Hölpen bi’t Starven

Sünnavend, de 8. Juli. Der Juli heißt im Niederdeutschen auch Heumoond, aber das Wort kenne ich nicht aus meiner Kindheit. Und der Sünnavend war bei uns auch eher der Sünnahmd, meine ich, aber das fällt regional enorm unterschiedlich aus. Mein Platt war das Lübsche mit Mecklenburger Einschlag, schon in Ostholstein findet man anderes Vokabular und andere Betonungen. Egal, man versteht sich. In der Gegend der Herzdame allerdings, in Nordostwestfalen, da verstehe ich längst nicht mehr alles, andere Betonungen, andere Vokabeln, das ist dort zu weit weg von der Küste, jedenfalls für mein Sprachgefühl.

Wie komme ich darauf – ich sehe oder höre mir im Moment wieder gelegentlich Nachrichten auf Plattddeutsch an. Es ist beruhigend, es ist heimatlich, es ist nostalgisch und vieles wird besser, wenn ich es durch das Empfinden dieser anderen Sprache betrachtet. Sie wissen vermutlich, dass sich der Mensch je nach Sprache stark ändern kann, bis hin zum Hervortreten anderer Charakterzüge (ich kannte tatsächlich einen enorm drögen Norddeutschen, der erstaunlich entflammbar wurde, wenn er Spanisch sprach), und im Wesen des Plattdeutschen liegt nun einmal mehr Unaufgeregtes als im Wesen des Hochdeutschen. Man denkt niederdeutsch langsamer, was nicht negativ zu werten ist, man könnte auch sagen, man denkt cooler. Die Sprache ist so.

Sehen Sie einmal hier: „Bunnsdag (das Wort schon! Ist es nicht großartig?) will ne’e Regeln to’t Hölpen bi’t Starven fastleggen.“

Der Bundestag will neue Regeln für die Sterbehilfe festlegen.

Schall ick di helpen bi’t Starven? Also wenn das nicht etwas hat.

Quelle hier.

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Mich erreichte außerdem der freundliche Hinweis, dass es bezüglich des hier oft erwähnten Jahres 1923 gerade eine Ausstellung in der so bequem benachbarten Kunsthalle gibt, da also demnächst auch mal hingehen.

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Es ist ansonsten ein Tag, an dem sowohl die Herzdame als auch ich bemüht sind, und zwar stundenlang bemüht sind, gewisse Angelegenheiten des Nachwuchses organisatorisch zu regeln. Weil da nun einmal Bedarf besteht, ohne ins Detail gehen zu wollen oder zu dürfen. Wir googeln Wege und Verbindungen, wir geben telefonische Anweisungen und retten zugeschaltet Situationen, wir haben einen seltsam kurios und sketchhaft anmutenden Dauereinsatz, es wird mit jeder Stunde immer absurder und es killt mit fast gezielt wirkender Konsequenz das, was wir eigentlich heute vorhatten.

Wir gönnen uns ein wenig Verzweiflung und machen weiter, was sonst.

Ich hätte heute besinnlich arbeiten wollen, es war ein ausgesucht perfekter Tag dafür, es hat nicht sollen sein.

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Und hier noch eben ein heiter anmutendes Update vom Klimawandel, ich zitiere nach dem ZDF-Newsticker: „Immer mehr Strandkorb-Verleiher an den Ostseestränden der Lübecker Bucht geben sich einen tropischen Touch. Palmen säumen den Weg zu den Strandkörben, an einigen Stränden erinnern auch reetgedeckte Sonnenschirme und Liegen an südlichere Gefilde. „Wir lieben Palmen, und wir möchten gerne den Leuten noch ein bisschen mehr Urlaubsgefühl geben“, sagte Natascha Diestel-Babakerd vom „Strand 36“ in Timmendorfer Strand. In den sozialen Medien kommen die Palmen gut an. Die Fotos mit „Südseefeeling“ würden häufig gelikt, hieß es.“

Was soll man noch sagen.

Ansonsten ein warmer, fast heißer Tag. Ich mache am Abend wieder einen Untergrundspaziergang, ich gehe in den Stationen einfahrenden U-Bahnen entgegen und stelle mich in die tunnelkühle Luft, die sie vor sich herschieben. Schön ist das.

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Zusammenreimen und weitermachen

Freitag, der 7. Juli. Abschließend zu meiner in den letzten Tagen wiederholt geäußerten Medienkritik zitiere ich eine Meldung auf der Startseite eines großen deutschen Mediums, am Morgen habe ich sie heute gesehen: „Wembys Sicherheitsmann schlägt Britney Spears ins Gesicht – Großes Gedränge vor einem Restaurant, Fans drängen und kreischen. Britney Spears tippt einem bekannten Basketballspieler von hinten auf den Rücken. Security erkennt auf Angriff – und autsch!“

Das ist der Spiegel, der so schreibt, und mehr muss man dazu wohl auch nicht mehr sagen. Thema durch.

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Mittlerweile bin ich mir halbwegs sicher, meine eigene kleine allgemeine Feldtheorie über die sozialen Entwicklungen und Verwerfungen der Gegenwart gefunden zu haben. Lange habe ich mich gefragt, wie sich alles zusammenreimen lässt, ich fand einiges schier unbegreiflich, so überaus sonderbare und seltsam schnelle Entwicklungen um mich herum, jetzt aber weiß ich es. Selbstverständlich bin ich allerdings nur ein Blogger von eher geringem Verstand und erhebe daher nicht den geringsten Anspruch darauf, mit meinen An—oder Einsichten richtig zu liegen. Es ist ungemein befreiend, diesen Anspruch nicht zu haben, ich empfehle das ausdrücklich zur Nachahmung.

