Ehrungen, Währungen

Das Jahr beginnt mit dem Weltuntergang. Das liegt allerdings nur daran, dass wir gemeinsam den Film Don’t look up auf Netflix sehen und das Timing unabsichtlich so geschickt hinbekommen, dass der alles auslöschende Komet die Erde genau um Mitternacht erwischt. Auch gut, dann hat man das Schlimmste schon hinter sich. Ich finde den Film fürchterlich schlecht, aber egal. Man kann mit Kindern gut darüber reden, man kann auch die Idee interessant finden, das immerhin. Eine leichte Anmutung von Home-School im Abgang, wir diskutieren zu später Stunde noch ethische Fragen.

Es ist vermutlich das erste Silvester seit meiner Kindheit, an dem ich keine einzige Rakete sehe. Denn das mit dem reduzierten Böllern, das hat ausgerechnet hier im kleinen Bahnhofsviertel bestens funktioniert. Ich lese auf Twitter anderes, ich weiß, dass da bei Ihnen und auch bei Ihnen viel angezündet wurde. Aber ich höre hier nur einige vereinzelte Raketen, ich sehe sie nicht, sie sind zu weit weg, sie sind hinter Dunst und Häusern. Auf der Straße unten wird ein wenig geknallt, die Betonung liegt aber auf wenig, sagen wir ruhig sehr wenig. Eine bemerkenswert ruhige Nacht ist das. Am nächsten Morgen gehe ich Brötchen holen, es sieht da draußen alles aus wie im letzten Jahr. Es sind nur wenige Menschen unterwegs, wie an jedem Feiertagmorgen, einige Reisende im Hauptbahnhof nur, und die erkennt man sofort als Reisende. Das sind keine Übriggebliebenen von Partys, die desorientiert und mit erheblichem Restalkohol taumelnd in ihre Vororte abziehen. Das sind Menschen, die hier zu den Festen Verwandte besucht haben und planmäßig rückreisen, frisch geduscht und mit ordentlich gepackten Koffern. Auch auf dem Weg zum Bahnhof ist kaum Müll zu sehen. Keine Raketenstöcke liegen herum, keine Böllerfetzen, keine im Regen aufgeweichten Knallerpackungen, nicht einmal leere Sektflaschen stehen am Straßenrand oder liegen in Scherben. Jede laue Sommernacht hinterlässt hier deutlich mehr Partymüll als dieser Jahreswechsel. Na, mir soll es recht sein.

Das Jahr beginnt sauber und vorschriftsmäßig. Ich leite daraus nichts Orakelhaftes ab, ich schreibe das nur mit und wundere mich.

Ich lege in der Küche schon einmal die Frühstückszutaten, die Teller und das Besteck heraus, ich höre dabei „Irrungen, Wirrungen“ von Fontane. Das ist der Roman mit den entscheidenden Szenen bei „Hankels Ablage“, manche wissen das vielleicht noch aus Schulzeiten. Sven Görtz liest mir vor, seine Stimme passt ausgezeichnet zum Neunzehnten Jahrhundert. Ich erwähnte es bereits, aber er wird gerade mein Beruhigungsmittel erster Wahl, da sei das noch einmal betont. Es gibt viele Hörbücher von ihm, vielleicht reichen sie für ein Jahr. Ich finde einen Satz besonders gut, ich will mir den merken. Ich diktiere ihn mir schnell ins Handy, ich sage dabei natürlich auch, woraus der ist, der Satz. Das Handy wandelt mein Diktat in Schrift um, und recht wacker macht es das, um es in zu Fontane passendem Tonfall auszudrücken. Allerdings steht da dann: „Fontane: Ehrungen, Währungen.“ Was habe ich denn bitte für eine Aussprache? Ehrungen, Währungen, Das klingt wie ein Roman in Zentralbankkreisen, das klingt gar nicht schlecht. Aber etwas simmelmäßig vielleicht? Beststellertauglich klingt es, aber ich verstehe leider nichts von Währungen, ich kann dazu nichts ausführen. Ich verwerfe die Titelidee also gleich wieder mit einer inneren Grandezza, als hätte ich bei Gefallen mal eben einen Roman daraus machen können.

Die Familie schläft noch stundenlang. Ich setze mich ans Notebook, ich schreibe: „Dass Jahr beginnt mit dem Weltuntergang.“ Anfänge sind wichtig, sagt man, und dieser klingt interessant.

Später gehen die Herzdame und ich runter an die Alster. Auch dort ist alles gepflegt, keine Verwüstungen sind zu sehen, keine Trümmer, keine rauchenden Reste. Sehr viele Menschen gehen auch bei eher schlechtem Wetter im Kreis um die Alster, die einen so herum, die anderen so herum. Sie stellen dabei immer wieder fest, ich höre es mehrfach im Vorbeigehen, dass sehr viele Menschen im Kreis um die Alster gehen. So auch ich, so auch wir. Das Leben ist ein langer, ruhiger Mainstream.

Man kann aber jederzeit da raus, wenn man möchte, es hängen überall Rettungsringe am Ufer bereit.

 

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Ich habe hier im Medienmenü, in dem ich freundlicherweise auch vorkomme, zwei neue Podcasts gefunden, die ich testhören werde. Vielleicht ist auch für Sie etwas dabei.

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Kein Jahresrückblick

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The same procedure

Wir folgen der in diesem Blog hinlänglich etablierten Tradition: Kein Silvester ohne diese Bilder. Es handelt sich beim Folgenden also um die Erinnerung an eine norddeutsch-ausgelassene Silvesterparty in einem kleinen Ort bei Hamburg. Der Abend ist mittlerweile bereits zwei Jahrzehnte her und längst nicht mehr wahr. Deutlich erkennt man die sogenannte Hanseaten-Ekstase in meinem Blick.

Denn man muss gerade die süddeutschen und besonders die rheinländischen Leserinnen und Leser gelegentlich daran erinnern: wir hier oben im Norden, wir sind gar nicht so. Wir können auch ganz anders:

Hanseaten-Ekstase

Gleicher Abend, nur einen Meter weiter: Die Herzdame, liebreizend wie stets und dabei auf diese einmalige nordostwestfälische Weise in strahlender Herzlichkeit gut gelaunt:

Die Herzdame

So viel zur Tradition.

Nun starb ein Jahr. – Man lästre nicht am Grabe!

Doch: Wenn das Leben einer Schule gleicht

Dann war dies Jahr ein schwachbegabter Knabe

Und hat das Ziel der Klasse nicht erreicht.“

(Mascha Kaléko, Nekrolog auf ein Jahr)

Nein, es war, wie es hier hin und wieder anklang, kein gutes Jahr für mich, auch nicht für uns. Ich glaube nicht, dass ich jemals so desolat an einem Silvesterabend angekommen bin, so erschöpft, gestresst, ausgelaugt und innerlich gealtert. Nein, es war kein gutes Jahr.

Neulich sah ich auf Twitter wiederholt die Frage, was denn nun gut gewesen sei in diesem Jahr, da haben viele Menschen findige Antworten geschrieben, sogar erfrischend einfache und direkte, denn natürlich passieren weiterhin dauernd gute Dinge. Ich habe bemüht wie stets darüber nachgedacht, hatte aber spontan keine einzige gute Idee. Also keine jedenfalls, die auch in erlebbarer Zeit beschreibbar und überhaupt mitteilbar war. Bei einigen gute Entwicklungen muss ich – ich habe mir das Wort hier drüben ausgeliehen – ungewohnt intimitätskleinlich sein und mich leise und verhalten freuen.

Allerdings bin ich vermutlich sowieso eher für das Beobachten von Kleinigkeiten bekannt, nicht für die großen Knallernachrichten. Also nenne ich zwei Marginalien, sie sind beide aus der letzten Zeit. Ich nehme sie symbolisch für das, was gut war und ist, trotz allem. Zum einen schickte mir da gerade eine Leserin einen kurzen Brief, handgeschrieben, sehr gute Handschrift, und zwar war das keine Blogleserin. Sondern eine, die meine Kolumne in den Lübecker Nachrichten mag. Eine, ich bin da recht sicher, ältere Dame, und sie schrieb da, ich darf das hoffentlich wiedergeben, sie würde die Texte ab und zu ausschneiden und weiterreichen. Was mich daran erinnerte, dass ich im Heimatdorf der Herzdame vor langer Zeit einmal Blogtexte von mir auf einem Klo gefunden habe, die lagen da zur Unterhaltung bereit. Das eine war zur Anfangszeit der Geschichten und Notate hier, das andere war in der letzten Woche. Ich freue mich enorm über so etwas, lange und gründlich und ganz untypisch für mich. So etwas trägt und hält und treibt an, wie auch die eingeworfenen Münzen im virtuellen Hut, die Geschenksendungen, die netten Zeilen dabei, die freundlichen Verlinkungen, eventuell auch die Rückmeldungen von Kunden nach eingesandten Texten. Also kurz, das Schreiben, das war und ist das Gute. Immer wieder, immer weiterschreiben. Vielen Dank für all die positiven Reaktionen und Kommentare, auch wenn die Inhalte hier nicht immer erbaulich waren.

