Alles enger machen

Donnerstag. 4 Grad am Morgen und ein wölfisch heulender Ostwind in der Badezimmerlüftung, die allerdings baulich bedingt schon immer etwas zum Überdramatisieren neigt. Eine Geräuschkulisse beim Zähneputzen wie in der winterlichen Taiga (gleich Alexandra im Ohr, Sehnsucht heißt das alte Lied der Taiga, das ist unauslöschlich).

Man heizt immerhin hier und da für ein Momentchen, das schon, so weit sind wir jetzt.

An einer sich automatisch öffnenden, gläsernen Büroturmtür, an der ich jeden Tag vorbeigehe, klebt ein neuer Zettel: „Achtung, im Winter schmalere Öffnung!“ Ich glaube, der Zettel hing dort in den Vorjahren nicht, das wird wohl eine dieser neuen Energiesparmaßnahme sein. Alles schmaler machen, enger, kompakter. Durchschlüpföffnungen. Büroflächen verkleinern, Türen verengen, Fenster schließen und abdichten, alles verrammeln, im Hoodie zusammenschnurren, sich aufplustern und im Kern warmbleiben, hier bitte heißen Tee einfüllen. Gefühlte Temperatur dra draußen -1 Grad, so steht es gerade in der App.

Ich lese am Morgen planlos im Internet herum, in einem Foodblog gibt es da ein Rezept für „Gratinierte Miesmuscheln mit Queller“. Das klingt zwar nicht nach in diesem Haushalt problemlos möglicher und mehrheitsfähiger Familienküche, aber es ist doch interessant. Was die Menschen alles so machen! Queller, denke ich, und habe kurz die Pflanze vor Augen, das kleine Grün am Meer. Bei Grün fällt mir dann spontan Rahmspinat ein, und den gibt es also heute zum Abendessen, alle Einfälle sofort umsetzen.

Ich bin doch eher schlicht gestrickt, es zeigt sich immer wieder. Ich lese etwa Foodblogs, um auf das zu kommen, was ich sowieso und immer schon mache. Okay.

Ohne jeden erkennbaren Zusammenhang hier noch eben ein Lied, das in den November passt, ohne dabei allzu runterziehend zu sein. In dem Tonstudio, das sieht man, war es bestimmt warm, schön warm.

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Mitte November

Weiter im phänologischen Kalender der großen Stadt, der mich gerade bis zur Besessenheit interessiert. Alles mitschreiben, ich lese statt Twitter jetzt Gegend, irgendwo muss die Aufmerksamkeit ja hin. Vor den Blumenläden der großen Ketten im Hauptbahnhof jedenfalls schon seit zwei Tagen die Adventskränze, nacktgrün oder mit vorgefertigter Deko, wie es passt, verschiedene Größen und Preisklassen natürlich und die Vorbeigehenden gucken, stutzen und checken dann vermutlich kurz den inneren Kalender: Jetzt schon!? Ja, jetzt. Mitte November, ne. Okay.

Vor den Drogeriemärkten wieder das Futter in großen Packungen, feed the birds. Auch auf unserem Balkon haben wir nach lebhaften und nicht eben freundlich vorgebrachten Beschwerden aus Singvogelkreisen wieder Meisenbälle aufgehängt, ein weiterer Saisonbeginn.

An die metallgraue Seite eines Fahrkartenautomaten im Gewirre der U-Bahngänge hat jemand mit Edding geschrieben: „God has mother issues“, die Schrift ist eher klein und unauffällig. Eine Botschaft an versteckter Stelle, auch große Gedanken können also dezent geäußert werden. Da mal ein Beispiel nehmen, falls wider Erwarten ein großer Gedanke im eigenen Hirn auftauchen sollte.

Ein Mann im Anzug kommt mir auf der Rolltreppe, auf der ich im Bahnhof abwärts fahre (äußerst unangenehme Erinnerungen an generationsbedingte Schullektüre bitte ggf. hier einfügen) aufwärts entgegen, er hält einen Blumenstrauß in Knisterklarsichtfolie in der Hand. So einen fertig gebundenen Strauß, bestenfalls mittelschön ist der, fast liebloser Tankstellenstyle, sagen wir zwanzig bis dreißig Euro. Als Mitbringsel schon etwas größer, aber tendenziell eher lieblos, so ein Pflichtgebinde. Er besieht sich den Strauß, und zwar tut er das ganz genau. Guckt so intensiv prüfend, als würde er die Blumen nachzählen, im Geiste nach Farben neu sortieren, den Zustand des blassen Ziergrases prüfen, die Üppigkeit der Blüten kritisch bedenken – er hat einen ausgesprochen skeptischen Blick dabei, so sieht man aus, wenn man etwas falsch gemacht oder entschieden hat und es dummerweise gerade etwas verspätet merkt, es ist dieser Gesichtsausdruck der Reue oder Einsicht, eindringlich gespielt. Er führt den Strauß auch mal näher an die Augen heran, dann wieder weiter weg, grimassiert, nein, doch, oh, es ist wirklich wie im Theater. Vielleicht denkt er aber auch nur: Tulpen? Jetzt? Mitte November? Er hätte doch auch einen Adventskranz kaufen können.

