Verzicht überall

So viel Laub, wie jetzt schon fällt und früh vermodert – es wird da draußen an den Bäumen kaum noch Gold im Oktober geben können. Das passt schön zum überall angekündigten Wohlstandverlust. Die Natur macht uns den kommenden Mangel leise vor, früher Verzicht überall. Show, don’t tell – und da liegt es schon, das Laub.

Am Sonntag war es hier gleichzeitig kühl und schwül. Drückende Augustluft, die alle paar Meter von heftigen Windstößen verwirbelt wurde, die sich nach Nordsee anfühlten, nach weit draußen und nach viel später im Jahr. Dann nur eine Ecke weiter gegangen und auf einmal wieder der brütende Stadtspätsommer. Die Jahreszeiten gehen durcheinander, die Wetterzonen, die Saisonmoden auch, kurze Hosen unter Übergangsjäckchen an den Touristen. Gemengelage. Auch das französisch aussprechen, so wie die Gasumlage.

Am Montagmorgen dann knackfrische 16 Grad und das ist also der erste Morgen mit einwandfrei gültigem Herbstgefühl. Diese gewisse Schärfe in der Luft, unverkennbar ist das. Gleich möchte man ihr freundlich zuwinken, der nächsten Jahreszeit, gleich möchte man schon einmal im Schrank nach den Pullovern sehen, nach den Rollkragen. Akute Textilflauschvermissung.

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Ich lese Mathijs Deen, Der Schiffskoch. Deutsch von Andreas Ecke, hier eine Rezension dazu. Het Lichtschip heißt das Buch im Original, aber der deutsche Titel Das Feuerschiff war bekanntlich schon an ein bekanntes Werk vergeben, der ging also nicht. „Lakonische Kurzprosa“ stand irgendwo, das passt.

Es gibt einen Matrosen auf dem Feuerschiff, der Tagebucheinträge macht, die lesen sich etwa so:

„2.7. 01:25, Süd 2, See 0,1

Himmel: mattschwarz um hellen Mond

See: tiefschwarz mit fallenden silbernen Sternen“

Und ich denke beim Lesen, das möchte ich auch. So etwas beobachten, so etwas aufschreiben – was lustig ist, da es in dem Buch auch deutlich darum geht, wie sehr die arbeitenden Menschen an Bord dringend da wegwollen, von diesem nie fahrenden Schiff, von dieser lähmenden Ödnis auf See. Sie warten wochenlang auf die Ablösung und man denkt beim Lesen genau gegenläufig, ach, so eine gewisse Weile würde man es wohl schon aushalten, da draußen, mit den fallenden silbernen Sternen unter dem mattschwarzen Himmel.

Oder hier:

„15.6. 08:20, Nord 2, See 0,3

Himmel: schwellend grau-weiß, aber blaugrau am Horizont

See: hochwirbelnde Flocken Schwarz und Grüngrau“

Sehr akribisch würde ich das alles notieren, denke ich mir, die Farben und die Bewegungen und die Flocken. Aber das geht vermutlich nicht als Bewerbung durch.

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In den Foodblogs sehe ich währenddessen die ersten Kürbisrezepte, irgendwas mit Pumpkin-Spice, wir kommen voran.

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Ich war auf einem Festival, um darüber zu schreiben. Ich war früh da, andere Medienvertreter auch, noch vor dem Andrang der Gäste. Die einen liefen im Auftrag eines Fernsehsenders herum, die anderen für eine Zeitung. Eine Filmkamera für eine Vorabendsendung im Anschlag, eine Vollformatkamera für die Pressefotos. Und ich mit dem ollen Notizbuch, so schlichen wir umeinander und warteten auf echte Gäste. Aber nur ich habe dabei gelacht. Diese pirschenden Schritte, dieses jägerhafte Lauern, dieses genaue Hinsehen und Hinhören, dieses gespannte Abwarten. Schreib das auf, film das, knips das, ein Chronistenrudel auf Beutezug.

Genau genommen lache ich immer noch. Hyänenhaft, über meiner kleinen Beute.

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Währenddessen in den Blogs, Ausgabe 28.8.2022

Der Wäschetrockner ist kaputt und wird nicht ersetzt, wozu ich nur anmerken möchte: Das war hier auch so, schon vor einiger Zeit. Ein Trend, ein Trend.