Es ist nämlich so. Die Gegenwart, die wir alle in irgendeiner Weise empfinden, vermutlich auch immer aufdringlicher empfinden, sie drängt uns immer mahnender zu moralischen Entscheidungen und zu ethisch korrekten Handlungen. Das hat sie längere Zeit nicht oder nur kaum hörbar getan, jetzt aber tut sie es. Man kann wohl darüber streiten, wie lange schon, man kann aber kaum darüber streiten, dass sie es immer nervtötender tut, immer lauter, drängender, fordernder. Wir müssen uns gründlich anders verhalten, um die Welt zu retten, um uns zu retten und die paar noch übrigen anderen Arten auch. Wir müssen in allem nachhaltiger werden usw., wir müssen also, das heißt es unabwendbar, an vielen Stellen verzichten, vermutlich erhebliche Wohlstandsverluste hinnehmen oder unseren Wohlstand doch zumindest grundlegend anders verstehen, definieren und gestalten. Wir werden außerdem vermutlich demnächst mit wesentlich größeren Krisen zurechtkommen müssen, als es in den letzten paar Jahrzehnten, etwa in meiner Jugend, von uns erwartet wurde, das sicher auch. Wir müssen also viel vernünftiger sein, um es auf eine konzentrierte Formel zu bringen.

Das ist nun eine Eltern-Ich-Formulierung, nicht wahr, um ein altes Modell zu benutzen, es passt mir gerade hervorragend. Das Eltern-Ich mahnt also ernst zu Mäßigung und Verzicht, in vielen Zusammenhängen und in etlichen Situationen. Es ist dies aber eine schlimme Forderung, eine furchtbare Zumutung. Denn die Fähigkeit zur Mäßigung war zwar über viele Jahrhunderte eine eminent wichtige und auch als erstrebenswert geltende Tugend in nahezu allen Weltgegenden und Religionen, sie war es aber nicht bei uns in den letzten, na, sagen wir sechzig Jahren. Der Verzicht ist in dieser Zeit eher das Böse schlechthin geworden, weil er das Gute ist, wenn Sie mir noch folgen können. Das Gute nervt uns nämlich erheblich, Moral und Ethik, igitt, geh mir weg.

Oder um den Finanzminister zu zitieren: „Ich will nicht verzichten!“ Es ist ein bemerkenswert infantiler Satz, den er da vor einiger Zeit getwittert hat, aber es ist doch auch ein großes Zitat, weil es einem zur Einsicht verhelfen kann, worum es bei allem geht.

Es ist diese Angst vor dem Verzicht und der Mäßigung, welche die Menschen noch mehr in die Gier treibt, in die Torschlusspanik oder auch nach Sodom und Gomorrha und auch zum babylonischen Turmbau bis hoch zum Mars, wie man es sehen möchte. Die Angst vor dem Verzicht treibt das innere Kind in wildeste Trotzreaktionen, denn das Kind will alles haben, alles behalten, alles benutzen oder auch kaputtmachen, ganz nach Belieben, und zwar jetzt.

Das ist die eine Seite. Sie erklärt mir den weiterhin steigenden Absatz an SUV, die überhöhten Geschwindigkeiten im Straßenverkehr, die Grillorgien, die vielen Flugfernreisen, die Kreuzfahrten, Fast Fashion und alles, was in diese Richtung geht, die ganze Gier, das unbedingte Habenwollen und Behaltenwollen, das Maßlose auch, sie erklärt mir ebenfalls, wieso die Menschen so aggressiv reagieren, wenn man sie auf dies und das hinweist. Es sind stets die inneren Kinder, die da rebellieren, die jetzt in der Trotzphase sind, die sich auf den Boden schmeißen und brüllen, dass „Die Grünen“, gemeint als Wahngebilde aller, die irgendetwas mit moralischer Begründung wollen, bloß abhauen sollen. Doch, ich denke, es erklärt sich tatsächlich so, es ist dieser Mechanismus.

Und auf der anderen Seite haben wir dann aber die, welche sich im strebenden Eifer auf die Elternseite begeben, die Überkompensierenden. Das erklärt mir die seltsamen Ausgeburten an brennendem Belehrungseifer, an Puritanismus, Prüderie und an Hochleistungen im Moralkeulenschwingen, die man gleichfalls kaum übersehen kann. Pietcong in etlichen Ausprägungen, Rechthaberei in merkwürdig entgrenzter Raserei, verbrennt sie, verbrennt sie, sie ist eine Hexe, und wo steht der Pranger, wir brauchen ihn jetzt wieder.

Tobendes Kinder-Ich hier, schimpfendes Eltern-Ich da. Vermutlich kommt beides in verschiedenen Anteilen ins uns allen vor, je nach Themengebiet. Was macht man aber nun, wenn man mit der Mehrheit dessen, was man bewusst steuern zu können meint, dazwischensteht und sich nicht dauerhaft auf eine Seite schlagen möchte, weil einem beide Clubs nicht recht sympathisch vorkommen?

