Kleine Szenen

Es ist ja nicht immer so, dass die Timelines viel mit der Wirklichkeit um einen herum zu tun haben. Beim Thema Netzpolitik neulich etwa, diese Sache mit dem angeblichen Geheimnisverrat, das hat in meinem Real-Life-Umfeld keine Sau interessiert, die allermeisten werden es nicht einmal mitbekommen haben. Absurdes Außenseiterthema. Beim Thema Griechenland war das schon etwas anders, darüber sprachen nahezu alle. Und faszinierenderweise hatte auch jeder irgendeine Meinung, was zu dem Thema gar nicht unbedingt passte. Immerhin VWL für eher weit Fortgeschrittene, ich blicke da nach wie vor überhaupt nicht durch. Aber doch, da waren sich alle einig, dem Thema war meinungsstark zu begegnen, wir sind ein Volk von Wirtschaftsexperten. Der Grieche, der Deutsche, das Geld. Klare Sache und damit hopp.

Beim aktuellen Thema Flucht, Migration und Fremdenfeindlichkeit und was in diesem Land gerade los ist, da passiert nun etwas, das ich so vermutlich selten erlebe – die Szenen passen sich komplett an. Ob ich auf Twitter bin, auf Facebook, in Blogs, ob ich auf dem Spielplatz stehe, mit Kollegen in der Küche bin oder in der S-Bahn fahre oder zum Tanzkurs gehe, alle reden über ein Thema, über das Thema. Und sehr viele, höchst ungewöhnlich viele machen auch noch irgendwas. Sie fahren Spenden irgendwohin, spenden selbst Geld und Kleidung, sie helfen hier und da, sie organisieren, schreiben, teilen, es fällt wirklich vielen etwas ein. Einige beschränken sich natürlich auf Bedenken und Ängste und Abwehr, das aber auch permanent und kaum zu überhören. Ganz egal was und wie – das Thema ist überall.

Vier Szenen eines einzigen Tages, alle vom Dienstag dieser Woche. Plakativ wie sonstwas, aber so ist es eben tatsächlich gerade.

In der S-Bahn nach Hammerbrook unterhalten sich zwei alte Herren, beide sicher weit über siebzig. Sie reden über Fussball, vermutlich über das Spiel St. Pauli gegen Dortmund am Vortag, das ihnen gut gefallen hat. “Und dann hat der Ne…, ach nee, das darf man ja nicht mehr sagen. Na, ist ja auch in Ordnung, dann hat also der mit der dunklen Haut da, also der hat ja wohl saugut gespielt, der Junge.”

Im Supermarkt steht ein stark angetrunkener Mann in Jogginghose vor der Kassiererin, unwillkürlich guckt man da gleich nach dem Pissfleck vorne, da war aber keiner. Er pöbelt auch keine rechten Parolen, er versucht, menschliches Interesse an der Kassiererin zu zeigen und vermutlich irgendwie nett zu sein. Die Kassiererin ist allerdings schon sichtlich genervt, denn der Mann versucht zum wiederholten Male herauszufinden, wie anders denn ihr Heimatland sei, so im Vergleich zu Deutschland. Denn das muss ja ziemlich anders sein. Da in Afrika. Echt anders, was? So ganz anders? Aber hallo? Muss ja, nech? Oder? Also das muss da ja wirklich wahnsinnig anders sein. So alles. Und die Kassiererin sagt wieder und wieder, was bei ihm aufgrund ihrer Hautfarbe aber einfach nicht ankommen kann, dass sie von hier sei. In Hamburg geboren. Verständnislose Blicke: “Aber ich meine doch in Afrika.”

Vor dem Hauptbahnhof hält ein Auto, eine Familie steigt aus, Vater, Mutter, Kind, Kind, Kind. Sie sehen aus, wie die syrischen Familien aus den Nachrichten aussehen, natürlich können es aber auch einfach Touristen sein, Migranten der xten Generation, wer weiß das schon, man liegt da auch schnell falsch, gerade in diesem multinationalen Bahnhofsviertel. Aber das zerschlissene Gepäck, die ratlosen Blicke, die übernächtigten Gesichter. Es würde schon passen. Am Dienstag waren durchreisende Flüchtlinge hier am Bahnhof noch gar kein großes Thema, das hat sich gerade erst geändert. In den Nachrichten ging es bis dahin eher um München, um Dortmund, um Wien. Die Familie steht also da und sie sehen sich um, das Auto fährt weiter. Gleich mehrere Passanten gehen sofort auf die Familie zu, bieten Hilfe an, zeigen auf den Bäcker an der Ecke, auf den Bahnhof, suchen nach Englischvokabeln, machen Gesten für Essen und Trinken. Fragen, ob sie etwas für die Familie tun können, ob sie etwas brauchen. Eine Szene, die noch vor wenigen Tagen völlig undenkbar war. Fremde ansprechen, in Hamburg! Auf der Straße! Einfach so. Und dann noch in nett.