Da vorne ein Feuerwehreinsatz, gleich fünf verschiedene Wagen kommen angerast und bleiben mit blinkendem Blaulicht stehen, in dieser Straße geht erst einmal nichts mehr. Jetzt auch noch Polizei, es wird alles gesperrt. Allerdings steigen die von der Feuerwehr nicht aus, sondern bleiben sämtlich in ihren Wagen sitzen und machen erst einmal in aller Ruhe das, was wir alle machen, wenn wir warten müssen: Sie sehen auf ihre Handys. Um sie herum entsteht ein grandioser Stau, sie lesen sitzend irgendwas nach. Es wirkt ein wenig surreal, aber was sollen sie auch machen, solange die Lage noch von irgendwem geklärt wird. Und es ist ja gut, es ist sogar hervorragend, wenn sie gar nicht erst aussteigen müssen.

Auf dem Fußweg neben ihnen sofort die Menschen, die aufgeregt filmen, so viel Feuerwehr, so viel Blaulicht, guck mal, guck mal, erst einmal das Smartphone auf Verdacht draufhalten. Um den Satz von gestern zu wiederholen: Was ist mit den Leuten. Wer braucht davon Videoclips, wie fünf Feuerwehrwagen irgendwo halten und dann überhaupt nichts passiert, und wer würde diese Videos brauchen, wenn etwas passieren würde.

In einem Gespräch am Straßenrand die laute, unwillige Enttäuschung: „Passiert ja gar nix!“ So schade. Vielleicht brennt in zwei Wochen wenigstens irgendwo ein Adventskranz, dann bekommen sie doch noch etwas geboten.

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Währenddessen in den Blogs, Ausgabe 15.11.2022

Eine Long-Covid-Schilderung. Das Thema gibt es auch noch, ja, ja, auch wenn es in den Medien etwas heruntergedimmt wird.

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Zum anderen Standardthema fasst Nicole die aktuelle Lage ein wenig zusammen, also falls denn überhaupt noch Interesse besteht, da weiter hinterherzukommen. Wobei es sogar mir gerade etwas zu schnelllebig zugeht, und das will etwas heißen, möchte ich meinen. Für diejenigen, die noch dranbleiben wollen, dürfte auch diese Seite mit einem Ticker zum Thema recht nützlich sein.

Ich beachte Twitter immer weniger, das Heimatgefühl dort nimmt eine schnelle Drehung ins Nostalgische, Twitter war früher, so kann es gehen. Auf Mastodon habe ich die neue Timeline sachte entpolitisiert, ohne dabei eine Drehung ins Biedermeierliche zu nehmen, wie ich jedenfalls hoffe. Obwohl das zur Stifter-Lektüre wiederum fein passen würde, ich höre gerade seine Brigitta. Ich glaube, ich komme mit einer anderen Taktung und Gewichtung der durchrauschenden Meldungen jetzt gerade gut zurecht. Man wird älter und ruhiger, nicht wahr. Auch mal wieder eine Wochenzeitung oder ein Sachbuch lesen, vielleicht im Schaukelstuhl, mit einer Heizdecke über den Knien, während draußen der Schnee … er steht tatsächlich erstmals in dieser Saison im Wetterbericht, by the way, natürlich im Hamburg-Style als „nasse Flocken“, aber immerhin.

Wie auch immer, sollen doch die jungen Leute Eilmeldungen zu fernen Tragödien reposten (aber auch das, eh klar, ist von mir nur eine Momentaufnahme, ist nicht der Weisheit letzter Schluss und nächste Woche vielleicht schon wieder anders). Ich sehe währenddessen noch mehr als sonst im Alltag nach, was hier um mich herum passiert, und schreibe emsig an der Chronik, das ist meine Schlussfolgerung aus dem ganzen Schlamassel. As my wimsey takes me.

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Und das Schlimmste, das ist noch ein ganz anderes Thema.

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Eine neue, wie immer inhaltssatte Monatsnotiz von Nicola. Nach wie vor ein sehr feines Format, und ich schreibe das nicht, weil diesmal die Herzdame drüben vorkommt.

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Über das Leben in interessanten Zeiten. Das mit der geschichtlichen Anomalie, was dort ausgeführt wird, das denke ich mittlerweile auch. Und es passen noch andere Passagen zu hier in letzter Zeit ebenfalls angesprochenen Themen. Wie überhaupt in den letzten Wochen online einige inhaltsähnliche Gedankengänge nahezu zeitgleich auf verschiedenen Seiten von verschiedenen Menschen erschienen, so dass man genau sah, wie hier und da parallel gedacht wurde, wie sich Ergebnisse teils glichen, ich fand das schön.

Und in interessanten Zeiten braucht man selbstverständlich ab und zu Entspannung, etwa hier.

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Drei Euro am Morgen

Ich gehe am Sonntagmorgen spontan zu einem anderen Bäcker als sonst, lebe wild und gefährlich. Fünf normale Brötchen kosten dort drei Euro, ein neuer Rekordwert, nur nebenbei notiert.

In unserem Treppenhaus ein Aushang der Hausverwaltung, darauf stehen Informationen zu den Heizungskosten. Wieviel das Haus gesamt verbraucht, wieviel weniger uns das in den nächsten Monaten kosten würde, wenn alle im Winter sparsamer heizen würden. Ich sehe es im Vorbeigehen, und noch bevor ich den Zettel auf dem nächsten Weg ein zweites Mal und in Ruhe lesen kann, hat ihn schon jemand zerfetzt und abgerissen, was ist mit den Leuten.

