Silber und Salz

Dienstag, der 27.6. Am Morgen lesen, was weit draußen im Pazifik befürchtet und geplant wird.

Ansonsten ein Tag, an dem ich nichts notiert habe, was selten genug vorkommt. Ein Tag also, an dem ich womöglich auch nichts gedacht habe und mich dabei, wie immer in solchen Fällen, dann permanent gefragt habe, ob das nun erholsam sein soll oder was. Mich macht so etwas tendenziell gereizt. Bemüht unbemüht sein, mich verwirrt es.

Nebenbei habe ich immerhin noch festgestellt, dass ein Sohn in diesem Sommer viel entschlossener als ich sein Monatsticket nutzt, dass er nach der Schule mit Freunden den ganzen Streckenplan in Hamburg abfährt, irgendwo aussteigt, dort dann herumgeht. Einfach nur, weil es geht. Heute waren sie in Niendorf. Was macht man denn in Niendorf? „Ja, nichts.“ Aber irgendwelche Eindrücke gewinnen sie doch dabei, denke ich mir. Im nächsten Jahr sollen in Hamburg die Schülerinnentickets kostenlos werden, lese ich, das ist einmal eine gute Nachricht, eine sinnvolle Entscheidung. Ob sie dann auch als Deutschlandticket gültig sein werden, das ist noch in Klärung. Na, man hofft so vor sich hin, und schön wäre es schon.

Mittwoch, der 28.6. Das von einer Großmutter geerbte Silberbesteck, mit dem ich neulich nicht fertig geworden bin, habe ich nach dem Home-Office weiter geputzt. Dabei diese Methode mit Alufolie, Salz und heißem Wasser probiert. Es stellt sich heraus, das funktioniert tadellos, es gibt also Haushaltstipps auf Tiktok, die tatsächlich anwendbar sind. Ich kann mich jetzt sogar wieder in den Löffeln spiegeln, das allerdings empfinde ich als eher unschön. Motivbedingt.

Auf meinen Einkaufswegen noch mehr über das Jahr 1923 gehört, es geht da um Thüringen und die extremrechten Bestrebungen dort, es ist alles enorm frustrierend. Hundert Jahre sind ein Tag. Wenn Sie diesen Satz gerade spontan Udo Jürgens zuordnen konnten und vielleicht sogar die Melodie gehört haben, sind Sie wohl auch nicht mehr das jüngste Exemplar, ne.

Update: Stimmt gar nicht, bei Udo Jürgens waren es tausend Tage! Zunehmende Verwirrung hier, Dank an Thomas Renger für den Hinweis.

Es geht mir nicht durchgehend so, dass mir Nachrichten aus Deutschland oder der Welt spürbar aufs Gemüt oder die Tagesform schlagen, ich komme über lange Strecken mit meinem fröhlichen Fatalismus recht gut durch, im Moment aber ist die Mischung aus dem Erstarken der Rechten und der fortschreitenden Klimakatastrophe plus Krieg schon extraherb. Ich lese in den Timelines von Menschen, die jetzt in energischer Gegenreaktion kurzentschlossen linksgrünen Parteien beitreten. Diese Phase habe ich schon hinter mir, been there, done that, got the t-shirt, es war leider nicht meine Welt.

Aber bitte, machen Sie das ruhig, es ist richtig so und ich wünschte tatsächlich, ich wäre da verwendbarer.

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Ansonsten ist unübersehbar ein islamischer Feiertag, das Opferfest, wie ich dann nachlese. Ich sehe viele Menschen in Festtagskleidung, aus verschiedenen Herkunftsländern und Kulturkreisen, teils sind sie betont prächtig gewandet. Es gibt viel Glanz und viel Gold, leuchtende Farben. Die Kinder können, auch das lese ich nach, an diesem Tag schulfrei haben, wenn die Eltern das so anmelden, ich hoffe, ich gebe das richtig wieder. Aber nach der Zahl der Kinder zu urteilen, die ich zur Schulzeit im Familienverband draußen sehe, wird es wohl so sein.

In der S-Bahn sitzen mir zwei kleine Mädchen in goldfadendurchwirkten, glänzenden Kleidern gegenüber. Ihre Eltern neben ihnen tragen Kleidung aus dem gleichen Stoff, mit dem gleichem Muster, und die beiden Kinder strahlen dermaßen gut gelaunt und aufgeregt, es ist fast ansteckend.

Aber eben nur fast. Das ist immerhin Hamburg hier und man fährt zur Arbeit. Contenance.

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Die Montagslaune

Montag, der 26.6. Nach einer furchtbaren Nacht, es ist erheblich zu warm in der Wohnung, man verglüht auf dem Bett, am Morgen entsprechend unerholt aufgewacht. Tropennächte, es klingt so nett wie in einem Jugendabenteuerroman, ist es im Erleben dann aber gar nicht. Im Wetterbericht prangt in der Vorschau auf die nächsten 14 Tage an jedem Tag ein Regentropfen, an manchen Tagen sind es sogar zwei, Gewitterwolken und Blitze sehe ich auch und die Temperatur soll demnächst deutlich sinken. Ich bin damit nicht unzufrieden, der Garten wird es auch nicht sein, allein mir fehlt noch der Glaube.