Man macht, und jetzt schlägt argumentativ meine große Stunde, einfach weiter. Sie können das kurz googeln, was man denn bloß machen soll, wenn das Kind in die Trotzphase kommt, wie hilft man da, wie erzieht man da, was macht man denn bloß, soll man strafen, soll man loben, herumtricksen, ablenken, was ist richtig, wie geht das? Man verhält sich einfach weiter und richtig, das ist die Antwort. Oder es ist zumindest eine der möglichen Antworten, und vermutlich die beste. Vorbild sein, so nennt man es auch. Aber das klingt mir schon wieder viel zu schlimm und vor allem zu mahnend, und ich würde da auch meinen eigenen Ansprüchen kaum je gerecht werden können. Ich sage daher nur: Weitermachen, auch wenn keiner guckt. Und dann erst recht.

Nicht als hysterisch tobendes Kind ohne jede Affektkontrolle, nicht als belehrender Vater mit rigoroser Moral und erhobenem Zeigefinger, sondern als stets bemühter, möglichst erwachsener Mensch.

Und dann einfach dieses Mittelmaß und die damit verbundene Mäßigung in aller gebotenen Dezenz unaufgeregt ausstrahlen.

Das ist alles. Mit dieser Theorie kann ich so gut wie alles verknubbeln. Glaube ich. Aber bitte, glauben Sie ruhig etwas anderes, das ist in Ordnung und am Ende haben Sie sogar Recht.

Ich für meinen Teil, ich finde das alles sehr zufriedenstellend so.

Egal. Weitermachen.

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Nachlassende Dringlichkeit

Donnerstag, der 6. Juli. Ein unangenehmer Ameisentag, auftragsgemäße Betriebsamkeit im Nonstop-Modus. Die Herzdame und ich machen eskalierendes Home-Office in getrennten Zimmern, ab und zu treffen wir uns zufällig im Flur und fragen uns dann, was denn das bitte für ein Tag sei? Wir rennen nicht gerade schreiend im Kreis, aber es fehlt auch nicht viel.

Am Abend habe ich ein neues Buch angefangen, Mercè Rodoreda: Auf der Placa del Diamant, die Software verweigert mir gerade das korrekte Sonderzeichen unter dem C im Titel, pardon. Aus dem Katalanischen sensationell toll übersetzt von Hans Weiss, mit einem Nachwort von Gabriel Garcia Márquez. Der Verlag spricht von „ungewöhnlicher Eindringlichkeit“, ich kann das nach wenigen Seiten bestätigen. Von der Rodoreda ist auch der „Garten über dem Meer“, ein unbedingt empfehlenswertes Buch mit etlichen und ganz wunderbaren erzähltechnischen Besonderheiten, wirklich etwas sehr Feines. Falls Sie noch Urlaubslektüre suchen … sie ist eher unterschätzt und zu wenig bekannt, eine hervorragende Autorin. Den Garten über dem Meer gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Roger Willemsen.

Das Taschenbuch "Auf der Placa del Diamant"

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Und die geschätzte Dota Kehr hat wieder Mascha Kaléko vertont, es gibt ein neues, feines Album mit vielen Gästen, hier dazu ein Interview mit ihr.

Besonders schön auf dem Album auch das Duett mit Gisbert Zu Knyphausen, hören Sie mal rein. Noch eben die Konzertdaten für den Herbst.

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Die Welt redet ansonsten viel über die neue App „Threads“ von Meta, die allerdings in der EU noch nicht verfügbar ist. Einige drängen sich dennoch trickreich durch, legen sich fiktive amerikanische Postadressen zu und melden sich über Umwege von hier aus an, posten Screenshots, Anleitungen und Bewertungen – ich stelle fest, dass ich es nicht mehr so eilig habe. Deutlich nachlassende Dringlichkeit, was solche Versuche angeht, ich muss nicht mehr unter den Ersten sein, ich muss vielleicht auch gar nicht dabei sein, das hat sich gründlich geändert. Wenn ich mir das gravierende, völlig absurd anmutende Datenschutzproblem dort ansehe … ich weiß ja nicht.

Und die Timeline gibt es in dieser App nicht chronologisch, sie ist nur nach Algorithmus ausgewählt und zusortiert verfügbar… ach nee, ich glaube, ich habe gar keine Lust.

Auf meine Konsequenz in dieser Hinsicht würde ich zwar keinen allzu hohen Betrag wetten, aber doch mittlerweile einen viel höheren als früher.

Bei den Menschen in meinem Umfeld, die weniger internetaffin sind als ich, nehme ich überhaupt kein Interesse an den Meldungen zum Thema wahr. Aber gut, da ist dann wieder der Stichprobenfehler zu beachten. Würde man die App morgen freigeben, sie wäre sicher auch in Europa ein enormer Erfolg, gar keine Frage. So weit reichen Datenschutzbedenken dann doch nicht in den Alltag hinein.

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Zerzauste Elstern, herangewehte Krähen

Mittwoch, der 5. Juli. Ein dunkler, regenreicher Morgen, nasse Ringeltauben auf dem Balkongeländer, vertrieben von zerzausten Elstern, verdrängt von in Böen herangewehten Krähen. Unten gehen Menschen mit Regenschirmen, die im Wind umklappen, so früh am Tag schon. Unmotivierte Hunde werden noch vor dem Frühstück um Blöcke und auf Grünstreifen geschleift, und wie immer frage ich mich, was die Hunde eigentlich denken, wenn die Menschen so sorgsam ihre Kacke aufsammeln und dann eine Weile mit sich herumtragen.

