Söhne, Handwerker, Angeber

Julia Karnick über Söhne und Computerspiele: “Wenn Mütter von Vorschlaghämmern träumen.

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Wir haben in Erwägung gezogen, wegen eines technischen Problems im Garten einen Profi, also einen Handwerker anzurufen. Darüber lachen die Parzellennachbarn vermutlich in zehn Jahren noch. Manchmal kommt man sich ja als Büromensch schon etwas minderbemittelt vor. Und, wo wir doch in diversen Blogs gerade über die Fähigkeiten sprachen, die man in der postapokalyptischen Welt braucht, hier ein ganz heißer Tipp: Haltet Euch nach der Apokalypse einfach an Schrebergärtner. MacGyver ist gar nichts dagegen.

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Ich denke ansonsten immer noch über meine Zugfahrten nach Berlin und zurück nach, die Sache mit den Handys lässt mir keine Ruhe. Im wahrsten Sinne des Wortes nicht, denn im Ruhebereich haben da alle lauthals telefoniert, Telefonate scheinen also gar nicht unter Unruhe zu fallen. Und wenn man sich fragt, was denn dann überhaupt noch unter Unruhe fällt, dann weiß man als Elternteil natürlich sofort die Antwort: Kinder vermutlich. Kinder stören, das weiß man, das hat man schon erlebt, Telefonate stören eher nicht so, das ist wohl das allgemeine Empfinden. Und das ist ein wenig seltsam, denn mich z.B. stören Telefonate erheblich. Kinder können ebenfalls stören, mich auch, versteht sich, aber Telefonate stören mich viel mehr. Gebellte Business-Erfolge stören mich sogar massiv, insbesondere bei den Leuten, die extra laut reden, und wenig sind das ja nicht, die da ihre prächtigen Verkäufe preisen, ihre Deals, ihre Projekte, Abschlüsse und so weiter. Sie telefonieren mit Genuss, der Eindruck drängt sich auf, und zum Genuss gehört es wohl, dass andere ihnen unbedingt dabei zuhören müssen.

Seltsam daran ist ja, dass so etwas dann ein ziemlich klarer Fall von Angeberei ist. Um einen herum sitzen im Zug lauter Angeber, warum eigentlich? Wenn man Kinder hat, dann hört man oft mit erheblicher Missbilligung vorgebrachte Kritik an Angebern in der Klasse oder in der Kitagruppe. Niemand mag Angeber, und zwar von Anfang an nicht. Kindergruppen sind sich ganz schnell einig, wer ein Angeber ist und wer nicht, das Urteil fällt schnell und vermutlich auch oft richtig, denn die Betroffenen geben sich ja bekanntlich alle Mühe, gut erkennbar zu sein. Für die klassifizierten Angeber und Angeberinnen ist es dann recht schwer, überhaupt noch Sympathiepunkte zu erreichen, die Angeberei ist einfach zu störend. Die Lage an der Basis der Gesellschaft ist also ganz einfach: Angeber sind doof und auch noch leicht zu identifizieren.

Warum ist dann aber der ganze ICE voll von Angebern, die beruflich erfolgreich sind? Denn das sind sie wohl, selbst dann, wenn man von ihren so überaus selbstgefälligen Schilderungen 50% abzieht, da bleiben immer noch genug Leistungen übrig und sie haben ja auch keine schlechten Jobs bei schlechten Firmen, das weiß man, denn sie erwähnen diese Firmennamen oft und deutlich genug, möglichst minütlich. Sie haben also etwas erreicht, alle scheinen sie dauernd etwas zu erreichen. Ist es am Ende so, dass wirklich niemand Angeber mag – außer Personalentscheidern?

Der andere Umstand, der mich immer noch irritiert, ist die in nahezu allen Gesprächen recht deutlich zum Ausdruck gebrachte Verachtung der jeweils anderen. Die anderen, also die Konkurrenten, die Kolleginnen, die Vorgesetzten, die Untergeben, die Kunden, wie auch immer – das sind immer die Dummen. Die trickst man aus, die hintergeht man, die legt man irgendwie rein: “Das merken die eh nicht.”