In der S-Bahn fahren junge und ziemlich vergnügte Menschen, Studenten vielleicht, eine Reisegruppe kann es natürlich auch sein, sie reden Spanisch. Ich kann nicht unterscheiden, ob es eine südamerikanische oder die europäische Version ist. Es sind acht, sie besetzen zwei Vierersitzgruppen. Sie unterhalten sich in bester Stimmung, einer holt Kaugummi aus der Jackentasche, bietet den anderen etwas an. Ein Kaugummipapier fällt in den Mittelgang und liegt da, leuchtendes Grün auf grauem Boden. Die jungen Leute sehen sich an, sehen auf das Kaugummipapier. Reden, grinsen. Gucken wieder. Schließlich hebt es einer doch noch auf, sagt lachend, und dafür reicht dann sogar mein Spanisch: “Wir sind in Deutschland.”

 

Kurz und klein

Auf den Punkt

Es fällt oft schwer, einen Menschen mal eben zu beschreiben. So ein Mensch ist immerhin eine ziemlich komplizierte Angelegenheit mit etlichen Charaktereigenschaften, das ist nicht mit zwei, drei Sätzen erledigt. Manchmal ist es auch mit einem ganzen Roman noch nicht umfassend erledigt, gar keine Frage. Deswegen gibt es Anekdoten. Kurze, äußerst prägnante Geschichten, in denen man den Kern einer Persönlichkeit zu erkennen meint. Eine Anekdote kreist immer um eine erztypische Angelegenheit, die sinnbildlich für einen Menschen stehen soll. Als Alexander der Große den Philosophen Diogenes fragte, ob er etwas für ihn tun könne, war dessen heute noch berühmte Antwort: “Geh mir aus der Sonne.” Zack, ein Satz für die Ewigkeit. In diesem kurzen Satz liegt sein ganzer Charakter, sein ganzes Wesen. Meint man jedenfalls.

Ich habe gerade etwas mit der Herzdame erlebt, darin liegt auch ihr ganzes Wesen, ihr ganzer Charakter. Meine ich jedenfalls. Sie kommt bekanntlich aus Nordostwestfalen, einer trotz ihrer verwirrenden Bezeichnung bemerkenswert schnörkellosen Gegend, in der man zur Direktheit und zum geraden Denken neigt. Das könnte ich seitenlang beschreiben, dieses sehr klare Denken, dieses umweglose Handeln dort, diese charakterliche Geradlinigkeit. Aber ich kann jetzt auch einfach erzählen, wie ich sie neulich einmal fotografieren wollte, im Garten ihrer Eltern. Und wie ich sie während der Aufnahmen bat, sich etwas weiter ins Licht und nach rechts zu stellen, noch weiter, noch weiter – “Stell dich doch bitte mal eben dahin, wo diese Blume da ist!” Rief ich ihr so zu, denn der Standort schien mir sehr passend. Und dann hat sie sich ohne das geringste Zögern genau auf die Blume gestellt.

So ist sie. Doch, das beschreibt sie wirklich ganz gut.

(Dieser Text erschien als Kolumne in den Lübecker Nachrichten und in der Ostsee-Zeitung)

Essen in Südtirol

Zmailerhof Schenna Kaiserschmarrn

Das ist natürlich auch so etwas, das man vorher dauernd gesagt bekommt, wenn man da hinreist: “Oh, Südtirol – sehr gutes Essen da!” Wobei dieser Ausruf manchmal mit einem Nachsatz versehen wird, der ein warnendes “Aber nicht ganz billig!” ist. Um die Erkenntnis unserer Reise vorwegzunehmen, der erste Satz stimmt, der zweite nicht. Wobei man das mit den Preisen vielleicht relativieren muss, was ich auch gleich noch machen werde, das mit dem Geschmack kann man aber komplett und ohne Einschränkungen stehen lassen. Wir haben nichts gegessen, was nicht ziemlich gut war, und vieles war wirklich hervorragend. Über die Preise können wir anhand dieser Tafel etwas besser nachdenken, es handelt sich um die Mittagskarte auf dem Zmailerhof in Schenna. Zmailerhof

Wobei die Anfahrt zum Zmailerhof etwas speziell war. Der liegt nämlich hoch, aus Hamburger Sicht möchte man fast sagen, er liegt unsinnig hoch, man könnte es auch spektakulär hoch nennen. Also wenn man aus dem Flachland kommt jedenfalls. Man kann allerdings noch mit dem Auto hinfahren, es ist keine Hütte an einem einsamen alpinen Wanderweg, das nun auch nicht. Wenn man ein Navi oder eine gute Karte hat, wenn man keine Höhenangst hat, dann kommt man da gut hin. Wenn man sich da oben dezent verfährt, so wie wir, und wenn man deswegen einmal kurz wenden muss, dann kann es allerdings passieren, dass rechts neben dem Auto plötzlich überhaupt nichts mehr ist, davon aber sehr, sehr viel.

Mit anderen Worten, die Herzdame ist gefahren, das mit der Höhenangst ist nämlich gar nicht so einfach, wenn man in den Bergen am Steuer sitzt. Ich habe mich während der Fahrt einfach in den Beifahrersitz gekrallt, das Leder des Mietwagens durchlöchert und krampfhaft etwas von schöner Landschaft gemurmelt, währen der Blick enorm weit über Wälder und Dörfer hinweg ging, direkt in die Wolken. Der Blick ging dabei angestrengt über das Nichts hinweg, das neben mir immer wieder sein Maul aufriss und nach dem Auto und der Familie schnappte. Als Wanderer hätte mich das gar nicht so erschüttert, glaube ich, aber aus dem Auto heraus vertrage ich diesen Blick definitiv nicht so gut.

