
Ein Text von Maret Buddenbohm
Der Oktober ist der „ADHS-Awareness-Monat“ und ich möchte das gerne zum Anlass nehmen, die Aufmerksamkeit auf diese Aufmerksamkeits-Störung sowie auf das weitere neurodiverse Spektrum zu richten.
Auch wenn die Themen ADHS, Autismusspektrumsstörung (ASS) und Neurodiversität in unserer Gesellschaft immer bewusster und präsenter werden, gibt es noch viel Unwissenheit und Unsicherheit darüber und ganz besonders, was den eigenen Freundeskreis, die Familie oder einen selbst betrifft.
In meinem Bekanntenkreis kenne ich nur ein bis zwei Erwachsene und ein paar Kinder mit ADHS und nicht eine Person aus dem Autismus-Spektrum. Vermutlich geht es vielen so und man könnte annehmen, dass es neurodiverse Menschen nur woanders gibt, nicht aber im eigenen Umfeld. Ich halte das allerdings für eine Fehlinterpretation und bin mir sicher: sie sind unter uns. Und zwar viele.
Sie wissen es nur selbst noch nicht oder trauen sich aus den unterschiedlichsten Gründen nicht, es öffentlich zu machen. Sie haben gelernt, zu maskieren und sich irgendwie anzupassen. Bloß nicht auffallen! Sie haben (meist unbewusst) Strategien entwickelt, um ihr Anderssein zu verbergen und sind manchmal so erfolgreich damit, dass sie dem genauen Gegenteil eines neurodiversen Menschen entsprechen. So gibt es bspw. perfekte Organisationstalente mit ADHS oder Autist:innen mit einem großen Freundeskreis und sensationellen Smalltalk-Fähigkeiten. Deshalb kommen die meisten Betroffenen nicht mal ansatzweise auf die Idee, sie könnten selbst neurodivers sein. Und wenn doch, dann in der Regel erst spät durch die Diagnosen ihrer Kinder.
Viele Betroffene, die einen ersten Verdacht haben und sich ihrem Umfeld öffnen wollen, machen dann oft die Erfahrung, nicht ernstgenommen zu werden. Da fallen Sätze wie:
„Das gibt es doch nur bei Kindern!“
„Ach, das ist doch nur eine Modeerscheinung, das vergeht wieder…“
oder der Favorit:
„DU? NEIN! Du doch nicht! Nie im Leben! Du bist doch immer so gut organisiert, so sozial, gar nicht hyperaktiv, hast so viele Freunde, hast gar keine Inselbegabung, bist ganz anders als Rain Man…!“
Vielleicht verwerfen die Betroffenen dann den Gedanken wieder oder schweigen weiterhin aus Scham, auch wenn sie sich eigentlich schon sicher waren.
Viele Menschen mit ADHS, ASS etc. scheitern aber auch an dem Mangel an gut ausgebildeten Fachkräften. Eigentlich sind sie sich sicher, dass sie betroffen sind. Sie bekommen aber keine richtige Diagnose, weil die Wartelisten nicht nur unendlich lang, sondern meist auch komplett geschlossen sind. Viele werden auch falsch oder gar nicht diagnostiziert, weil Psychologen, Diagnostiker etc. selbst zu wenig Ahnung haben. Da wird oft fehlinterpretiert oder an anderen Stellen geschaut, bspw. in der verkorksten Kindheit. Es sind auch schon Menschen im ersten Anlauf „gescheitert“, weil sie noch nie ihre Brille verlegt haben (bei Halbblinden, die ohne Brille gar nichts sehen… nun ja…), nie ihre Termine vergessen (… das Wunder der digitalen Erinnerungsfunktionen… aber egal…) oder den Blickkontakt halten können (…jahrelanges Training…). Für viele ist es ein langwieriger Prozess, es gibt wenig Hilfen, dafür werden einem aber viele Steine in den Weg gelegt.
Viele neurodiverse Menschen mussten sich auch schon oft folgende Mantren anhören, vor allem in der Kindheit:
„Reiß dich doch einfach mal zusammen!“
„Du musst dich nur ein bisschen mehr anstrengen!“
„Das kann doch nicht so schwer sein!“
Und wer das schon früh tief verinnerlicht hat, erlaubt es sich vielleicht auch nicht, einfach mal ein bisschen „gestört“ sein zu dürfen und es nach außen hin zu zeigen.
