Da wird in den letzten paaar Tagen sicher nichts mehr dazukommen, zu viele der Bücher sind noch gar nicht durchgelesen, da kann ich die sehr winterliche Liste ruhig jetzt schon vermelden.
Robert Louis Stevenson: “Der Master von Ballantrea – eine Wintergeschichte.” Neu übersetzt von Melanie Walz. Ach, was schön. Was wunderschön. Aus heutiger Sicht ein Abenteuerbuch, aber erster Klasse. Im Grunde müßte man es an einem Kamin lesen, mit einem leise schnarchenden Jagdhund daneben und ein paar Geweihen an der Wand, aber na gut. Man muss auch mit suboptimalen Lösungen wie etwa einer Zentralheizung zurechtkommen können. Eine Heizung braucht man allerdings, in der Szenerie ist es kalt. Aber noch einmal: was ein schönes Buch. Große Charaktere, schwere Schicksale, beredte Rahmenerzähler mit kratzender Feder bei Kerzenlicht. Ganz große Literatur, ganz müheloses Lesen. Hervorragende Winterlektüre, das passt also vermutlich noch wochenlang.
Jonathan Franzen: “Weiter Weg – Essays”, diverse Übersetzer. Ich glaube, ich verstehe ihn einfach nicht. Der Mann ist außerdem ein wenig arrogant, ist er nicht? Oder bin ich überempfindlich? Wieder weggelegt. Aber vielen Dank an Pia Ziefle für die überaus freundliche Zusendung jedenfalls! Eine Revanche ist postalisch unterwegs und ich bin sehr gespannt auf ihre Meinung dazu.
Luigi Pirandello: “Sechs Personen suchen einen Autor”. Also das geht nun einfach überhaupt nicht, wirklich völlig unlesbar, was für ein Desaster. Allerdings nicht aus inhaltlichen Gründen, sondern nur weil meine Arme dafür schlicht nicht lang genug sind. Reclam-Heftchen ohne Lesebrille sind dann doch zu anstrengend geworden. Demnächst mal beim Optiker vorbeigehen! Das Buch würde mich dann schon noch interessieren.
Gerhard Henschel: Jugendroman. Die Fortsetzung vom Kindheitsroman und ich bin immer noch begeistert. Grandios, wie aus der bruchstückhaften Kleinkindperspektive des ersten Bandes langsam eine andere Darstellung erwächst, wie das Bild immer schneller, in immer flotteren Strichen weiter gemalt wird. Ich glaube tatsächlich, näher sind mir die westdeutschen 70er Jahre literarisch noch nie gekommen. Keine Ahnung, ob man vielleicht dabei gewesen sein muss, um es so zu verstehen, das ist mir auch egal. Wie diese Familienbeziehungen mit jedem Kapitel deutlicher hervortreten, wie die Gesellschaft immer mehr wahrgenommen wird und immer deutlicher Geschichte stattfindet, das ist schon sehr überzeugend.
Gerhard Henschel: Liebesroman. Die Fortsetzung vom Jugendroman. In diesem Band ist man dann endgültig nicht nur bei der Liebe, sondern auch bei der Politik und Kultur angekommen. Der Heranwachsende interessiert sich für vieles, was unerreichbar ist und findet, man erkennt sich da sofort wieder, alles – aber auch wirklich alles – langweilig, was für ihn erreichbar ist. Und zwar entsetzlich langweilig. Das vergisst man leicht, als Erwachsener, diese endlose, unfassbare Langeweile der pubertären Zeiten, in denen alles doof war, farblos, grau, zäh und bleiern, wir reden hier, versteht sich, über Zeiten ohne Internet, womöglich ist das heute anders. Wir hatten ja nix! Das Kaff, in dem man wohnte, die blöde Sippe, in die man hineingeboren wurde, die dämlichen Nachbarn, die nervtötenden Mitschüler, das maue Fernsehprogramm, das Gesabbel im Radio, Himmel, wie grauenvoll war das. Diese sehr spezielle Art der schlechtgelaunten Langeweile der Adoleszenz unterhaltsam zu schildern, das ist auch eine Leistung. Und was für eine. Natürlich ist es aber auch faszinierend für Menschen, die in etwa zur Generation des Autors gehören, dieses Hineinwachsen in die Gesellschaft noch einmal nachzulesen. Wie man damals ganz allmählich mitbekam, wie die Politik lief. Die mordende RAF, der pöbelnde Franz-Josef Strauß, der grantelnde Wehner, endlos verhandelnde Gewerkschaftsbosse, unfassbar öde Tagesschaubeiträge über irgendwas in Bonn. Verbiesterte Altnazis in allen Positionen, junge Langhaarige dagegen, das klingt schon so, als wäre es im Geschichtsbuch irgendwo ganz hinten, dabei war es doch gerade erst gestern. Konkret und die National-Zeitung fast nebeneinander am Kiosk. Ich kann das nicht ohne Nostalgie lesen, selbstverständlich war ich damals auch links, was sonst, da ähneln sich die Erfahrungen schon sehr. Die geschilderten Wahlplakate habe ich noch vor Augen, die haben meine Eltern damals sogar aufgehängt, der Vater die CDU-Variante, die Mutter die SPD. Abgesehen von der literarischen Glanzleistung sind die Bände auch als Geschichtsunterricht allemal auch eine Empfehlung wert, und zwar eine dringende.