Der Wind ist am Vormittag auch bei geschlossenen Fenstern zu hören, ein stetes Heulen im Hintergrund, dazu das Trommeln des prasselnden Regens auf dem Dach. Ich habe heute ein besonders gemütliches Home-Office in dieser Kulisse, nebenbei sehe ich die zahlreichen Unwetter-Meldungen, die Updates aus Holland und von der deutschen Nordseeküste auf dem Zweitbildschirm.

Mittags fahre ich schnell und zwischen zwei Terminen in den Garten, um dort das Trampolin zu vertäuen, die Hollywoodschaukel abzutakeln und ein paar Lampions, Stühle etc. zu sichern. Der Kirschbaum schlackert im Sturm schwungvoll mit den Früchten. Ich esse eine Handvoll davon im Vorbeigehen und verlasse nach getaner Arbeit die Insel sofort wieder; es ist mir dort entschieden zu viel Holz in der Luft, die alten Bäume wiegen sich für meinen Geschmack zu sehr im aufkommenden Orkan. Die hohen Pappeln machen das gar nicht unelegant, erstaunlich geschmeidig sind sie, aber doch auch riesig und gefährlich. Wenn so eine fällt, sie zerlegt gleich mehrere Lauben.

Ich habe ja, wie schon oft erzählt, einmal erlebt, dass in einem Sturm ein Baum direkt hinter mir fiel, zwei, drei Schritte hinter mir nur. So ein großer Baum, den ich sicher nicht überlebt hätte, wäre ich nur zwei Schritte langsamer gewesen, wäre ich drei Sekunden später losgegangen. Bis dahin war mir nicht klar gewesen, wie schnell so etwas gehen kann, wie schnell die stürzen können. Ich hatte immer gedacht, man hätte bei so etwas eine Chance, aber dem war gar nicht so. Und ich stand da also nur und dachte mehrmals vollkommen entgeistert: „Das wäre es gewesen.“ Man denkt nicht besonders tiefgründig in solchen Momenten. Es ist schon lange her, fast dreißig Jahre, aber es hat mich doch nachhaltig beeindruckt und ich nehme seitdem Sturmwarnungen vermutlich etwas ernster als andere. Orkane bringen Menschen um, ich weiß das.

Es gibt später Eintopf zuhause. Ich muss solche Gelegenheiten im Sommer unbedingt nutzen, ich kann endlich einmal kochen, ohne dass mir dabei unsinnig heiß wird, auch das finde ich schön.

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Hier noch ein Artikel über die Vogelgrippe vom geschätzten Herrn Fischer. Ich verlinke ihn hauptsächlich wegen des letzten Absatzes, der eine soziale, bzw. entwicklungspolitische Implikation enthält, wobei sich mein Optimismus in Grenzen hält, dass dieser Logik gefolgt wird.

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Der 4. Juhu

Dienstag, der 4. Juli. Ich habe mich eben vertippt, hier stand gerade Dienstag, der 4. Juhu, und das klingt doch auch schön. Es passt allerdings nicht ganz zu meiner Morgenstimmung.

Im Laufe des Tages poppen die Unwetterwarnungen auf dem Handy auf, erst die für Helgoland weit draußen, dann die für Eiderstedt an der Küste, schließlich auch die für Hamburg, es geht also um Westwind. Einen wahrhaften Okan soll es geben, die Vorhersagen für morgen sind kernig und ungewöhnlich für einen Juli. Wir überlegen hin und her, wer es heute noch wann in den Garten schaffen kann, um dort einiges zu sichern. Es ist kompliziert und kaum zu lösen, solche Ereignisse sind im Wochenplan überhaupt nicht vorgesehen.

Ich gehe mit einem Sohn am Nachmittag zum Zahnarzt. Im Wartezimmer möchte jemand gerne über die vielen Türken in Deutschland lästern, was eine etwas seltsame Idee ist, wenn man in eine Praxis mit einem recht eindeutig türkischen Namen auf dem Schild draußen an der Tür geht. Böse Blicke, als ich nicht darauf eingehe und abwinke. Einer von den Typen, die pausenlos gucken, ob jemand guckt, den oder die man dann vielleicht zutexten kann. Anstrengende Leute.

In den Nachrichten und in den sozialen Medien toben die Debatten um die Kürzungen beim Elterngeld, ich lese es nur nebenbei. Die Diskussion wird plattformübergreifend allerdings betont unsachlich geführt, das sehe ich auch beim Querlesen. Vielleicht können wir es mittlerweile gar nicht mehr anders.

„Guck mal, es regnet.“

„Das kannst du auch nur so ruhig schreiben, weil du im Trockenen sitzt, check mal deine Privilegien, bevor du hier so etwas von dir gibst!“

Manchmal bin ich sehr müde von dieser Art, Gespräche zu führen. Oder neulich, als der Ministerpräsident von Schleswig-Holstein dafür kritisiert wurde, dass er dieses dämliche Partykracher-Lied mitgesungen hat, und er zur Antwort gab: „Wir haben auch andere Lieder gesungen.“ Das sind doch keine Diskurse unter Erwachsenen mehr, das sind Musterbeispiele für Niveaulimbo, how low can you go.