Ich lese widerstrebend die Wahlergebnisse in Thüringen nach, die Sache mit dem Landrat. Man kann sie, wenn man sich gerade intensiv über das Jahr 1923 informiert, nur schwer verdauen, nein, man kann sie gar nicht verdauen und es tut mir ausgesprochen leid für alle Menschen dort, die auf irgendeine Art zum Feindbild der Rechten gehören. Es werden nicht eben wenig sein, und sie werden nun noch offener angegriffen werden. Die Mechanismen sind so einfach, und es ist alles bekannt. Man kann es in Geschichtsbüchern nachlesen, in der Soziologie, in der Psychologie, in der Wahlforschung, überall. Bei Joseph Roth, bei allen Autorinnen der verbrannten Bücher, bei so dermaßen vielen, die Bibliotheken sind voll damit.

Und ich halte den Satz, den ich in Kommentaren heute öfter lese, die Politik müsse sich wieder oder mehr „an den Bedürfnissen der Menschen orientieren“ für falsch, für Unsinn, geradezu für ein Missverständnis der demokratischen Gesellschaftsordnung. Politik muss sich an dem orientieren, was richtig und machbar ist. Alles andere ist Populismus. Die Menschen haben das Bedürfnis, überall kostenlos zu parken und auch bei Rot über Kreuzungen zu fahren, um ein einfaches Beispiel zu nennen, und es können einem wirklich viele Beispiele einfallen. Die Menschen haben auch ein Bedürfnis nach Freibier, dann muss die Politik das wohl bereitstellen, was weiß ich. Meine Güte.

Ich sehe mir einen Vortrag zum Klima von Mark Benecke an (darauf gekommen via Sven auf Mastodon), danach ist die Montagslaune nicht weiter steigerbar, der Tag kann weg.

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Berlin, Byron, Beeren

Sonntag, der 25.6. Ich sehe mir am Morgen eines heißen Tages eine arte-Doku an, es geht um die Arbeit bei Hitze. Danach fahre ich in den Garten, auf dem Weg kaufe ich Brötchen in einer Bäckereikettenfiliale. Die Stadt wird gerade erst warm, der Verkäufer trägt aber schon, und ich sehe das in dieser Form zum ersten Mal, einen kleinen Ventilator an einem Band um den Hals. Das Gerätchen ist nach oben gerichtet und kühlt ihm fortwährend das Gesicht und den Hals. Was es jetzt alles gibt, wie es alles zusammenpasst.

Ich höre wieder Volker Ullrich, Deutschland 1923, Das Jahr am Abgrund. Es geht gerade noch einmal um die Hyperinflation und ich möchte eine winzige Stelle zitieren, speziell für Leserinnen und Leser in Berlin. Sie erscheint mir ungemein passend, wenn nicht sogar sensationell passend, diese Stelle, besonders auch für den Freundeskreis Bezüge zu Gegenwart. Durch die aberwitzigen Preise werden im Laufe des Jahres 1923 die Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln für viele Menschen vollkommen unerschwinglich, da alle aber dennoch dauernd irgendwo hinmüssen, wie es in Großstädten nun einmal zugeht, suchen sie sich andere Möglichkeiten und ich möchte eine Schlagzeile aus diesem Jahr zitieren. Vorsicht, sie tut vielleicht ein wenig weh: „Berlin ist jetzt die Stadt der Radfahrer.“ Es ist hundert Jahre her, meine lieben Berlinerinnen, ich winke freundlich.

Auf Dauer können einen die Bezüge zur Gegenwart aber auch ein wenig nerven, permanent musss man beim Lesen oder Hören mitdenken, es ist wie damals in der Oberstufe, keine Seite kann man in Frieden einfach nur genießen. Ich flüchte daher zu Byron, zu seinen Briefen. Aber das hilft auch nicht, denn dort steht, es geht gerade um die Weber: „So sehr wir auch gewiss, mein Lord, jede Verbesserung in den Künsten, die der Menschheit zum Segen gereichen kann, dankbar begrüßen mögen, so dürfen wir doch nicht gestatten, dass die Menschheit den Verbesserungen auf dem Gebiet der Technik geopfert wird. Der Unterhalt und die Wohlfahrt der Armen ist für die Gemeinschaft von größerer Bedeutung als die Bereicherung von ein paar Monopolisten durch technische Verbesserungen, die den Arbeiter seines Brotes berauben und ihn „seines Lohnes unwert“ machen.

1812 war das, stellen Sie sich das vor, 1812. Vielleicht besser noch einmal: „Der Unterhalt und die Wohlfahrt der Armen ist für die Gemeinschaft von größerer Bedeutung als die Bereicherung von ein paar Monopolisten durch technische Verbesserungen …“

Ich lege das Buch weg.