Und wenn man so in einem ICE sitzt, zwischen sechs, acht Handygesprächen, in denen jeweils die anderen die Doofen sind, dann kann man gar nicht mehr daran vorbeidenken, dass doch alle diese Telefonierenden auch selbst jeweils die anderen sind – und damit also die ganze Geschäftswelt auf der angenommenen Blödheit der anderen beruht und auf der kaum versteckten und eigentlich eingepreisten allgemeinen Absicht, alle zu betrügen und zu belügen.

Das ist jetzt natürlich keine umwerfende Erkenntnis, schon klar, darauf sind schon zwei, drei Leute vor mir gekommen. Aber man kann doch zwischendurch noch einmal kurz feststellen: Ein sinnstiftendes System ist das doch eher nicht, was wir da haben.

Kamma so machen, wa

Sven greift die Apokalypse-Frage auf und kann viel mehr als Patricia und ich. Aber er kennt keine essbaren Kräuter und wird also bald ein Skorbut-Problem haben, so ganz ohne Giersch. Irgendwas ist immer!

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Immerhin kenne ich jetzt seinen Vornamen.

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Ein langer Bericht über einen sehr großen Garten.

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Ich war einen Tag beruflich in Berlin. Berlin war wie immer, sehr warm und sehr freundlich, quasi Urlaubsparadies.

Am Hauptbahnhof habe ich eine längere Zeit skeptisch auf den S-Bahn-Plan gestarrt, ich neige nämlich dazu, mich in Berlin zu verfahren. Währenddessen stand ein telefonierender Handwerker neben mir, der immer nur “Kamma so machen, wa” sagte – und wenn jemand so einen Satz fünf-, sechsmal wiederholt, dann zähle ich unwillkürlich immer irgendwann mit und frage mich, ob er auch noch eine zweistellige Zahl erreicht, wie weit er wohl mit diesem einen Satz kommt. Aber bei der Wiederholung Nr. 12 bin ich dann in meine Bahn gestiegen – und es war auch die richtige Bahn. Kamma so machen, wa.

Ein paar Stationen weiter schließen sich die S-Bahntüren gerade, als eine junge Frau noch reinspringt, in allerletzter Sekunde, wirklich verdammt knapp. Und sie springt nicht irgendwie, nein, sie landet in einer Ballettfigur, wobei ich da vollkommen kenntnisfrei bin, sagen wir also lieber in einer Tanzfigur, filigran und formvollendet jedenfalls, so eine Figur, die Sie und ich nicht könnten, nie im Leben könnten wir die, alle Zehen würden wir uns brechen und dann die Schmerzen im Rücken und in den Knien, schon die Vorstellung! So eine Figur also, bei der man gleich sieht, die macht das wohl beruflich. Musical, Ballet, Showtanztruppe, irgendwas, in Berlin wird es ja einen Arbeitsmarkt in der Richtung geben.

Und die junge Frau richtet sich jedenfalls wieder auf aus ihrem balletthaften tiefen Knicks, lächelnd richtet sie sich auf und das Lächeln ist so ein ganz eigenes, ein ganz privates Lächeln ist das, weil sie vermutlich einfach mag, was sie kann und weil sie gerade mit sich zufrieden ist und weil sie das keineswegs für das Publikum getan hat, sondern weil es eben geht und ihr gerade einfach so in den Sinn kam. Ringsum gibt es auch kaum Reaktionen, hier und da ein anerkennendes Nicken, eher nur angedeutet. Und ich weiß nicht recht, ich kann mich täuschen, aber in Hamburg hätte es vermutlich Applaus gegeben. In Berlin kannste aber mit ner doppelten Drehung in die Bahn springen, auf den Zehenspitzen landen und drei Schritte Spitzentanz anschließen, doch, das ist ja nicht verboten – das ist dann aber erstmal deine Sache. Das kamma so machen, wa. Das muss aber noch lange nicht alle interessieren.

Und ich mag auch das an Berlin.

Ziegengehölze und Nachtfrösche

In Hamburg gastiert die Ausstellung “Zwei Millionen Jahre Migration”, bei der man schon den Titel großartig finden muss.

