Himbeeren und Akelei

Immer noch der 19.5., immer noch der Freitag der letzten Woche, mittlerweile hänge ich also etliche Tage zurück, willkommen in der jüngeren Vergangenheit.

Nach drei Lasteseleinkaufsrunden zu Fuß durch die beiden Standardläden (wobei beim dritten Besuch die eine Kassiererin doch etwas komisch guckte, war der nicht gerade erst hier, kommt der jetzt stündlich oder was, und dann immer diese Mengen?) sind die Küchenschränke wieder voll, Erdnüsse für die beleidigten Krähen gibt es auch reichlich und die Teenager sowie etwaige Besuchsjugendliche werden nächtliche Hungerattacken eine Weile überleben können.

Das Fahrrad ist wider Erwarten doch reparabel, es fährt sich nur etwas seltsam, ruckelt und ist unbequemer denn je, aber egal. Ich fahre dennoch darauf in den Garten und sehe dort nach, was vom Gemüse, für das ich keine Zeit hatte und das dummerweise auch bei eher unpassendem Wetter gepflanzt wurde, überhaupt noch lebt. Das ist überschaubar, ich hatte es befürchtet. Aber es ist doch etwas mehr als nichts. Es wird ein paar Tomaten geben, die Zucchini haben noch eine knappe Chance, der Kürbis allerdings nur noch eine halbe, bestenfalls. Für die Gurken müsste man schon beten, wenn man denn an irgendetwas glauben würde. Kümmerliche Kartoffeln, karger Kohlrabi. Nun ja. Und was da vorne wächst – keine Ahnung. Aber es keimt so gerade in schönen Reihen, es wird schon etwas sein, das ich da planvoll hingestreut habe. Ja mach nur einen Plan. Einfach mal probieren, und guck an, es ist Rucola.

Ein noch kleines, frisch geerntetes Radieschen

Gemeinsamer Gartenrundgang mit der Herzdame. Die Obstbaumschädlinge treiben sie zur Verzweiflung, der Schneckenfraß eher mich. Wir verteilen die Sorgen zwischen uns beiden, denn so geht es zu in der Güter-, Garten- und Wertegemeinschaft.

Die Himbeeren stehen allerdings üppiger denn je, immer nach Möglichkeit auch das Positive beachten. Es wird ein herrliches Himbeerjahr, ein Akeleijahr auch, die blühen gerade überall, selbst dort, wo sie noch nie geblüht haben, und auch in Farben, die wir noch gar nicht hatten. Ein wunderbares Altrosa etwa, wo kommt denn das auf einmal her, es ist erlesen schön. Das ist in Gärten oft so, dass einige Sorten im Frühjahr beschließen, jetzt dran zu sein, und dann eine üppige Spezialsaison hinlegen, dass man staunend vor den Beeten steht: Das war doch hier sonst nicht so. Und schon im Folgejahr machen sie dann wieder einen auf Durchschnitt und Bescheidenheit, blühen bieder und fallen nicht weiter auf. Wenn man so auf sein Leben zurückblickt – vielleicht haben wir auch solche Rhythmen.

Zwei Holzstühle im Schrebergarten

Kreissäge von links, Rasenmäher von rechts. Man müsste sich liebliches Vogelgezwitscher über Noise-Cancelling-Kopfhörer abspielen, um es hier richtig genießen zu können. Und wo ich auch hinsehe, jeder Winkel dieses Gartens sagt: „Man müsste mal“, jede Ecke ruft: „Man könnte mal.“ Ich aber sage, der Mensch braucht auch Pausen, und ich lege mich in der Laube aufs Bett. Frühsommerlicher Halbschlaf, und oben der Wind in der Weide, es regnet Reisig auf die Terrasse. Ohne heulende Motoren von überall wäre es wahrhaft schön.

Ich sehe vor der Rückfahrt noch nach, was alles blüht, ich möchte das monatlich notieren: Milchsterne, die ich immer erst nachschlagen muss, und die ich vor meiner Zeit mit eigenem Garten noch nie bewusst wahrgenommen habe. Die drei Schneebälle, früher Bienenfreund. Der Rhododendron, die Akelei, der Moos-Phlox, der war eine gute Idee, er gedeiht schön. Rosenginster, Besenginster, Immergrün, das sich erfolgreich weiter ausbreitet. Knoblauchrauke, Pechnelke, Hasenglöckchen, wie nett ist denn bitte dieser Name. Salbei in verschiedenen Sorten, Tomaten. Die raumgreifende Katzenminze, Thymian, plötzlich Hunger. Die Aronien, der Flieder, die Magnolie. Himbeeren, Geißblatt, Maiglöckchen, sehr viele davon. Wiesenmargerite, das Silberblatt, das gar nicht silbern ist. Weigelie, kleine Taubnesseln davor, Schöllkraut, Beinwell, Gänseblümchen. Löwenzahn. Letzte Tulpen, schon deutlich schwächelnd, hinfällig, morgen sicher Vergangenheit. Heidelbeeren, Wiesenschaumkraut, und über allem die große, beeindruckende Blütenwolke des alten Weißdornbaumes. Hahnenfuß, Erdbeeren und irgendwas habe ich sicher übersehen, wie immer.

Vielleicht öfter mal nachsehen. Es hat etwas Beruhigendes, so murmelnd durch die Beete zu gehen, bedächtig wie ein schreitender Storch, und dabei Pflanzennamen zu notieren.

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Ein schönes Schild, ein schwieriges Fahrrrad

19.5., weiterhin Freitag, wie viel Text man manchmal für nur einen Tag braucht, wenn man nur ausreichend notiert. An einem der Spielplätze im Stadtteil hängt ein neues Schild, es ist größer als das, was da vorher hing, aber mit der immer noch gleichen Botschaft: „Betreten des Spielplatzes für Erwachsene nur in Begleitung von Kindern erlaubt.“ Natürlich gibt es unschöne Gründe für die Notwendigkeit dieses Schildes, es waren zu oft die falschen Typen auf dem Platz, die nicht Eltern waren, es geht da auch um Drogenhandel und -konsum, es geht um zwischen den Büschen verbuddelte Päckchen, um kackende Hunde, um stundenlange Besäufnisse, um bezahlten Sex im Gebüsch und um alle möglichen eher abwegigen Verhaltensweisen rücksichtsloser Erwachsener – aber stellen wir uns bitte einmal einen Augenblick vor, die Welt wäre nett eingerichtet, alles wäre hier Bullerbü, wie man in Berlin wohl sagt, und es gäbe kein Böses und kein Schlimmes weit und breit – dann wäre dieses Schild nur ein freundlicher Hinweis, dass Erwachsene, die auch mal auf einen Spielplatz wollen, und warum sollten sie nicht wollen, dafür unbedingt die kompetente Begleitung eines Kindes brauchen, um sich dort richtig und situationsangemessen zu verhalten. Denn wichtige Fähigkeiten, die man auf Spielplätzen einsetzen sollte, haben sie vielleicht im Laufe des Erwachsenwerdens bedauerlicherweise verloren, etwa die Fähigkeit zum Herumtollen, auch die zum Spielen, zum Toben oder die zum bloßen Herumsitzen in der Nachmittagssonne mit einem tropfenden Eis in der Hand. Und wenn man so ein Kind dabeihat, dann passt das schon auf, dass man sich da nicht allzu blöd anstellt, auf diesem Spielplatz.