Ich pflücke mir ein paar Himbeeren, Johannisbeeren, Stachelbeeren, Erdbeeren, Süßkirschen, Sauerkirschen und dann auch noch auch drei Gurken. Der Mensch braucht Ablenkung, denke ich mir. Er kann sie in Beeten und anderswo finden.

Eine kleine Schüssel voller eben gepflückter Himbeeren

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Legale Suchtmittel zur freien Verfügung

Sonnabend, der 24.6. Der Tag beginnt mit den Ereignissen in Russland, der Prigoschin-Aufstand. Ich hänge selbstverständlich an den Newstickern, es ist eine Sucht. Nie habe ich es geschafft, solche Lagen zu ignorieren oder einfach etwas abzuwarten, vielleicht am Abend alles nachzulesen. Ich will das alles wissen, möglichst aus zig Quellen, und möglichst sofort, jetzt. Ich weiß, dass es mir nichts bringt, dass es überhaupt nichts nützt und auch nichts ändert, aber das hilft dem Drang nicht ab. News-Junkies sind schwer von ihrem Stoff abzubringen, das Zeug ist auch allzu leicht zugänglich für uns. Das Internet ist da keine Hilfe, ist eher die Legalisierung eines starken Suchtmittels.

Egal, es gibt schlimmere Abhängigkeiten, so viel steht auch fest. Und ich war auch schon vor dem Internet drauf, das Medium ist in diesem Fall unschuldig. Ich gehöre zu den Leuten, die damals pausenlos den Bildschirmtext im Fernseher aktualisiert haben, ob nicht vielleicht eine neue Meldung, etwas Eiliges, Wichtiges … das kann man heute auch keinem mehr erzählen, liebe Kinder, ich weiß.

Wobei ich bei den Tweets und anderen Meldungen aus den Kreisen der Presse und der Fachwelt aus Stiftungen, Universitäten, Think-Tanks etc. die schier endlose Wiederholung von Popcorn-Witzen in Bezug auf Russland abstoßend finde. Die fortschreitende Infantilisierung der Weltgeschichte, alles nur noch Sketch-Szenen mit Lachern vom Band, jeder Clip und Scherz bemüht bunter und zynischer als der andere. Muss das so?

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Im Garten bieten sich währenddessen Erdbeeren, Himbeeren, Stachelbeeren, Taybeeren und Kirschen in leuchtenden Farben lockend zum Verzehr an, wobei die Taybeeren geschmacklich nicht recht überzeugen. Sie wirken seltsam unentschlossen in der Richtung, wonach genau soll das schmecken. Aber sie bekommen doch noch eine freundliche Vier von mir, was soll die Strenge. Auch mal was durchgehen lassen! Die Himbeeren dagegen – der Hammer. Und einige winzige Erdbeeren, tiefrot sind sie, sie schmecken wie saftiges Sommerkonzentrat. Kleinfinkerkuppengroß nur, aber so süß kann der Juni sein.

Zwei lange Gurken gibt es auch schon, es sind die ersten der Saison, und wie immer schmecken sie viel gurkiger als die Exemplare aus dem Discounter. Die Birnen schwellen jetzt schneller, die Äpfel auch, die Pflaumen aber fallen in diesem Sommer komplett aus. Die Johannisbeeren schwächeln erheblich, die Heidelbeeren sind noch lange nicht dran. Na, die Bilanz ist so schlecht nicht.

Ein Blick in einen Kirschbaum, rote und gelbe Früchte, viele

Die Kartoffeln blühen, die Tomaten und einige Gurken auch noch, der Topinambur geht mir immerhin bis zur Brust. Von zwölf gepflanzten Kohlrabis sind noch zwölf am Leben, das ist eine Sensation. Unfassbar ist das, noch nie haben wir das erlebt, muss man sich jetzt auch noch Sorgen um die Nacktschnecken machen oder was, hat das Artensterben sie erwischt.

Den Rittersporn und auch einige andere Stauden hat der Regen am Donnerstag ruppig niedergeprügelt. Sogar eine Rose liegt geschlagen darnieder, die pinkfarbenen Blüten verdreckt im Staub, es ist eine Majestätsbeleidigung.

Nach dem roten Mohn ist nun der rosafarbene dran und blüht nach Kräften, die Kapuzinerkresse holt auch schon einmal aus und spannt die raumgreifenden Blätter immer weiter. Die Telekien blühen, die Schafgarbe, das Löwenmaul, einige Nelkenarten, die erste Hortensie, das Brandkraut, die Wucherblume.

Es kommt eine Mail vom Gartenverein, der Hinweis auf Johanni. Ab da ist Hecke zu schneiden, und zwar korrekt, versteht sich, siehe Merkblatt anbei. Es kommt jedes Jahr textgleich, man kennt das.