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Im Garten orientiert man sich am phänologischen Kalender, der hängt hier auch ausgedruckt über meinem Schreibtisch, also eine Version davon, es gibt viele. Der ist allerdings so winzig gedruckt, dass ich mir das von Sohn I vorlesen lasse, wenn ich etwas wissen will, die Augen, das Alter, Sie kennen das. Jedenfalls hat sich der Sohn da mehrfach so gut verlesen, dass wir die neuen Ausdrücke einfach in unseren Sprachgebrauch übernehmen, wieder so ein Fall, bei dem sich Nachbarn irgendwann wundern, ob wir eigentlich alle irre sind, wir reden so seltsam. Aus Ziergehölzen wurden so Ziegengehölze, sehr schön und einprägsam, was kommt da vorne in die Lücke? Ach egal, da pflanzen wir irgendein Ziegengehölz. Und aus den Nachtfrösten wurden die Nachtfrösche, das sind recht gefährliche Tierchen, die ein Risiko für die jungen Pflanzen und auch für blühende Obstbäume darstellen. Wenn Du nicht artig bist, dann holen dich die Nachtfrösche! Immerhin gibt es aber Nachtfrösche nur bis Mai, man muss da nicht ganzjährig Angst haben.

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Am Sonntag trotz Regen in großer Schlammschlacht Zitronenverbene, Blutampfer, Estragon, Thymian, Salbei, Blutjohannisbeeren, noch mehr Himbeeren, Gräser, noch einen Apfelbaum, viele Kartoffeln, dicke Bohnen, Möhren, Pastinaken, Erdbeeren, Gänsekresse, Vergissmeinnicht sowie diverse andere Stauden und Blumen gepflanzt oder gesät. Läuft.

Unter den seit Saisonbeginn bereits in der Erde befindlichen Sorten führen die Radieschen, dicht gefolgt von der Rauke. Mairübchen aufholend, Zwiebeln schwer vergleichbar. Der Knoblauch ist aus dem letzten Jahr, der wächst außerhalb der Wertung. Und weil ich im Arbeitswahn irgendwann eine Schippe Erde vom falschen Haufen genommen habe, wurde ein Hochbeet von mir eigenhändig mit Giersch bepflanzt. Muss man auch erstmal hinbekommen.

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Mein Bruder hat währenddessen bei seiner Ahnenforschung herausgefunden, dass wir auch Vorfahren aus Schilda haben. Daher!

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Patricia Cammarata über ihre Unbrauchbarkeit nach der Apokalypse. Bis vor kurzer Zeit ging es mir auch so, jetzt kann ich immerhin nach der Apokalypse durch die Gegend ziehen und als Kräuterheinzel vom Dienst darauf hinweisen, dass Giersch essbar ist. Und alle so: “Wow, danke, du weiser Mann!”

Hisst die Ranzen!

In meiner Kindheit haben wir ja noch begeistert alte Abenteuerfilme gesehen, Hollywood ganz damals, Errol Flynn in schwarzweiß und dergleichen. Und gerade bei den See-Abenteuern gab es da eine stets wiederkehrende Szene. Wenn Sie ein gewisses Alter haben, dann werden Sie sich gewiss auch daran erinnern, weil sie immer gleich ablief, die Sache mit dem aufkommenden Sturm. Zuerst wurde da in aller Gründlichkeit Ruhe bildlich dargestellt, ein an Deck schlafender Matrose, eine sacht schaukelnde Hängematte, ein dösender Kapitän, Langeweile im Ausguck, lustlos herabhängende Fahnen, so in der Art, das war stets so lang, das würde heute kein Mensch mehr so machen. Dann eine Art scharfer Weck-Moment, heftig auffrischender Wind, eine einzelne Schaumkrone, klappende Schotten, fallende Gläser, sich unvermittelt gewaltig bauschende Segel, so in der Art.