Früh ins Bett, noch etwas Colette gelesen, Kurzgeschichten über Frauen.

Später werde ich lesen, dass auch der Dienstag der heißeste Tag global war. Der Rekord vom Montag wurde also bereits gebrochen: „experts expect record to be broken again very soon.“

Noch später werde ich lesen, dass es die sieben heißesten Tage in Folge waren.

Einfahrende Züge auf den Gleisen vor dem Hauptbahnhof, Blickrichtung zum Fernsehturm

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Der Mensch als Kümmerer

Montag, der 3. Juli. Die schlechte Nachricht ist, dass ein Sohn sich am Wochenende einen Zeh eventuell gebrochen hat, prächtig lilafarbene Gliedmaßen, die gute Nachricht ist, dass er mittlerweile alleine zum Orthopäden kann, auch humpelnd. Es ist schon nett, wenn sie älter werden, doch, doch.

Aber, versteht sich, bei Bedarf wäre ich auch mitgegangen. Ohnehin verbringt der Durchschnittsmensch quer durch alle Länder und Kulturen, so lese ich gerade, die meiste Zeit damit, sich um sich und andere zu kümmern. Der Mensch als Kümmerer, homo curans. Keine Ahnung, ob mein Latein noch so weit reicht, ich denke mir das nur aus und ich habe auch damals im Unterricht mehr geraten als gewusst. Es hat immerhin zum Durchkommen gereicht.

Ich kümmere mich heute durch Einkaufen, Kochen, Küchenreinigung, durch das Aufhängen der Wäsche, durch die Taschengeldverwaltung, durch Schokoladenzuteilung, Arztterminverwaltung und auch durch väterlich mahnende Regenjackenhinweise um die Familie. Ich werde der Studie heute also einigermaßen vorbildlich gerecht und staubsauge dann noch schnell. Wenn man schon dabei ist!

Ich höre auf meinen Wegen Wolfgang Borchert, auf den ich gestern wegen der Story mit Bill Brook wieder gekommen bin, gelesen von Peter Bieringer. Borchert ist auch einer von denen, die sich gut damit auskannten, was passiert, wenn Rechtsaußen an die Macht kommt, man nannte das, was er schrieb, dann folgerichtig auch Trümmerliteratur. Nicht weit von unserer Wohnung steht ein Denkmal für ihn am Alsterufer, es wird oft besprüht und beschmiert.

„Stell Dich mitten in den Regen,
glaube an den Tropfensegen,
spinn Dich in dies Rauschen ein
und versuche, gut zu sein!“

Das ist ein Imperativ fürs Leben, nicht wahr, „und versuche, gut zu sein.“ Ich mag das Gedicht sehr, „Versuch es“ hat er es betitelt. Ja, man versucht so vor sich hin.

***

Es regnet, es windet, es oktobert heute etwas, ich finde es ausgesprochen nett so. Die nächste Hitzewelle baut sich währenddessen schon auf, über 30 Grad sollen es in Kürze wieder werden. Ich mache Home-Office, ich sehe zwischendurch aus dem Küchenfenster runter auf den Spielplatz. Da sitzt ein Elternpaar im Nieselregen am Sandkistenrand, der Nachwuchs krabbelt und schaufelt Matsch, dreimal Regenjacken, dreimal Gummistiefelpaare, alles werbeprospektbunt. Wie lange das bei uns schon her ist, dass wir dort gesessen haben.

***

Die Herzdame und ich fahren am frühen Abend in den Garten, wir haben am Wochenende dort etwas vergessen. Ich pflücke etwas regenkaltes Obst, ich werde nass dabei, ich finde es schön. Glitzernde Tropfen auf sauren Kirschen, und Regen wäscht dann auch das Blut vom Finger, den ich mir in den Stachelbeeren schon wieder beim gierigen Grabbeln im Gesträuch aufgerissen habe.

Wir essen noch ein Stück Kirschkuchen in der Laube, es trommelt dabei auf das Dach, einige Schauer fegen über uns hinweg.

Wir sind die einzigen Menschen weit und breit. An verregneten Werktagen fährt niemand in die Gärten, an Montagen schon gar nicht. Wir sind hier wie abgetaucht im Laubenland, fern von allem, Parzellenpartisanen im grünen Untergrund. Ringsum Vögel, Eichhörnchen und Igel, eine freundliche Gesellschaft.

Immerhin eine halbe Stunde lang. Und wir haben Kuchen.

Ein Kirschkuchen, ein Stück auf einem Teller, daneben Gläser mit frischer Kirschmarmelade

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Später werde ich lesen, dass dieser Montag ungeachtet der Kühle bei uns der heißeste Tag auf der Welt in der Geschichte der Messungen war.

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Süße Bretterbuden

Sonntag, der 2. Juli. Gartengeburtstag, so steht es heute im Familienkalender. Wir sind, ich muss es erst nachrechnen, jetzt im siebten Gartenjahr. Ohne Gewähr, es ist mir gerade zu kompliziert. Gestern waren wir kurz dort, es gab die Hundertjahr-Feier des Gartenvereins bei strömendem Regen, ein Wettergeschenk für die verdorrenden Parzellen zum Jubiläum. In der Laube war es erstaunlich kühl, eine feuchtklamme Oktobertemperatur war es, aber wir hatten keine Zeit, das ausgiebig zu genießen. Wir haben nur eben einen Großeinkauf in die Schränke verräumt und mussten dann schnell weiter.