Zum anderen war ich mit der Herzdame gestern im Garten. Wir waren schon länger nicht mehr da, denn es ist Winter und wir kommen sowieso zu nichts. Wir wollten aber doch einmal Laub harken, nachdem der Rasen jetzt in der etwas widerlich anmutenden Zwischenwärme zum Jahreswechsel nicht mehr gefroren ist. „Laub harken“ ist bei uns ein Ausdruck mit magischen Folgen, wir können das als Formel aussprechen und damit die Söhne augenblicklich verschwinden lassen. Sie haben sofort andere Verabredungen, sie entdecken auf einmal längst vergessen geglaubte soziale Verpflichtungen neben den Bildschirmen, sie fliehen dahin, sie verblassen aus dem Bild, in wenigen Minuten vollzieht sich das.

Wir fuhren also nur zu zweit in die winterlich verlassenen Gärten auf der Insel. Die sie umfließende Bille lag noch unter einer Eisschicht, Gänse und Enten saßen vereinzelt darauf. Spätnachmittägliches Nebelgewölk wehte sachte wie Hauch darüber hin, am Ufer standen die unbelebten Lauben neben den leeren Beeten und kahlen Hecken in der frühen Dämmerung, es war ein fantastischer Anblick. Die alte Trauerweide am Ufer zupfte mit dürren Fingern Watte aus den wabernden Schwaden. Niemand war da, nur wir waren in der weitläufigen Kolonie. Das stimmt sicher nicht, es ist immer noch jemand da, es werkelt immer noch jemand irgendwo, es sitzt immer noch jemand irgendwo in einer Hütte, aber wir sahen niemanden. Es gab da nur uns beide auf dem Rasen vor der Laube. Hauchfeiner Sprühregen in der Luft, es war nass und kalt und wintertrüb. Eine große Horde Krähen zog über uns marodierend von Baum zu Baum, krähend und kakelnd und kreischend. Es gab enorm viel zu besprechen bei denen und dauernd musste dabei der Standort gewechselt werden. Die Fichte, die Eiche, die Birke, fünfzig oder hundert Vögel gar zogen alle Viertelstunde einen Baum und eine Parzelle weiter, stritten sich wieder und wieder um die besten Plätze auf den Ästen und waren infernalisch laut dabei, sie hatten viel Grund, sich anzuschreien. Wenn sie zwischendurch doch einmal weit genug weg waren, weil ein Baum ganz hinten in der Anlage oder am anderen Ufer der Bille sie plötzlich interessierte, hörten wir die leere Stille des Winterabends, in der die Tropfen aus der Dachrinne an der Laube in die Regentonne fielen, wo sie mit einem endlos wiederholtem und dezembrig dezenten Pling ein Loch in das Eis schlugen. Dann doch wieder die krachmachende Krähenhorde.

Die Herzdame harkte Laub, ich ging herum und suchte nach Fotomotiven, man muss sich Arbeit auch sinnig aufteilen. Die Krähen fielen in die mächtige Eiche auf der brachliegenden Nachbarparzelle ein, nein, sie erschienen dort dramatisch und düster drohend wie in einem Horrorfilm, das beschreibt es besser. Wir sahen hoch und sahen dabei auch diesen anderen Vogel auf einem der unteren Äste. Ein großer Vogel, eine ungewöhnlich breite Statur. Ich dachte erst, da sei eine Katze in den Baum geklettert, eine ziemlich große Katze allerdings. Aber es war eine Eule, die dort aß, eine Waldohreule vermutlich, wir haben das später nachgelesen. Weder die Herzdame noch ich haben bisher jemals in freier Wildbahn eine Eule gesehen, wir standen staunend. Große Eulen sind ein erhabener Anblick. Unbewegt saß sie da im Krähenkrawall. Dann flogen die Krähen auch schon wieder rastlos weiter, und die Eule flog ohne zu zögern gleichzeitig ab und unter ihnen her, als sei dieser Krähenschwarm ihre übliche Begleitung, ein routiniertes Arrangement. Sie gingen auch alle genau gleichzeitig in die Kurve um die Pappeln herum … wie geht das zu. Wie unfassbar elegant sie flog, was für ein Bild das war, diese riesige, geräuschlose Eule unter den lärmenden Krähen. Als ich vor Monaten bei uns über dem Spielplatz den Bussard gesehen habe, da flog der auch unter den Krähen herum, ist das ein Zufall? Was machen die da, die großen Greifvögel, haben die ein Abkommen mit dem Gelichter?

Diese Eule dort im Baum jedenfalls. Man geht in den Garten, man erwartet absolut nichts, nur das Wintergrau, die Leere, den Regen, die frühe Dämmerung, die Kälte, die Nässe, die Ödnis, den Rasen, das welke Laub und den Kompost. Und dann sitzt da diese riesige Eule. Das war auch sehr gut. Auch über so etwas kann ich mich lange freuen. Immer überall genau hinsehen.

Kommen Sie gut rüber, bewahren Sie unbedingt Haltung, denken Sie geradeaus, ich schließe mit den besten Wünschen zum Neuen Jahr. Wir sehen uns drüben, wenn Sie mögen.

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Links am Abend

Ein Museum mit Quelle-Fertighaus und Milchbar. Das würde ich auch gerne einmal sehen. Und überhaupt, man könnte mal wieder ins Museum gehen, also wenn man wieder irgendwo hingeht.

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Zurück in Ekel. Ein Feature beim NDR. Ekel liegt an der Sorge, oben bei Kiel. Eine norddeutsche Geschichte, eine normale Geschichte, so besonders wie alle.

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Antje Schrupp über die Dummheit, sie verlinkt da auf einen Text im Standard, sehr lesenswert.

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Die Herzdame hat auf Twitter nach Kartenspielen für die Familie gefragt und unfassbar viele Antworten bekommen. Falls Sie im nächsten Lockdown Karten spielen wollen – hier entlang, da ist für alle etwas dabei.

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Ich möchte außerdem noch eine Buchempfehlung loswerden, eine dringende sogar. Also nicht zeitlich gesehen dringlich, das gar nicht. Aber inhaltlich. Nämlich den Deutschen Herbst von Stig Dagerman, der mir als Geschenk gesendet wurde und zu dem ich endlich gekommen bin – und mit welcher Begeisterung habe ich den gelesen. Übersetzt und liebevoll herausgegeben wurde das Buch von Paul Berf. Der Schwede Dagerman hat im Herbst 46 Deutschland bereist und darüber Reportagen geschrieben, ohne ein Reporter im Wortsinn zu sein, er war Romanautor, er hat Geschichten geschrieben (die demnächst auch mal lesen, sie liegen hier schon bereit). Es sind eindringliche Texte, man vergisst sie nicht mehr. Zweifach hat mich das Buch erwischt, und wie es mich erwischt hat. Zum einen durch die Erinnerung an den Umstand, wie es nur etwa zwanzig Jahre vor meiner Geburt in diesem Land aussah und wie es hier zuging – zwanzig Jahre nur! Das ist, wie lange auch immer ich darüber nachdenke, vollkommen unglaublich. Das Jahr 2000, das war doch gerade eben erst, das haben wir doch alle noch parat, nur mal als Vergleich. Man kriegt es nicht in den Kopf. Ich wuchs in einem Land auf, das mir heil, gut ausgestattet und friedlich vorkam. Ich habe lange eine Stabilität und Dauerhaftigkeit in meiner Umwelt und meinem Alltag vermutet, die es darin gar nicht gegeben haben kann. Wie war das möglich? Man kann es wieder und wieder durchdenken, es wird mit jedem Jahr rätselhafter, je weiter wir uns davon entfernen. Diese Geschwindigkeit, in der das damals ging. Zwanzig Jahre waren das nur, so dermaßen nah war das an mir dran. Und das heißt auch, man kann es doch umdrehen, das in weiteren 20 Jahren alles in einem ebenso unvorstellbaren Ausmaß anders sein kann als jetzt. Wie oft sollte man das wohl bedenken?