Danach dann ohne langen Übergang plötzlich hereinbrechender Sturm. Daran ganz wichtig herumlaufende Mannschaften, immer liefen da Menschen von links nach rechts und dann von rechts nach links und auch von hinten nach vorne und umgekehrt durchs Bild, Panik im Blick, auf irgendein dem Zuschauer unklar bleibendes Ziel los. Die mussten dann natürlich irgendwas tun, irgendwo hinaufklettern, hinunter, an etwas drehen, ziehen, drücken, riesige Räder bewegen, Winden, Segelstoffmassen, Tampen, Zeug eben, schwere Arbeit, entsetzliche Anstrengungen unter absurden Bedingungen. Verlässlich gab es dabei einige Verluste, irgendwer ging mit den wilden Wogen über Bord, je nach Film war das den anderen egal oder löste immer schlimmere Panik unter den Verbliebenen aus. Brecher stürzen dann mit immer größerer Gewalt durchs Bild, Segel reißen mittendurch, Taue sowieso, die Hand des Steuermanns klammert sich ans Holz, hervortretende Adern in Großaufnahme, dazu immer wieder gebrüllte Befehle, die im Orkan aber niemand verstehen kann, dennoch rennen alle immer weiter in allen Richtungen durchs Bild. Und wenn sie nicht gerade rennen, dann halten sie sich an etwas fest oder rufen etwas, so seemmännische Sachen und furchtbare Flüche eben, die muss man auch gar nicht alle verstehen.

Wolken jagen über den Himmel, Mondgeblinke, Windgeheule, ein wild kreiselnder Kompass, dann passiert irgendwas, das man als richtig schlimm einzustufen hat, der Hauptmast bricht oder so etwas, der Steuermann weht weg, ein schroffes Riff taucht auf, es sieht insgesamt überhaupt nicht gut aus, in der nächsten Szene dann aber – abrupter Schnitt! – liegt das Schiff irgendwo im Hafen, beschädigt aber erhalten, die Hauptfiguren besprechen auf Holz klopfend die Schäden an Deck und in der Takelage und wie es jetzt weitergeht, dazu blauer Himmel, Südseerequisiten, ein Papagei fliegt durchs Bild. Der Film ist noch lange nicht zu Ende.

Na, so in der Art. Genau so fühlt es sich hier jedenfalls jeden Morgen an, eine Mannschaft aus vier Personen durch die Wirren der ersten Tagesstunde zu bringen, vom ersten Weckerton durch das allgemeine Herumgerenne an Deck bis zu dem erlösenden Moment, in dem ich im Büro ankomme, mich da völlig fertig auf den Stuhl sinken lasse und noch einmal kurz überlege, ob wirklich alle Personen auf die richtigen Arbeits- und Schulplätze verteilt worden sind. Genauso ist das.

Nur ohne Papagei.

Kurz und klein

Heute fresh

Es war interessant zu beobachten, dass die Herzdame die Kommentare unter der letzten Giersch-Erwähnung im Blog genau zur Kenntnis genommen und danach auch folgerichtig nichts mehr gegen die Wurzeln unternommen hat. Es ist nicht so, dass ich ihr dass nicht auch schon erzählt gehabt hätte, mehrfach sogar, aber was zählt hier schon meine Meinung, ich bin ja nur der Gatte, der redet eben so vor sich hin. Wenn das aber jemand aus diesem Internet kommentiert, dann wird es schon stimmen. Guck an!

Ich muss also bei etwaigen ehelichen Problemen nur so zielgenau bloggen, dass Kommentare in der richtigen Richtung sehr nahe liegen und auch zahlreich geschrieben werden, zack, ist hier alles wieder auf Linie. An dem Konzept muss ich bei Gelegenheit doch mal etwas ernsthafter arbeiten.

Und weil bei Erwähnung des Wortes “Giersch” immer gleich mehrere Menschen reflexmäßig und enthusiastisch “Kann man aber essen!” rufen, habe ich jetzt auch einmal darauf herumgekaut. In einem Buch wird der Giersch als unkompliziertes Wildgemüse bezeichnet, das jederzeit fröhlich nachwächst, in einem anderen Buch stand, der Giersch habe zu Weltkriegszeiten zur Vitaminversorgung der darbenden Bevölkerung beigetragen. Dann kann man ihn also auch als historisch interessierter Mensch probieren, ein Grund mehr! Aber als neuer Gartenbesitzer muss ich eh alles auf der Parzelle einmal angebissen haben, finde ich, also außer Eisenhut, Fliegenpilz und Laube jedenfalls, keine Sorge.