Nebenbei habe ich auf dem Fest mit einem geschätzten Gartenfreund kurz besprochen – auch dieser Verein hat also einen Bezug zum Jahr 1923, über das ich gerade so viel lese. Auch der Verein hat selbstverständlich mit deutscher Geschichte zu tun, und das nicht zu knapp. Man könnte die letzten hundert Jahre dementsprechend auch am Beispiel dieser Kolonie abbilden, die immerhin schon aufgrund ihrer Insellage im Fluss ein bemerkenswertes Phänomen ist, auch in der deutschen Schrebergartenwelt. Man könnte hundert Jahre hinter Hecken ergründen und abbilden, die letzten Zeitzeugen über vergangene Jahrzehnte befragen – aber wer sollte für so ein Projekt Zeit haben.

Es gibt eine Kurzgeschichte von Wolfgang Borchert, Sie kennen sie vielleicht, „Billbrook“. Darin geht es um einen kanadischen Feldwebel, der nach dem Zweiten Weltkrieg in Hamburg stationiert ist, er heißt Bill Brook. Er bemerkt, dass es in Hamburg einen Stadtteil Billbrook gibt, der also so heißt, wie er heißt, es irritiert ihn sehr, eine verwirrende Erfahrung, er liest das Schild mit dem Hinweis immer wieder. Und er beschließt, dorthin zu gehen, vom Alsterufer in der Innenstadt aus, an dem sein Hotel steht. Es ist ein weiter Weg nach Billbrook von der Alster aus, er geht zu Fuß und er geht lange, stundenlang. Zuerst geht er noch durch halbwegs normal anmutende Straßen, nur hier und da eine Ruine, dann immer mehr durch eine unwirkliche Geröllwüste, denn das östliche Hamburg liegt direkt nach dem Krieg komplett zerstört und größtenteils menschenleer. Es geht in der Geschichte darum, was dieser Gang durch die Wüste im Kanadier auslöst, wie es ihn mitnimmt. Er steht irgendwann auf einer Brücke mitten im Nichts, auf einer Brücke, die zerbombte Geröllfelder verbindet. Es könnte die Brücke sein, die bis heute zur Billerhuder Insel führt, auf der unser Garten liegt, sie liegt am Weg. Ich zitiere nach Projekt Gutenberg:

„Er fühlte sich unbehaglich, Bill Brook, und er war froh, als er plötzlich auf einer leicht geknickten geländerlosen Brücke vor einem kleinen hellen grünsilbernem schlickschwarzen Kanal stand. Er vergaß froh die Wüste, die im kilometerweiten Kreis ihn umkreiste. Er war ganz glücklich auf einmal und er hätte beinahe in die Hände geklatscht wie vor einem Geburtstagstisch, der sechsundzwanzigjährige Mann, als er am Kanalufer ein paar bunte lebendige Gärten, Wäscheleinen und Rauchfähnchen sah. Junge auch! knirschte er zwischen seinen breiten weißen Zähnen. Denn da schrien Kinder, eine Frau sang, einige Männer schimpften auf die Spielkarten, eine Gießkanne zischte, ein Dackel hustet. Junge auch, und die Unterhosen, die Strümpfe, die hellblauen, blaßroten Büstenhalter auf der Wäscheleine wedelten und ruderten und winkten aufgeregt: He, Herr Feldwebel, kommen Sie getrost näher. Sie können ruhig mal rüberkommen, Herr Feldwebel, wirklich, genieren Sie sich nicht!

Und Bill Brook, der Mann aus Labrador, schlug erleichtert mit beiden Fäusten auf das Stück Brückengeländer, das aus Versehen stehengeblieben war. Und er dachte glücklich: Sieh mal an! Diese kleinen süßen Bretterbuden! Wie kleine appetitliche Paläste! Und aus den Fenstern und Dächern kommen diese allerliebsten herrlichen gebogenen verdrehten Ofenrohre. Und aus diesen prächtigen pechschwarzen Rüsseln von Ofenrohren kommt so ein ganz blauer beweglicher krauser Rauch. Holzrauch, Pappenrauch, Rauch von gestohlenen Planken und Zäunen. Richtiger lebendiger lebenskräftiger unschuldig himmelblauer kräuslicher Rauch! Einen Moment, du verwegener alter Rauch, Moment, du alter hustender Dackel, Moment, ihr bildschönen Büstenhalter, einen Moment: Ich komme! Ich komme mal eben runter zu euch, wenn es recht ist.“

In den Gärten schrien die Kinder, schreibt Wolfgang Borchert, und es gibt heute noch Menschen in unserem Verein, die sind dort tatsächlich geboren worden, mitten in den Gärten, auf der Insel in der Bille, in den kleinen, süßen Bretterbuden. Aber gut, es könnte auch eine andere Stelle auf dem Stadtplan in der Kurzgeschichte gemeint sein, es gibt noch mehr Gartenvereine auf dem Weg und ich weiß bei den anderen nicht, wie alt sie sind.

Das gesprühte Wort "Brook" an der S-Bahnstation Rothenburgsort

Jedenfalls die Feier vor dem Vereinsheim im Regen. Es besteht im baulichen Kern übrigens aus den Resten einiger Baracken des Roten Kreuzes, noch von 1945 … na, das ist ein zu weites Feld.