Zum anderen beschreibt der Herr Dagerman seine Szenen auf eine Art, die ich verehrungswürdig finde. Auf diese Art, so denke ich beim Lesen immer wieder, auf diese Art möchte ich etwas beschreiben können. Immer von anderen lernen, immer abgucken, wie etwas geht. So muss man das machen, dieses Können mal anstreben. Wirklich ein bemerkenswertes Buch, eine wie gesagt dringende Empfehlung.

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Bilder. Auch wichtig.

Am Straßenrand hat jemand am Abend einen Stapel Spiele abgestellt. Da wurde wieder ein Kinderzimmer ausgemistet oder eine ganze Kindheit beendet, eine Phase vielleicht nur, wer weiß. Am nächsten Morgen sind die meisten Spiel schon weg, haben vielleicht dankbare Abnehmer gefunden, im besten Fall sogar begeisterte Kinder. Nur ein Puzzle liegt da noch, das hat jemand auf dem Boden verstreut. Vielleicht war es keine böse Absicht, auch mal positiv denken. Vielleicht hat jemand nur versehentlich dagegengetreten. Oder es war ein schnüffelnder Hund, der den Karton mit der Nase geöffnet hat. Die bunten Pappteilchen weichen in Pfützen auf, dieses Puzzle setzt niemand mehr zusammen. Etwas weiter steht eine dieser schwarzen Tafeln, in die man weiße Plastikbuchstaben stecken kann, die meisten sind schon abgefallen. Man erkennt aber noch: Missu, love, wish here. Diese Satzfetzen wurden auch irgendwo nicht mehr gebraucht oder gemocht. Für das melodramatische Ende von Kurzgeschichten wären die eher nicht brauchbar, die kleinen Restbuchstaben und die verstreuten Puzzleteilchen, aber hier am Straßenrand an einem regnerischen, diesigen Hamburger Morgen, da machen sie sich ganz gut.

Das Wetter hat sich geändert, es ist nicht mehr kalt, es ist jetzt nasskalt. Der Großteil der Familie bezweifelt ernsthaft, dass man bei diesem Wetter rausgehen kann. Nur ich gehe raus, ich lebe wild und gefährlich. Die Weihnachtsmärkte in der Innenstadt sind verschwunden, eine letzte große Tanne steht noch kugelgeschmückt in der Fußgängerzone. Vor den Blumenläden stehen palettenweise kleine Töpfchen mit Klee. Plastikschweinchen oder Schornsteinfegerfiguren stecken darin, manchmal auch die Jahreszahl 2022. Die Stadt ist bestenfalls mäßig voll, die Läden sind eher leer, es gibt kaum Schlangen vor den Türen. Ein Tourist fragt mich vor dem Rathaus nach dem nächsten Haltepunkt der Doppeldeckerbusse, mit denen man hier Stadtrundfahrten machen kann. Was nützt denn heute eine Stadtrundfahrt, denke ich, die Stadt sieht doch überall gleich grau und trist und hässlich aus.

Die Herzdame backt währenddessen zuhause einen Limettenkuchen. Ich sage später beim Kaffee immer wieder „Das ist ein verdammt guter Kuchen“, in der Betonung von Dale Cooper, und ich meine es so ehrlich wie er damals.

Am Nachmittag hänge ich ein neues Bild von Gerd Brunzema auf, den Herrn hatte ich neulich schon hier im Blog erwähnt. Affordable Art, da gibt es doch auch eine Messe oder so etwas. Oder gab es damals, als es noch Messen gab, was weiß ich. Die Herzdame hat in der letzten Woche viele Bilder an unsere Wände gehängt und damit unseren wohnungsinternen Umzug endlich beendet. Vielleicht schreibt sie darüber noch etwas, bei Instagram hat sie bereits Bilder gepostet. Wir schaffen es damit in kein Wohnmagazin, aber wir sind so weit bemüht. Ich habe dabei gemerkt, dass ich gerne mehr Kunstwerke hätte, zu denen es einen besonderen Bezug gibt. Da mal dran arbeiten.

Wir haben ein ganz kleines Bild von Katja Kelm, wir haben eines von Friederike von Criegern, eines von Rasmus Hirthe, von Menschen, die wir kennen. Ein Kiki Thaerigen fehlt noch, ich bestelle gleich mal die Bärenbibliothek, die passt sicher sehr gut neben das Regal. Zack, erledigt. Jahrelang ignoriert man leere Wände, eines Morgens aber wacht man auf und denkt: „Bilder. Auch wichtig.“ Es ist doch seltsam, wie es so in einem zugeht.

Ich sehe am Abend mit der Herzdame und einem Sohn eine französische Corona-Komödie auf Netflix. Ich finde sie schlecht, sie hat aber immerhin ein paar zuverlässige slapstickhafte Lacher und auch bekannte Menschen im Ensemble, die ich aus anderen Filmen kenne und gerne wiedersehe, man muss auch nicht immer hohe Ansprüche haben. Ich habe schon lange nicht mehr bei einem Film gelacht, fällt mir auf. Und ich finde es interessant, wie die Coronazeit in Filmen ankommt. Es ist der erste Film zu dem Thema, den ich sehe, glaube ich. Also der erste erzählende Film, dokumentarisch gab es schon mehrere, auch gute. Flache Maskenwitze gibt es selbstverständlich in dieser Komödie, banale Scherze über den Mindestabstand, die werden sicher auch einmal gut im Theater wirken. Scherze über hysterische oder auch allzu nachlässsige Vorsichtsmaßnahmen, über ausbleibende oder stattfindende Solidarität, über das Home-Office und die Home-School, über die Videocalls und über verbotene Grill-Partys im Innenhof. Das ist also das, was bleibt, das wird dann allmählich zur Pandemie-Folklore. Das Klatschen vom Balkon, die Ausgangssperren, die Lücken im Supermarktregal. Ein kitschiges Ende hat der Film, in etwa auf dem Niveau von Puzzleteilchen im Regen vielleicht. Es gibt eine moralische Botschaft und einen Dank an alle, die sich eingesetzt haben. Na gut, dagegen ist nichts einzuwenden. Hier eine Rezension, sie endet betont versöhnlich, und warum auch nicht. Alles versöhnlich beenden, die Texte, die Tage, das Jahr.

Ich habe bisher noch keinen Roman mit Coronabezug gelesen, auch keine Kurzgeschichte und kein Gedicht. Sicher sind längst welche in Arbeit, im Druck, vielleicht sogar schon im Handel erhältlich und ich weiß es nur nicht. Die Musiker waren im Jahr 2020 die schnellsten. Songs zur Pandemie gab es zuerst, im Sommer schon. So wie den hier, musikalisch gefällig, lyrisch eher noch ausbaufähig:

„Paper masks hide our faces
But the love in our eyes remains.“

Na ja, sagte er und guckte streng. Übrigens haben wir gerade gemerkt, dass Sohn II eine einzelne Augenbraue heben und dabei so spockmäßig kritisch gucken kann. Nur er kann das, niemand sonst hier, deswegen muss er das jetzt dauernd machen, weil wir das so toll finden. Eine Begabung, jemand von uns hat eine Begabung.

Kann ich das bloggen, frage ich ihn. Er hebt eine Augenbraue.

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Wir werden langsamer, wir stürzen

Ich lese weiter in den Tage- und Notizbüchern der Patricia Highsmith. Das Buch muss Sie nur interessieren, wenn Sie sich entweder besonders für Tage- und Notizbücher oder aber sehr für Patricia Highsmith interessieren, sonst eher nicht. Es ist ein spezielles Vergnügen, ich lese es sehr gerne, aber ich ahne eine kleine Zielgruppe.

Ich hatte da gerade einen besonderen Lesemoment, den ich hier verzeichnen möchte, weil er etwas abgrenzt. Wir haben den etwa 21. Monat der Pandemie und jetzt erst ist es mir nämlich passiert, dass mir beim Lesen von Alltagsschilderungen – sie geht da abends immer wieder aus, sie trinkt ein paar Drinks mit Freunden, sie knutscht auf Restauranttoiletten wild herum, sie zieht von Bar zu Bar durch die Nacht, sie geht in eine Ausstellung, sie isst mittags in einem Imbiss, sie spricht dauernd mit Menschen, die sie irgendwo persönlich trifft und dabei eventuell sogar berührt, sie lernt vor allem fortwährend neue Menschen kennen und die sozialen Konstellationen ändern sich pausenlos und dynamisch –das Ganze eigentümlich fremd, unwirklich und fern vorkam. Präpandemisch eben. Der Alltag der alten Welt hat etliche Monate vorgehalten und mein Denken nach wie vor bestimmt, war weiterhin meiner Welt zugehörig, es blieb alles präsent und gewöhnlich, aber allmählich überwiegt doch endgültig das Neue, das Veränderte und Pandemische im Erleben. Es ist nicht mehr nur ein Moment, ein Monat, ein Jahr oder zwei, es ist jetzt die Gegenwart. Okay. Oder eben nicht okay, aber was soll man machen. Man hat keinen Anspruch darauf, dass die Welt immer gleichbleibt, das hatten die Generationen vor uns auch nicht.