Ich jedenfalls denke mir dieses Schild immer konzentriert schön, wenn ich es im Vorbeigehen sehe, kitschbereit wie ich nun einmal durch und durch bin. „Da werde ich zum Emopferdemädchen“, wie Sohn II sagen würde, was übrigens beweist, dass auch Tiktok die Sprache bereichern kann.

Später hole ich mein Fahrrad aus dem Keller, um es für die Saison startklar zu machen. Es kommt eine Zwanzig-Grad-Zeit, sagt die Wetter-App, da fahre ich gerne, während ich in der kalten Jahreszeit, also fast immer, das Radfahren kategorisch verweigere. Die gute Nachricht ist, dass diesmal niemand das Rad aus dem Keller gestohlen hat, und das ist schon viel. Die schlechte Nachricht ist allerdings, dass es dort unten aber jemand gründlich und sicherlich mit Absicht beschädigt hat, der kleine Vandalismus zwischendurch. An Fahren ist erst einmal nicht zu denken, und ob sich eine Reparatur lohnt, ich weiß ja nicht. Hm. Wenn man ein funktionsfähiges, womöglich sogar ein gutes Fahrrad haben und auch noch behalten möchte, muss man es bei unserer Wohnlage in der Stadtmitte vermutlich am besten jeden Abend mit ins Bett nehmen und hüten wie seinen allerliebsten Schatz. Eine sperrige Angelegenheit ist das, und mein verbeultes Fahrrad ist auf diese Art im Moment eher eine weitere Schwierigkeit, keine Lösung.

Aber nicht aufregen, bloß nicht aufregen. Einfach in die Bahnen steigen oder zu Fuß gehe. Ja, einfach weitergehen, das wird es sein. Wie immer.

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Blicke aus dem Weltall

19.5., ein Freitag. Auch mal eine Meldung, die ich gut finden kann: in Niedersachsen werden Bahnlinien wiederbelebt. Sollen sie mal machen, ich fahre da dann auch mal durch die Gegend.

Ich schreibe einen Einkaufszettel für den Wiedereinstieg in die familiäre Küchenroutine. Die Herzdame war zwei Wochen nicht hier, wir alle waren eine Woche nicht hier, der Einkaufszettel wird daher gefühlt kilometerlang, wir brauchen einfach alles, und am besten alles gleich mehrfach. Vielleicht doch mal mit dem Auto zum Einkauf, aber die Ehre des Fußgängers! Man hat doch auch seinen Stolz. Und man kann auch dreimal gehen, das ist gesundheitlich sogar förderlich und sicher wieder besser als überhaupt kein Sport. Das zumindest kann man sich einreden, und 15.000 Schritte kommen so leicht zusammen.

Ein kleiner Junge stolpert aus einem Haus und mir strampelnd vor die Füße, eine hilfreiche Großmutterhand sammelt ihn umgehend wieder auf. Er guckt an sich herunter und ruft mit sichtlichem Stolz im Gesicht: „Ich habe eine blaue Hose! Und! Eine blaue Jacke!“ Er klopft auf beides, auf Jacke und Hose, sehr schön blau sind die tatsächlich, und neu sehen sie aus. Die Großmutter lacht und sagt: „Ja, das sind die Signalfarben, damit man dich aus dem Weltall gut sehen kann.“ Und wissen Sie was, so habe ich das noch nie gesehen. Mit jedem blauem Kleidungsstück zum blauen Planeten beitragen, da hat man auch wieder eine Aufgabe. Aber wer sieht einen dann? Das hat der kleine Junge nicht gefragt, und warum eigentlich nicht. Kinderfragen auch nicht mehr, was sie mal waren.

An einem Gebäude der katholischen Kirche, apropos Blicke aus dem Weltall, hängt ein neues Banner. Es sieht professionell hergestellt und auch korrekt befestigt aus, es wird sozusagen abgesegnet dort hängen: „Frau. Leben. Freiheit.“ Und ich denke, dass die Kirche womöglich etwas, haha, unorthodox zu dieser Erkenntnis gekommen sein wird, dass es unterm Strich aber fraglos begrüßenswert ist, wenn bei den Katholiken die Frau auch einmal vorne steht. Auf einem Platz in der Nähe hat diese Parole jemand mit Kreide gemalt.

Kreideschrift auf Asphalt: Frau Leben Freiheit

Einige hundert Meter weiter steht an einer Wand, gesprüht diesmal: „Frau Freiheit Sozialismus!“ und wieder weiter hat jemand etwas an einer anderen Wand durchgestrichen, durchgesprüht eher, das man jetzt nicht mehr lesen kann, aber darunter zur Erklärung noch gut lesbar angemerkt: „Sexistische Kackscheiße weghauen.“

Das ist hier gerade die Stimmung an den Wänden.

Die Schaufenster dagegen werden, nachdem Ostern und generell auch der Frühling irgendwie durch sind, wieder auf maritim gedreht, um die vielen kaufkräftigen Touristen zu erfreuen, die im Sommer sicher kommen werden. Bring uns mal irgendwas mit Anker oder Möwe mit, ja? Oder mit Leuchtturm oder mit Muscheln. So etwas. Oder, noch besser vielleicht, einen vollkommen beliebigen Alltagsgegenstand, auf man „Moin“ geschrieben hat und ihn deswegen mit einem Aufschlag verkaufen kann. Volle Lotte Hamburg.

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Überaus seltsame Ferien

18.5., im Heimatdorf der Herzdame und in Hamburg.