Und ab dem Johannistag ist auch, das ist noch wesentlich bekannter, kein Spargel mehr zu essen und kein Rhabarber. Ein Tag also, der die Saisonküche sauber in Phasen trennt. Es ist damit der einzige religiöse Feiertag, der mir gültige Anweisungen gibt, die etwas mit meinem Alltag zu tun haben. Faszinierend.

Ich schreibe dies so auf, die Herzdame aber liest die Mail vom Gartenverein, steht auf und schneidet die Hecke. Tatmenschen auch mal bewundern! Aber, versteht sich, nur indem ich es notiere.

Wir haben uns nun einmal so ausgesucht, wie wir sind, denke ich, und gehe später zusammenharken, was da so anfällt. Das macht man als Schreibender eh routinemäßg.

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Die Lösung aller Probleme

Freitag, der 23.6. In den Nachrichten sehe ich etwas Geschichtsunterricht, meine Heimatstadt betreffend, es geht um die Lübecker Märtyrer. Ich glaube, in meiner Schulzeit sind sie mir nicht als Teil des Lehrplans begegnet, ich habe zumindest nicht die leiseste Erinnerung daran.

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Im Bereich der Klimawandelmeldungen wird die Zukunft nun immer greifbarer, hier geht es etwa um Ostsee- und Elbe-Spree-Leitungen für das viel zu trockene Brandenburg. So tritt es also alles ein, so passiert es und drängt in den Alltag, und wie unaufgeregt und nebenbei man das zur Kenntnis nimmt, mit welcher Dezenz sich die Wirklichkeit verschiebt und verändert. Irgendwelche Nachrichten eben, irgendwelche Bauprojekte, okay, jetzt die nächste Meldung.

Aber hier auch einmal eine abweichend positive Sichtweise, Anders Levermann über die Lösung aller Probleme. Sympathisch vorgetragen, finde ich, einen schicken Anzug trägt er auch.

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Und in Hamburg gibt es heute noch Neuigkeiten für den Freundeskreis Stadt im Wandel, so soll es mit dem riesigen Gebäude von Gruner & Jahr weitergehen. Ich werde, versteht sich, nach Möglichkeit berichten, auch über das neue Einkaufszentrum in der Hafencity und den nachfolgenden weiteren Abfall der Innenstadt, wenn er denn so eintritt, wie es allgemein vorhergesagt wird. Ich habe das immerhin alles in Spaziergangsweite, im eigenen Revier, vor der Tür. Eine Menge Stadt ist das, was sich mir hier anbietet.

Am Nachmittag kommt die Sonne doch wieder durch, nachdem das Unwetter über Deutschland etwas kurze Abkühlung gebracht hat. Es wird schnell wieder heiß und ich merke, dass ich definitiv keine Lust habe, durch diese Hitze zu gehen. Allerdings brauche ich dringend noch Bewegung, denn ich lebe ungern unter 10.000 Schritten pro Tag. Einerseits ist das so, weil ich in manchen Dingen unerbittlicher Zahlenpedant bin, andererseits auch, weil ich die Bewegung tatsächlich brauche und sonst keinen Sport mache, ich gehe nur viel.

Ich gehe also raus und tauche sofort in die Kühle der U-Bahn ab. Ich fahre ein paar Stationen, ich gehe über Bahnsteige, ich fahre noch ein paar Stationen und gehe über andere Bahnsteige. Ich gehe durch den Untergrund des Hauptbahnhofs und durch den des Jungfernstiegs und auch den des Rathauses, ich gehe auch durch Gänge, in denen ich lange nicht war. Ich sehe mir wartende Menschen an, einfahrende Züge, aussteigende und einsteigende Passagiere, ich frage mich, warum ich so etwas nicht längst öfter gemacht habe, dann fällt es mir wieder ein: Ohne Abokarte ging das jahrelang gar nicht. In Hamburg darf man ohne Ticket nicht auf die Bahnsteige und ich lebe ebenso spießig wie regelkonform.

Ich finde meinen U-Spaziergang jedenfalls hervorragend und ungemein hitzeverträglich, es ist angenehm hier unten, gut temperiert. Das mal öfter so machen.

Ich suche mir den richtigen Sound für einfahrende Züge an halbvollen Bahnsteigen, die Wahl der Musik ist in allen Lebenslagen wichtig. Ich lande heute bei Jim Morrrison und den Doors, bei denen man öfter landen sollte. Es gibt kaum eine Band, bei der ich so oft beim Wiederhören denke: Ja, sie waren verdammt gut, es gibt da keinen Zweifel. Wahre Untergrundmusik ist das. Einen Tick lauter als normal sollte man sie hören, damit es maximal wirkt.

„The music was new, black polished chromeAnd came over the summer like liquid night.”

Eine Minute ist das nur, aber die hat doch was.