Ich gehe früh am Montagmorgen zum Einkaufen, weil ich noch vor dem erwarteten Massenandrang nach dem Fest damit durch sein möchte. Um acht Uhr ist alles noch angenehm überschaubar. Als Frühaufsteher gehört man unweigerlich zu einer schrägen Minderheit, das hat manchmal Vorteile. Neue Ware wird überall eingeräumt, Weihnachtszeug wird gerade zur Seite geschoben und mit roten Sonderpreisschildchen versehen. Eine Angestellte beim Discounter steht vor dem Regal mit der gekühlten Festessenaktionsware und fragt einen Kollegen, ob das auch alles rausgeräumt werden solle. „Alles raus“, sagt der nickend, „alles raus.“ Und er macht eine ausholende Geste mit dem Arm, die das ganze Regal umfasst, das ganze Fest, die ganze Saison. Schluss jetzt, weg damit.

Bei den Schnittblumen in den schwarzen Eimern vorne am Eingang, es ist immer schön, wenn etwas berechenbar pünktlich ist, gibt es die ersten Tulpen, rote und gelbe Blüten, etwas mager fallen sie noch aus. Der Mann von der Security sieht grinsend in meinen übervollen Einkaufswagen und fragt: „Sie haben Kinder, was?“ Er kennt das, sagt er dann noch, er kennt das. Ich fülle hinter der Kasse den Einkaufsroller, den Rucksack und die Beutel, ich schleppe und ziehe alles in meinen Bau, in dem die Familie noch in den Betten liegt.

Ich lege mich auch noch einmal hin. Ich schlafe wie ein Stein auf dem sehr grünen Sofa und träume von alten und neuen Zeiten. Ich träume eine bittere Jahresbilanz und ich träume von großer Kälte, das liegt aber nur daran, dass die Heizung schon wieder nicht geht. Ich mache die Augen wieder auf, der Weihnachtsbaum ist noch da und leuchtet direkt vor mir. Der kann dann auch weg. Bald.

Am Nachmittag gehe ich noch einmal los, die zweite Tour, die anderen Geschäfte. Ich möchte alles im Haus haben, ich möchte alles erledigt haben. Es hat geregnet, es hat gefroren, hauchdünnes Eis liegt auf allen Wegen. Neben mir fallen die Leute, schlittern die Kinder, stehen Menschen balancierend mit ausgebreiteten Armen und kommen nicht weiter, es ist zu glatt. Man kommt nur noch pinguinartig vorwärts. „Pass auf, da ist Eis!“, sagt eine Mutter zu ihrer kleinen Tochter, und die nimmt, noch an der Hand, zwei, drei Schrittchen Anlauf und rutscht begeistert, sie reißt die Mutter dabei mit und da liegen schon beide auf den Rücken, immerhin lachend. „Alles okay?“, fragen die noch Stehenden die schon Gefallenen und für ein paar Minuten sind alle um mich herum nett und hilfreich zueinander und kümmern sich, da hat so ein Wetter auch seinen Sinn. Niemand kommt mehr in normaler Geschwindigkeit vorwärts, und ich habe doch gerade vor dem Losgehen noch im Internet gelesen, man solle zwischen den Jahren unbedingt alles mal langsamer machen und auf die Effizienz pfeifen. Das wird jetzt umgesetzt, und gleich von allen, von der ganzen Millionenstadt.

Ich gehe in Zeitlupe vorsichtig zur Änderungsschneiderei, ich hole dort etwas für die Herzdame ab. Wie immer kann die Frau des Änderungsschneiders die Sachen nicht finden. Sie fragt, was das denn gewesen sei und welche Farbe das habe, ich sage, es seien Strickjacken, eine sei grau, eine sei rosa, und sie sieht mich an, als hätte ich etwas vollkommen Verrücktes beschrieben, etwas, dass sie sicher noch nie gesehen hat. Eine rosa, eine grau? Das wüsste sie doch, und sie schüttelt den Kopf. Zwei Minuten später fragt sie es noch einmal, was war das noch, und dann kurz darauf erneut. Die Schneiderei ist winzig, es liegt auch nicht viel darin, es ist alles eher übersichtlich, aber sie findet nie etwas. Dann fragt sie ihren Mann, der sie fragt, was es gewesen sei und welche Farbe … das fragt sie aber lieber erst wieder mich. Die beiden suchen dann gemeinsam und geben sich Tipps, guck du mal hier, ich guck mal da, sie fassen alles mehrfach an und dann, ich kenne das Drehbuch schon gut, finden sie das Zeug endlich da, wo sie zuerst nachgesehen hat. So ist es immer, es gehört dazu, und ich nehme es als Übung, nicht gestresst zu sein, auf die Effizienz zu pfeifen und Geduld zu haben. Die beiden sind so freundlich und bemüht. Der alte Schneider gibt mir die Sachen und verbeugt sich, wer verbeugt sich heute schon noch. „Ich wünsche ihnen ein schönes Neues Jahr, mein Herr“, sagt er bei der Verbeugung, und ich höre es in diesem Dezember zum ersten Mal und gleich formvollendet, wie angenehm ist das denn.

Im Drogeriemarkt wünscht die Kassiererin der Kundin vor mir einen schönen Nachmittag, und die bedankt sich und antwortet fröhlich und etwas zu laut, dass doch ein schöner Abend noch viel wichtiger sei, nicht wahr, und den wünscht sie dann auch, mehrfach. Dann kommen die beiden darauf, dass die Tage ja wieder länger werden und dass doch gerade erst die Sonnenwende war, wann war denn das genau. Sie überlegen gemeinsam, wie viele Minuten wir jetzt schon gewonnen haben, ob man das schon merkt, darüber denken sie auch nach, sie reden immer weiter und das Einpacken wird dabei leider vollkommen vergessen, es geht hier nicht weiter. Ich habe Geduld, so denke ich zumindest, meine Güte, was habe ich heute Geduld. Alles mal langsamer machen, ja, ja. Schon schön. Ich schubse versonnen meine Packung Entspannungstee auf dem Kassenband herum. Vor dem Geschäft fliegen Leute auf den Gehweg, ich sehe es durch die offene Tür. Der Verkäufer der Obdachlosenzeitung warnt vor den schlimmsten Stellen. Noch etwas mehr Regen auf den eisigen Boden und die ganze Stadt ist eine schlimme Stelle.

Nein, es ist wahrhaftig kein Tag für Geschwindigkeit. Ich mache mal langsam, so soll es sein, zwischen den Jahren, auch das ist ein Ritual. Siehe auch hier, sich einfach hängen lassen. So geht das.

Ich gehe nach Hause, ich lese Adalbert Stifter, die Bunten Steine. Stifter ist so etwas von langsam, Stifter besteht hauptsächlich aus Naturbeschreibungen und Stifter ist auch nicht aus dieser Zeit, denke ich. Das ist gut, das lenkt vielleicht ab, es gibt so vieles, von dem man sich jetzt ablenken sollte. Ich lese den Abschnitt Granit, da heißt es:

Es war einmal in einem Frühlinge, da die Bäume kaum ausgeschlagen hatten, da die Blütenblätter kaum abgefallen waren, daß eine schwere Krankheit über diese Gegend kam und in allen Ortschaften, die du gesehen hast, und auch in jenen, die du wegen vorstehender Berge nicht hast sehen können, ja sogar in den Wäldern, die du mir gezeigt hast, ausgebrochen ist. Sie ist lange vorher in entfernten Ländern gewesen und hat dort unglaublich viele Menschen dahingerafft. Plötzlich ist sie zu uns hereingekommen. Man weiß nicht, wie sie gekommen ist: haben sie die Menschen gebracht, ist sie in der milden Frühlingsluft gekommen, oder haben sie Winde und Regenwolken dahergetragen: genug, sie ist gekommen und hat sich über alle Orte ausgebreitet, die um uns herum liegen. Über die weißen Blütenblätter, die noch auf dem Wege lagen, trug man die Toten dahin, und in dem Kämmerlein, in das die Frühlingsblätter hineinschauten, lag ein Kranker, und es pflegte ihn einer, der selbst schon krankte.