Ich gehe zur Zentralbücherei, die hier mittlerweile auch am Sonntag geöffnet ist, wie in vielen anderen Städten, das ist eine erfreuliche Entwicklung. Die Außengastro vor den Restaurants auf dem Weg dorthin wurde auf einige wenige Stehtische reduziert, Raucherrestposten. Vor dem Steakhaus hat jemand die letzten drei Pflanzen aus den Blumentöpfen gerissen und sie auf den Boden geworfen. Die Erde wurde auf dem Fußweg verteilt, was ist mit den Leuten. Es ist in diesem Jahr deutlich geworden, dass Blumentöpfe im öffentlichen Raum hier nicht mehr gehen, sie werden einigermaßen zuverlässig nachts ausgeräumt, zerstört, geplündert, vandalisiert. Warum ist das jetzt so, und warum war das früher nicht so, ich kann das nicht beantworten. But this is why we can’t have nice things, nicht einmal Blümchen, nicht einmal gewöhnliche Geranien.

Ein paar Meter weiter ein E-Roller, den jemand herumgeschleudert oder getreten haben wird, er wurde zerstört, er liegt als leise piependes Wrack quer auf dem Weg und also im Weg. Was ist mit den Leuten?

Im Abgang zur U-Bahn die Habseligkeiten eines Obdachlosen, zerstreut und über die Treppen verteilt, die Isomatte, der Schlafsack, ein kaputter Regenschirm, der vermutlich ein Windschutz war, zerrissene Tüten, undefinierbare Speisereste. Kein Mensch weit und breit, kein Täter, kein Opfer. Vier Uniformierte von der Bahnpolizei gehen entschlossenen Schrittes vorbei, gucken grimm und haben wichtigere Ziele.

Es ist manchmal etwas schwer, auch das Positive zu beachten, aber ringsum an den Laternen hängen wieder die orangefarbenen Schals aus dieser Aktion, das immerhin. Da machen also Menschen etwas, um anderen zu helfen, diesmal wohl aus katholischer Richtung, ich habe mir nicht alles durchgelesen. Ein Schal wurde auch um die Klinke des Portals der evangelischen Kirche gewunden, vielleicht als freundlicher Gruß von nebenan, ein Gotteshaus weiter, ökumenischer Strickdialog, was weiß ich, mir fehlen da alle Kenntnisse und auch das Interesse. Stunden später sind es jedenfalls schon weniger Schals im Straßenbild, sie finden tatsächlich Abnehmerinnen. Ein Mann bindet sich gerade einen um, als ich ihn passiere, und er fragt seine Frau: „Na?“ Die sieht ihn skeptisch an, legt den Kopf schief und sagt: „Och.“ Es ist so ein Och, nachdem man den Schal entweder gar nicht mehr oder nur noch aus Trotz trägt, je nach Beziehungsverlauf. Orange ist aber auch eine schwierige Farbe, das weiß man.

Die Bücherei ist seit einer Stunde auf und schon rappelvoll. Lauter lesende, büchersuchende, stapeltragende, lernende, arbeitende, schreibende und diskutierende Menschen, irgendein Kinder-Entertainment ist da auch gerade, lachende Gruppen im Grundschulalter in den Vortragsräumen. Es sieht alles für einen Moment immerhin nach funktionierender Gesellschaft aus, nach Wohlmeinen und Rücksicht, nach Benehmen und Anstand und Bemühen. Manchmal geht es, manchmal geht es nicht, mir fehlen die Begründungen.

Ich nehme Maeve Brennan mit, Katherine Mansfield und Hermynia Zur Mühlen. Als hätte ich Zeit für viele Bücher. Einfach mal so tun als ob, quasi method-acting. Aber erst einmal lege ich mich am Nachmittag aufs Sofa und lese weiter und mit sehr großem Vergnügen das schmale „Der arme Chatterton“, vom fast vergessenen Ernst Penzoldt. Sprachlich schön ist das, sehr schön sogar, demnächst mal dringend noch mehr von ihm lesen. „Squirrel“ etwa, das soll auch gut sein. Nur gebraucht ist es noch zu bekommen, aber das ist ja lösbar. Und lösbare Fragen, nicht wahr, immer höher priorisieren.

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5 Grad am Morgen

5 Grad am Morgen, um 5 Uhr, es ist alles passend eingerichtet. An dem Sofa, auf dem ich tippend sitze, geht ein hundsgemeiner Zugwind vorbei und vereist meinen Nacken. Von wo nach wo geht der, wie bewegt sich hier die Luft durch die Wohnung und warum. Darum müsste man sich mal kümmern, aber andererseits – worum soll man sich noch alles kümmern. Man kann auch einen Rollkragenpullover über den Schlafanzug anziehen, dann bleibt der Nacken warm. Pragmatisch bleiben! Lösungen finden, Abkürzungen auch.