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Die Tiere sind unruhig

Weiterhin Donnerstag, der 22.6. Immer mehr Unwetterwarnungen für den Großteil der Republik, sehr viele, auf allen Kanälen. Tornadomöglichkeiten und alles. Großhagel, das ist auch so ein Wort, an das ich mich gar nicht erinnern kann. Ist es am Ende neu, und was kommt noch, Hagelbomben? An Hamburg wird das alles wohl vorbeiziehen, da ist man sich weitgehend einig. Man kann nicht alles haben, und einen Tornado möchte man auch nicht, schon gar nicht, wenn man unterm Dach wohnt. Es ist im Wetterbericht auch die Rede von „organisierten Gewittern“, das klingt nach krimineller Vereinigung, nach geplanten Angriffen und finsterster Verschwörung.

Die Menschen sind heute allesamt recht eindeutig noch verrücktet als sonst, sind also noch mehr Menschen, sind ganz bei sich selbst, das liegt sicher am Wetter. Heranrückende Unwetter machen alle komplett kirre und die Unzahl der Warnungen sowie der spöttischen oder mahnenden Kommentare zu diesen Warnungen in den sozialen Medien macht es nicht besser. Eine Stimmung da draußen jedenfalls … mehr als seltsam. Am Abend riecht es eine Stunde vor dem endlich einsetzenden Regen unangenehm schwefelig im Stadtteil, eine Luft wie zum Anzünden, satanische Düfte.

Ich gehe bei den ersten Tropfen noch einmal um den Block, ich höre mir die Musik von damals an, es kommt mir sensationell passend vor.

Es passiert dann jedenfalls nichts, wie ich hier aus späterer Perspektive ergänze, es regnet einfach nur etwas, und nicht einmal besonders viel. Mäßige Pfützenbildung auf dem Spielplatz, alles verbleibt im bescheidenen Bereich. Womit ich nicht sagen will, dass die Warnungen falsch waren, es gab andernorts weiß Gott genug Probleme, wie ich am nächsten Tag lese.

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Ansonsten können einem die Gleichzeitigkeit und die krassen Unterschiede in der medialen Bearbeitung der diversen Schiffsunglücke gerade das Hirn verbiegen, zumindest komm es mir so vor. Was für Lehrbuchbeispiele, wie außerordentlich unangenehm und wie irre teils die Kommentare, in den Leitartikeln und auch in den Timelines. In den Nachrufen wird man lesen, die Menschen an Bord der Titan seien wahre Pioniere gewesen. Meine Güte.

Titan und Adriana übrigens, die Schiffsnamen. Beide verweisen auf die klassische Mythologie, einmal Griechenland, einmal Rom. Ich hänge da keine Pointe dran, es kommt mir einfach nur bemerkenswert vor, es ist so ein Detail, das in einem Thriller wichtig wäre. Einer der Hauptfiguren würde irgendwann verlässlich einfallen, was es zu bedeuten hat.

Und apropos Mythologie. Ich teste gerade, ob eine App meine Handschrift gut lesen kann, so dass ich meine Notizen des Tages am Abend digitalisiert irgendwo einfügen kann. Ich schreibe, da ich durch die Nachrichten auf die Klassik gestoßen wurde: „Bedecke deinen Himmel, Zeus“, also den Anfang des Prometheus vom ollen Goethe. Und die App kann das auch tatsächlich lesen, obwohl meine Handschrift leider nicht zu den lesbarsten Varianten gehört. Es gibt nur einen kleinen Fehler in der Deutung, den man fast vernachlässigen kann, denn die App schreibt: „Bedecke deinen Himmel, Jens.“

Klingt doch auch gut, so leicht modernisiert. Zeus, Jens, die moderne Boomer-Variante des alten Obergottes. Gefällt mir.

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Ain’t no change in the weather

Donnerstag, der 22.6. Die Tage sind lang und schwül, das Wetter drückt und macht alles langsamer. Die Menschen da draußen, jedenfalls sofern sie nicht hinter einem Steuer sitzen, bewegen sich jetzt zögerlicher, die Gedanken auch. Es wird breiförmig und zäh, was sprudelnd und fließend war, der träge Schlamm der Einfälle. Menschen auf den Fußwegen auch, die einfach mal stehenbleiben, um zwischendurch etwas zu atmen, Menschen aus allen Altersgruppen. Wie anstrengend dieses Wetter für uns ist, wie fordernd.

Es gibt auf der Arbeit etwas, worüber ich dringend nachdenken müsste, das ist arg ungünstig. Im Sommer bitte nur Routinearbeiten und stumpfes Herumklicken, Forschung und Entwicklung dann wieder gerne ab September, Oktober. Auch der berufliche Fortschritt hat Saison oder eben nicht.

In den Wetter-Apps blitzen die Gewitterwarnungen auf, allerdings nicht bei uns. Erst einmal in Mecklenburg, obwohl da doch sonst alles später ist, auf nichts ist mehr Verlass. In Dänemark dann auch, irgendwo an der Ostsee, dicke, schwarze Wolkensymbole. Da müsste man jetzt sein, Regen am Strand, was für eine überaus attraktive Vorstellung. Ich sehe nach, was Regen auf Dänisch heißt, es heißt Regn. That was easy! Jetzt dänisch redn.