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Vanessa über das Energiesparen und die Möglichkeiten: „Natürlich, ein paar Stellschrauben gibt es immer, aber weder habe ich bislang zwanzigminütige Heißduschorgien veranstaltet noch meine Wohnung zur Sauna hochgeheizt.“

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Und immer die politischen und später historisch interessanten Fragmente auch in den Blogs, die sich nicht eben an die Politik ranwerfen, sondern vornehmlich privat erzählen: „Nicht so schön ist der Personalmangel beim Lehrpersonal, der ganz konkret Auswirkungen auf unsere Kinder hat. Wichtige Lerninhalte werden nicht mehr vermittelt und das Schuljahr beginnt schon mit Unterrichtsausfall. Nun haben wir Eltern einfach selber Unterricht organisiert.“ Überraschend vielleicht, dass es da nicht um Berlin geht, auch andere Ländern haben also Probleme.

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Johannes Franzen über die unsägliche Karl-May-Debatte.

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Die Stimmung ist teils nicht mehr allzu positiv und fern von Optimismus, die Zeilen hier stellvertretend für viele ähnliche Äußerungen auch in Gesprächen etc.: „Die Zwetschgen am Baum, die Bienenschwärme, die die Jungfernrebe abernten, die Blütenpracht in K.s Garten, der rotschwarze Schmetterling an der Buddleya — alles eine papierene Hülle. Eine falsche Idylle. Der letzte Atemzug einer sterbenden Welt.

Der Schriftzug "Shit World" auf einer Betontreppenstufe

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Falls jemand gerade eine kreative Herausforderung zur Ablenkung braucht: Der Catember.

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Melancholiedefizit

Der Sommer, so lese ich, wird sich noch bis weit in den September ziehen, wenn nicht sogar noch viel weiter. Es wird warm bei uns bleiben, sonnig und viel zu trocken. Jedenfalls vermutlich, es sind ja immer nur Modelle und gelehrte Mutmaßungen, die uns als Vorhersagen dienen. Das wird alles gut für die Heizkosten sein, sehr gut sogar, versteht sich. Aber für den Freundeskreis Melancholie und Herbstblues, der jetzt sehr auf kleine Veränderungen in der Stimmung da draußen achtet, sind es etwas seltsame und verstörende Nachrichten, werden wir doch um ein paar Wochen unserer besten Zeit gebracht. Es wird zu einer Melancholieverzögerung, wenn nicht sogar zu einem Melancholiedefizit kommen, mit unwägbaren Folgen für Kunst und Kultur, für Lyrik und Songwriting. Schlimm.

Immerhin ist es morgens schon wieder dunkler, wenn ich aufstehe. Immerhin gibt es schon fast heimelig anmutende Beleuchtungssituationen im Frühdienst vor dem Erwachen der Familie. Und an manchen Tagen kann ich dabei sogar Kleidung tragen, ohne direkt zu verglühen. Leichte Kleidung, versteht sich, wehende Stöffchen.

Und das Herbstlaub, das in diesem Jahr Dürrelaub ist und daher nicht recht zählt. Es ist einfach anders als sonst und auch anders zu bewerten, the falling leaves möchte man noch nicht singen, les feuilles mortes pfeift man noch nicht, auch wenn es noch sehr beim Gehen raschelt. Das Laub wird weg sein, der Sommer wird noch da sein. Ich habe das so nicht bestellt, ich möchte das nicht, ich finde es auch nicht richtig.

Und doch liegen die Berge und die Strände in den Ferienregionen jetzt wieder verlassen (da stimmt noch nicht ganz, ich weiß, aber ich kann mir hier vorstellen, was immer ich möchte). Die urlaubenden Menschen sind größtenteils wieder abgereist aus den allgemeinen Geheimtippgegenden und machen seit ein paar Tagen wieder irgendwas mit Berufen und lächeln längst nicht mehr bei allem; die Kinder gehen wieder zur Schule, haben so wenig Wahl wie die Eltern und murren und knurren, vertraute Geräusche. Die Strandkörbe an den Meeren stehen verlassen, die Tretboote an den Seen, die Freibäder überall, die Achterbahnen.

Irgendwo am Strand, vielleicht haben Sie es gesehen, hat eine fremde Hand das Wort „Verlassen“ in den Sand geschrieben. Tim Fischer weiß mehr davon, und er weiß es vom Herrn Kreisler, der es zuerst gesungen hat.

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Währenddessen in den Blogs, Ausgabe 24.8.2022

Eine Metapher für die Probleme der Menschheit kann man auch beim Duschen finden.

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Die Nachbarn säubern mit einem Gasbrenner den Gehweg von Unkraut, es klingt, als ob vor dem Fenster ein Flugzeug starten würde. Wir verbrennen Gas und produzieren Kohlendioxid, um Pflanzen zu vernichten, die Kohlendioxid speichern könnten.

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Christian geht Waldbaden. Quasi.

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Wenn man getürt wird. Der ständige Gruselfaktor beim Radfahren.