1987, pardon, ich springe kurz etwas zurück, habe ich morgens auf dem Weg zur Arbeit belegte Brötchen, die damals noch spottbillig waren und ohne Alibi-Salatblatt und Remoulade auskamen, bei einem Schlachter gekauft, es gab damals also auch noch Schlachter, die bei Ihnen vielleicht Metzger hießen, Opa erzählt wieder vom Krieg. Heute gibt es hier weit und breit keinen Schlachter mehr, aber egal. In dieser Schlachterei hing jedenfalls ein Werbeplakat, ich sah es jeden Morgen, während ich darauf wartete, dass die greise Mutter des Schlachters meine Brötchen mit zitternder Hand beschmierte und belegte, und auf diesem Plakat stand: „Schweinefleisch weckt Herbstkraft“, darunter war natürlich ein entsprechendes Nutzvieh in freier Natur abgebildet, glücklich herumtollend. Das war noch lange vor dem Erstarken der vegetarischen Bewegung, und das Wort vegan war, wenn ich es recht erinnere, bzw. eben nicht erinnere, noch nicht einmal bekannt. So lange ist das her, die Welt war eine andere.

„Schweinefleisch weckt Herbstkraft.“ Das fällt mir nur ein, weil wir diese Herbstkraft gerade alle nicht zu haben scheinen, womit ich jetzt nicht den Konsum von Schweinefleisch propagieren möchte, keine Sorge, mir geht es um etwas anderes. Denn wann immer ich schriftlich oder mündlich erwähne, dass ich müde bin, erschöpft, durch, kaputt und gestresst, bestätigen das umgehend nahezu alle um mich herum, oft sogar mit Verweis auf die besondere und überwältigende Intensität dieses Gefühls in diesem Jahr und fast wettbewerbsorientiert, ich bin noch viel müder als du. Wir sind also vermutlich gesamtgesellschaftlich durch, Eltern und ein paar andere Spezialgruppen womöglich noch mehr als andere, aus sattsam bekannten Gründen. Wir sind dermaßen durch, müde, urlaubsreif, sabbaticalreif, rentenreif, fix und fertig, unerholt und jederzeit unausgeschlafen, aber im Dauerzustand und ganz egal, wie lange wir nachts in den Betten liegen.

Früher, also noch vor dem März 2020, ganz damals also, da haben wir nach dem Sommerurlaub noch einmal reingehauen, hingelangt, sind wir durchgestartet, sind wir den Endspurt gelaufen, haben einen heißen Herbst gehabt und dies lediglich beruflich und leistungsorientiert gemeint, in aller Unschuld und Tatkraft noch. Früher war diese Jahreszeit einmal richtig gut, um etwas zu machen, um sogar besonders viel von allem zu machen. Man hat Anlauf genommen und ist dann hineingesprungen, in den Herbst, in die Hochleistungsphase des Jahres, um dann erst gegen Weihnachten kurz umzufallen, nach all der sportlichen Mühe.

Und nun dieses verzagte (ich meine das vollkommen vorwurfsfrei) Abwarten. Wir lassen es alles langsam angehen, wir lassen alles erst einmal auf uns zukommen. Wir ziehen den Kopf ein, wir gehen in Deckung, wir warten ab, wir gucken vorsichtig. Man weiß es ja nicht, wir wissen es ja nicht. Ich, du, er, sie, es weiß es ja nicht. Kopfschütteln, Wellenerwartungen, Krisenbefürchtungen. Beinharter Realismus, gesunde Skepsis, wegduckender Pessimismus, zögerlicher Fatalismus, was auch immer. Wir sind keine Gesellschaft mehr, die mit Schwung etwas regelt, zu keiner Jahreszeit, aber zu dieser schon gar nicht.

Es ist natürlich nur ein Verdacht, weil es enorm schwer ist, das vorhersehen zu wollen, aber für den Moment lege ich mich doch fest, dass die Plan-, Mut- und Entschlusslosigkeit unserer Gesellschaft später einmal als epochebestimmend angesehen werden wird. Ein kleiner Kasten im Geschichtsbuch mit pappeinfachen Ableitungen und vier, fünf leicht zu merkenden Stichwörtern dazu, die werden dann für die Klausuren wichtig sein. Corona, Krieg, Energie, Inflation, Lieferketten und so weiter, das wird gerade festgelegt und wir sind live dabei.

Der Anfang der Zwanziger dieses Jahrhunderts, das wird dann die Phase gewesen sein, in der wir einfach überhaupt nicht mehr weiterwussten. Nicht als Staat, nicht als Mensch. Vielleicht begann es auch schon etwas früher, vielleicht fällt Ihnen der Zeitpunkt ein. 2015 oder was weiß ich, mir geht es gar nicht um Politik.

In seinem immer gerne gelesenen sonntäglichen Newsletter schreibt Nils Minkmar heute über Berlin: „Wenn ich in Berlin bin, kurz mal lachen möchte, fahre ich am Humboldtforum oder „Stadtschloss“ vorbei. Dort ist es immer schön leer und man kann gut nachdenken. Viele gute Absichten, viele gute Leute waren an der Errichtung des riesigen Gebäudes beteiligt, aber am Ende steht ein unbefriedigendes Ergebnis, denn niemand weiß, wozu das Forum eigentlich da ist.“

Wenn man nicht mehr weiterweiß, macht man irgendwas, baut etwa ein Stadtschloss wieder auf.