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Der Tag war ansonsten eine ausführliche Ausarbeitung des alten und von mir als eher blöd empfundenen Spruchs „große Kinder, große Sorgen“, wie alle Eltern sicher wissen, kommt es manchmal doch hin. Ich halte den Satz dennoch für grundsätzlich falsch, aber egal. Wir haben uns also eher durch den Tag gemüht, die Herzdame und ich, es gab Ärger, Sorgen und Zumutungen verschiedener Art, variatio delectat.

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Währenddessen in den Blogs, Ausgabe 8.7.2023

Ich habe für das Goethe-Institut wieder etwas über die Lage geschrieben.

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Weitere Links bei Kiki, ich teile ihre Alles-Anzünden-Schlussfolgerung bei Verkehrsfragen und staune weiter, wie schnell wir jeden Konsens bei diesem Thema aufgeben. Es brechen recht eindeutig immer mehr Menschen immer öfter mehr Regeln. Ich kann das ziemlich einfach abzählen, etwa anhand der Leute, die hier entgegen der Einbahnstraße mit etwa 50 durch die Zone 30 fahren usw.  Es ist wirklich verblüffend, es tritt quer durch alle Gruppen und Altersklasssen ein, es ist gesellschaftlich sicher ein schlechtes Zeichen und ich glaube, dass das steigende Interesse an seltsamen Parteien und populistischen Versprechungen mit dem eindeutigen und rapiden Anstieg der Anzahl an Kurzdistanzmaximalbeschleunigern mit erheblichem Mangel an Affektkontrolle im Stadtverkehr irgendwie korreliert.

Aber ich beobachte das natürlich in der Mitte von Hamburg. Vielleicht ist es bei Ihnen ganz anders, das kann immer sein, vielleicht gibt es hier besondere Effekte, auf die ich nicht komme. Wir haben bekanntlich alle diesen Stichprobenfehler in unserer Wahrnehmung, den man gar nicht oft genug erwähnen kann.

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Näheres zum Aufgabenbereich von Landräten, die sind ja neuerdings von einigem Interesse.

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Ankes Blog wird 21, sie meldet es mit mäßigem Enthusiasmus. Sturm und Drang liegt eben weit hinter uns. Manche Blogs schlafen bekanntlich auch ein, aber es fehlt den Autorinnen dann vielleicht auch etwas. Und manche holen zusammenfegend größere Zeiträume auf, andere fangen nach längerer Pause mit einem bestimmten Format wieder an, es gibt viele Möglichkeiten. Ich stehe einfach jeden Morgen auf und schreibe, ich könnte es gar nicht tiefschürfender erklären. Das gehört mittlerweile einfach so, wie Zähneputzen oder Kaffeetrinken.

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Hier wird meine Lektüre zum Jahr 1923 aufgegriffen.

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Nicola über die Aufmerksamkeitsökonomie, geschrieben mit einem Herz für Langversionen.

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Vanessa mit einer Buchempfehlung und außerdem mit Bienenstich, ich bin etwas neidisch. Ferner ein Absatz zur Elterngelddiskussion und zur Schuldenbremse, auch interessant.

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Mainstreammarmelade

Sonnabend, der 1. Juli. Ich wache herzinfarktgefährdet auf, denn es klopft energisch von außen an die Balkontür, was bei einer Wohnung unterm Dach doch eher nicht vorgesehen ist, schon gar nicht gegen fünf Uhr am Morgen. Die Rabenkrähe ist es, die vielleicht etwas mehr Hunger hat als sonst und mit dem Schnabel nach drinnen morst: Jetzt! Erdnüsse! Viele! Es sind schlaue Vögel, sie wissen definitiv, wie es läuft. Und es läuft dann auch, also ich in dem Fall.

Es ist ansonsten der einzige gesicherte Regentag weit und breit, die ersten Tropfen auf den Fenstern erscheinen prompt, während ich mir den ersten Kaffee mache. Sehr viel mehr Regen wird es heute noch werden, sagt der Wetterbericht, und ich habe ausgerechnet an diesem Tag zwei Outdoor-Termine, sonst weit und breit keine im Kalender. Wie persönlich soll man alles nehmen? „Wenn ich mal richtig ICH sag, wie viele da wohl noch mitreden können?!“ Rühmkorf hat das damals geschrieben, Phönix voran hieß das Gedicht, ich habe schon oft daraus zitiert.

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Am Morgen gelesen: Der Meeresspiegelanstieg in Thailand. Immer wieder diese bemerkenswerten Stücke im Guardian, auch mal Medien loben. Außerdem: Die rassistische Revolution in einer deutschen Zeitung. Wenigstens auf die taz kann man sich noch verlassen, stabile Haltung da.

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Die Herzdame hat gestern Kirschen gepflückt, viele davon. Die Herzdame braucht nun in logischer Folge Gelierzucker, mindestens fünf Pakete, sagt sie. Im Supermarkt, in den ich weisungsgemäß und wiederum beflissen eile, gibt es allerdings nur noch zwei davon. Ich stehe vor leergeräumten Regalen, denn auch hier gilt vermutlich wieder: Man schwimmt so im Mainstream dahin, auch beim Zubereiten der Marmelade und beim Kauf der benötigten Zutaten.