Am Donnerstagmorgen erlebe ich erhebliche Irritationen wegen des Datums, denn wir haben, so fällt mir beim ersten Blick auf den Computer auf, offensichtlich die zweite Maihälfte erreicht, was wiederum heißt, dass es gleich schon Juni ist, also auch im Handumdrehen Juli, dann kommt schon der dreiwöchige Sommerurlaub, wie komisch und hopplahopp ist das denn alles, wie geht das nun wieder zu, eben war doch noch Winter. Was haben wir jetzt wieder verpasst, wo waren wir unaufmerksam. Immer diese Jahre, die bis etwa April in nervtötender Zeitlupe ablaufen und dann plötzlich im Handumdrehen in den Herbst kippen. Das Zeitgefühl mal vernünftig linearisieren, das wäre es.

Es ist unser letzter Morgen im Heimatdorf, wir müssen nach Hamburg zurück. Für die Söhne waren das überaus seltsame Ferien (Hamburg hatte in dieser Woche schulfrei, und nur Hamburg, soweit ich weiß), wir haben es uns nicht ausgesucht. Die Herzdame und ich wollten auch in dieser Woche Urlaub haben, frei haben, das kam jetzt anders, und wir waren gründlich mit ungeplanten Dingen beschäftigt. Das war selbstverständlich auch richtig so, ist aber dennoch ein Problem, denn etwas Erholung hätten wir beide gebraucht und vor der nächsten Woche mit ihrer sicher schnell eskalierenden Alltagsverdichtung, mit ihren tausend Terminen, To-Dos, Dienstreisen, Besorgungen und komplexen Sonderaufgaben graut uns erheblich. Da wird sich einiges unangenehm ballen, es ist klar abzusehen. Wenn hier zur nächsten Woche nichts oder kaum etwas stehen wird, wenn es eine Lücke, eine entsetzliche Lücke in der Chronik gibt, wurde ich vermutlich von der Wochenwalze überfahren und liege gründlich geplättet irgendwo herum. Dann bitte einfach warten, bis ich irgendwann wieder normales Format annehme, was im besten Falle von selbst geschieht.

Ich könnte glauben, dass diese nächste Woche in mancher Hinsicht einen Höhepunkt der Belastungen darstellen wird, dass zumindest einiges danach also wieder tendenziell wieder weniger, anderes besser werden könnte. Aber als Gewissheit schreibe ich es lieber nicht auf, ich bin mittlerweile zu oft überrascht worden. Die letzten Jahre waren da recht lehrreich. Natürlich nicht nur für uns, Sie haben es alle gemerkt, es kam zu oft anders, ganz anders. Das habe ich gründlich verinnerlicht.

In der Literaturauswahl bin ich gerade unentschlossen, ich habe im Heimatdorf auch nicht das Richtige dabei. Der Stendhal war zu kurz. Ich höre in einige Bücher beim Streamingdienst hinein, aber es passt mir alles nicht, mal mag ich die Stimme nicht, mal mag ich die Stimmung nicht, mal passt mir der Inhalt nicht. Ich höre in Lyrikanthologien, jedem seine Übersprungshandlung. Es wird da vom Dezember gelesen, Schneegedichte, Winterwald, geh mir weg. Nein, das doch nicht. Dann lieber einfach aus dem Fenster sehen. Felder und Bäume, eine freistehende Eiche am Sandweg, hinten die Birken bei den Pferdeställen, etwas im Wind gebogen, der in diesem Frühjahr einfach nicht aufhören will, immer das Wehen. Dann ein Windrad, ganz hinten das Weserbergland. Landschaft lesen. Auch gut.

Wir fahren nach Hamburg zurück, und wir fahren nur zu dritt, denn ein Sohn fährt tatsächlich lieber mit der Bahn, wie er es angekündigt hat. Mir gefällt das, soll er mal machen.

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Später in Hamburg, nach vollkommen ereignisloser Autobahnfahrt, trotz fast hysterischer Stauwarnungen für ganz Norddeutschland. Im Briefkasten ist keine Post, nicht einmal Werbung, das wundert mich, denn das kann eigentlich nicht sein. Nach etwas Bedenkzeit erst fällt mir ein, dass ich gar nicht wochenlang weg war, sondern nur wenige Tage. Gefühlt war es anders.

Ich gehe nach dem Auspacken und Verräumen der Klamotten und Dinge noch durch mein gewohntes Revier, durch das kleine Bahnhofsviertel und am öffentlichen Bücherschrank vorbei, da steht dieses Buch. Zsuzsa Bánk, Der Schwimmer. Ich nehme es mit, ich lese hinein und der Anfang passt mir gut, das ist der Tonfall, der jetzt passt. Geht doch.

Das Buch "Der Schwimmer" von Zsuzsa Bank

Auf dem Rückweg sehe ich mit Staunen, dass der Blauregen an der Mauer zum Spielplatz nun blüht. So weit schon das Jahr, da denke ich es bereits wieder.

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Sehr guter Kuchen

Sehr guter Kuchen

17.5., ein Mittwoch, weiterhin im Heimatdorf der Herzdame. Der Beerdigungstag, den ich durch den Nachruf auf meinen Schwiegervater schon einigermaßen gründlich gewürdigt habe. Ich möchte höchstens noch das Staunen ergänzen, mit dem ich morgens auf die Familie sah, die sich gerade geschlossen schwarz anzog – was für ein starker Zauber diese ritualisierte Kleidung doch ist, es hat mich noch einmal beeindruckt. Man verwandelt sich, man verwandelt die Situation und den Tag, es sind magische Handlungen für jedermann, sie wirken sich auch auf die Mitmenschen aus.

Eine Freundin aus Hamburg war an diesem Tag auch dabei, die das Heimatdorf noch nicht kannte und hier staunend begeistert herumlief, weil sie alles so schön fand, die Gegend, die Straße, das Haus, den Garten. Es ist immer förderlich für die eigene Wahrnehmung, wenn andere Menschen etwas gut oder interessant finden, was man selbst schon oft, vielleicht zu oft gesehen hat. Ich gucke auch immer, wenn bei uns im kleinen Bahnhofsviertel die Touristen wieder vor der Kirche stehenbleiben, selbst kurz hoch zum Turm und denke: Er ist aber auch wirklich schön. Ich würde den vermutlich auch fotografieren, wenn ich nicht gerade direkt vor ihm wohnen würde.

Im Verlaufe dieses Tages habe ich mir keine Notizen gemacht, das passiert mir selten. Aber man möchte bei Beerdigungen auch nicht reportermäßig kritzelnd im Kreis der Familie und der Freunde sitzen, das gehört sich nicht.