Ich lege das Buch entnervt wieder weg. Bücher helfen auch nicht immer. Ich mache die Augen zu, ganz langsam mache ich sie zu.

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Es war alles gut

„Man kommt ja nicht auf Null.“ Eine Schlussfolgerung, bei der man in pandemischen Zeiten oft landet, man kommt ja nicht auf die Null, man kommt nicht auf ein komplett risikofreies Verhalten. Man kann dies und das und vielleicht auch fast alles reduzieren, einen Faktor nach dem anderen, aber irgendetwas bleibt doch. Man geht täglich zum Einkaufen, die Kinder gehen sowieso dauernd zur Schule und treffen da tausend andere Kinder, man bringt Retouren weg und macht zuhause dem Paketboten die Tür auf, man macht überhaupt dauernd dies und das und trifft Nachbarn im Treppenhaus oder geht zu einer Ärztin oder zum Friseur, man sieht dann doch mal die zwei, vier, sechs Freunde und Familienmitglieder, die sich mittlerweile eindeutig als der engste Kreis erwiesen haben. Man kommt nicht auf die Null, nein. Meine Mutter hat sich in der Warteschlange beim Impfen angesteckt, auch das geht. Aber dieses Käsescheibenmodell mit den Löchern, das mittlerweile jede und jeder kennt, doch, doch, man ist so weit bemüht. Die einen mehr, die anderen weniger.

Zu Weihnachten haben wir dann doch die rote Warnung in der Corona-App, weihnachtlich glänzet sie rot sozusagen, es fehlt nur die grüne Girlande drumherum und ein güldenes Glöckchen für das festliche Design. Das Datum prüfen, das da angezeigt wird. Ach guck, dieser Tag war das, ja, so kann das also passieren, so erwischt es einen. Warum wird da eigentlich keine Uhrzeit in der App angezeigt, das müsste doch gehen? Wir fragen Freunde, die dabei waren, ja, die auch. Das war dann also zu dieser Uhrzeit, das war also da, dann müssen wir den auch mal fragen, der war doch ganz in der Nähe, wenn schon nicht direkt dabei? Den haben wir da doch gesehen? Ach guck, der auch.

Ich sehe auf Twitter, dass es anderen auch so geht, die Abläufe ähneln sich, mehrere Meldungen in dieser Art. Ist das beruhigend? Ja, irgendwie schon.

Wir fahren durchs menschenleere Nordostwestfalen, wir suchen Tests. Alles haben wir dabei, lange haben wir diesmal über das Packen nachgedacht, aber Schnelltests haben wir nicht im Gepäck. In all den Monaten der Pandemie haben wir immer noch nicht genug gelernt. Vor der Abfahrt haben wir noch welche gemacht, das kam uns richtig und wichtig vor. Es war aber nicht richtig genug. Eine Apotheke soll heute bereit sein, so lesen wir im Internet, sie sieht aber geschlossen aus. Wir parken, wir gehen um das Gebäude herum, wir sehen nach, da ist nichts, alles ist dunkel. Wir steigen wieder ins Auto, während ein anderes Auto hält. Ein Paar steigt aus, geht um das Gebäude herum, sieht nach. Steigt wieder ein, als gerade noch ein Auto hält, aus dem ein Paar steigt … Immer überall Muster erkennen.

Wir finden doch noch eine Apotheke mit Notdienst, die verkauft Schnelltests, nach denen nicht nur wir heute fragen. Was wir nicht finden, das sind Testcenter, die auch offen und nicht voll ausgebucht sind. Die Schnelltests sind teuer, dazu kommt noch der Sonderöffnungszuschlag der Apotheke, was machen eigentlich die, die sich das nicht leisten können? Die vielleicht auch nicht erst lange recherchieren können, was wo geht oder vielleicht noch gehen könnte, Plan B und C? Die Kundin vor uns ist verzweifelt, weil sie jemanden im Krankenhaus besuchen muss, sofort, heute noch, es geht da um Leben und Tod, sagt sie, da braucht sie doch einen Test mit Zertifikat, jetzt, also jetzt! Die Apothekerin versucht sie zu beruhigen und telefoniert.

Ich finde das alles nach wie vor bemerkenswert schlecht organisiert. Nein, es ist eigentlich unfassbar schlecht organisiert.

Wir stehen auf einem leeren Parkplatz irgendwo im Nirgendwo und machen Schnelltests, wir balancieren wie irre Hobbychemiker Plastikreagenzgläschen auf den Knien und träufeln tropfenweise seltsame Flüssigkeiten auf Teststreifen. Auf einem großen Plakat in der Nähe wird für fröhlichen After-Work-Glühwein geworben, im Autoradio läuft Weihnachtsmusik der eher schlagerhaften Art. Der bestens gelaunte Moderator rät, das Haus heute lieber nicht zu verlassen. Es ist kalt, wie es lange nicht war, der Himmel ist strahlend blau und an den wenigen Passanten sieht man, dass da draußen ein scharfer Wind weht, eisig fasst er die Leute an und brennt in ihren Augen, rötet ihre Wangen und Finger.

Wir warten die obligatorischen 15 Minuten, wir durchdenken Szenarien, wir beobachten rote Striche. Wir lesen Symptome nach. Wer hat im Winter nicht dauernd irgendwelche Symptome, hast du nicht gestern mal gehustet? Geniest? Wie oft niest du eigentlich in letzter Zeit, ist das denn normal? Müdigkeit, Müdigkeit, Leitsymptom Müdigkeit, ich habe alles, wenn es danach geht. Erschöpfung, ja, aber hallo, und das hier ist übrigens schon wieder anstrengend, was wir jetzt gerade machen. Wie soll man denn nicht erschöpft sein, bitte, wir sind alle erschöpft. Habe ich vielleicht seit Tagen ein Kratzen im Hals, und was für ein abstoßendes Wort ist eigentlich Nachtschweiß, wer hat denn so etwas. Ach, Du? Okay. Kopfschmerzen, okay, wenn ich noch länger über Symptome nachdenke, dann habe ich auch die, aber das kann ich bei vielen Symptomen leisten. Tinnitus. Nein, das steht da gar nicht, das ist nur ein Link irgendwohin, wieder Werbung. Als wenn etwas gegen Tinnitus helfen würde, das wüsste ich doch.

Die Tests sind schließlich negativ. Wir telefonieren, wir melden, wir warten auf weitere Meldungen aus Hamburg. Alle Tests sind negativ. Wir kaufen weitere Tests auf Vorrat, wir fahren wieder durch Nordostwestfalen. Am Armaturenbrett leuchtet fröhlich der orangefarbene „Fehler Motosteuerung“, an den wir uns mittlerweile gewöhnt haben. Er kommt immer, wenn wir gerade denken, dass wir jetzt wirklich nichts Weiteres gebrauchen können. Solange der Motor aber nicht automatisch runtergeregelt wird, fahren wir noch weiter. Hier gibt es jetzt eh keine geöffnete Werkstatt, und als wir beim letzten Besuch in dieser Gegend in einer Werkstatt waren, wurden wir dort mit Querdenkerquatsch zugetextet, das war nicht schön.

Vielleicht kommen wir trotz dieser Meldung noch zurück nach Hamburg. Vielleicht bleiben wir irgendwo liegen, dann ist das eben so. Weder die Herzdame noch ich haben Lust oder Kraft, uns überhaupt noch aufzuregen, worüber auch immer. Fehler Motorsteuerung, meine Güte. So auch ich, denke ich, so auch ich, wenn nicht sogar wir alle.

Bei den Eltern der Herzdame ist der Kamin an. Ich neige nicht zum Neid, aber dieser Kamin … Und die schnurrende Katze natürlich. Die Söhne fragen eher desinteressiert, wie die Tests waren. Sie werden in der Schule so oft getestet, das Thema kann einfach nicht mehr interessant sein. Negativ, ja, natürlich sind die negativ, man testet doch immer so lange, bis alle negativ sind. Okay. Sie kennen sich aus.

Ich lege mich auf das Sofa, ich lese auf dem Handy die Nachrichten nach. Ich lese das Wort „Distanzunterricht“, ich lese „Rekordzahlen“, ich denke, man muss auch nicht dauernd Nachrichten lesen.

Es gab keinen Streit, es gab sehr guten Kuchen und sehr gutes Essen von Schwiegermutter. Ich habe es dermaßen genossen, einmal bekocht zu werden. Die Söhne fanden ihre Geschenke gut, niemand ist irgendwie eskaliert. Es gab die Katze, es gab den Kamin und einmal sogar einen gemeinsamen Mittagsschlaf mit der Herzdame, dazu kommen wir sonst nie. Es war alles gut. Es war nicht bei null Anspannung, aber auf Null kommt man eh nicht.