Aus dem Laden „Kräuterhaus“ auf meinem Weg wurden sämtliche Zimtlatschen gestohlen, in allen Größen und Farben. Ich lese es auf dem Rückweg vom Gelierzuckerkauf, es hängt ein Aushang zum Vorfall im Schaufenster. Man nimmt, so lese ich weiter, zwar an, dass das Karma die Unholde schon richten wird, hat den Diebstahl aber auch ganz konservativ zur Anzeige gebracht. Immer alles doppelt absichern, ich verstehe das.

Ich wusste allerdings nicht, dass es Zimtlatschen überhaupt noch gibt, das Stichwort klingt für mich eher nach 1990. Ungefähr.

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Abends im Bett habe ich noch etliche Gedichte von Karl Krolow gelesen und nicht verstanden. Ich erwähne das ab und zu, damit es vielleicht jemand nachmacht, es ist nämlich vollkommen in Ordnung, Gedichte zu lesen und nichts zu verstehen. Es ist vielleicht sogar großartig verwirrend, und wenn man dann zwei, drei Zeilen findet, die doch irgendwie anklingen, wie schön das dann immer ist – aber es ist leider auch so eine aussterbende Kulturtechnik, fürchte ich, sich von Gedichten irritieren oder betören zu lassen. Lest mehr Lyrik, esst mehr Obst!

Hier noch mehr Rühmkorf.

Ein aufgeschlagenes Buch, der Anfang des Gedichtes "Variaton auf "Abendlied" von Matthias CLaudius

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Es regnet am Morgen

Freitag, der 30.6. Der Juni neigt sich, ich erledige weitere Monatsabschlussdinge in diversen Berufen und nehme nur nebenbei und widerstrebend zur Kenntnis, wie verschiedene etablierte Medien durch ihre Berichterstattung den Faschismus immer weiter normalisieren.

Mario Sixtus fasst es auf Mastodon recht gut zusammen:

Hitler: „Ich bin kein Nazi!“

Deutsche Presse:
„Hitler: ‚Ich bin kein Nazi!'“

Ein leider zutreffender Scherz. Wieder dieses Summe-Teilchen-Problem, einzelne Journalistinnen in meinen Timelines wirken durch die Bank zurechnungsfähig, vernünftig, gut oder sogar hervorragend informiert und eindeutig der klaren Analyse fähig, auch moralisch gefestigt, in der Gesamtheit aber, bzw. in dem, was sie da als Blatt oder Seite oder Sendung produzieren … Es ist doch arg seltsam. Selbiges gilt übrigens auch für die SPD und für die Grünen, vielleicht sogar noch deutlicher. Es gilt aber faszinierenderweise nicht für andere Parteien, das ist auch leicht festzustellen. FDP-Mitglieder etwa sind auch einzeln oft schwer zu ertragen ob ihrer etwas besessen wirkenden Trollhaftigkeit. Schon von der Art her, wie die Leute aus Parteien sich in den sozialen Medien aufführen und wie dumpf sie dabei argumentieren, kann ich meine Wahlentscheidungen ableiten, und zwar bemerkenswert leicht.

Ich habe es neulich schon einmal erwähnt, ich habe jedenfalls eine Art geistiges Heimweh nach einer Zeit, als Spiegel, SZ, Zeit, Tagesschau und dergleichen noch ausdrücklich meine mediale Heimat waren. Tempi passati, ich bin mittlerweile im Exil beim englischen Guardian.

Nun, man nennt es wohl Nostalgie, es ist überhaupt nichts Besonderes und früher war keineswegs alles besser, ich weiß. Früher war es nur kompatibler mit mir.

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Es regnet am Morgen. Wir sehen aus dem Fenster und denken, dass wir heute nicht gießen müssen, was also alle Gartenbesitzerinnen sofort denken, sobald es auch nur etwas tröpfelt. Zumindest in dieser Hinsicht wird man tatsächlich naturnäher durch so eine Parzelle.

Am Nachmitttag komme ich beim Einkaufen an einer Demo vorbei, an einer kleinen, fast winzigen Demo. Sie richtet sich gegen das Sterben der kleinen Läden im Bahnhofsviertel, gegen die Gentrification und Vertreibung. Es sind Pressevertreterinnen da, es werden Fotos gemacht, jemand hält eine Rede. Es gibt keinen regen Zulauf, das Thema interessiert eher nicht, obwohl sich alle gerne über die Umstände aufregen und es ganz schlimm finden, dass es hier kein Fischgeschäft mehr gibt, keinen Käseladen usw. Pardon, ich korrigiere mich – das Thema interessiert also allgemein schon, bewegt aber keinen ernsthaft zu mehr als zu flapsigen Kommentaren auf Facebook. Das ist nicht als Anklage gemeint, ich stelle es nur fest.

Ein Protestplakat gegen die Vertreibung kleiner Läden in Sankt Georg

Der Juni endet dann mit Amselgesang. Der Vogel sitzt am Abend auf unserem Balkongeländer, nur etwa zwei Meter von mir entfernt der große Soloauftritt. Ich sitze knapp hinter der offenen Tür – und dann erst merkt man, wie laut sie wirklich singen können, die Amseln, es ist unglaublich. Wie aus so wenig Vogel so dermaßen viel Lautstärke und Melodie kommen kann, wie fantastisch das eingerichtet ist.

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