Mit einigen Anwesenden haben wir über die Unterschiede gesprochen, die es regional bei Trauerfeiern gibt. Wo wird traditionell warmes Essen serviert, welche Suppe muss es dann sein, ist das festgelegt, wo gibt es belegte Brote, wo Schnaps, wo diesen gerade nicht. Es fällt in Deutschland überall anders aus und die Französin, die auch dabei war, sagte, das sei in Frankreich auch so (ich sehe gerade, bei Anke kann man eine entsprechende Variation nachlesen). Ein Flickenteppich der Rituale und Gewohnheiten durch die Regionen. Also immer erst gucken, was die anderen machen, es ist sicherer. Wir saßen später bei Kaffee und Kuchen im Gemeindehaus, alle aßen den im Dorf bei solchen Anlässen gewohnten Kuchen und nur drei Anwesenden, nämlich uns Hamburgern und der Französin, fiel vermutlich auf, wie sensationell gut dieser Kuchen war. Ich hätte wie damals Dale Cooper dauernd beim Kauen etwas von „Das ist verdammt guter Kuchen“ murmeln können. So etwas machen die Bäckereien bei uns nicht mehr, schon lange nicht mehr, wir kriegten uns gar nicht ein vor Begeisterung. Sensationeller, und dabei ganz einfacher Kuchen. Die Französin ist ausgebildete Köchin, ist Profi, kennt sich aus mit den guten Sachen, sie muss es also wissen, und wir packten ihr vor der Abfahrt noch etwas vom Kuchen ein.

Ich habe später an diesem Tag den Nachruf geschrieben. Ich habe die Herzdame und ihre Mutter natürlich noch vor der Veröffentlichung den Text lesen lassen, man will bei so etwas nichts falsch machen. Ich habe es eher skeptisch veröffentlicht, passt es, passt es nicht, kann man das so machen, wird man es verstehen, wird man das gerne lesen – ich werde wohl nie ein wirklich sicheres Gefühl für meine eigenen Texte entwickeln.

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Währenddessen in den Blogs, Ausgabe 21.5.2023

Während ich mich von den deutschen Medien wegen zunehmender Labilität in Haltungsfragen immer weiter verabschiede, lese ich eben an anderen Stellen im Internet weiter. Auch recht. Und auch freizeitfüllend, wenn denn Bedarf besteht.

Und da manche Links in den Kommentaren hier sicher untergehen wiederhole ich einen, der dort neulich vorkam, es geht um einen Besuch in der Gedenkstätte Eschede, die hier am Rande erwähnt wurde, bzw. an der Strecke erwähnt wurde eher. So sieht das da also aus, wenn man dem Wegweiser folgt, der in meinem Text vorkam.

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Weiteres zu ChatGPT. Nichts wirklich Neues, aber es ist doch interessant im Detail. Hier noch einige Überlegungen zu Googles KI.

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Zu einem Sabbatical. Ich kann dazu nichts weiter ausführen, weil mich der Neid förmlich zerfrisst.

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Noch eine Entfernung aus dem Alltag, aber eine vollkommen anders geartete: Reha-Erfahrungen.

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Seltsame Vergnügungen. Vorsicht, auch so etwas könnte zu Reha-Erfahrungen führen, will mir scheinen.

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Die Kaltmamsell zitiert Markus Theunert und endet so passend, dass es mir sinnvoll erscheint, das bei ihr verlinkte Interview über diesen Umweg einzubinden. Außerdem erwähnt sie die 4-Tage-Woche, die mir im Moment schier an jeder Ecke begegnet. Ich halte es schon aufgrund dieser Häufigkeit für ein Thema, dessen Zeit definitiv gekommen ist.

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Eine Anmerkung zur Namensgebung des Jupiter-Kunstkaufhauses in der Hamburger Innenstadt. Ist mir völlig entgangen, der Bezug zum Nachbarkaufhauses, da kann man es also wieder sehen, was man alles nicht mitbekommt. Erwähnt wird im Artikel auch die Etage zum Rollschuhlaufen auf dem Dach, dort habe ich vor einiger Zeit diesen Aufkleber fotografiert:

Ein Aufkleber "arte Ultras"

Ich kann ansonsten der Kunst, die da in dem Kaufhaus jetzt hängt, nicht ansehen, ob es sich dabei um bedeutende Werke oder um Projektgruppenergebnisse aus einer Mittelstufe handelt, was natürlich nicht gegen die Kunst spricht, nur gegen mein schwaches Kunstverständnis. Ich bin da tatsächlich weitgehend ahnungslos, mir fehlen alle Kriterien.

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Papierblumen an Fenstern

16.5., im Heimatdorf der Herzdame. Ich lese nach dem Aufstehen am Dienstag die Außentemperatur an den Menschen ab, die zu früher Stunde schon mit ihren Hunden an den Äckern vorbeigehen. Ich sehe, es ist wieder kalt geworden, Winterjacken, Mützen, sogar Handschuhe werden getragen. Bei der Beerdigung am nächsten Tag wird man sicher etwas frieren und es wird passen, denke ich mir.

Eine ländliche Straße iin Nordostwestfalen, Apfelbäume am Straßenrand, blauer Himmel, weiße Wolken

Morgenspaziergang nach dem Frühstück. Papierblumen an den Fenstern der Grundschule, auch noch bunte Hasen und Eier von Ostern, wie lange so etwas dann immer hängt. Die Herzdame ist auch hier zur Schule gegangen, in diesem Gebäude, hat auf diesem Schulhof gespielt. Ich höre aufgeregtes Kinderlachen hinter Scheiben, vor die eine Lehrerin wegen der blendenden Sonne Vorhänge gezogen hat. Diese Vorhänge haben immer noch die gleichen Farben wie damals in meiner Schulzeit, ein verblasstes Schulgrün, ein ausgegilbtes Behördenorange. Ich weiß bei der Erinnerung sofort wieder, wie sich diese Vorhänge angefühlt haben, das grobe Material, ich erinnere mich sogar noch an den muffigen Geruch des Stoffs, wenn man sich dahinter versteckt hat, was natürlich ohnehin sinnlos war. Ich weiß auch noch, wenn man einmal anfängt, sich zu erinnern, wie es in dem Schrank im Klassenzimmer gerochen hat, in den ich mich gerne für längere Zeit zurückgezogen habe, ich weiß noch, wie da durch einen Spalt am Scharnier Licht hineinfiel, tanzende Staubkörner darin, lange habe ich die beobachtet. Vor dem Schrank währenddessen das Gemurmel der Klasse.

Auf dem Feld weiter hinten, der Schule gegenüber, sitzen ein Hase und eine Krähe verdächtig nahe beieinander und führen, wer weiß, eine uralte Fabel in neuer Inszenierung auf. Aber ich bin zu weit weg, um etwas zu verstehen.