All diese Erfahrungen sind für viele Betroffene die reinste Odyssee, demütigend und entmutigend. Viele haben Angst vor Stigmatisierung oder Ausgrenzung. Es ist oft einfacher auch weiterhin zu maskieren und zu schweigen. Darüber hinaus kosten das bloße Funktionieren und die tägliche Anpassungsleistung so viel Kraft, dass viele neurodiverse Menschen gar nicht in der Lage sind, für sich und ihre speziellen Bedürfnisse einzutreten und aktiv zu werden.
Alles in allem gibt es viele Gründe, weshalb trotz Aufklärung und zunehmender Medienpräsenz die viele Menschen im neurodiversen Spektrum noch immer unsichtbar sind. Und der ADHD Awareness Month ist da die beste Gelegenheit die Sichtbarkeit zu erhören.
Ich bin mir sicher, dass jede:r von euch mindestens eine Person im neurodiversen Spektrum kennt, ggf. ohne es zu wissen. Und jetzt kennt ihr noch eine Person mehr: nämlich mich.
Autistin mit ADHS. Organisationstalent. Noch nie den Haustürschlüssel vergessen oder die Brille verlegt. Immer hochkonzentriert beim Bomben entschärfen. Meist alles im Blick. Große Liebe für Post-its und Checklisten. Kann Blickkontakt halten, wenn es sein muss. Keine Hoch- oder Inselbegabung. Mag ihren großen Freundeskreis und kann auf Partys bis zum Schluss bleiben. Verzeichnet die größten beruflichen Erfolge im sozialen Bereich mit ihren Babykursen. Kann aber tatsächlich nicht gut smalltalken.
Ich habe keine Ahnung, welche Konsequenzen dieses Sichtbarwerden für mich hat. Ob es eine völlig bescheuerte Idee war und es für mich besser gewesen wäre, unsichtbar zu bleiben, wie die anderen? Aber andererseits werden wir beim Thema Neurodiversität einfach nicht weiterkommen, wenn niemand einen Schritt macht.
Über meine Neurodiversität Bescheid zu wissen, hat mein ganzes Selbstbild noch einmal umgekrempelt. Ich habe mich die meiste Zeit meines Lebens als Alien gefühlt. Ich habe das Verhalten der Menschen um mich herum studiert und immer versucht, so zu sein wie sie und bloß nicht aufzufallen. Aber egal wie sehr ich mich auch „angestrengt“ und „zusammengerissen“ habe, das Gefühl anders zu sein, ist immer geblieben. Trotz der vielen Selbstreflexion hat mir immer das letzte Puzzle-Teil zur Erkenntnis gefehlt. Ich musste erst über 40 werden, bis sich alles gefügt hat und ich endlich kapiert habe, was eigentlich mit mir los ist.
Seitdem kann ich etwas gnädiger mit mir sein und darf mich meinen Schrullen auch mal hingeben, was ich mir sonst nie erlaubt hätte. Ich sehe nicht mehr nur das, was ich im Leben nicht geschafft habe. Sondern auch das, was ich trotz meines ADHS und ASS erreicht habe. Ich sehe nicht nur meine Schwächen, sondern kann auch meine besonderen Stärken endlich annehmen und entfalten. Ich weiß jetzt, dass es für mich normal und in Ordnung ist, nach einem 2tägigen Seminar völlig platt und verbraucht zu sein. Oder dass ich einfach nur noch Jobs machen möchte, die meiner Natur entsprechen. Wenn ich Feuer löschen und Bomben entschärfen kann blühe ich richtig auf oder auch wenn ich aus meiner Sicht völlig unlogische Abläufe und Systeme optimieren darf. Ich verstehe jetzt auch, warum ich mal so und dann komplett anders bin, mal wie ein Wasserfall rede und dann wieder die Zähne nicht auseinander kriege. Mal kommt die ADHSlerin und mal die Autistin in mir durch.
Deshalb sind beide Diagnosen wie eine Erlösung für mich, auf die ich viel zu lange gewartet habe und für die ich sehr dankbar bin. Sie machen keinen Psycho aus mir, sondern stärken mich. Und letztendlich ändern sie eh nichts daran, dass ich seit über 40 Jahren bin, wie ich bin, nur jetzt etwas entspannter.
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