Ja, Bezüge zum Römischen Reich und so. Und warum auch nicht. Noch einmal den Romulus nachlesen, vom ollen Dürrenmatt. Fliegt hier irgendwo herum, noch in der Reclam-Ausgabe aus der Schule. Vier, fünf Stichwörter dazu, Krieg ist auch wieder dabei, war immer und überall dabei.

Egal. Jetzt ein belegtes Brötchen. Mit ohne Fleisch.

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Stollen und Spekulantien

Beim Bäcker gibt es jetzt auch wieder Stollen und Spekulantien, noch in kleiner Menge allerdings, das ist der letzte Rest an Zurückhaltung. Im Discounter stapelweise Dosen mit Weihnachtsbier und die kleinen Tetrapacks mit den Festtagssaucen, da kommt allmählich Stimmung auf, doch, doch.

8 Grad sind es am Morgen, das geht schon fast als kalt durch. Auf dem Spielplatz am Vormittag eine Mutter, die ihrem schneeanzugtragenden Kind im Strampelalter eine sicher genau für diesen Zweck hergestellte und gewiss auch aufwändig auf Instagram oder Tiktok beworbene Outdoor-Deckenunterlage ausbreitet, vermutlich batteriebeheizt und gepolstert, so dass das Kind dann zappelnd in der Sandkiste liegt, ohne den Sand zu berühren. Man wundert sich über nichts mehr, aber das ist am Ende nur wieder der mühsam verdrängte Neid, denn wir hatten ja nichts. Menschen meiner Generation haben damals auf dem Spielplatz, wenn wir überhaupt je auf einem waren, noch direkt im nassen, kalten Sand gelegen, wie die Kegelrobbenbabys auf der Helgoländer Düne. Primitiv und rustikal.

Apropos Werbung und Instagram. Mir wird in diesen Tagen wiederholt eine Anzeige für etwas gezeigt, das nicht ganz korrekt übersetzt als „gewichtetes Kuscheltier“ beschrieben wird. Gemeint ist damit ein Stofftier mit erheblichem Zusatzgewicht, welches als beruhigend empfunden werden mag, so die Annahme. Das kennt man von den Therapie- oder Gewichtsdecken, so eine haben wir hier sogar und sie hat auch durchaus etwas. Es gibt Tage, da finde ich die gut, da finden wir die vielleicht auch alle ganz gut, und dann streiten wir uns darum, was den intendierten Effekt allerdings etwas aufhebt. Aber ein Stofftier, ich weiß ja nicht.

Andererseits – nicht immer so negativ an alles rangehen. Ich stelle mir vor, ich habe ein riesiges Stofftier mit starkem Übergewicht. Ich stelle mir vor, ich liege unter, was weiß ich, 50 Kilo Plüsch und muss deswegen konsequent alles verneinen, ablehnen und ignorieren. Ich kann leider nichts machen, nicht teilnehmen, nichts übernehmen, Sie sehen ja, das Plüschproblem, so sorry, ich komme nicht weg. Ich kann hier im Moment einfach nur liegen, schade. Vielleicht sollte man das als möglichen Ausweg betrachten. Vielleicht sollte man viel mehr als möglichen Ausweg betrachten.

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Wir fahren in den Garten und stellen das Wasser ab. Im Wetterbericht steht etwas von Temperaturen um zwei Grad in den nächsten Nächten, da kann es vielleicht Frost geben, dann würde die Leitung einfrieren. Denn im Schrebergarten gilt: Wasser nur am Haus, nicht im Haus, die Leitungen liegen also frei draußen herum und müssen jetzt leer sein, sonst platzen Rohre und Schläuche. Im März oder April stellen wir das Wasser wieder an, das sind die beiden großen Wendepunkte im Gartenjahr. Ab März gibt es Kaffee im Garten, nach dem Abstellen im Herbst gibt es keinen mehr. So spät wie in diesem Jahr haben wir sicher noch nie abgestellt.

Ich gehe zu Fuß ins kleine Bahnhofsviertel zurück, das ist ein Weg von einer Stunde. Die Sonne kommt gegen Mittag durch, es ist ein strahlender, mit Aufwand kolorierter Oktobertag. Manche Bäume stehen in sensationeller Schönheit, ein jähes Aufleuchten der Farben, das große Blätterbuntdrama vor Tiefblau, Deko-Orgien in unwirklicher Plastizität, Knallerkulissen, Postkartenherbst. Sogar neben den großen Straßen ist es schön, sogar im Straßenbegleitgrün, das jetzt Straßenbegleitgold ist, findet man hier und da hinreißende Arrangements. Alles ist sehr schön, aber Regen wäre mir doch lieber, denke ich. November wäre mir lieber. November steht doch im Kalender, und ich habe es so mit der Pünktlichkeit, mit der Ordnung auch. Mir wird warm beim Gehen, ich habe wieder zu viel an.

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Gesehen, und zwar gerne gesehen: Diese Doku über die Sturmhöhe.