Ich würde jederzeit wieder nach Südtirol fahren, aber vor den Straßen dort habe ich großen Respekt. Der Herzdame geht es da ganz ähnlich, sie gibt es nur nicht so offen zu wie ich.

Wenn man von Meran nach Schenna fährt, ist die Straßenführung jedenfalls, Höhenangst hin oder her, beeindruckend. Hat man ein Navi, auf dem man die Straßenkarte vor sich sieht, sieht man auf dem Display irgendwann eine höchst unwahrscheinlich anmutende Route vor sich, die aussieht, als hätte ein Kleinkind mit ruckartigen Bewegungen etwas auf Papier gekritzelt. Eines dieser Bildchen, die man als Elternteil dankend entgegennimmt und irgendwann dann klammheimlich wieder entsorgt. Es sieht nach einem Fehler aus, was man da auf dem Display sieht, es kann kaum ernstgemeint sein, irgendein Softwareproblem. Bis man an der nächsten Kurve merkt, dass die Straßenbauingenieure offensichtlich genau wie ein Kleinkind gekritzelt haben. Es wird selbstverständlich gute Gründe dafür gegeben haben. Nein, es sind nicht irgendwelche Kurven, durch die man da fährt, es sind nicht irgendwelche Brücken und es sind auch nicht irgendwelche Über- und Unterführungen. Man versteht plötzlich, dass ein Teil von Südtirol noch gar nicht so lange für den Verkehr erschlossen ist, wenn man es geschichtlich betrachtet. Sogar Sohn I, der übrigens während der Fahrt auf einem Handy spielte und nur ab und zu gelangweilt hochsah, als sei er schon weit in der Pubertät, fand es zwischendurch doch spannend, aus dem Fenster zu sehen. Und er murmelte nach einer der vielen Kurven anerkennend zu seiner Mutter: “Cool, haste noch ein Level geschafft.”

Zmailerhof Schenna Knödel

Auf der oben abgebildeten Karte also einige Südtiroler Spezialitäten, keine einzige davon ist ausgesprochen teuer, wie man auf den ersten Blick sieht. Am meisten kostet “Schöpsernes”, dabei handelt es sich um Schaffleisch. Der Herr vom Roten Hahn, mit dem wir uns dort zum Mittagessen verabredet hatten, sprach das Wort aus wie etwas Religiöses, er hatte sich offensichtlich seit Tagen darauf gefreut. Schöpsernes, das war mehr geseufzt als gesprochen, das Wort wurde gefolgt von einem ganz unironischen “das gibt’s ja heute kaum noch”. Ich habe es probiert, ich konnte seine Begeisterung nachvollziehen. Und vielleicht versuche ich einmal, es auch nachzumachen, das entsprechende Kochbuch dafür liegt hier schon vor.

In der Küche stand eine Frau mit weißer Schürze, die so dermaßen nett und herzlich wirkte, als sei sie einem Kinderbuch entsprungen, eine dieser Köchinnen, bei denen traurige Gestalten wie Klara aus Frankfurt oder das schwindsüchtige Nesthäkchen dann doch noch erfolgreich wieder aufgepäppelt werden.

Zmailerhof Schenna Knödel

Wir haben Brennessel- und Käseknödel und Speckknödel und Kaiserschmarrn gegessen, das war alles sensationell. Ich habe noch nie vorher Brennesselknödel gegessen, ich möchte das sehr dringend empfehlen, das ist eine großartige Sache. Man verzeiht den Brennesseln plötzlich alles, wenn man erst weiß, wie sie in Knödeln schmecken. Für 8,50! Das ist aus Hamburger Sicht lachhaft günstig, das würde hier umgerechet mit Hipster-, Regio-, Bio- und Szene- und Veggie-Zuschlag etwa vier bis sechs Euro mehr kosten, und dann wäre die Portion immer noch deutlich kleiner als beim Original in den Bergen – und man ginge nicht pappsatt nach Hause. Zmailerhof Schenna Knödel

Nichts auf dieser Karte war teuer, aber alles war sehr gut. Das ist ein Satz, den man als Hamburger ganz gewiss nicht nach jedem Restaurantgang notieren möchte (es sei denn, man war z.B.im Trific, wie wir neulich wieder gemerkt haben). Ich fand angenehm, dass die Auswahl klein war, dass sie äußerst fein war, dass mir alle Preise ausgesprochen fair erschienen. Also entweder leben wir hier in Hamburg auf einem absurd hohen Preisniveau, was natürlich gut sein kann, oder Südtirol ist längst nicht so teuer, wie man dauernd hört. Denn viel besser als auf diesem Hof wird die regionale Küche dort auch anderswo nicht sein, dazu schmeckte das einfach zu perfekt.