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Here we go again

Ich setze mich an den Schreibtisch, ich fange an zu tippen. Ich habe nichts zu erzählen, denke ich, aber das macht nichts. Und zwar macht es nichts, weil ich das schon seit Jahren denke, besonders aber seit dem März des letzten Jahres denke, seit diesem März also, der seitdem anhält und einfach nicht vergehen will, der sich in Kürze auf die elend beeindruckende Länge von 24 Normalmonaten aufgebläht haben wird. Ich habe nichts zu erzählen. Ich sehe nichts, ich erlebe nichts, ich komme nicht herum. Ich treffe keine Menschen, ich reise nicht, das schon gar nicht. Ich habe nichts zu erzählen; damit will ich anfangen. Darüber gibt es nicht den leisesten Zweifel. Sie sehen später, warum das kursiv ist, es ist nur ein kleiner Scherz am Rande.

Dafür, dass ich nichts zu erzählen habe, steht hier oft recht viel, finde ich. Ab und zu fällt mir das auf, dann scrolle ich ein wenig hinunter und lese hier und da nach, weil ich mich selbst fragen muss, worüber zum Teufel ich denn bloß dauernd schreiben konnte, wenn doch nichts ist und auch sicher nichts war. Dann staune ich manchmal, auf was ich da gekommen bin, was nicht damit gleichzusetzen ist, dass ich das dann gut finde. Ich bin eher unfreundlich als Kritiker meiner selbst, mein innerer M2R grantelt routinemäßig, wer soll denn das bitte lesen wollen: „Dieser Text hat mich unsäglich gelangweilt.“

Ich lese gute und sehr gute Bücher, ich denke, hör bloß auf zu schreiben. Ich höre Werke der Weltliteratur, ich denke, was machst du hier eigentlich. Und bitte, das ist kein fishing für compliments, ich versuche, nur, etwas zu erklären. Es ist nämlich so: Ich denke, dass mir nichts einfällt, ich denke, dass ich auch das nicht gut genug ausdrücken kann. Ich gehe an den Schreibtisch und schreibe das auf. Ich setze mich an den Schreibtisch, ich fange an zu tippen. Im Grunde, das wollte ich nur eben sagen, stößt mir das zu, dass hier immer wieder etwas steht. Ich weiß auch nicht, wie das kommt. Ich habe gar nichts zu erzählen. Ich denke nicht einmal genug, denke ich immer wieder.

Ich habe Urlaub, ich gehe am Morgen zur Booster-Impfung. Die findet beim Orthopäden statt, die Herzdame hatte bei einem ihrer Besuche gesehen, dass der so etwas anbietet und mir dort kurzerhand einen Termin gekapert, auf den Tag genau 5 Monate nach meiner letzten Impfung. Es ist ein Timing wie unter pünktlichen Pedanten, die in Finanzabteilungen arbeiten, es ist ein Timing, das mir gefällt. Der Morgen ist eisig, ungewohnt klar und kalt, ich gehe einen Teil des Weges zum Arzt zu Fuß. Ich höre dabei die Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens. Warum sollte ich sie nicht hören, sie passt jetzt wieder. Natürlich kenne ich die Geschichte schon sattsam, aber hey, Traditionen, Rituale, ich erwähnte es neulich bereits und ich meinte es ernst. Es ist außerdem über weite Strecken eine gute Geschichte, wenn auch vielleicht nicht durchgehend, aber egal. Sie beginnt so:

Marley war tot; damit wollen wir anfangen. Darüber gibt es nicht den leisesten Zweifel.

Ich halte das für einen hervorragenden Anfang. Und kurz darauf schon erscheint das Gesicht Marleys auf dem eisernen Türklopfer, es ist ein guter und lockender Einstieg. Lassen Sie es sich einmal vorlesen, wenn Sie es noch nicht kennen oder längst wieder vergessen haben, von ihrem Gespons, von ihren Kindern, Eltern oder etwa auch von Sven Görtz per Hörbuch.

Im Wartezimmer des Arztes sitzt mir eine Frau gegenüber, die mit Fug und Recht als Dame bezeichnet werden kann. Um Ihre Fantasie auf die richtige Spur zu bringen, stellen Sie sich vielleicht die Präsidentin eines obersten Gerichtes vor, die Aufsichtsratsvorsitzende einer bekannten Hamburger Aktiengesellschaft, die Inhaberin einer ehrwürdigen hanseatischen Privatbank, die Grande Dame des deutschen Kaffeehandels, etwas in dieser Art – Sie verstehen die Richtung. So eine Ausstrahlung. Ein harmonischer Dreiklang von Distinktion, Wohlstand und Kompetenz, eine Dame aus einer anderen sozialen Sphäre. Ich kenne einige wohlhabende Menschen, aber diese Dame hier verfügt über mehr. Und länger schon. Zumindest sieht sie so aus, zumindest wirkt sie so.

Und die sitzt da also nun, kerzengerade, wie solche Menschen eben immer sitzen und wie ich rückenbedingt gar nicht sitzen kann, da fängt es ja schon an, da falle ich schon ab, da habe ich schon erste Abzüge in der Haltungsnote. Sie sitzt mir gegenüber und ruckt ab und zu mit der Schulter. Das tut sie äußerst dezent und nur dann, wenn ich gerade nicht hinsehe. Ich sehe es lediglich aus dem Augenwinkel. Wenn ich etwa beiläufig aus dem Fenster sehe, hebt sie eine Schulter, soweit es unauffällig gerade noch geht, dehnt den Hals ein wenig dabei, beugt den Kopf. Ich sehe sie an, sie sitzt augenblicklich still und sieht stoisch über mich hinweg, auf die abstrakte Wartezimmerkunst über mir. Ich sehe wieder aus dem Fenster, sie hebt noch einmal die Schulter. Ich nehme an, sie sucht den Schmerz, der sie zum Besuch in dieser Praxis getrieben hat. Vielleicht schmerzt es seit einer Weile nicht mehr, vielleicht überlegt sie, was sie hier eigentlich macht und ob sie nicht einfach gehen kann, am Ende ist das alles Zeitverschwendung? Da ist doch gar nichts? Ich glaube, ich habe ähnliche Verrenkungen auch schon in Wartezimmern aufgeführt, was sagt man dem Arzt, wo genau tut es weh und wie sehr. Dann durchfährt es sie auf einmal mit Macht und sie zuckt jäh zusammen. Sie hat die Stelle zweifellos gefunden, die falsche Bewegung noch einmal gemacht, das Problem lokalisiert. Ein feines Zischen ist durch zusammengepresste Zähne zu hören, wo alle Welt vermutlich etwas von Scheiße gebrüllt hätte, und sie hält sich für einen kurzen Moment die jäh aufflammende Stelle am Schultergelenk und lächelt mich dabei verbindlich an. Contenance par excellence. Ich lächele zurück. Ich sollte nichts sehen, ich habe nichts gesehen. Ich denke mir nur: Einmal wieder etwas so im Griff haben, wie diese Dame sich selbst. Das wäre schön.

Die Impfung erfolgt auf die denkbar fröhlichste Art, lauter gutgelaunte Menschen wuseln um mich herum, eine spaßhafte Angelegenheit ist das und überhaupt ist man es hier gewohnt, Nadeln in mich zu jagen. Der Oberarm ist dabei eine vergleichsweise entspannt zu erreichende Stelle, das ist auch gut.

Ich warte danach die obligatorischen zehn Minuten ab, ich höre Charles Dickens im Wartezimmer. Im weiteren Verlauf sagt Scrooge da zu dem einen Geist, dessen belehrende Vorführungen er nicht mehr zu ertragen vermag: „Umspenstere mich nicht länger!“ Carl Kolb war der Übersetzer, er ist für diesen Imperativ unbedingt zu loben. „Umspenstere mich nicht länger!“ Das vielleicht auch mal dieser Pandemie ungnädig zurufen.

Es ist so eine Sache mit Charles Dickens und der Gegenwart. Da draußen ist selbstverständlich kein rußiger Londoner Nebel, aber die Kälte passt doch und die zerlumpten Gestalten in den Hauseingängen sieht man auch, wenn man nur hinsieht. Auf dem Weihnachtsmarkt etwa, den ich gerade für das Goethe-Institut beschrieben habe, lag eine solche Gestalt hinter einer wohlduftenden Bude für Schmalzgebäck. Ein Mann lag da auf dem Straßenpflaster und schlief, in einem zerfetzten Schlafsack, direkt hinter den Lichtern des Marktes. Er kam in meinem Text nicht vor. Klischees, Klischees, ich weiß, aber es ist eben noch so. Es wird vielleicht auch immer so sein, was weiß ich.