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Die Früchte des Feuerdorns

Ich höre Adalbert Stifter, „Eisregen“, das sind ganze 24 Minuten über das Wetter. Nicht immer alles nur mit einem lapidaren Satz abtun, ruhig auch mal genauer werden, erschöpfend genau. Einen Text in Ruhe reifen lassen. Das kann man von Stifter lernen, also wenn man das denn möchte. Eisregen. Mehr passiert da nicht. Bäume fallen um, das immerhin. Gut, das ist ein Text aus einem Jahrhundert, in dem gab es noch wechselnde Jahreszeiten, die Älteren erinnern sich, aber das können wir uns heute kaum noch vorstellen, da gab es mehr zu beobachten. Wir haben keine vier Jahreszeiten mehr, wir haben 12 Grad, als etwa halbjährige Konstante, und der Rest ist dann heiß. 12 Grad oder 32 Grad, das ist jetzt so die Auswahl. Eine Verbesserung ist das sicher nicht.

Genauer hinsehen, denke ich, und gehe einkaufen. Aber wie ist es denn? Es ist hellgrau, es ist Stadttaubenuntergefiedergrau. Es ist bewölkt, es gibt keinen Regen, es gibt keine Sonne, es gibt gar nichts. Es ist nicht hell, es ist nicht dunkel. Es sind 12 Grad, es sind 13 Grad, das sind so die Schwankungen im Laufe des Tages, mehr passiert eigentlich nicht. Die Menschen tragen unentschlossene Garderobe. 12 Grad sind weder kalt noch warm, 12 Grad tun nicht weh und machen auch keinen Spaß, 12 Grad sind irgendwie geht so, sind ereignislos, langweilig, öde, sind November, Dezember, Januar, Februar, März. Am hausmeisterfreundlichen Feuerdorngestrüpp neben den Müllcontainerverschlägen vor den Wohnblöcken die orangefarbenen Früchte, die kein Vogel will, mit etwas Fantasie leuchten die Kügelchen sogar ein wenig im Grau des frühen Nachmittags, das ist der Herbst, der Herbst in der Großstadt. Das muss man dann schön finden, mangels Alternativen. In einem Innenhof eine einsame Eberesche, daran hängen die roten Früchte, und das also ist die Abwechslung. Natur, so vielseitig. Im Lidl liegen jetzt schon die ersten weihnachtlich anmutenden Gestecke, irgendwas mit rotgrüner Deko und Nadelgezweig. Vogelfutter daneben, in Spendern für den Balkon, Tannenzapfenformen aus Plastik, wie traurig ist das denn.

Im Blumenladen verkaufen sie ein dürres, knappkurzes Zweiglein Ilex für 4,90, was sind das für Preise. Ein Büschel Lavendel daneben ist noch teurer, 7 Euro wollen sie dafür haben, dafür riecht es aber auch nach Sommer.

In der Fußgängerzone hat ein Bettler eine weihnachtlich anmutende Lichterkette um sein Blechschüsselchen gewunden, darinnen ganze 60 Cent liegen. Demnächst dann auch wieder die Weihnachtsmärkte in der Innenstadt, dann hat der arme Mann da aber nicht mehr zu sitzen. Dann gibt es da Schmalzkuchen oder Wurst oder Glühwein, wo er jetzt noch sitzt und leise nach Kleingeld fragt. Wir schreiten voran.

Arbeiter montieren gerade auf einer Hebebühne an der Weihnachtsbeleuchtung oben über dem Boulevard. Ich mache ein Foto davon und schicke es einer Freundin, mit der ich das Ritual habe, dass wir uns lästernd über diese ausgesprochen unschöne Lichterdeko austauschen. Im November schreiben wir uns, dass sie schon wieder hängt, im März schreiben wir uns dann, dass sie immer noch hängt. Der Mensch braucht seine Traditionen, wie die Stadt im Winter die Weihnachtsbeleuchtung braucht. Die in diesem Jahr allerdings erstmals nachts abgeschaltet werden wird, das ist die Energiekrise. Um 22 Uhr ist Schluss mit dem ganzen Zauber.

Aber das ist mir egal, da schlafe ich meistens schon. Da träume ich schon, vielleicht von Jahreszeiten und von damals.

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Schuschu

Ich sehe irgendwo ein Video, auf dem die unscharf-schwarzweißen Aufnahmen einer Nachtkamera zeigen, wie ein Kojote und ein Dachs gemeinsam durch eine Tunnelröhre spazierengehen. Auf Tiktok lerne ich außerdem bei der immer interessanten und außerdem ein so herrlich präzises Englisch sprechenden Astrid Lundberg, dass es in der Wildnis vereinzelt Freundschaften zwischen Gorillas und Schimpansen gibt, die es nach Lehrbuch gar nicht geben dürfte. Es wurde beobachtet, dass sich junge Schimpansen beim gemeinsamen Herumtollen im Wald manchmal auf die Brust trommeln, also Gorilla spielen. Das waren dann so die Nettigkeiten in dieser Woche. Okay. Der Rest – kann eher weg.

Irgendwer in meinen Timelines schreibt am frühen Morgen immerhin noch, dass er den Tag mit Schumann beginne, also am Klavier, eigenhändig. Tee dazu. Wie angenehm bildungsbürgerlich entspannt klingt das denn, denke ich. Ich mache mir eine Schumann-Playlist an. Wenn ich schon nicht Klavier spielen kann, zuhören kann ich doch. Mit Kaffee, aber egal. Auch mal den kleinen Inspirationen folgen, auch mal abbiegen ins Unterholz der zahllosen Hinweise um mich herum. Klaviermusik zur Arbeit. Warum auch nicht.