Und auch an den anderen Tagen ist uns dort nirgendwo etwas begegnet, das mir überteuert erschien. In keinem Restaurant, keiner Pizzeria, keinem Imbiss. Bis mir hier bei uns etwas überteuert vorkommt, muss ich allerdings nur etwa hundert Meter gehen. Ganz egal, in welche Richtung.

Zmailerhof Schenna

Roter Hahn

Die kleinen Tierfreunde

Die Söhne wollen immer noch ein Haustier, ich bin immer noch strikt dagegen. Sie gehen immer wieder alle nur denkbaren Tierarten durch. Hätten Sie Brehms Tierleben greifbar, sie würden mir wohl einfach das Register daraus vorlesen. Kakadu? Koala? Kuh? Bis Zwergwiesel, und dann wieder zurück zu Aal und von vorne. Sie schwärmen mir von den Vorteilen der Tiere vor, sie lassen die Nachteile sorgsam aus. Sie stellen sich als aufopferungsvolle Tierpfleger dar, sie sind heilig entschlossen, jederzeit alle Freuden des Lebens und jegliche freie Zeit dem Haustier unterzuordnen. Sie bitten und betteln, sie denken unentwegt über Strategien nach, wie man den unbarmherzigen Vater herumkriegen kann. Und verstehen gar nicht, wieso es bei diesem Thema nicht klappt. Was hat er denn nur? Er ist doch sonst ganz nett?

Tatsächlich habe ich bei Haustieren diese Blockade, die alle Eltern bei irgendeinem Thema haben. Die einen erlauben keine Comics, andere keine Spielzeugwaffen oder Süßigkeiten, ich möchte keine Tiere in der Wohnung. Und weil Kinder heute verhandlungsstark aufwachsen, erkläre ich es immer wieder. Gefühlt verbringe ich etwa eine Stunde des Tages mit der schon ritualisierten Haustierargumentation. “Du, Papa?” “Nein, und zwar weil …” Das läuft ganz von alleine ab, darüber muss ich nicht mehr nachdenken.

Ich habe auch gar nicht vor, mich umstimmen zu lassen, wirklich nicht. Aber ich bewundere die Söhne doch für ihre Argumente, es ist schon verblüffend, worauf der Mensch kommt, wenn er etwas dringend haben möchte. Und neulich war ich sogar kurz davor, ihnen so etwas wie den Gewinn der Hinrunde zuzugestehen. Und zwar für folgenden Satz, über den sie sicher lange, lange nachgedacht haben:

“Papa, können wir nicht doch ein Haustier? Wir möchten nicht immer nur mit Spinnen und Insekten spielen.”

(Dieser Text erschien als Kolumne in den Lübecker Nachrichten und in der Ostsee-Zeitung)

Gelesen, vorgelesen, gesehen, gehört im August

Gelesen

Wolfgang Büscher:  Deutschland, eine Reise. Auf dem Handy gelesen, kein Foto. Der Autor ist einmal um Deutschland herumgegangen, auf den Grenzen mäandernd, eine teils etwas surreal anmutende Reise durch all diese Zwischenregionen. Lohnt sich schon wegen der wunderbaren und längeren Lästerei über das Volk in den Cafés in Timmendorf, wenn ich das als ehemaliger Travemünder einmal kenntnisreich anmerken darf.

Theodor Storm: Novellen. Auch als E-Book, auuch kein Foto. Auf Eiderstedt gelesen, das passt natürlich ganz ungemein. Da waren sogar einige dabei, die ich gar nicht kannte, wie isses nun bloß möglich. Aufgefallen ist mir beim Lesen, was bei Literatur aus dem neunzehnten Jahrhundert oft auffällt – wie selbstverständlich Pflanzen eine Rolle in den Geschichten spielen. Die Buche im Hof, der Buchsbaum im Garten und auch immer wieder Blumensorten, deren Namen ich nicht einmal kenne. Das sind Gewächse, die etwas aussagen, die Geschichten ein Stück weit tragen, es sind Pflanzen, zu denen die Menschen einen geradezu intimen Bezug hatten. Nach dieser Lektüre ist es dann doch wieder irritierend, wenn ich hier aus dem Fenster und auf den Spielplatz sehe, auf dem Bäume und Büsche stehen, die ich einfach nur als beliebiges Grün sehe. Keine Ahnung, was da steht, nichts davon hat einen Bezug zu mir. Gut ist das vermutlich nicht, richtig ist es auch nicht.

Uwe Bahn und Gerhard Waldherr (Hrsg.): Inselstolz. Zwischen Strandkorb und Sturmflut – 25 Leben in der Nordsee.

Inselstolz

Die Texte sind so verfasst, wie Isa und ich auch die “Was machen die da”-Interviews schreiben, das sind überarbeitete Monologe von Menschen, die auf den Inseln leben und von ihrem Leben erzählen. Wie sie da gelandet oder aufgewachsen sind, warum sie dort bleiben. Leider eher spärlich bebildert, das ist etwas schade, aber sonst für den Nordsee-Urlaub eine sehr gute Wahl.