Nun ist der Giersch im Moment noch sehr klein und die Miniblättchen, die man jetzt so findet, schmecken einfach diffus krautig, leicht wild, mit Heuaromen im Abgang und vielleicht einem ganz zarten Anklang von Rauke. Das kann man also machen, wenn dieses Büschelchen denn repräsentativ war und sich in dieser Richtung weiterentwickelt. Die beiden Achtjährigen, die mich begleitet haben, fanden das Kraut geschmacklich “voll okay”, da staunt man doch. Eventuell lade ich mir einfach einmal eine hungrige Grundschulklasse in den Garten ein und habe dann eine Weile freie Beete. Ich werde den Giersch jedenfalls demnächst einmal salatifizieren und dann auch noch als Wildspinat zubereiten, wie es immer empfohlen wird, und die Ergebnisse gibt es dann natürlich hier, eh klar.

Laut Wikipedia sagt man in Lübeck und Mecklenburg übrigens Gesch zu Giersch, dieses Wort habe ich allerdings noch nie gehört, zumindest habe ich nicht die leiseste Erinnerung daran. Wenn man in der Kindheit nicht dauernd aufpasst!

Heute fresh: Gesch.” Hätte ich einen Smoothieladen in Lübeck, ich würde das Zeug genau so bewerben, aber ich sitze ja nun einmal in einem Hamburger Büro. Schlimm.

Keine Kompromisse

Letzte Woche, ich gehe auf dem Heimweg von der Arbeit eben in einen Discounter. Lange Schlangen vor den Kassen, es stockt, irgendwas ist mit dem System oder so, es dauert, die Leute werden unruhig, genervtes Stöhnen überall. Vor mir unterhalten sich zwei Männer, es klingt etwas schärfer, der eine beschwichtigend, der andere aufbrausend. “Doch!” höre ich immer wieder und “Aber nein!” und so etwas, Diskussionstrümmer und -randstücke, es dauert eine ganze Weile, bis sich mir erschließt, worum es da geht, aber bitte, es hat ja alles Zeit, man steht da ja eh nur herum und besieht sich die Einkaufswagen der anderen. Toffifee und Hühnerbrust und Schnittlauch, andere Menschen, andere Abendessen.

Dumm ist das aber keineswegs, worüber die Herren da reden, die reden nämlich über Philosophie und die Art, wie man leben soll. Der eine im Hier und Jetzt: “Ich überschaue nur die nächste halbe Stunde, und nicht einmal die ist gewiss! Um den Rest kümmere ich mich nicht! Niemals!” Er vertritt das mit Vehemenz und landet dann bei einer feurigen Verteidigung eigener Entschlüsse, nieder mit den Umständen, alles immer selbstgemacht, mein Leben, meine Regeln, mir kann keiner, so in der Art, das kennt man aus der Geschichte der Philosophie, das füllt aber auch in jeder Buchhandlung einen halben Meter unter “Lebenshilfe/Ratgeber”. Der andere gibt immer wieder freundlich zu bedenken, dass es doch Zwänge gibt, familiärer Art, sozialer Art und so weiter, dass man doch vorsorgen muss, dass man sich hier und da ein wenig fügen muss, vieles bedenken muss. Sie finden sich beide ganz interessant, das merkt man. Ab und zu verebbt das Gespräch, aber beim nächsten Blickkontakt flammt es wieder auf, werden wieder Zeigefinger mahnend erhoben, immer noch einmal die Bruchstücke: “Keine Kompromisse!”, “Aber man muss doch …”, “Es gibt gar kein Müssen!”, “Es wäre doch aber vernünftiger …”

Kann man ja auch noch einmal drüber nachdenken, welche Regeln man selbst gemacht und welche übernommen hat, doch, das kann man tun, auch beim Einkaufen, warum denn nicht, wenn man schon in aller Deutlichkeit auf das Thema gestoßen wird. Wobei die Erfahrung zeigt, dass das Leben eh der Philosophie in die Quere kommt. Wenn ich z.B. überhaupt keine Kompromisse machen würde, ich würde doch nicht bei einem Discounter schafbrav fünfzehn Minuten in der Schlange stehen, nur um Billigjoghurt zu erwerben, wie der wilde Lebenskünstler da vor mir?