Der Bauer hat gestern gemäht, verwehte Halme treiben vor mir her über den Weg und bilden im unangenehm kalten Wind wirre Muster. Grüne Keilschrift, die sich rasend schnell umgruppiert und immer wieder neu anordnet, niemand kann das lesen.

„Was hast du heute vor“, frage ich kurz darauf die Herzdame im Wohnzimmer, und sie deutet wortlos auf das herumstehende Zeug ihres verstorbenen Vaters, welches sie, so deute ich die ausholende Bewegung, vermutlich in den nächsten Stunden weiter sortieren möchte. Die Art, wie sie darauf deutet, sie erinnert mich an etwas, und nach einer Weile komme ich auch darauf. Indianische Häuptlinge in alten Western deuten so auf Landschaften, mit einer langsamen Bewegung des Armes und der Hand. Kameraschwenk, man sieht die Weite der Prärie, herannahende Büffelherden. Dann wieder das ernste Gesicht es Häuptlings, der da deutet, schließlich die Blicke der Umstehenden, sie verstehen, sie nicken. Ich nicke auch.

Mir fällt beim Frühstück zum ersten Mal auf, dass auf dem Kaffeebecher, aus dem ich hier morgens trinke, etwas steht, in kleiner Schrift oben am Rand, es ist ein zum Frühling passendes Zitat:

And each flower and herb on Earth’s dark breast

Rose from the dream of its wintry rest.

Ist das irgendein Kitsch oder ist es am Ende Weltliteratur, ich googele das natürlich, immer alles nachsehen, und guck an, es ist von Shelley: The sensitive plant. Die wiedergegebenen Zeilen hängen vermutlich auf dekorativ gestalteten Plakaten in Gartenhütten überall auf der Welt, so ein gut verwertbares Zitat ist das. Auf meinem Becher sind darunter bunte, maimuntere Stiefmütterchen abgebildet, pansies, wie man in diesem Kontext sagen muss, denn es ist tatsächlich ein Becher aus England, noch aus dem Laden, den die Mutter der Herzdame viele Jahre hier im Dorf geführt hat. Das Gedicht ist furchtbar lang, es endet so:

For love, and beauty, and delight

There is no death nor change: their might

Exceeds our organs, which endure

No light, being themselves obscure.

Vielleicht auch mal Shelley lesen, warum auch nicht. Es scheint gerade zu passen.

Es wird währenddessen immer kälter und der Wind frischt weiter auf, er treibt einen ins Haus. Von drinnen sieht es draußen aber dermaßen verlockend schön aus, guck doch, die Sonne, so herrlich, und dann geht man also wieder raus, es ist so anziehend, wie es da alles leuchtet, und dann geht man wieder rein, es ist doch einfach zu kalt, dieser Tag hält einen auf Trab.

Ich mache später Englisch mit Sohn II, denn so etwas findet leider auch in den Ferien und kurz vor Beerdigungen statt. Es geht um die indirekte Rede, er sagt, er habe keine Lust dazu, ich sage, das sei mir egal, man müsse eben stets bemüht bleiben. Dann noch Conditional III, wenn er schon früher gelernt gehabt hätte, hätte er es heute nicht mehr nötig gehabt – oder so ähnlich. Gräuliches Grammatikgebastel, wenn man zu lange darüber nachdenkt, bekommt man am Ende selbst keinen geraden Satz mehr heraus, in keiner der beiden Sprachen. Die Herzdame fragt aus dem Nebenzimmer, ob Conditional III zusammenfassend das mit „Hätte, hätte, Fahrradkette“ sei. Im Prinzip ja. Haben die Briten wohl auch so einen Spruch? Das weiß ich nicht.

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Reggae und Raps

Montag, 15.5., im Heimatdorf der Herzdame. Ich sehe die Schlagzeilen im Newsstream am Morgen, es geht da noch um den abgesagten Streik bei der Bahn: „Ein Drittel der Fernzüge fährt nicht“, und direkt darunter in der nächsten Zeile: „Zugverkehr weitgehend planmäßig.“ Woraus wohl zu schließen ist, wenn mein Denkvermögen noch so weit reicht, dass ein Drittel der Fernzüge planmäßig ohnehin nicht fährt, es ist ein wenig erstaunlich. Aber was weiß ich schon, es ist jedenfalls gut, dass wir heute nicht mit dem Zug fahren müssen.

Ich führe beim Tischtennis am Vormittag ein jugendfilmtaugliches Grundsatzgespräch mit einem Sohn, weil es etwas zu klären gibt. Ein Ping, ein Pong, ein Satz, nicht aber Spiel, Satz und Sieg. Und wie es in Jugendfilmen so ist, wird man erst viele Szenen und Schnitte später wissen, ob es etwas genützt hat, ob es eher egal war oder nur wieder irgendein hilflos bemühter Schritt vom Wege, oder aber ob am Ende meine Wahrnehmung gar nicht die verbindliche ist und er eigentlich ein Gespräch mit mir geführt hat. Wait and see, wie es ohnehin immer in der Erziehung gilt.

Ich bin mit dem Keyserling durch, mit den Abendlichen Häusern. Die Geschichte endet, wie alles bei ihm, in tiefster Resignation, in der aber kaum unangenehme Bitternis nachzuweisen ist. Ein spezielles Keyserling-Gefühl, nicht so leicht übertragbar. Im Stechlin von Fontane findet man vielleicht eine vage ähnliche Stimmung. Ich beginne daraufhin „Armance“ von Stendhal, das ist sein eher unbekannter und dünner Roman neben den beiden deutlich dickeren Superbestsellern, die er noch geschrieben hat. Deutsch von Arthur Schurig. Es ist ein abrupter Wechsel in der Attitüde nach dem Keyserling, als würde man sich auf einmal gerade hinsetzen und etwas Haltung annehmen, so deutlich ändert sich der Tonfall in den Büchern, vom etwas hinfälligen, wehsüßen Erinnern bei dem einen zur scharfsinnigen, urteilenden Analyse beim anderen, auch wenn es einige Ähnlichkeiten in der Kulisse gibt:

„In diesem Salon hatte die grünsamtene, mit Goldornamenten überladene Wandbekleidung offenbar die Aufgabe, das Licht zu dämpfen, das durch zwei mächtige Spiegelglasfenster in den Raum strömte. Sie gingen auf den einsamen Garten, der durch Buchsbaumhecken in bizarre Abteile zerlegt war. Im Hintergrund ragte ein Reihe Linden auf, die dreimal im Jahr verschnitten wurden. Ihre starre Oberlinie wirkt wie ein Sinnbild des geistigen Lebens im Hause.“

Das Buch Armance von Stendhal, ein Insel-Taschenbuch

Ich fahre zum Einkaufen, das geht hier auf dem Land nur mit dem Auto. Zu Fuß wäre ich dafür erstaunlich lange unterwegs, quasi Tagesreise. Mit dem Fahrrad würde ich nicht alles Zeug mitbekommen, nein, es ist im Moment nicht anders lösbar. Ein Sohn begleitet mich und hört laut Musik dabei, die nach Reggae klingt. Was so dermaßen schlecht zur norddeutschen Landschaft passt, durch die wir fahren, dass es fast schon lustig ist. Reggae und Raps vertragen sich nicht recht, stelle ich fest.