Elisabeth Tova Bailey: Das Geräusch einer Schnecke beim Essen. Deutsch von Kathrin Razum

Die Autorin ist schwer krank und muss monatelang im Bett liegen, jemand schenkt ihr einen Blumentopf, in dem eine Schnecke wohnt. Sie hört abends die Schnecke essen und wird dadurch zur intensiven Schneckenbeobachterin und -kennerin. Gute Idee, das mit den Schnecken ist auch tatsächlich interessant, leider ist das Ganze aber auf Kalenderspruchniveau weisheitstriefend.

Robert Seethaler: Jetzt wird’s ernst

Das habe ich abgebrochen, das war mir zu überzeichnet. Als hätte man die Farbsättigung zu hoch gedreht, und zwar viel zu hoch.

Alexander Capus: Himmelsstürmer

Himmelsstürmer

Da geht es um Lebensläufe von Schweizern, die in anderen Ländern erstaunliche Karrieren und Lebensläufe absolviert haben. Madame Tussaud, Marat usw. Könnte man auf den ersten Blick wegen der Beschränkung auf Schweizer uninteressant finden, dann verpasst man aber ein fein erzähltes Buch über unglaubliche Schicksale. Gerne gelesen. Gilt weiterhin: Mehr von Capus lesen.

Franz Hohler: Die Rückeroberung – Erzählungen

Franz Hohler

Noch ein Schweizer. Ein schmaler Band mit Erzählungen, das ist an einem Nachmittag im Strandkorb erledigt. Ich mag ja diese Schweizer Eigenart, in einem höchst bürgerlichen Tonfall in die Anarchie abzudriften. Auch sehr gerne gelesen.

Ralf Rothmann: Hitze

Hitze

Schon vom Titel her die beste Buchwahl in den heißen Wochen des Sommers. Ich bin nicht weit gekommen, da kam dann das Thema Flüchtlinge dazwischen und ich habe nur noch Nachrichten gelesen. Was ich aber schon im Buch gelesen habe, fand ich sehr ansprechend. Detailreich erzählt, und das kann man, wenn ich es richtig sehe, bei deutschen Autoren im Moment gar nicht so oft behaupten. Also detailreich und interessant in Kombination, versteht sich, die Mode geht eher dahin, ziemlich schnell zu erzählen, geht sie nicht? Das hier liest sich teilweise so detailreich wie im guten alten Realismus, und warum auch nicht. Taucht ein neuer Raum auf, braucht es erst einmal drei, vier Seiten, bis er vor einem steht, dann steht er aber auch gestochen scharf da. Sind Nebenfiguren anwesend, werden auch die mit feinen Strichen gezeichnet, ganz langsam, ganz gründlich. Das Berlin, um das es hier geht, sieht man sehr deutlich.

Alle anderen lesen natürlich gerade “Im Frühling sterben”, das möchte ich nicht. Thematisch unerträglich.

Vorgelesen

Sebastian Lybeck: Latte Igel und der Wasserstein. Mit Bildern von Daniel Napp

Das hat die Herzdame den Söhnen auf Eiderstedt vorgelesen, das fanden sie beide sehr gut und sehr, sehr spannend. Davon gibt es noch mehr Bände, die sind dann wohl bald fällig.

Ich habe mit den Söhnen etwas mehr Zeit mit Apps verbracht. Sie hatten beide zum Ferienende nach Lern-Apps gefragt, die kleinen Streber. Nein, das sind sie in Wahrheit tatsächlich nicht, sie hatten nur die Hoffnung, das iPad öfter zu bekommen, wenn sie das Spielen pädagogisch wertvoll verbrämen. Da haben sie gut aufgepasst, immerhin. Ich habe mir ein paar Apps für die Schule angesehen, gut gefallen hat mir bisher nur die Variante “Lernerfolg Grundschule” von Tivola. Darin gibt es Lernspiele Deutsch/Mathe/Englisch für jede Klasse in der Grundschule, die Stufen und Fächer kann man einzeln kaufen, oder auch alle im Paket. Sohn I findet es gut und die Inhalte passen wohl tatsächlich perfekt zum Lehrplan, zumindest zu seinem. Überraschende Erkenntnis nebenbei, man kriegt ja dank Ganztagsschule längst nicht alles mit: das Kind kann schon wesentlich mehr Englisch, als ich gedacht habe. Und auch mehr, als er weiß, er denkt nämlich, er kann gar nichts. Das läuft da also ganz nebenbei, und nebenbei kann man eine Menge lernen, wie es aussieht. Faszinierend.

Und Sohn II, ab nächste Woche Vorschüler, wollte dann natürlich auch so etwas. Und das gibt es auch, „Lernerfolg Vorschule“ mit Capt’n
Sharky. Auch das kam sehr gut an.

Gesehen

Motivationsfilmchen für das Longboardfahren, eh klar.

Carving the Mountains from Juan Rayos on Vimeo.

Ich bin mittlerweile mit dem Longboard auch schon zur Arbeit gefahren, das macht allerdings nicht so viel Spaß, die Wege sind hier im kleinen Bahnhofsviertel und auch im benachbarten Hammerbrook einfach zu voll. Auf dem Rückweg habe ich mich, das gehört dann auch so, natürlich prächtig hingelegt, an einer Stelle, wo gar nichts war, einfach so. Und während ich noch japsend auf dem Rücken lag, kam ein freundlicher Jugendlicher über die Straße, beugte sich zu mir runter und sagte: “Ey! Mussu auch steuern, das Teil!” Das ist schön, wenn junge Menschen so Anteil nehmen.