Aber was weiß ich schon.

14

Früher habe ich zu Bloggeburtstagen lange rück- und vorausblickende Artikel verfasst, in diesem Jahr habe ich ihn einfach vergessen, weil ich den ganzen Tag im Garten war. Aber das passt schon, denn das wird bei gutem Wetter noch öfter vorkommen, dass hier nichts kommt. In diesem ersten Gartenjahr müssen wir uns da eben etwas mehr Mühe geben, damit das nach was aussieht und man womöglich auch noch etwas ernten und sogar essen kann. Die entsprechenden Bildbeweise folgen dann, wie auch immer die Erfolge bei so ahnungslosen Menschen wie uns ausfallen können. Rauke, Zwiebeln, Knoblauch wachsen immerhin schon, die Heidelbeeren treiben auch programmgemäß aus, ebenso die Him-, Stachel- und Johannisbeeren und der Rhabarber. Geht doch!

Der Giersch treibt allerdings auch aus. Die Herzdame hat gestern angefangen, ihm großflächig an die Wurzeln zu gehen, es war die beeindruckende Verwandlung einer normalen Bürgerin in eine rotglühende Killermaschine, die über ein Vokabular verfügt – ich hatte gar keine Ahnung. Und alle Nachbarn: “Sie hat doch immer so nett gegrüßt.” Ich stand nur freundlich lächelnd dabei, denn ich kann ja wegen der kaputten Hand gerade nicht so viel machen, ich freute mich aber doch, dass sie ein Ventil für dubiose Gefühle gefunden hat, so etwas ist ganz wichtig für den modernen Menschen, der am Wochenende nicht mal eben zum Plündern und Brandschatzen ziehen darf, um nach einer langen Arbeitswoche wieder runterzukommen. Dann geht es eben gegen den Giersch.

Vierzehn Jahre ist das Blog jetzt jedenfalls seit ein paar Tagen alt, da müssen wir uns allmählich fragen, ob es so etwas wie eine Blogpubertät gibt. Da mal drüber nachdenken! Aber erst später, vorher gehe ich wieder in den Garten, eine Reineclaude pflanzen. Eine Reneklode. Wie auch immer. Eine Eierpflaume. Egal.

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Wir sind viele. Pluralis viralis, höhö. Pardon, manche von uns wollten darüber gar keinen Witz machen.

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Mikroplastik in Komposterde. Es ist übrigens auch einigermaßen erstaunlich, welche Mengen an Plastik und Hausmüll wir gerade im Garten ausbuddeln. Die Ferkeleien aus den 70er, 80ern und 90ern, da kommt was zusammen, und damals war das keineswegs Mikroplastik, das waren recht große Teile.

Hefte raus, Klassenarbeit

Um das mit den Klischees aus dem letzten Eintrag noch etwas zu vertiefen, hier zwei Szenen aus der letzten Woche, sie passierten beide an einem Tag, ganz kurz hintereinander, keine dreißig Minuten dazwischen und keine fünfhundert Meter. In jedem Drehbuch würde man die rot anstreichen, viel zu platt. Aber was solls, das Leben scheint platt zu sein. Oft zumindest. Zwei Szenen zum Medienkonsum also, erschreckend lieb- und einfallslos zusammengestellt vom Leben selbst, vom Schicksal, wie auch immer.