Romantische Musik, Musik aus der Romantik. Vor dem Fenster dabei zum Arbeitsbeginn noch die Reste eines weiß verblassenden Vollmondes, ich sehe es, als ich prüfend hinausblicke, ob die Welt überhaupt noch da ist. Sollte man im Home-Office ab und zu machen. Zwei Tage ist der volle Mond nur überaltert, fast ist er noch gültig, gut sieht er aus. Wolkenfetzen wehen bilderbuchmäßig unter ihm her, graurosa eingefärbt. Schnell sind sie, sturmschnell fast, sie ziehen nach Osten, rüber ins Mecklenburgische und zum nächsten Meer, gute Reise. Schumann ist sehr schön und passt hervorragend zu diesem Mondbild. Was auch immer ich da genau höre, es würde mir ja eh nichts sagen, wenn ich den Titel nachsehen würde. Mache ich aber dennoch, eh klar. Es ist gar nicht Schumann, guck an, es ist Schubert, was macht Spotify da wieder, das Elend der Algorithmen. Schubert, Schumann, Hauptsache Gefühl, ne, Hauptsache Schu vorne im Namen.

SchuSchu, das macht man bei kleinen Kindern zum Einschlafen, oder wenn alles wieder gut sein soll. Nach einem kleinen Unfall etwa, das Knie etwas aufgeschürft, SchuSchu, ganz ruhig, mein Kind, komm mal auf den Arm. Wir spielen Schumann, wir spielen Schubert, dann geht es gleich wieder.

Ich lese Schumanns Lebenslauf nach, immer bildungsbeflissen bleiben. Machen Sie das nicht, wenn Sie eh schon unfroh sind, es ist wieder so eine verheerende Geschichte. Doch lieber nichts mehr nachlesen. Nur noch Hören. Schuschu.

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Währenddessen in den Blogs, Ausgabe 9.11.2022

Ich habe für das Goethe-Institut etwas über die Herbststimmung geschrieben und kann es daher schaffen, dass diese Linksammlung diesmal nicht monothematisch ist. Ha!

Und apropos Texte von mir, wenn Sie im Kulturbereich arbeiten, vielleicht sogar mit Museen zu tun haben – es gibt hier ein neues Buch über das Museum in Zeiten der Pandemie. Ich habe eine Art Nachwort dazu geschrieben, ein allerdings betont museumsunpädagogischer Text ist es geworden.

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Frau Novemberregen träumt von einem Podcastzimmer, was ich deswegen interessant finde, weil ich fast noch nie von irgendeiner technischen Neuerung nach 2007 geträumt habe. Ich verbleibe nachts also stets in der Zeit vor den Smartphones, es gibt in meinen Nächten erstaunlich zuverlässig keine Handynutzung, keine sozialen Medien, keine Blogs, keine News-Feeds, nichts dergleichen. Ich erinnere mich an nur eine Ausnahme, da ging es um eine Foto-App, ich habe im Traum viele, viele Schwarzweißbilder bearbeitet. Warum auch immer es die digitale Moderne nicht oder kaum als Traumbild gibt, unmittelbar einleuchtend kommt es mir nicht vor, ich lebe doch recht intensiv und stundenfüllend mit all dem Zeug. Aber ich habe einmal irgendwo gelesen, dass Handys etc. bei vielen Menschen in den Träumen fast kategorisch nicht vorkommen. Vielleicht waren da nur Menschen ab einem gewissen Alter gemeint, in meinem Alter gemeint, das weiß ich nicht mehr.

Ich fahre dafür nachts so dermaßen oft U- oder S- Bahn, während ich schlafe – warum eigentlich. Da auch mal drüber nachdenken.

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Dann aber doch wieder das Hauptthema, versteht sich, wir sind nicht durch damit, lange nicht, die Retrospektive etwa dauert sicher noch etwas, das will alles verwunden sein. Meike über Twitter und Mastodon. „Wenn jemand bei Twitter etwas Dummes, Geschmackloses oder Fieses sagte, war das nicht mehr eine private Person, die bei Twitter etwas sagt, sondern sie wurde behandelt wie ein Medium. Als ob ihre Äußerung in einer großen überregionalen Tageszeitung oder im Fernsehen erschienen wäre. Quelle: Twitter.

Ansonsten war gestern ein schlechter, ein sehr schlechter Tag, also schon im Satirebereich schlecht sogar, mit erheblichen Zweifeln am Drehbuch schon ab dem Vormittag, und ich habe wieder gemerkt, wie wohltuend es sein kann, wenn man seine ewige WG-Küche in der App dabeihat, kurz reinschalten und etwas Smalltalk mit denselben Leuten wie immer betreiben kann. Man spricht so gerne über die toxischen Effekte von Twitter etc., die es zweifellos auch gibt, aber wie hilfreich diese so lapidar daherkommende soziale Rückversicherung auf Klick manchmal sein kann, das muss man schon auch sehen.