Gehört

Der Ohrwurm des Monats passt zu meinem demnächst startenden Lindy-Hop-Kurs: My baby can dance. Immer mutig voran.

Und wenn ich mich musikalisch und tänzerisch rückwärts orientiere, dann läuft hier irgendwann unweigerlich Dean Martin, der in der All-Time-Playlist meines Lebens vermutlich einen der ersten drei Plätze belegt, mit dem bin ich schon großgeworden. Eine der ersten Stimmen, an die ich mich erinnern kann, neben Frank Sinatra. Als ich geboren wurde, war Strangers in the night auf Platz 1 in den Charts, das konnte man mal irgendwo nachschlagen. Wer auch immer in dieser Play-List meines Lebens mittlerweile auf Platz 1 sein mag. Element of Crime? Die dürften in den letzten Jahren jedenfalls mächtig aufgeholt haben.

Über den Promillewert bei diesem Auftritt von Dino hier mag man gar nicht nachdenken, aber selbstverständlich ist er dennoch gelungen, wie fast immer bei ihm.

In Heavy Rotation läuft nach wie vor aber auch Eels:

Und ein Ohrwurm, denn man zunächst durchaus ganz nett finden kann, der nach dem zehnten Hören aber befremdlich lästig wird: Model von Balanescu Quartet.

Ricardo und die Ideale

Seit Tagen starre ich immer wieder stundenlang die Timelines an. Sie halten mich vom Schreiben und vom Denken ab, diese Nachrichten von brennenden Flüchtlingsheimen und Rechtsextremisten einerseits, die Berichte von Menschen, die Flüchtligen helfen andererseits. Ich komme nicht mehr hinterher und fühle mich überrollt, das passiert mir gar nicht so oft, es ist mir jahrelang nicht passiert. Man kann vor Twitter einfach sitzenbleiben und die Texte und Links durchrauschen lassen, wenn man eine oder zwei Stunden wartet, ist schon wieder etwas Furchtbares passiert. Gleichzeitig kann man auf Facebook nachsehen, was die Hilfsgruppen in der eigenen Stadt auf die Beine stellen, und gerade in Hamburg kann sich das auch sehen lassen, gar keine Frage.

Zwischendurch eine Eilmeldung der Tagesschau auf dem Handy, man öffnet so etwas im Moment mit einem gewissen Grusel – und dann ist es vielleicht nur irgendein Sportquatsch, dem Himmel sei Dank. Da freue auch ich mich einmal über Sport, es ist selten genug. Oder, wie gestern, ist es doch wieder das Grauen. Ins Bett gehen und am Morgen nachsehen, was nun wieder passiert ist. Und ja, es ist etwas passsiert, und morgen vermutlich wieder, da muss man sich nichts mehr vormachen. Die Lage ist jetzt so.

In etlichen Blogs stehen gerade Artikel zu dieser aktuellen Lage, darunter auch etliche Berichte von Menschen, die irgendwo helfen. Auf vielen Seiten stehen Geschichten über vertriebene Großeltern oder Urgroßeltern, über Fluchterfahrungen in der eigenen Familie, da geht es um Ostpreußen und Pommern, da geht es um Rumänien und um andere Gebiete, um ungezählte Parallelen, es ist auch vollkommen egal. Flucht ist Flucht, übrigens auch aus einem sogenannten sicheren Drittland. Die Großmutter der Herzdame kam damals aus Pommern, dazu gehört ein langer Bericht, der reicht für viele Albträume, ich kenne ihn teilweise. Das sind Geschichten, die jetzt überall erzählt werden, manchmal leider eine Generation zu spät. Aber doch besser spät als nie. Es ist nicht einfach, solche Geschichten ohne Pathos zu erzählen, denn es sind große Tragödien und es geht um die ganz großen Themen.

Das Folgende spielt vor etwa zwanzig Jahren.

Ricardo, zu dessen Familie ich einmal gehörte, saß mir abends am Esstisch gegenüber. Wir sprachen über Literatur, wie wir es häufig taten, es ging um die Erzählungen von Stefan Zweig. Man konnte gut mit Ricardo diskutieren, er war belesen und neugierig. Ein älterer Mann, der sich bewundernswert gut in der Nachrichtenlage auskannte, viel besser als ich, er war in vielen Themengebieten bewandert und hatte viele, viele Reisen hinter sich. In seinem Arbeitszimmer stapelten sich die Spiegeljahrgänge, gewissenhaft gelesen und gebündelt. Morgens die dünne Regionalzeitung als Pflichtlektüre zum Frühstück, und er hätte abends nie freiwillig eine Tagesschau oder den Weltspiegel versäumt, damals war der Medienkonsum noch in allgemeingültigen Timeslots organisiert. Die Bücherwand im Wohnzimmer war sehr respektabel bestückt, auch mit Grundlagenwerken der Politik, der Philosophie und der Wirtschaft, und die standen da nicht als Deko, die waren durchgearbeitet und zerlesen. Ich war jung, es war kurz nach meiner Zeit im Antiquariat, ich war also randvoll mit Wissen über Literaturgeschichte und Dichter, mehr aber auch nicht. Ich war sicherlich etwas anstrengend in meiner daraus entsprießenden Weisheit, in mir war alles noch Theorie und Lehrbuch und Größenwahn. Wie man eben ist, wenn man noch nicht allzu viel erlebt, aber umso mehr schon gelesen hat.