In einem großen Supermarkt geht eine Mutter laut zeternd hinter ihrer stur aufs Handy starrenden jugendlichen Tochter her. Sie schimpft dabei so laut, dass sie auch noch ein paar Regale weiter gut zu verstehen ist, entsprechend unendlich genervt sieht der Gesichtsausdruck der Tochter aus. “Ich nicht mehr!”, ruft die Mutter, “ich jedenfalls nicht mehr! Ich passe jetzt nicht mehr auf, dass du nicht überall gegenrennst!” Und die Tochter sagt in diesem Tonfall, den alle aus eigener Erfahrung kennen, die schon einmal pubertiert haben: “Ja, ja.” Und mehr sagt sie nicht, natürlich nicht, was sollte sie auch sagen. Die Mutter bremst abrupt ab und biegt dann in den Gang mit den Nudeln ab. Die Tochter guckt nicht hoch, starrt weiter aufs Handy, wiederholt nur roboterhaft und unsäglich gelangweilt “Ja, ja” um drei Meter weiter dann ungebremst gegen eine verspiegelte Säule zu latschen, dass es ihr durch den Aufprall glatt die Brille zerlegt. Es spricht dabei übrigens sehr für die Mutter, dass sie sich keine Äußerungen des Triumphs zugestanden hat, es umspielte nur ein hauchfeines Lächeln ihre Lippen, als sie kurz darauf in helfender Absicht zu ihrer Tochter ging, die gerade ihre Brillenteile einsammelte, sehr rot im Gesicht.

In der Zentralbücherei geht dann eine Frau in meinem Alter, Typ Oberstudienrätin, womit Sie jetzt vermutlich ein Bild im Kopf haben, eher als bei “Typ Germanistin” jedenfalls, wobei man unter Umständen an Nora Tschirner mit Bleistift im Mund denkt, das ist hier aber nicht gemeint, außerdem gehen Germanistinnen wohl eher in die Staatsbibliothek, aber ich schweife ab und grammatikalisch geht dieser Satz auch nicht auf, don’t try this at home. Typ Oberstudienrätin also, was auch immer Sie sich jetzt dabei denken, so etwas meint ja auch die Begleitumstände, Szeneviertel, Altbau, Rotwein und der Mann ist Architekt, in Romanen kriselt die Beziehung dann schon auf Seite drei, ist klar, aber darum geht es auch nicht. Mit einem Stapel Bücher unterm Arm geht sie da durch die Regalreihen, die Oberstudienrätin mittleren Alters. Auf dem Stapel obendrauf ein aufgeschlagenes Buch, sie liest beim Gehen, und weil die Bücher einerseits rutschen, das obere Buch andererseits aber aufgeschlagen bleiben soll, hat sie eine etwas undamenhafte Körperhaltung, so gehen keine Intellektuellen, so gehen eher Clowns, denen die Jongliernummer programmgemäß misslingt. Aber wie die Bücher auch rutschen, sie guckt nicht hoch, sie liest und murmelt beim Gehen. Wenn die Form des Textes, den ich im Vorbeigehen nur ganz kurz sehe, nicht täuscht, dann hat sie da sogar Lyrik vor sich. Neben ihr geht ihre Tochter, so alt wie die andere Tochter im Supermarkt gerade eben, ihre Tochter also, die ab und zu routiniert und dirigierend am Ärmel der Mutter zieht, nämlich immer dann, wenn wieder eine Regalecke in den Weg ragt. “Mama”, höre ich sie mahnend murmeln, und es ist nur ein ganz leises “Mama”, es ist eigentlich gar kein “Mama”, das wirklich gehört werden möchte.

Und wenn man sich diesen beiden bisher nur zeitlich verknüpften Szenen jetzt interpretierend nähern müsste, würde sich das nicht total blöd nach einem Aufsatzthema aus der, na, sagen wir aus der zehnten Klasse anfühlen? Medien und die Wirkungen, Medien und Beziehungen, so etwas in der Art? Parallelen und Unterschiede im Verhalten usw., man möchte sich doch im Andenken an eigene Deutscharbeiten spontan erbrechen, wenn man nur daran denkt, nicht wahr. Aber so etwas passiert tatsächlich! Dauernd passiert so etwas. Die Welt da draußen ist im Grunde voller Aufsatzthemen, vielleicht ist sie auch deswegen oft so unerträglich.

Haben wir das auch geklärt, fein. Kein Tag ohne Lernfortschritt!