Ein Familienmitglied hat bei mir Lust auf einen bestimmten Schokoriegel angemeldet, den ich im Laden aber hartnäckig nicht finde, obwohl doch klar ist, wo er sein müsste. Hinterher erst fällt mir ein, dass doch neulich in den Nachrichten stand, dass Edeka irgendetwas ausgelistet habe, wegen der Streitigkeiten um die Einkaufspreise, und ich habe bei der Liste der betroffenen Produkte noch gedacht: das brauchst du doch alles eh nie. Nun. Dann gibt es eben etwas anderes, es ist auch egal und ich denke nicht, dass der Wegfall irgendeines Markenartikels für mich ein größeres Problem wäre. Man kann sich auch nicht von allem beeindrucken lassen.

Eine Bemerknis noch am Rande: Es war ein Supermarkt ohne jede Quengelware vor der Kasse. Ich weiß nicht, ob ich das in Hamburg schon einmal gesehen habe, aber ich denke nicht.

Ich mache danach Mittagsschlaf. So einen Mittagsschlaf, nach dem man spontan nicht mehr weiß, wer und wo man ist, was in unangenehmer Weise dadurch gesteigert wird, dass ich hier an verschiedenen Tagen in verschiedenen Räumen ruhe, weil im Hausstand viel herumgeräumt wird. Dann vollkommen planloses Erwachen, sich nur langsam in die Rolle zurückdenken, die Schrift des Drehbuchs erst wieder mühsam scharfstellen, dann zögernd und ohne Begeisterung denken: „Ach ja. Das war es.“ Schließlich aufstehen und vor dem Hinaustreten die Kleider ordnen, wie es früher bei der Bahn auf den Toiletten hieß. Also sehr viel früher. Als man noch großen, sicher allzu großen Wert auf Ordnung gelegt hat.

Komplikationen und Probleme aus Hamburg erreichen mich auch hier auf dem Land per Mail, stelle ich nebenbei unwillig fest. So ein überall verfügbares Netz heißt eben auch, dass man selbst überall verfügbar ist, das ist womöglich gar nicht bis zum Ende durchdacht worden, als man es sich etwas vorschnell so eingerichtet und zunächst toll gefunden hat.

Ich schreibe ein Notizbuch voll und wechsele es gegen ein neues Exemplar ein. Ich habe dabei wieder das vollkommen unsinnige, aber immerhin schöne Gefühl, etwas geschafft zu haben, erreicht sogar. Und dann auch prompt der gleichfalls unsinnige Wunsch, sofort neue Notizbücher zu bestellen, obwohl ich doch in Hamburg einen nicht eben geringen Vorrat davon habe, natürlich habe ich den.

Ich beherrsche mich dann aber mühsam, ich bestelle nicht, ich reiße mich zusammen wie so ein Mensch mit Disziplin und Willenskraft. Denn so stand es im Drehbuch, das ist die Rolle.

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Nachtviolen, Wiesenkerbel

Wo war ich in der Chronik, es war Samstagabend. Am Sonntagmorgen kann man im Heimatdorf sogar draußen frühstücken, das erste Mal gibt es eine Art Sommergefühl in diesem Jahr.

Im Garten der Schwiegermutter hängen die noch grünen Johannisbeeren in viel üppigeren Mengen als bei uns an den Büschen, hier ist wie immer alles etwas weiter, größer und grüner, denn so geht es zu im sonnigen Süden, so sieht es aus für unsere von Hamburg geprägte Wahrnehmung. Am Feldrand stehen Nachtviolen, die gut und interessant duften. Einen schönen Namen haben sie, diese Nachtviolen. Unter der Pergola vor dem Haus hubschraubert eine Hornisse mit faszinierend tiefem Brummen durch den Blauregen, in den Büschen daneben hundertfaches Bienensummen, ein natürliches Sedativum, beim zweiten Kaffee schon wieder müde werden. Aus dem Dorf weht beim Frühstück Sonntagskirchenglockenläuten zu uns heran. Im Garten angeregte Spatzendiskussionen, beleidigtes Elsterngeratsche, dazu Meisengetuschel, alles begleitet vom etwas einfallslos, aber dafür umso unentwegter plappernden Zilpzalp. Über uns Lerchen, die habe ich lange nicht mehr gehört. Und um uns herum der Duft von Frühjahrsblüten aus den Beeten. Hin und wieder ist auch eine herbe Rapsnote in der Luft, knapp vor unschön, es weht so durch und vergeht wieder.

Hinten hängt Wäsche auf der Leine, auch einer meiner Pullover ist dabei, gut riechend wie nie in der Stadt. Wissen Sie noch, vor mittlerweile etlichen Jahren, als es diese große Aufregung und all den Spott gab, weil ein Unternehmen in Berlin angeboten hat, die nasse Wäsche der Kundinnen auf dem Land an der frischen Luft in Brandenburg trocknen zu lassen? Die spinnen, die in der Hauptstadt, so hieß es damals. Es mag sein, dass die spinnen, aber gut riechende Wäsche hat was, keine Frage.

An allen Wegen ringsum blüht der Wiesenkerbel, weiße Sprengsel vor dem Grün des aufgeschossenen Getreides. Gerste, wenn ich es im Vorbeigehen richtig sehe. Wiesenkerbel kann man essen, man kann ihn aber auch prima mit Schierling verwechseln, lese ich auf dem Handy nach (Flora Incognita, keine bezahlte Werbung) und probiere dann lieber nicht. Lilafarbener Storchenschnabel steht zwischen den weißen Blüten des Kerbels, bunte Wicken auch, es ist hier alles ansprechend und geschmackvoll dekoriert, kilometerlang.

Ich gehe über die Landstraße und höre ein Sachbuch über Brecht, und über mir die Wolken, sie sind weiß und ungeheuer oben.