Letzte Woche habe ich einen Wolkenbruch in der Innenstadt erlebt, so einen dieser Regenfälle, die früher eher selten waren und jetzt immer normaler werden. 15 Minuten nur, aber als ob jemand oben gigantische Wannen auskippen würde, fast sofort ein Regenwasserfluss in der Spitaler Straße, springende Touristinnen, alles rennet, rettet, flüchtet. Früher hat es einfach mal kurz geregnet, hat es nicht? Heute ist es gleich ein Wetter-Ereignis, von dem man Videos macht und hinterher allen erzählt, so wie ich gerade, q.e.d. Die Leute schoben sich drängelnd und patschnass in die nächstbesten Kaufhäuser, die dann schnell viel zu voll waren, schwitzender Leiber dicht an dicht, eine Geruchswolke, in der man ohnmächtig werden konnte, und die Teenager-Mädchen neben mir sprühten noch mit Deogewölk dagegen an, irgendwas mit Kokos und Frühling. Ich kämpfte mit dem Brechreiz, denn Kokos geht nur im Curry, nicht aber als Geruch. Alles hat Grenzen.

Es ist nicht meine liebste Zeit im Jahr, Sie merken es vielleicht, aber es geht noch ein wenig so weiter.

Ain’t no change in the weather, ain’t no change in me, hat ein weiser Mann einmal gesagt und gesungen, J.J. Cale war es: Call me the breeze.

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Im Bild heute wieder Hammerbrook. Ein durchlöcherter Stadtteil mit Ewigkeitsbaustellen, es erwartet längst niemand mehr, dass dort jemals irgendwas fertig werden könnte. Es gehört da so.

Blick von der s-Bahnstation Hammerbrook auf die aufgerissene Straße und die Absperrungen

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Hitze und Hotspots

Mittwoch, der 21.6. Weitere Hitzetage folgen, mein Biorhythmus sagt, ich solle bitte zwischen 16 und 20 Uhr jegliches Funktionieren einstellen, und der Biorhythmus ist bekanntlich der Boss. Ich fühle mich jedenfalls bedeutend wohler, seit ich ihm diese Rolle zugestehe.

Nach 20 Uhr dann doch noch einmal hochrappeln für den üblichen Kontrollgang durchs Revier. Ein Coffeeshop hat aufgegeben, etwas anderes zieht dort bald ein, sehe ich, und es wird wieder irgendwas von einer Kette mit Kaffee etc. Während früher in dieser Straße einfach Cafés, Kneipen oder Restaurants aufgemacht haben, so wie überall, wird das jetzt ein All-Day-Hotspot for Breakfast, Lunch and Dinner. Auch daran merkt man, wie man altert: die gegenwärtige Sprache immer wunderlicher finden.

Das Wort Hotspot finde ich im Gegensatz zur werbenden Absicht bei diesen Außentemperaturen auch ganz und gar nicht anziehend. Eher im Gegenteil.

Am öffentlichen Bücherschrank vorbei, den jemand reichlich nachgeladen hat. Ich tausche einen Band Somerset Maugham gegen Heinrich Mann (Essays), Orwell (Essays) und Byron (Tagebücher und Briefe). Muffig riechende Taschenbücher sind es, das stört mich nicht. Daneben stand noch Theologisches und Tralala-Psychologie, Sorge dich nicht, lebe. Man muss ja nicht alles mitnehmen.

Ein Sohn kommt am Nachmittag aus der Schule und sagt „Wassermelone““, das sind so die Begrüßungen an den heißen Tagen. Ich weise stumm zum Kühlschrank. Der andere Sohn kommt auch und legt sich stumm auf sein Bett. Ich sage „Kannst du mal …“, er sagt „Nein.“

Die Herzdame kommt nach Hause, dabei wollte sie doch in den Garten. Sie hat es also nicht in den Garten geschafft, kombiniere ich sherlockmäßig mit der überschaubaren Denkreserve, die bei Hitze in meinem Hirn noch läuft. Ich umkurve die Herzdame im weiteren Verlauf dann so weiträumig, wie es die Wohnung eben hergibt, denn es ist nicht gut für ihre Stimmung, wenn sie es nicht in den Garten schafft, ich weiß das. Manchmal ist es ein Vorteil, wenn man sich lange genug kennt.

Zwischendurch frage ich mich grübelnd, wie eigentlich meine eigene Stimmung ist, aber ich glaube, ich habe heute gar keine. Es ist mir viel zu warm für Stimmungen. Bei diesem Wetter möchte ich am liebsten gar nichts an mir haben, nicht einmal Launen.