Und sonst:

Ich: „Mastodon sagt dir vermutlich gar nichts, oder?“

Sohn II: „Was ist das denn, das klingt eklig, hast du damit etwas zu tun?“

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Urban Theatre

Sonntag/Montag. Bei der Wiederankunft aus dem ländlichen Heimatdorf der Herzdame sitzt eine ältere Frau vor unserer Haustür, die mehrere OP-Masken quer über dem Gesicht trägt, wie ungeschickt bandagiert, dazu hat sie eine spiegelnde, schief sitzende Sonnenbrille auf, einen nach hinten gerutschtem Hut und einen Alkoholrausch hat sie, von dem Sie und ich uns vermutlich wochenlang erholen müssten. Sie starrt uns leer an, auch im Sitzen leicht schwankend. Später sehe ich sie mühsam weitergehen, sie braucht für jeden Schritt minutenlang. Ich gehe noch einmal einkaufen, was dank unserer Wohnlage problemlos auch am Sonntag geht, was einfach immer geht. Im Hauptbahnhof kommt mir ein Mann entgegen, der einen weißen Bauarbeiterhelm trägt, auf den er bunte Blinklichter montiert hat. Er hat einen langen Stock in der Hand und deutet damit auf Dinge im U-Bahn-Tunnel, die nur er sieht, auf Wesen vielleicht, wer weiß. Weit aufgerissene Augen, irgendetwas murmelnd, Warnungen womöglich. Man schüttelt den Kopf über solche Leute und am Ende haben Sie doch wieder Recht gehabt, das ist bekannt aus Büchern und Filmen.

Es folgt aber alles einer seltsamen Regel: Wenn wir in die Großstadt zurückkommen, dann ist hier immer gleich Vorführung, Urban Theatre. Betont schräge Figuren treten auf, grässliche Kulissen werden gezeigt, die Ecken sind zuverlässig vollgekotzt, angepinkelt, vermüllt, und aus der Requisite werden schnell noch die leeren, verbeulten Bierdosen geholt, die dann im Wind vor unserem Haus in sinnlosen Halbkreisen herumrollen, die fast leeren Rumflaschen auch, und die zertretenen Billigflachmänner werden flächig ausgestreut, so dass es schön knirscht beim Gehen. Irgendwo weht eine leere Plastiktüte vorbei und im Script steht also vermutlich fettgedruckt: Großstadtambiente. Polizeisirenen von den Straßen unten an der Alster. Vom Bahnhof her ein wie zufällig eingestreutes Zugbremsgeräusch und wirre Fetzen einer unverständlichen Durchsage, Westwind also.

Unsere Wohnung ist kalt, eiskalt, als wir aufschließen und die Koffer abstellen. Das allerdings liegt nur daran, dass das Elternhaus im Dorf so überaus mollig kaminwarm war, da haben wir uns jetzt unsere Kältetoleranz dummerweise in nur zwei Tagen zerschossen und müssen etwas überlegen, ob wir noch einen Abend ohne Heizung schaffen, noch einen Morgen, wieviel überhaupt noch. 18 Grad im Zimmer sind doch zu wenig, wenn man nicht gerade im Bett liegt.

Ich sitze auf dem Sofa und überlege, wie kalt mir wirklich ist. Fragen, die man sich früher nicht gestellt hat.

Am Montag die Arbeit, was sonst. Ich mache Dinge, die ich jedes Jahr mache, die mit dem Jahresende zu tun haben. Es sind im Grunde festgefügte Rituale, the same procedures. Mit diesen Ritualen fängt das Ende an, neigt sich alles, kippt, gerät ins Rutschen und ehe man recht darüber nachdenken konnte, ist Weihnachten, ist Silvester, ist Jahresendurlaub, es ist immer so. Es sind also Handlungen, an die ich Erinnerungen aus etlichen Jahren habe, es sind Handlungen, bei denen ich das Setting im Kopf habe, die zugehörige Stimmung, die Gefühlslage, alles. Und ich kann mit großer Sicherheit sagen, dass ich mich dabei noch nie so wenig winterlich oder auch nur spätherbstlich gefühlt habe. Ich mache, was ich immer mache, es fühlt sich aber durchgehend falsch an. So falsch sogar, dass ich mit einem Kollegen darüber spreche. „Das kann doch alles nicht sein“, sagen wir übereinstimmend. Es ist aber so.

Im anderen Beruf lese ich eine Mail, in der es um einen Termin am 4.12. geht. Da ist dann auch gleich Nikolaus, denke ich. Es geht in einer anderen Mail auch noch um eine Lesung am 12.12., das ist schon Mitte Dezember, denke ich, na, fast. Da geht es um Weihnachtstexte, es fällt das Wort besinnlich, und zwar gänzlich unironisch.

Das Jahr ist gleich vorbei und letzten Sontag noch war es in der Nachmittagssonne heiß auf dem Balkon, es war T-Shirt-Wetter. Wir leben in merkwürdigen Zeiten, wir haben ein merkwürdiges Jahr, und das Wort merkwürdig ist dabei noch viel zu nett, ich weiß.

Peter Glaser teilte auf jener obskuren Social-Media-Plattform, auf der wir gerade neulich noch alle waren, dieses Video von Leonard Cohen. Es ist ein fortgeschritten liebenswerter, überaus sympathischer Live-Auftritt, in dem er zum Schluss eine Antwort auf große, auf ganz große Fragen gibt. Es ist eine Antwort, die wir jetzt brauchen.

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