Ein Feldweg auf dem Land, im Hintergrund Bäume

Es ist pulloverwarm dabei. In der Sonne ist es zu heiß, im Schatten ist es zu kühl, man zieht sich an, man zieht sich aus. Im Dorf findet irgendeine Veranstaltung statt, Eltern bringen ihre Kinder zum Sportplatz und an der Anzahl und Quote der vorfahrenden Elektroautos sehe ich, dass ein Wandel stattfindet. Das immerhin auch nebenbei registrieren, es ist nämlich das erste Mal, das ich bei einer solchen Zufallsstichprobe denke: Ach guck, es gerät in Bewegung, es passiert tatsächlich, die Mehrheiten werden sich zuverlässig verschieben, bald schon. Warte, warte, nur ein Weilchen, dann kommt Elektro auch zu dir.

Eine aufgemalte Startlinie auf einer ländlichen Straße, man sieht das Wort "Start" auf dem Asphalt

Wenn ich auf diese Art weiterschreibe, wie ich es im Moment mache, fällt mir gerade auf, falle ich unweigerlich in der dargestellten Zeit weiter zurück und der jeweils beschriebene Tag wird mit der Zeit immer länger her sein, jedenfalls wenn ich an den so viel schlechter beschreibbaren Werktagen in Hamburg nicht wieder aufholen werde. Ich frage mich, ob mich das stört oder ob ich das sogar gut finde. Ich bin etwas unentschlossen, aber ich glaube, es ist nun so, wie es ist, denn das Blog bin ja ich, und ich bin gerade so. Langsam und zurückfallend, bremsend, besinnlich und gründlich sein wollend. Bird by bird beschreiben, wie es bei Anne Lamott hieß, das war ein gutes Buch über das Schreiben. Ich habe es vor vielen Jahren gelesen und kann mich natürlich kaum noch erinnern, fand es aber interessant, das immerhin ist hängengeblieben. Und die Geschichte, die damals bei ihr zum Titel des Buches führte, die habe ich auch noch parat. Es war eine familiär-anekdotische Abwandlung des chinesischen Satzes: Wenn Du es eilig hast, gehe langsam. Ein Satz, der zwar eine wandkalendertaugliche Weisheit, aber dennoch meiner Erfahrung nach tendenziell richtig ist.

Wobei ich im Langsamgehen so viel Erfahrung gar nicht habe, ich also über solche Weisheiten vielleicht lieber nicht urteilen sollte.

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Es bleiben Rätsel übrig

Ich sitze am Schreibtisch meines in der letzten Woche verstorbenen Schwiegervaters und schreibe, mir geht die Tinte aus. Ich sehe in den Schubladen nach, weil ich aufgrund gewisser Ähnlichkeiten annehme, dass auch er irgendwo Patronen bereitliegen hatte. Und dem ist auch tatsächlich so. Südseeblau finde ich, etliche Schachteln, und es ist typisch, dass es Südseeblau ist, nicht etwa Königsblau. Immer knapp an der Normalität vorbei, so war er, denke ich und werde es gleich noch etwas weiter ausführen. Sechs, acht Schachteln Südseeblau. Ich mache eine auf, ich mache zwei auf, es ist in allen Schachteln das gleiche Bild, die Patronen sind sämtlich leer. Er wird sie alle nach dem Verbrauch zurückgesteckt haben, aber warum bloß? Das erfährt man dann nicht mehr. Wenn jemand stirbt, bleiben Rätsel übrig.

Willi Buddenbohm

Buddenbohms Willi. So sagt man hier, erst der Nachname, dann der Vorname. Buddenbohms Willi ist damals nach der Schulzeit und der Maurerlehre Bau-Ingenieur geworden, Architekt auch. Das war ein vorgezeichneter Weg, denn seine Eltern und Großeltern kamen aus der Baubranche, Hoch- und Tiefbau, er musste das Unternehmen weiterführen. Da war von Anfang an klar, was er zu werden hatte, zu sein hatte. Aber andere Wege wären doch besser für ihn gewesen, das meinten viele zu wissen, die ihn kannten. Etwas mit Musik wäre es vielleicht gewesen, mit seiner großen Leidenschaft.

Denn damit kannte er sich aus, mit Tonqualität, Sound, mit Rockgeschichte, mit Klassik auch, mit Hifi, mit nahezu allem, was mit Musik zu tun hatte, technisch und auch künstlerisch. Damit hat er unendliche Stunden seiner Freizeit zugebracht, dafür hat er ein Vermögen ausgegeben, für den besten Sound, für die ultimativen Aufnahmen und die bestmöglichen Verstärker, die feinsten Kopfhörer und immer so weiter, ein Enthusiast besonderer Ausprägung. Noch im Krankenhaus in der letzten Zeit hatte er sein Equipment dabei, und nicht zu knapp. Seine Kenntnisse der Musikgeschichte, ich erwähnte es neulich schon, waren umfassend, bis an die Gegenwart heranreichend, seine Musiksammlung war absurd vielfältig. Man kann mit etwas Mühe einen Schwerpunkt in den Sechzigern ausmachen, aber das war längst nicht alles, er ist da nicht stehengeblieben. Er war anderen, mir etwa, teils deutlich voraus. Neben ihm war ich stockkonservativ. „Er hat für die Musik gebrannt“, sagt die Herzdame, und das ist ein wenig witzig, weil er Unmengen CDs gebrannt hat, Tausende.

Keine leichte Kindheit gehabt, ich springe etwas hin und her, pardon. Ich glaube, dass man oft vergisst, wie schwer Kindheiten damals waren, bei vielen von denen, die mir nur wenige Jahrzehnte voraus waren, welche unfassbare Härte damals noch in der Welt und in den Eltern war. Er hat manchmal darüber geredet, es war nicht gut auszuhalten und man mochte es sich alles lieber nicht vorstellen. Kinder wurden auf Spur gebracht, so nannte man es, und was für Abgründe liegen in diesem Satz.

Dennoch blieb er, wie es bei Ringelnatz ähnlich hieß, etwas schräg ins Leben gebaut. Er war nie vollständig angepasst, im Benehmen nicht, in der Haltung nicht, in den Ansichten nicht. Immer ansatzweise Hippie gewesen, Rocker auch, Exot, Sonderling, Exzentriker, bunter Vogel. Immer soweit es ging, und manchmal ging es recht weit. Freiheit war sein Lebensthema, immer gesucht, nie wirklich gefunden.