Menschen auf einer Bank vor dem Sonnenuntergang an der Außenalster

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Alchemie und Armut

Montag, der 19.6. Mittlerweile sehe ich an normalen Tagen kaum noch auf Twitter nach, was dort passiert, es ist aber, wenn ich es doch einmal tue, recht eindeutig. Neben den wenigen Menschen, die dort noch privat wie in alter Zeit Alltäglichkeiten und Befindlichkeiten austauschen, was ich ganz und gar nicht abwertend meine, herrscht dort ein verbitterter, gnadenloser Stellungskrieg mit extrem verhärteten Fronten zu politischen Themen, es ist kaum mitanzusehen. Trolle gegen Journalistinnen und auch umgekehrt, Rechts gegen Links, Nazis gegen Grüne und Geflüchtete, Konservative gegen Heizungen, SPDler aus Berlin gegen Fahrradfahrerinnen, Klimaforscherinnen gegen die CSU, die Frontverläufe sind teils kaum noch zu verstehen, aber brutal geht es jedenfalls zu, verbal brutal, es macht zuverlässig und sofort schlechte Laune. Ich bin da entwöhnt, so kann man es wohl nennen. Im Alltag brauche ich das nicht mehr.

Aber damals irgendwann, man kann es kaum noch erklären, damals war es schon schön da, und lustig auch. Eine Weile lang.

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Noch ein weiterer Arzt, der seine Praxiszeiten reduziert. Wenn man, so wie ich, für mehrere Personen aus diversen Generationen dies und das abholt und organisiert, wird es dadurch nicht einfacher, milde ausgedrückt. In Wahrheit stehe ich am Morgen laut fluchend vor einer Tür, die erst in einer Stunde geöffnet wird. Ich plane hektisch um, ich sortiere um, es ist kompliziert. Nach einer Stunde der zweite Anlauf, nun steht vor mir eine Schlange von Wartenden durchs halbe Treppenhaus. In der Praxis ist Maskenpflicht, die wartenden Menschen vor mir husten und röcheln, aber niemand trägt Maske, denn im Treppenhaus muss man ja noch nicht. Erst exakt mit dem Überschreiten der Schwelle … Manchmal ist das Thema doch noch etwas anstrengend.

Ich hole Rezepte, ich hole Medikamente, ich bringe hierhin und dorthin, ich versuche vergeblich mir zu merken, wer gerade wessen Karte hat. Es ist schon viel gewonnen, wenn der richtige Mensch das richtige Zeug bekommt, denke ich mir. Auch das ist etwas anstrengend.

Wieder zuhause. Im zweiten Stock hat uns jemand ins Treppenhaus gekackt, in ergiebiger Menge, wie ich anerkennend im Vorbeigehen feststelle. Vor der Haustür sitzt ein Junkie, der sich mit Alchemie beschäftigt. Er hat diverse Zutaten und Gerätschaften vor sich ausgebreitet und wird sie gleich unter fortwährendem Gemurmel uralter Sprüche in reines Gold verwandeln, zumindest wird er das kurz glauben. Ein paar Meter weiter liegt ein Obdachloser quer über dem Fußweg, und zwar, das ist ein wirklich bizarres Bild, im genau gleichen Winkel wie ein E-Scooter, den jemand noch ein paar Meter weiter vorschriftswidrig abgestellt hat. Gar nicht mal so schön hier, denke ich, gar nicht mal so schön hier. All das Leid, all die Menschen, denen man kaum helfen kann, denen mit den psychischen Problemen nicht, den Junkies nicht, den Armen nicht, den Obdachlosen nicht.

Anstrengend, aber als Tagesthema. Wenn nicht als Wochen-Motto, man wird sehen. Erst einmal weitermachen.

Der Sommer liefert nebenbei ein kleines Update, es gibt jetzt auch wieder diesen Regen, bei dem es nicht abkühlt. Wie man sich als Hanseat vielleicht Monsun vorstellt, so zieht der Schauer kurz vorbei und quer durch den Stadtteil, nur nicht so wahnsinnig ergiebig. Es dampft kurz, es bleibt dabei dauerhaft feuchtwarm. Viel zu warm.

Ein halb abgerissener Aufkleber mit der Aufschrift "LIEB SEIN" unter einer Brücke, gerade noch zu lesen

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Die Madeleines des 17. Juni

Noch Weiteres zum Sonnabend, dem 17.6. Ich krebse hier weiter in der Vorwoche herum. Herr Buddenbohm ging häufig nach, so darf man irgendwann abschließend werten. Es ist in Ordnung, ich füge mich dem.