“Stefan Zweig”, sagte ich, “dem hat Marcel Reich-Ranicki ja einmal parfümierte Prosa unterstellt.” Und ich freute mich, dass ich das wusste, so ein charmantes kleines Zitat, mit dem man einen bekannten Dichter mal eben komplett abschießen konnte, so etwas mochte ich. Parfümierte Prosa, was für eine gelungene Formulierung. Ricardo, das merkte ich erst nach einer Weile, Ricardo hörte mir gar nicht mehr zu. Er hatte das Buttermesser aus der Hand gelegt, sah aus dem Fenster in den dunklen Garten und hatte Tränen in den Augen. “Stefan Zweig”, sagte er nach einer Weile leise, “Stefan Zweig war ein so dermaßen netter Mensch. So höflich und hilfsbereit.” Und ich brauchte dann ziemlich lange, um zu verstehen, dass er ihn gekannt hatte.

Ricardo war als Jugendlicher aus dem Deutschen Reich geflohen, mit seiner engeren Familie, damals trug er noch einen anderen, einen deutschen Namen, er ist nicht schwer zu raten. Sie flohen in letzter Sekunde und es war knapp. Sie hatten guten Grund für die Flucht, von der großen Familie haben nur etwa sechs Personen die Nazizeit überlebt. Der Rest starb in den Lagern. Sie flohen damals nach Südamerika, wo Ricardo ein paar Jahre später an einer Exilzeitung mitarbeitete, dort hat er auch Stefan Zweig kennengelernt, der manchmal ebenfalls für dieses Blatt schrieb.

Erst mit diesem Gespräch habe ich verstanden, und das war tatsächlich ein Schock für mich, dass die ganze Exilzeit, diese ganze Exilliteratur, etwas von gerade eben war. Das war gar nicht lange her, das lag nicht etliche Generationen und Zeitalter zurück. Das war gestern, dass Menschen weltweit gegen Nazis gekämpft hatten, vor ihnen geflohen waren. Menschen aus meinem direkten Umfeld erinnerten sich noch daran, an die Zeit, an die Erlebnisse, an die Schrecken, an alles. Menschen um mich herum wussten das alles noch – sie sprachen nur nicht darüber. Nicht in dieser Familie, nicht in anderen. Das habe ich natürlich auch vor diesem Gespräch gewusst, ich hatte es nur nicht wirklich verstanden, es war nur Theorie für mich. Das Gespräch an diesem Abend hat mein Weltbild verändert, ich habe die Exilliteratur nach diesem Gespräch ganz anders gelesen. Ich habe Geschichte anders empfunden, ich habe meine Einsortierung in die Weltgeschichte anders wahrgenommen. Und ich bin wohl ein wenig aus der Arroganz der Gegenwart, aus den lustigen Neunzigern gefallen.

Ricardo reiste gleich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zurück nach Deutschland, er wollte hier die Demokratie aufbauen, vielleicht auch Bundeskanzler werden oder wenigstens Minister. Das war nicht ironisch oder anmaßend gemeint, das fand er selbstverständlich, das war eben ein Gebot der Stunde. Was sollte man denn mit dem brachliegenden Land schon tun? Es musste ja vorwärts gehen, die Geschichte musste vorwärts gehen, also auch dieses zerstörte Land, dessen Sprache er nun einmal praktischerweise konnte. Und da fehlten doch sicher Menschen, die sich für den demokratischen Neuaufbau einsetzten. Also reiste er los. Seine Familie fand das allerdings nicht so naheliegend, er kam ganz alleine zurück.

Er war ein Mann, der für seine Ideale lebte, er war Demokrat durch und durch, er war Sozi, er war Pazifist. Er arbeitete mit heiligem Ernst an der Umsetzung seiner Ideale, obwohl er hier dann doch nur in der Lokalpolitik landete, nicht in Bonn. Er hat seine Aufgaben aber nicht geringgeschätzt, er fand, dass auch der kleinste politische Schritt mit Überzeugung und Einsatz gegangen werden musste. Er ging in seine kleinen Ortsverbandssitzungen im hintersten Winkel der Provinz wie in den Bundestag, er machte da keinen Unterschied. Er war auf diese Sitzungen bestens vorbereitet, er war umfassend informiert, er machte seine politischen Gegner wahnsinnig mit seinem unermüdlichen Einsatz. Er rechnete die Kosten für ein sommerliches Dorffest oder eine neue Straßenbeleuchtung am Sportplatz durch, wie er auf anderer Ebene auch die Entwicklungshilfe für Nicaragua durchgerechnet hätte, nämlich bis zu einem vernünftigen und vor allem verhandelbaren Ergebnis. Wenn die Aufgabe sinnvoll war, dann musste sie eben jemand machen, und im Zweifelsfall war er es. Er glaubte an keinen Gott, aber er glaubte an den Menschen und daran, dass Geschichte ein Ziel hat. Ein utopisches Ziel vielleicht, aber doch ein Ziel. Eine freie, gerechte, soziale Welt. Und wenn man ihm halb im Scherz erklärt hätte, dass dieser Glaube wohl auch eine Religion ist, er hätte den Witz nicht einmal verstanden. Er war kein humorvoller Mann, das nicht. Er meinte es ernst, er war ernst. Er war eher der Hans-Jochen-Vogel-Typ eines Sozialdemokraten, nicht Willy Brandt mit Gitarre und Damenbegleitung.