Der schmale Bereich des Beschreibbaren

Ich schreibe hier seit vielen Jahren und fast die ganze Zeit über stoße ich immer wieder an zwei Grenzen des Beschreibbaren. Die eine liegt in der entsetzlichen und schier unvermeidlichen Klischeehaftigkeit der Welt, die vieles ins Unglaubwürdige verzerrt, obwohl es nichts als die Wahrheit ist. Man kann allzu klischeehafte Erscheinungen nur schwer wiedergeben, sie wirken einfach nicht glaubwürdig, sie wirken eher überzogen und gewollt, an den Haaren herbeigezerrt und letztlich irgendwie schmierig wie in der Genreschriftstellerei, die Prinzessin aus dem Hochadel sieht eben gut aus, der Chefarzt heiratet die schöne Krankenschwester. Ein Beispiel aus dem letzten Winter: Ich gehe durch die Hamburger Innenstadt und sehe, wie eine Dame ein Pelzgeschäft betritt. Wobei erstens auffällt, dass es überhaupt noch Pelzgeschäfte gibt, wer mag da wohl noch hingehen? Das ist doch eigentlich ganz interessant, das könnte sehr wohl ein Thema für einen Blogeintrag oder eine Kolumne sein. Jetzt noch schnell eine Beschreibung der Dame und zack, wieder eine kleine Form fertig gebacken, so möchte man das doch. Allerdings sieht die Frau in geradezu lächerlicher Weise aus wie Cruella de Vil. Sie ist nur etwas unauffälliger angezogen, wobei es sich bei ihrem flott umgelegten Mäntelchen aber selbstverständlich immerhin um Pelz handelt. Sie ist auch etwas stämmiger als das Original, etwas nördlich-hanseatischer, aber sonst – dieses pompöse Heranrauschen, diese geradezu auf zehn Meter Abstand spürbare Verachtung anderer Menschen, dieser herrische Blick, diese maßlose Arroganz – das passt alles perfekt und natürlich ist sie auch gerade einer Limousine entstiegen. Aber so etwas kann man nicht beschreiben, das glaubt einem ja kein Mensch, weil es viel zu erwartbar ist. Das wirkt bemerkenswert schlecht ausgedacht, da hat die Phantasie wohl wieder nicht gereicht, was?

Die andere Grenze liegt im Bereich des Ungewöhnlichen, Seltsamen, in der Region der schrägen Vorkommnisse. Als Beispiel dient hier am besten eine Geschichte, die ich allerdings schon oft erzählt habe, ich fasse sie daher nur schnell ganz kurz für die neuen Passagiere zusammen. Als ich zu meiner allerersten Lesung eingeladen wurde, hatte ich einen kurzen Moment des Haderns, denn meine Güte, in meinem Leben passiert doch überhaupt nichts, wer will davon etwas hören. Ich ging grübelnd und zweifelnd an der Alster spazieren, dachte über Ereignislosigkeit, Langeweile und Mitteilungsdrang nach und starrte sinnend ins Wasser, wo mir nach einer Weile etwas Seltsames auffiel. Etwas, das bei längerer Betrachtung aussah wie … eine Wasserleiche. Und es war dann auch eine. Falls Sie noch nie eine gesehen haben, erstrebenwert ist das übrigens nicht, es verfolgt einen längere Zeit. Aber im Grunde kann man auch davon nicht erzählen, das ist viel zu extravagant, das wirkt zu schlecht ausgedacht, da ist die Phantasie wohl wieder mit jemandem durchgegangen. Eine Wasserleiche im richtigen Moment, ist klar. Meine Güte.

Der schmale Bereich des Beschreibbaren liegt irgendwo zwischen Cruella de Vil und Wasserleichen, die mit perfektem Timing auftauchen. Zwischen Klischees und Special Effects. Und es gibt Tage und Wochen, da ist in diesem Zwischenraum gar nicht viel. Da ist viel mehr in den eben genannten Randbereichen los und als Blogger, Erzähler etc. denkt man da dauernd: Ach lass mal, das kannste so eh nicht schreiben, das glaubt dir sowieso kein Mensch. Und wenn man es dann dennoch beschreibt, dann kommentiert das auch jemand entsprechend.

Was ich also nur eben sagen wollte, wenn hier mal wider Erwarten nichts Neues steht, wenn es so wirkt, als würde noch weniger passieren als ohnehin schon – dann war wieder alles viel zu normal oder aber ganz anders, das ist im Grunde einfach. Wissense Bescheid, ne.