An der Straße, die ich täglich zum Einkaufen entlang gehe, stand schon vor der Pandemie immer eine Bettlerin, jeder kannte die, immer an der gleichen Stelle stand sie. Heute stehen auf diesem Weg manchmal mehr als zehn bettelnde Menschen, zwölf waren es neulich, und diese eine Bettlerin, die da immer schon stand, rief mir gestern zu: „Ich krieg jetzt gar nichts mehr!“

Ich habe in den letzten Monaten oft erwähnt, dass die Schlange vor der wöchentlichen Essensausgabe der Kirche im letzten Jahr immer länger wurde. Ich könnte hier am Küchenfenster gewisse Szenen von Dickens lesen oder hören und dabei runter auf diese Schlange sehen. Sie machen sich keinen Begriff, wie das passen würde, es ist vollkommen absurd, besonders bei gewissen Wetterlagen, wenn es nass und kalt ist und die Menschen eng an den Wänden stehen und etwas Schutz suchen.

In der Weihnachtsgeschichte vom alten Geizhals Scrooge, Sie werden es vermutlich kennen, kommt auch Tiny Tim vor, der kranke Junge mit der viel kurzen Lebenserwartung. Es geht da um die unvorstellbare Härte, mit der ihm gesellschaftlich begegnet wird, und später dann, eh klar, geht es um die rettende Liebe und Wohltätigkeit, wie oft bei Dickens. Auf Twitter sah ich gestern (und es ist kein Gestern, dass ich hier aus dekorativen Gründen einfüge, es war tatsächlich gestern) wie jemand unter eines dieser öfter zu sehenden Hilfsgesuche für kranke Kinder schrieb, es war zufällig ein kleiner Junge, um den es da ging, dass es doch gut sei, wenn die Natur das Schwache aussortieren würde, da müsse man dann nichts mehr machen. Das war eine bemerkenswert exakte Spiegelung eines Absatzes von Dickens, das kommt im Buch so vor, fast textgleich sogar. Ich höre und lese diese Bücher aus dem Neunzehnten Jahrhundert eigentlich, um dem Jetzt gelegentlich zu entkommen. Es ist eine Übung, die nicht einfacher geworden ist in den letzten Jahren.

Ich habe also die Booster-Impfung, von der jetzt alle reden. Ich bin etwas angeschlagen, aber auf diese angenehme Art, als sei ich leicht krank und könne ruhig mal einen Tag entspannt im Bett bleiben und das vielleicht sogar genießen. So mittelgrippig, aber schon auf dem Weg der Besserung.

Die Söhne gehen noch einmal zur Schule, es ist endlich der letzte Tag vor den Ferien. Es wurde auch Zeit, niemand kann hier noch. In einer Schulmail wurde gestern gebeten, dass sie alle Sachen mit nach Hause nehmen, die Bücher, die Hefte, die Ordner. Nur zur Vorsicht, versteht sich, denn man wisse ja nicht, wie der Januar … Well. Here we go again.

Aber erst einmal Weihnachten. Bloß nicht zu weit nach vorne denken, es könnte uns verunsichern.

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Winterliche Verdichtung

Am Sonntagmorgen heult Wind ums Haus und greift kaltfingrig ins spaltoffene Dachfenster, dass es knarrt und sich regt. Ich schließe das Fenster, ich koche Kaffee, ich mache die Heizung an. Die rauscht heute auf einmal wie ein Bach im Gebirge, es plätschert, es gurgelt, das Wasser steigt in den Rohren. Eine winterliche Verdichtung der Klangkulisse, die gut zum Wetterbericht passt, in dem wieder einige Schneeflockenpiktogramme zu sehen sind. Ich trinke Kaffee, ich sehe aus dem Fenster. Auf dem Dach des großen Hotels gegenüber weht eine Fahne stramm im Wind und etliche Krähen flattern da oben immer wieder um sie herum, als würden sie mit ihr spielen. Sie landen abwechselnd auf dem Fahnenmast, sie fliegen unter der Fahne durch und dicht darüber weg und dann im Kreis um sie herum, sie weichen knapp aus, wenn das Tuch in einer Böe hin- und herschlägt. Es ist vielleicht ein Windspiel, ich höre ihr Krächzen, es klingt belustigt.

Am alten Haus gegenüber steht noch das große Gerüst, Leitertreppen führen von Stockwerk zu Stockwerk, bis über unser Dach hinweg, bis hinauf zum geschwungenen Giebel. Mir fiel in den letzten Tagen auf, dass Vögel dieses Gerüst gut finden. Meisen turnen umtriebig an dem engmaschigen Netz davor herum, Spatzen erkunden laut diskutierend die Bretter, Verstrebungen und Winkel und bilden Banden darin. Eine Elster saß eine Weile oben auf dem höchsten Pfeiler und genoss ihre neue Warte. Heute sehe ich eine Rabenkrähe, und was für eine. Ein anderes Kaliber als die Saatkrähen ist das, die hier sonst durch die Gegend vagabundieren und kleinkriminell in den Bäumen auf dem Spielplatz herumlungern. Dieser besonders große Vogel hüpft jetzt die eisernen Treppen hoch, Stufe für Stufe, von ganz unten bis ganz oben, sechs Stockwerke immerhin auf diese Art, das dauert eine Weile und eilig hat er es ganz und gar nicht. Auf den Absätzen hält er jeweils kurz inne und sieht zurück, guckt dann auch nach oben, legt den Kopf schief, ach guck, noch eine Etage. Ein würdevoller Hupf auf die erste Stufe, ein Hupf auf die zweite Stufe, und dann immer so weiter. Und wie die Krähen an der Fahne wirkt auch diese hier amüsiert. Ich bin mir nach einer Weile sicher, die macht das da aus Spaß. Man hat ihr ein riesiges Klettergerüst gebaut! Wie nett von den Leuten. Als sie ganz oben ist, plustert die Rabenkrähe ihr Gefieder einmal wohlig durch, streckt die Flügel und besieht sich die Gegend unter ihr. Sie sieht auch mich in meinem Dachfenster und guckt mich eine Weile von oben herab durchdringend an. „Ra“, sagt sie dann in beeindruckend vollem Rabenvogelbariton, und ich lasse das mal so stehen und nicke ihr nur zu.

Ich lese weiter in den Tagebüchern von Patricia Highsmith. Es ist das Jahr 1942, mitten im Zweiten Weltkrieg, sie schreibt: „Die Japaner konnten in Java große Erfolge verbuchen und haben Rangun, Burma gut im Griff. Nicht so gut, nicht so gut beim Mittagessen. Ich bin deprimiert, wenn ich dunkle Kleidung trage, wenn meine Haare nicht richtig liegen.“ So sind wir, anders können wir vermutlich auch nicht sein – die Welt geht in die Binsen, wir wissen es auch, aber es sind die Haare, die uns wirklich fertig machen. Rangun ist weit weg, aber die dunkle Kleidung hängt da über dem Stuhl. Alltag und Weltgeschichte, man muss beides irgendwie aushalten und zusammendenken, es gibt keine allgemeingültigen Vorgaben für die richtige Gewichtung. Wir sind vermutlich die einzige Art, die gleichzeitig die Welt und das Hier zur Kenntnis nehmen können, was haben wir uns damit nur eingehandelt. Schon daran darf man mit Fug und Recht verrückt werden.

Ein Sohn deckt den Adventsfrühstückstisch, Gläser mit frisch gepresstem Orangensaft kommen neben die Teller. Dann besieht er sich die Anordnung, überlegt kurz und vertauscht sein Glas schnell noch einmal mit dem seines Bruders, wohl damit er eines hat, das nicht seines war, nehme ich an. Ich frage ihn nach dem Grund: „Erbeutet schmeckt alles besser.

Man muss den Alltag und die Welt gar nicht nur aushalten, man kann auch etwas daran drehen. Kann man von jedem Kind lernen.