Gerhard Henschel: Abenteuerroman. Die Fortsetzung vom Liebesroman und der letzte Band der Reihe. Die Hauptfigur zieht nach dem Abitur in die Welt, ähnlich planlos wie ich damals. Der Roman läßt einen mit dem großen Problem zurück, dass es noch keinen fünften Band der Reihe gibt. Verdammte Sauerei.
Alan Bennett: Schweinkram – zwei unziemliche Geschichten. Deutsch von Ingo Herzke: Entzückend. Nein, eigentlich müsste man sagen: fein. Ein durch und durch feines Buch. Und wenn der Herr Bennett ein Schwein ist, dann ein betont feines Schwein. Und der Herr Herzke, der übersetzt bekanntermaßen ganz großartig. Mit großem Vergnügen gelesen. Dazu hat auch Isa was geschrieben, by the way. Und wer Freude am Gebrauch des aussterbenden Semikolons hat, der hat in diesem Buch ein Reservat zu entdecken, in dem es der Gattung noch verblüffend gut geht; man könnte fast eine Auswilderung in Angriff nehmen.
Kim Leine: Die Untreue der Grönländer. Deutsch von Ursel Allenstein, eine preisgekrönte Übersetzung: Eigentlich nur aus Trotz angefangen, weil der Titel so gut zum Hamburger Frühling passt, dann aber auch gleich sehr angetan gewesen. Ein ruppiges Buch mit ziemlich direkten Geschichten. Das rempelt einen gleich an und geht dann gut und laut weiter. Hartes Leben, harter Stoff, harterHumor. Es lebt, liebt und stirbt sich darin wie nebenbei, saukalt ist es natürlich auch und wer skandinavischen Film mag, der wird auch dieses Buch lieben. Also ich zum Beispiel.
Lew Tolstoj: Kreutzersonate. Deutsch von Arthur Luther. Bisher habe ich nur die ersten paar Seiten gelesen, auch dieses Buch wurde quasi aus meteorologischen Gründen beleidigt aufgeschlagen. Les ich eben Winter weiter, wenn es keinen Frühling gibt. Mir doch egal! Nach den ersten Seiten zu urteilen werden die Figuren interessant, auf die philosophischen und sozialen Erörterungen könnte ich gerne verzichten. Aber eine schöne Rahmenhandlung – und ich mag Rahmenhandlungen, um einmal eine klare Minderheitenmeinung zu vertreten.
Eduard von Keyserling: Abendliche Häuser. Ich schätze ihn ja sehr, den Herrn von Keyserling, und ich lese immer wieder in seine Bücher hinein. Es macht ruhige Gedanken, manierlichen Stil und durchdachte Wortwahl, so etwas zu lesen, das ist einer der Autoren, bei denen ich tatsächlich immer ein wenig hoffe, dass etwas von seinem Schreiben auf mich abfärbt. Und das tut man ja nicht gerade bei jedem Schriftsteller. Die Sujetwahl natürlich vollkommen veraltet, deutschsprachiger baltischer Adel, das ist ein Weilchen her. Unwirklich und weit weg, wie griechische Tragödien. Menschen, die sozial ganz weit oben stehen und dabei völlig unfähig zu irgendeinem Glück sind. Aber so plastisch beschrieben, dieses ausgestorbene Milieu, als könne man hineinsteigen, als führe man nachher, in der Dämmerung, zur Baronesse hinüber zum Tee. Wenn denn die Wege nur gut genug für die Pferdeschlitten sind, man weiß es nicht, in diesen ungewissen Zeiten, es soll ja auch Frühling werden, irgendwann. Aber solange es schneit, lese ich noch ein wenig weiter. “Auf Schloß Paduren war es recht still geworden, seit so viel Unglück dort eingekehrt war. Das große braune Haus mit seinem schweren, wunderlich geschweiften Dach stand schweigsam und ein wenig mißmutig zwischen den entlaubten Kastanienmbäumen. Wie dicke Falten ein altes Gesicht durchschnitten die großen Halbsäulen die braune Fassade. Auf der großen Freitreppe lag ein schwarzer Setter, streckte alle vier von sich und versuchte sich in der Novembersonne zu wärmen.”