Die Musik und das Dorfleben hat er zusammengebracht, hat im Posaunenchor in der Kirche gespielt, ist nebenbei Dorf-DJ gewesen. Einer, der jede Party retten konnte, ankurbeln konnte, laufen lassen konnte. Er hat Stimmungen gemacht und gedreht, er war für Feste mitverantwortlich, die in dieser Gegend heute noch Legende sind, in einer Weise vielleicht, wie man sie sonst nur aus der irischen Literatur kennt. Solche spektakulären Feste, von denen es kein vollständiges Bild gibt, weil sich alle Beteiligten dermaßen dem Alkohol und der guten Stimmung hingegeben haben, dass hinterher nur Erinnerungstrümmer mühsam zusammenzufegen sind, immer unzureichend, immer fern der Wahrheit, aber man weiß jedenfalls – das waren noch Nächte, meine Güte, was waren das für Nächte. Die Älteren im Dorf sortieren heute noch, wer wann wo dabei war und was gemacht hat. Weißt du noch, dieser Abend.

„Er hat Musik gemacht, und es hat gepasst. Und dann hat er es gedreht, die Stimmung und alles.“ So habe ich es hier gestern gehört, als sich jemand daran erinnerte, und auch das ist natürlich eine Kunst, immer die genau richtige Musik zu finden für den Moment und für die Stimmung der Feier, für die Gesellschaft, sei es nun Schlager, sei es Hendrix oder Blues oder Blaskapelle oder sonst etwas, er hat es einfach gewusst, was es jetzt sein musste, ganz genau hat er es gewusst, immer ein Treffer nach dem anderen.

Die Party bei dem Tierarzt damals, viele, viele Jahre ist es her, irgendwann spät nachts noch die Partykracher, und bei dem Lied „Da steht ein Pferd auf dem Flur“ stand da dann wirklich eines, es ist im Grunde ein Wunder, dass nicht alle Beteiligten vor Lachen gestorben sind. Solche Abende. Längst sind sie nicht mehr wahr, diese Geschichten, und doch war es so. Es gibt Fotos von diesen Feiern, es gibt auch einige Filme, die gewisse Anwesende schwer belasten, ich kenne sie. Und ich bin mir daher sicher, es wurde hier auf eine Art gefeiert, die in Großstädten eher unbekannt ist. Und er immer mittendrin, an den Schalthebeln des Ganzen. Er hatte einen Ruf, er hat ihn bis heute. Damals die Feiern mit Willi, anerkennendes Nicken, seliges Erinnern. Und meine Güte, was ging es den Leuten schlecht danach. So musste das.

Er hat sich etwas bunter als andere angezogen, er hat auch andere Bücher gelesen, er hat etwas anders gekocht. Er hat sich früh für ausländische Küchen interessiert, als das hier noch kein Trendthema war, noch lange nicht. Chinesische Küche, bevor es in jedem Dorf ein Restaurant dieser Art gab, er ist sogar nach China gereist. Indische Küche. Auch Ayurveda und so etwas, irre abgelegenes Zeug aus damaliger Sicht. Makrobiotik, sehr spezielle Fachgebiete, keines davon mehrheitsfähig. Er hat sich immer in diese Themen gekniet, er hat jedes Spezialgebiet voll mitgenommen, bis hin zum Expertentum, sich dann überall ausgekannt. In der Garage stehen noch unbenutzte Pinsel und Acrylfarben und Malereilehrbücher, das mit der Kunst hat er nicht mehr so geschafft, wie er wollte. Aber er hätte sicher, wenn es ihm noch möglich gewesen wäre.

In der Kleinkindzeit der Söhne war er ein grandioser Großvater. So einer, der den Kindern alles durchgehen ließ, der ihnen alles erlaubt hat, auch die Sachen, bei denen man als Eltern Augenzucken bekam, sich mühsam beherrschen musste und von Sicherheitsregeln sprach, als sei man selbst der Ältere, und ich nehme an, das war manchmal eine vollkommen adäquate Rollenverteilung. Mit ihm ging manches, was mit uns nicht ging. Auch die absurden, die zu großen Geschenke hat er gemacht, ganz selbstverständlich. Das erzählt die Herzdame ähnlich auch aus ihrer eigenen Kindheit, er war ziemlich anders als andere Väter, nicht nur, weil er mit ihr gemeinsam stundenlang Musik aus dem Radio aufgenommen hat. Und ich weiß auch, dass er mit schwierigen Jugendlichen aller Art, die ihm im Beruf und anderswo begegneten, gut umgehen konnte. Das passte so zusammen, er hat geholfen, wenn er konnte, und er hat sie alle mal machen lassen. Denn das war oft das, was andere nicht so gut konnten – die mit den Problemen einfach mal machen lassen.

Wir hatten in Hamburg einmal einen Hausmeister, der beim Blick auf unser Namenschild sagte: „Ich kannte mal einen Buddenbohm.“ Das hören wir nicht eben oft, das hören wir eigentlich nie. Wir kamen dann darauf, dass dieser Hausmeister bei Projekten dabei gewesen ist, die der Vater der Herzdame geleitet hatte, aufwändige Kaufhausumbauten waren das, aberwitzig komplizierte und eilige Großvorhaben. Wir fügten die Teile im Gespräch zusammen und irgendwann fragte er die Herzdame endlich: „Echt jetzt, der Verrückte ist also ihr Vater?!“

Es war keine Beleidigung, es lag viel begeisterte Anerkennung in dieser Frage. Denn der war mal ein Typ, dieser Bauleiter.

Er hat bei unserer Hochzeit eine Rede gehalten, von der heute noch, nach all den Jahren, Gäste von damals beeindruckt sind, obwohl sie vermutlich überhaupt kein Wort verstanden haben von dem Friedewalder Platt, in dem er gesprochen hat. Er hat sich den Leuten eingeprägt, er hat etwas ausgestrahlt, aber er hat sich kaum dafür interessiert, was andere von ihm gehalten haben.

Es war nicht einfach, die passende Musik für seine Beerdigung auszusuchen. Wir haben da länger dran gesessen, ich erwähnte es neulich schon. Wir dachten uns, zum Schluss muss etwas kommen, das passt, muss noch einmal, ein letztes Mal etwas kommen, das die Stimmung dreht. Und ich glaube, wir haben es gefunden. Der leere Schaukelstuhl im Video, der an Roy Orbison erinnert, macht es noch besser.

Aber natürlich, man weiß nicht, was er für sich ausgesucht hätte, man kann es nicht wissen. Es gab keinen hinterlassenen Plan für diese Gelegenheit. Er hätte es sicher viel besser als wir gewusst.

Aber wenn jemand stirbt, bleiben Rätsel übrig.

Well, it’s alright, ridin‘ around in the breezeWell, it’s alright, if you live the life you pleaseWell, it’s alright, doin‘ the best you canWell, it’s alright, as long as you lend a hand

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