Er arbeitete also in der Lokalpolitik und am Weltfrieden, für ihn war das miteinander verbunden. Er war früh dabei, als man hier zu Zeiten der Friedensbewegung auf die atomwaffenfreien Zonen kam, dabei war er überhaupt kein Hippie-Freak, kein Spinner, kein Fundi-Grüner, nicht einmal ansatzweise. Er hatte sich nur überlegt, dass er beim Thema Abrüstung in der Weltpolitik nichts bewegen konnte, wohl aber vor Ort. In seinem kleinen Ortsverband. Er konnte da vielleicht vier von sieben Parteimitgliedern überzeugen, eines nach dem anderen, und so machte er unerschütterlich weiter. Nach dem Ortsverband den Kreisverband, da ging doch etwas. Er hat nicht alles erreicht, was er erreichen wollte, aber er hat auch nicht aufgegeben. Und es liegt sicher auch ein wenig an Menschen wie ihm, von denen es durchaus ein paar mehr gab, dass die Nachkriegsgeschichte in Deutschland so gelaufen ist, wie wir sie kennen. Er hat den Dingen eine Richtung gegeben.

Er war immer bereit, für die Ideale aus seiner Jugend einzutreten, mit einer Geradlingkeit, die man heute nicht mehr kennt, wenn es um Politik geht. Nicht zu lösende Probleme konnten ihn bis zur Besessenheit umtreiben, ich sehe ihn noch grübelnd im Garten auf und ab gehen, weil er nicht auf die richtige Strategie kam, die Welt wieder ein winziges Stück besser zu machen. Er redete mit sich selbst, stand mit verschränkten Armen kopfschüttelnd vor einer Hecke, die jemand dringend hätte schneiden müssen. Für so etwas hatte er weder Zeit noch Sinn, das war nicht sein Thema. Er ging kopfschütttelnd wieder weiter über den Rasen und blieb abrupt stehen, wenn ihm etwas einfiel. Ging irgendwann schnell an den Schreibtisch, die Tür zum Arbeitszimmer flog hinter ihm zu, dann hörte man ihn tippen. Das ist mittlerweile etwas aus der Mode gekommen, so allein mit sich und seinen Gedanken zu ringen, vielleicht ist es schade.

Es konnte in seinen Grübeleien tagelang um engste lokalpolitische Themen gehen, manchmal aber auch um die großen Krisen der Welt. Das war ein Mann, der am Nahostkonflikt verzweifeln konnte, weil er die Lösung nach einer längeren Reise durch die Krisenregionen doch auch nicht wusste. Das war in seinem Weltbild nicht vorgesehen, dass etwas nicht lösbar war. Ich sehe ihn vor mir, mit welcher Irritation er von Israel und Palästina erzählte. Weil er einfach nicht wusste, was zu tun war. Es musste doch einen Weg geben? Er betrachtete das wie ein Schachspiel, und er kam nicht auf den richtigen Zug. Obwohl es ihn geben musste, davon rückte er nicht ab. Er wollte Frieden und Fortschritt und Gerechtigkeit, er wollte das ganze alte SPD-Zeug, von dem heute kaum noch etwas mehr übrig ist. Er war überzeugt, dass die Welt zu verbessern sei, dass sie jetzt sofort und direkt vor Ort zu verbessern sei – und er wäre nicht darauf gekommen, nicht zuständig zu sein.

Er hat in Gaststätten nie mit dem Rücken zur Tür gesessen. Weil man ja nie wusste. Das war eine Folge der Flucht, jede Flucht wirkt ein Leben lang nach.

Mir fällt Ricardo gerade wieder ein, weil er so anders auf Probleme reagierte, als es viele tun. Nicht mit Angst oder Aggressionen und Beleidigungen, nicht mit Pathos, auch nicht mit Hurra und Theaterzauber. Nein, er hat einfach überlegt, wo er anfangen könnte, an der Sache zu arbeiten. Auf seine unspektakuläre, sachliche Art. Und dann ging es eben los. Immer den Idealen nach, weil es doch die einzig mögliche Richtung war.

In den letzten Tagen habe ich oft an ihn gedacht. Morgen, am 29.8., kann man übrigens um 15 Uhr wieder mit den Flüchtlingen aus der Hamburger Messehalle auf dem Karolinenplatz essen und Willkommen feiern. Etwas Essen und Getränke mitbringen, wie zu anderen Partys auch. Einfach so. Ganz unspektakulär.

 

Kurz und klein