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Auf den Tag genau

Ich gehe mit einem Sohn in die Stadt, um für den Geburtstag der Herzdame etwas zu besorgen. Wir gehen in drei Läden und erleben dabei die Dreifaltigkeit der pandemiebedingten Checkmöglichkeiten, es wirkt heute wieder arg drehbuchmäßig. In einem Laden will man alles genau sehen, die Impfzertifikate und die Ausweise. Im zweiten Laden reicht schon der flüchtige Blick auf die erhobenen Handys, dann bereits das lässige Durchwinken. Im dritten Laden will man, da wird es originell, nur die Ausweise sehen, guckt kurz auf unsere Namen und nickt dann. Da war jemand überarbeitet, nehme ich an, es war auch schon spät am Tag. Ich habe tendenziell Verständnis für überarbeitete Menschen, ich stehe gerade auch eher neben mir als mitten im Leben. Keiner der Läden ist voll. Das ist mir angenehm, aber geschäftlich muss man doch Bedenken haben, to say the least. Es ist ein merkwürdiges Bild: Die Stadt ist voll, sogar sehr voll, mit Gedränge und Geschiebe, die Läden und die Restaurants, Kaffees etc. sind es aber nicht. Die Weihnachtsmärkte stehen noch, aber sie werden in diesem Jahr früher beendet, lese ich. Aus wirtschaftlichen Gründen.

Die Söhne gehen zur Schule. Immer weiter der Druck, die Anforderungen, die Zensuren. Wir lernen Grammatik. Ich kann nicht mehr, du kannst nicht mehr, er, sie, es kann nicht mehr. Repeat after me, encore une fois. Bei dem einen Sohn geht es gerade um defining and non-defining clauses. Was da was ist und wo dabei die Kommas sind. Ich starre das Thema an, ich denke nach, ich denke angestrengt nach – ich habe nicht die leiseste Erinnerung, davon jemals etwas gehört zu haben. Sonst habe ich zumindest eine vage Ahnung von den Themen in den Schulbüchern, jedenfalls bis etwa zu 8. Klasse, bei diesem Kapitel habe ich vielleicht damals gefehlt, denke ich. Die Windpocken? Die hatte ich irgendwann in dem Alter, das kommt vielleicht hin. The chickenpox gap. Ich hatte mich damals mutwillig angesteckt, um nur bloß nicht mehr in die Schule zu müssen, da sehen Sie mal, wo solche Dummheiten hinführen – ein paar Jahrzehnte später hat man auf einmal ein Problem damit. Das also lieber nicht nachmachen, es holt einen alles wieder ein. Die Windpocken auch, das schlafende Virus, ja, ja, ich weiß.

Ich lese meine Tagebücher nach, das mache ich immer zum Jahresende, wenn der Urlaub endlich beginnt. Ich bestehe zu einem so großen Teil aus Ritualen, die katholische Kirche ist im Vergleich zu mir spontan und flippig. Ich lese die Jahre 2020 und 2021. Darin gleichen sich einige Abläufe und Meldungen dermaßen, dass es ausgedacht wirkt, manipuliert und planvoll zurechtgebogen. Eine Anmerkung zu Lockdownvermutungen in Deutschland und eskalierenden Fallzahlen in UK wiederholt sich auf den Tag genau. Ich lese die Stelle aus dem letzten Jahr, ich lese danach noch einmal die Stelle aus diesem Jahr. Ich lese beides erneut, es sieht aus wie copy & paste. Ich ahne, dass man das später nicht mehr plausibel finden wird, was dort steht, dass nicht einmal ich selbst das noch plausibel finden werde, schon in ein paar Jahren nicht mehr. Aber das gilt vielleicht auch für die oben beschriebenen Szenen in den drei Läden. Glaube ich mir das später noch? War das so? Das war so, ich weiß es heute. Die Pandemie hat Begleiterscheinungen und Umstände, Szenarien und Abläufe, die wird man später nicht gut erzählen können. Sie sind zu flach, zu absehbar, zu billig.

Ich lese im Internet einen Artikel quer, es geht um FFP2-Masken für Kinder, die sollen denen nicht gut passen, steht da, die taugen eher nichts. Die Tür geht auf, die Herzdame kommt herein: „Ich habe in der Apotheke eben FFP2-Masken für Kinder gesehen und mitgebracht.“ Was sind das für Szenen, was ist das hier, eine Vorabendserie?

Nur noch ein paar Tage bis Weihnachten, bis Neujahr, bis zur mittlerweile sicher erwarteten Omikronwand. Ich gehe abends an einem kleinen Weihnachtsmarkt im Stadtteil vorbei, die dort noch Trinkenden singen gerade in fröhlicher Runde das Lied aus den Lautsprechern mit, die Version ist von der Hermes House Band: „Que sera, sera.“ Auch das ist so, ich sehe das, ich höre das. Aber das kann man doch keinem erzählen, was ist das denn für ein Niveau.

Vor einem anderen Weihnachtsmarkt stehe ich in der Schlange am Einlass. Die üblichen Kontrollen, der Mann von der Security sagt zu jeder und jedem, nachdem er alles genau geprüft hat, mit einem Fingerzeig zum QR-Code der Location: „Bitte einchecken und viel Spaß.“ Das vielleicht schon einmal vormerken für Silvester, damit dann das neue Jahr begrüßen, es wird schon passen, wir sarkastisch auch immer: Bitte einchecken und viel Spaß.

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Der geht ab

Es ist auf einmal wieder warm draußen, piwarm, lauwarm, geradezu widerlich warm ist es. Mein Kreislauf und ich lehnen das entschieden ab und wir verweigern beide dies und das, etwa das Mitmachen. Das Home-Office fällt mir heute einigermaßen schwer, aber die Pflicht, die Pflicht, das stete Bemühen, und dann ist es nach endlosen Stunden wieder ein Werktag weniger. Man nähert sich.

Ich weiß nicht, welche Musik ich hören soll. Ich finde alles nervtötend, ich knurre den Streamingdienst am frühen Morgen schon an, los, überrasch mich. Der Streamingdienst sagt wie immer, ich solle modernen Songwritern beim Winseln zuhören, ich möchte das nicht. Ich fragen einen Sohn, noch bevor er zur Schule geht, welche Musik er gerade hört, ich denke, ach komm, hörste eben mal was ganz Modernes, raus aus dem letzten Jahrhundert, raus aus dem Folk, aus dem Jazz, aus dem Blues, raus aus den ollen Gewohnheiten. Ruhig auch mal auf die Gegenwart achten, denke ich mir, beim Schreiben machste das ja auch so, da stehste doch so auf die Gegenwart oder was, und das sind ohnehin immer spezielle Tage, wenn ich mich schon selbst so flapsig anrede.

Ich frage also den Sohn, was er gerade so hört. Der Sohn nimmt die Kopfhörer kurz ab und sagt: „AC/DC und Iron Maiden.“ Okay. Das muss auch schön sein, sich so durch die Musikgeschichte zu arbeiten, alles noch vor sich zu haben. Kurz sehe ich vor dem inneren Auge das Zimmer eines Schulfreundes von damals, der hatte ein Iron-Maiden-Poster an der Wand. Wer war das noch? Längst habe ich es vergessen. Ich frage den Sohn, ob er auch Motörhead kenne, der Sohn sagt nein. Ich frage den Sohn, ob er denn wisse, dass ich mal wegen des lauten Hörens von Motörhead während des Unterrichts einen Tadel in Deutsch bekommen habe, ob ich das schon mal erzählt habe – der Sohn stöhnt und entflieht eilig.

Ich klicke im Streamingdienst bockig irgendwohin, ich finde eine Phonk-Playlist. Ich habe noch niemals etwas von dem Begriff Phonk gehört, was ist das nun wieder. Ich lese das nach, ich höre zehn Minuten Phonk, dann höre ich Drift-Phonk, es verzweigt sich immer alles. Danach habe ich noch schlechtere Laune.

Egal. Ich klappe das Notebook zu, ich gehe raus. Vor dem Discounter steht einer mit freiem Oberkörper und tanzt. Lange Haare hat er, die wirft er wild herum und vergleichsweise happy sieht er dabei aus, was allerdings auch kein Kunststück ist, wenn man sich die Passanten so ansieht, man wirkt hier im Vergleich recht schnell exaltiert und vergnügt, dafür würde auch schon das dezente Heben eines Mundwinkels reichen. Zu welcher Musik tanzt der da? Die hört nur er, die Musik, und nicht einmal über Kopfhörer, nein, die hört er einfach so, ganz ohne alle Hilfsmittel, die wird wohl nur in seinen Gedanken abgespielt. Er hat die Bässe im Kopf, ich dagegen kann den Rhythmus nicht hören, der da vermutlich in seinem Hirn wummert, ich kann den Beat nur sehen, an den wedelnden Armen, an den wirbelnden Haaren, an den wippenden Füßen kann ich ihn erkennen, schnelle Musik wird es sein. Der Mann ist ein autonomer One-Man-Rave, der geht ab, und wie der abgeht.

Und die, die zum Discounter wollen, die gehen nur rein. So wie ich.

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