinsend in meinen übervollen Einkaufswagen und fragt: „Sie haben Kinder, was?“ Er kennt das, sagt er dann noch, er kennt das. Ich fülle hinter der Kasse den Einkaufsroller, den Rucksack und die Beutel, ich schleppe und ziehe alles in meinen Bau, in dem die Familie noch in den Betten liegt.

Ich lege mich auch noch einmal hin. Ich schlafe wie ein Stein auf dem sehr grünen Sofa und träume von alten und neuen Zeiten. Ich träume eine bittere Jahresbilanz und ich träume von großer Kälte, das liegt aber nur daran, dass die Heizung schon wieder nicht geht. Ich mache die Augen wieder auf, der Weihnachtsbaum ist noch da und leuchtet direkt vor mir. Der kann dann auch weg. Bald.

Am Nachmittag gehe ich noch einmal los, die zweite Tour, die anderen Geschäfte. Ich möchte alles im Haus haben, ich möchte alles erledigt haben. Es hat geregnet, es hat gefroren, hauchdünnes Eis liegt auf allen Wegen. Neben mir fallen die Leute, schlittern die Kinder, stehen Menschen balancierend mit ausgebreiteten Armen und kommen nicht weiter, es ist zu glatt. Man kommt nur noch pinguinartig vorwärts. „Pass auf, da ist Eis!“, sagt eine Mutter zu ihrer kleinen Tochter, und die nimmt, noch an der Hand, zwei, drei Schrittchen Anlauf und rutscht begeistert, sie reißt die Mutter dabei mit und da liegen schon beide auf den Rücken, immerhin lachend. „Alles okay?“, fragen die noch Stehenden die schon Gefallenen und für ein paar Minuten sind alle um mich herum nett und hilfreich zueinander und kümmern sich, da hat so ein Wetter auch seinen Sinn. Niemand kommt mehr in normaler Geschwindigkeit vorwärts, und ich habe doch gerade vor dem Losgehen noch im Internet gelesen, man solle zwischen den Jahren unbedingt alles mal langsamer machen und auf die Effizienz pfeifen. Das wird jetzt umgesetzt, und gleich von allen, von der ganzen Millionenstadt.

Ich gehe in Zeitlupe vorsichtig zur Änderungsschneiderei, ich hole dort etwas für die Herzdame ab. Wie immer kann die Frau des Änderungsschneiders die Sachen nicht finden. Sie fragt, was das denn gewesen sei und welche Farbe das habe, ich sage, es seien Strickjacken, eine sei grau, eine sei rosa, und sie sieht mich an, als hätte ich etwas vollkommen Verrücktes beschrieben, etwas, dass sie sicher noch nie gesehen hat. Eine rosa, eine grau? Das wüsste sie doch, und sie schüttelt den Kopf. Zwei Minuten später fragt sie es noch einmal, was war das noch, und dann kurz darauf erneut. Die Schneiderei ist winzig, es liegt auch nicht viel darin, es ist alles eher übersichtlich, aber sie findet nie etwas. Dann fragt sie ihren Mann, der sie fragt, was es gewesen sei und welche Farbe … das fragt sie aber lieber erst wieder mich. Die beiden suchen dann gemeinsam und geben sich Tipps, guck du mal hier, ich guck mal da, sie fassen alles mehrfach an und dann, ich kenne das Drehbuch schon gut, finden sie das Zeug endlich da, wo sie zuerst nachgesehen hat. So ist es immer, es gehört dazu, und ich nehme es als Übung, nicht gestresst zu sein, auf die Effizienz zu pfeifen und Geduld zu haben. Die beiden sind so freundlich und bemüht. Der alte Schneider gibt mir die Sachen und verbeugt sich, wer verbeugt sich heute schon noch. „Ich wünsche ihnen ein schönes Neues Jahr, mein Herr“, sagt er bei der Verbeugung, und ich höre es in diesem Dezember zum ersten Mal und gleich formvollendet, wie angenehm ist das denn.

Im Drogeriemarkt wünscht die Kassiererin der Kundin vor mir einen schönen Nachmittag, und die bedankt sich und antwortet fröhlich und etwas zu laut, dass doch ein schöner Abend noch viel wichtiger sei, nicht wahr, und den wünscht sie dann auch, mehrfach. Dann kommen die beiden darauf, dass die Tage ja wieder länger werden und dass doch gerade erst die Sonnenwende war, wann war denn das genau. Sie überlegen gemeinsam, wie viele Minuten wir jetzt schon gewonnen haben, ob man das schon merkt, darüber denken sie auch nach, sie reden immer weiter und das Einpacken wird dabei leider vollkommen vergessen, es geht hier nicht weiter. Ich habe Geduld, so denke ich zumindest, meine Güte, was habe ich heute Geduld. Alles mal langsamer machen, ja, ja. Schon schön. Ich schubse versonnen meine Packung Entspannungstee auf dem Kassenband herum. Vor dem Geschäft fliegen Leute auf den Gehweg, ich sehe es durch die offene Tür. Der Verkäufer der Obdachlosenzeitung warnt vor den schlimmsten Stellen. Noch etwas mehr Regen auf den eisigen Boden und die ganze Stadt ist eine schlimme Stelle.

Nein, es ist wahrhaftig kein Tag für Geschwindigkeit. Ich mache mal langsam, so soll es sein, zwischen den Jahren, auch das ist ein Ritual. Siehe auch hier, sich einfach hängen lassen. So geht das.

Ich gehe nach Hause, ich lese Adalbert Stifter, die Bunten Steine. Stifter ist so etwas von langsam, Stifter besteht hauptsächlich aus Naturbeschreibungen und Stifter ist auch nicht aus dieser Zeit, denke ich. Das ist gut, das lenkt vielleicht ab, es gibt so vieles, von dem man sich jetzt ablenken sollte. Ich lese den Abschnitt Granit, da heißt es:

Es war einmal in einem Frühlinge, da die Bäume kaum ausgeschlagen hatten, da die Blütenblätter kaum abgefallen waren, daß eine schwere Krankheit über diese Gegend kam und in allen Ortschaften, die du gesehen hast, und auch in jenen, die du wegen vorstehender Berge nicht hast sehen können, ja sogar in den Wäldern, die du mir gezeigt hast, ausgebrochen ist. Sie ist lange vorher in entfernten Ländern gewesen und hat dort unglaublich viele Menschen dahingerafft. Plötzlich ist sie zu uns hereingekommen. Man weiß nicht, wie sie gekommen ist: haben sie die Menschen gebracht, ist sie in der milden Frühlingsluft gekommen, oder haben sie Winde und Regenwolken dahergetragen: genug, sie ist gekommen und hat sich über alle Orte ausgebreitet, die um uns herum liegen. Über die weißen Blütenblätter, die noch auf dem Wege lagen, trug man die Toten dahin, und in dem Kämmerlein, in das die Frühlingsblätter hineinschauten, lag ein Kranker, und es pflegte ihn einer, der selbst schon krankte.

Ich lege das Buch entnervt wieder weg. Bücher helfen auch nicht immer. Ich mache die Augen zu, ganz langsam mache ich sie zu.

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Sie können hier Geld in den allerdings nur virtuell vorhandenen Hut werfen, ganz herzlichen Dank! Sollten Sie den konventionellen Weg bevorzugen und lieber ganz klassisch etwas überweisen wollen, das geht auch, die Daten dazu finden Sie hier. Wer mehr für Dinge ist, es gibt auch einen Wunschzettel. Merci!