Es ist ein ehemaliger Feiertag, und Sie und ich wissen natürlich noch, warum das damals so war. Die Söhne aber wissen es nicht mehr und werden es wohl auch nicht lernen, ihre ganze Generation vermutlich nicht. Selbst wenn es im Lehrplan vorkommen sollte, was ich noch nicht weiß, wird es sie vermutlich kaum interessieren. Ist das in Sachsen oder in Brandenburg anders? Auch das weiß ich nicht. Für mich war es als Kind ein wichtiger, ein sogar sehr wichtiger Tag, aber nicht wegen der historischen Ereignisse, von denen ich ebenfalls kaum Kenntnis hatte, vielleicht auch überhaupt keine, sondern wegen des Geburtstages meiner Großmutter. Die Feste bei ihr im Garten sind für mich die Essenz der Siebziger Jahre, darin ist alles enthalten und abrufbar. Immer war es gutes Wetter, immer waren alle da, waren also so viele da, wie sonst auf keiner Feier. Die große Tafel auf dem Rasen neben dem kleinen Teich. Immer gab es Kuchen und Torten, die heute kaum noch jemand macht, Frankfurter Kranz, Bienenstich und dergleichen, Kalorien im fortgeschritten unzählbaren Bereich. Bier noch von der lokalen Marke Lück (Werbeslogan: Lück muss der Mensch haben), die es dann eine lange Zeit nicht mehr gab. Irgendwann ist sie wiederauferstanden, als Craft Beer, glaube ich. Ernte 23, Lord, Roth-Händle und Stuyvesant in den Zigarettenschachteln, die zuverlässig vor fast jedem Erwachsenen lagen. Einen Zigarettenspender gab es auch, ein Ding aus Messing, das heute längst nicht mehr in jeden gepflegten Haushalt gehört. Und immer gab es irgendwann die von meiner Großmutter, durchgesagte Marscherleichterung, woraufhin die stark schwitzenden Männer sämtlich ihre Krawatten lockerten oder ihre Jacketts ablegten. Ich habe mir als Kind nicht klargemacht, dass einige der älteren Männer früher tatsächlich marschiert sind, in Russland, Frankreich, Finnland oder wer weiß wo, man sprach ja nicht darüber.

Marscherleichterung. Ein Wort meiner Kindheit.

Meine Großmutter trug eine Kette mit einem Bernstein daran, ein Insekt war darin eingeschlossen, seit Ewigkeiten. Wenn man auf ihrem Schoß saß, konnte man sich das aus der Nähe ansehen und ich weiß, während ich das tippe, mit unheimlicher Deutlichkeit, wie sich ihr geblümtes Kleid anfühlte, Dralon oder was das damals war, knisternder Stoff. Wie ihre jederzeit dick eingefetteten Hände rochen, Atrixdosen im Regal ihres Wohnzimmers, und ich sehe auch die bunten Plastikstrippen des Stuhls, auf dem sie saß. Dieses Datum hat tatsächlich gewisse Madeleine-Qualitäten für mich. Die 17. Junis der Siebziger, die habe ich mit allem Zubehör, mit allen Gerüchen und Geschmäckern eingeschlossen im Bernstein der Erinnerung, und der zwingend dazugehörige Gelbstich, der passt gut zum Jahrzehnt.

Sonntag, der 18.6. Ich sitze im Garten auf der Hollywoodschaukel, vor mir sitzen Tauben im Gras, die Wolfgang-Koeppen-Gedenkvögel. Ringeltauben sind es, und sie sitzen da, weil sie sich ein wenig ausruhen müssen. Sie essen nämlich die gerade erst erröteten Früchte der Felsenbirne, die an einem noch jungen Busch neben ihnen wachsen. Die Zweige an dem Busch sind biegsam und dünn, die Tauben aber sind, bei allem Respekt, eher stattlich gebaut. Wenn die auf so einem elastischen Zweig landen, dann haben sie ein Sport-Erlebnis wie wir Menschen vielleicht bei Jochen Schweizer, es sieht wirklich wild aus. Aber die Früchte müssen verdammt gut sein, müssen es allemal wert sein, die Tauben bleiben nämlich dran und turnen entschlossen immer weiter. Oder, wieso sollte man das ausschließen, es macht ihnen einfach Spaß, was sie da treiben.

Man hört jetzt ansonsten weniger Vögel in den Gärten singen, es ist eine andere Phase des Sommers. Nur vereinzeltes Schimpfen, Motzen und getschilptes Anpampen aus den Hecken hören wir noch, das ewige Keckern der Elstern, zwischendurch das wüste Geläster der Krähen mit ihrer unverkennbaren Lust am Ordinären.

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Am Abend Wassermelonen-Feta-Salat mit Minze. Bis August oder bis zur Wassermelonenknappheit könnte ich das pausenlos essen. Es ist ein sehr gutes Essen, es fühlt sich gesund an, man kann vollkommen ungehemmt zuschlagen. Zumal die Söhne es nicht mögen, in dem Fall ist es ein Glück für mich, denn die Gier übermannt mich dabei leicht, gerne große Mengen davon. Ich mache da nur Limettensaft dran, man findet aber auch etliche andere Rezeptvarianten mit Honig, Pfeffer, Pinienkernen und noch anderem Zeug. Das geht sicher alles, ja, ja, das brauche ich aber nicht. Vier Zutaten, kein Kochen, fertig. Nur der Feta, der sollte besser einer sein, der auch nach Feta schmeckt, da lieber mal nicht das Billigste vom Discounter nehmen, das ist zu schwach. Und wo ich so darüber berichte– ich könnte schon wieder.

Im Bild ein Fleet auf dem Rückweg vom Garten am Abend.

Blick von einer Brücke über ein spätabendliches Fleet in Hamburg-Hamm

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