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Ich möchte nicht entlastet werden …“, das ist ein Satz, den man sicher zu selten liest.

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Geschmolzen am Boden einer Stadt

Im Garten hat die Herzdame den Lavendel geschnitten. Die üppige Blütenernte wird zuhause in Säckchen verfüllt und kommt später in die Schränke, unsere Großmütter wären so weit zufrieden mit uns gewesen. Die letzten Karotten habe ich aus der Erde geholt, die Buschbohnen geerntet, die Zwiebeln auch. Die letzte Runde Radieschen wurde gesät. Mangold wird auch noch einmal gehen, aber die Samen musss ich erst besorgen. Mangold sieht sehr gut aus, wenn er spät im Jahr einfach stehenbleibt, das letzte leuchtende Bunt im Garten.

Die gelben und roten Tomaten geben noch reichlich Früchte, süßer denn je, die sattgrünen Gurken tragen auch weiterhin. Davon im nächsten Jahr unbedingt mehr anpflanzen. Gurken haben keinen exakten Erntepunkt und können also etwas warten, das ist für uns immer gut, wir sind längst nicht jeden Tag im Garten, das können wir nicht schaffen. Und immer noch denke ich bei einer großen Gurke aus dem Garten staunend: Guck mal, die sieht ja aus wie im Laden. Schmeckt aber etwas besser, das will ich mir zumindest einbilden.

Die Lampionblume ist im Orangeton den Hokkaidos deutlich voraus, die Hortensien dagegen verblassen ins fortgeschritten Seniorige, eine gediegene Farbgebung sieht man da, blasslila, cremeweiß, vornehm ist das.

Das Eisenkraut blüht noch mit lilafarbener Sommerkraft, die Kugeldisteln dahinter schaffen es nicht mehr ganz, ein leises Schwächeln im Grundton. Der Rittersporn ist längst durch und steht nur noch als mahnendes Gerippe, knochenbleiche Staudenreste. Der Rhabarber zieht langsam ein und die Zucchini weiß nicht recht, soll sie jetzt noch einmal oder nicht. Dort, wo das gelbe Kraut so auffallend unordentlich und windschief im großen Beet steht, da sind bei Gelegenheit noch ein paar Kartoffeln aus der Erde zu holen.

Auf dem Rückweg vom Garten sehe ich in einem Park ein Paar an den Holunderbüschen stehen. Sie angelt mit einer Kinderharke oben nach den Früchten, er sammelt sie in einen Spielzeugeimer. Nicht weit davon eine Mutter mit Kind, auch sie stehen an einem Gebüsch, sie pflücken vorsichtig Brombeeren. „Aufpassen“, sagt die Mutter, „aufpassen! Die Dornen!“ Und weil alle Szenen immer dreifach vorkommen, sehe ich dann noch eine Frau, die gerade gebückt an einer Staude herumfingert, vermutlich sammelt sie Samen für den eigenen Garten oder den Balkon. Erntezeit in der Stadt. Ich fahre mit dem Fahrrad über knackende Eicheln nach Hause, ein Herbstgeräusch.

Ich halte für ein Kind, das mit einem tropfenden Eis in der Hand auf den Fahrradweg läuft, und genau in diesem Moment shuffelt mir das Handy „Un gelato al limon“ auf die Kopfhörer, wie schön ist das denn. Ich halte an und googele nach einer Übersetzung des Textes von Paolo Conte, immer alles nachsehen. Ich finde nur eine automatisiert erstellte Version, aber sie ist fast schön:

Kleiner Eisbecher Zitrone
Eisbecher Citron
Eisbecher Citron
geschmolzen am Boden einer Stadt
ein Eisbecher Zitrone
ist echte Zitrone

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In den Nachrichten lese ich, dass viele ältere Briten nach den pandemischen Jahren nicht mehr in die Arbeitswelt zurückkehren und also dauerhaft fehlen werden. Der Umstand wird dort „Great Resignation“ genannt, der Ausdruck gefällt mir. Und ich wäre erstaunt, wenn es sich in Deutschland nicht ähnlich verhalten würde.

Ich bin jetzt 56, es dauert also noch etwas bis zur eigenen und sich vermutlich einigermaßen great anfühlenden Resignation.

Weitermachen.

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Ich lese Jane Gardam, Ein untadeliger Mann, Deutsch von Isabel Bogdan, und ich bin nach wie vor ganz und gar zufrieden mit den Büchern. Dummerweise habe ich bald alle verfügbaren Werke von ihr durch.

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Im Wetterbericht wieder irgendwas mit 30 Grad. Ich möchte das nicht. Ein Buddenbohm, geschmolzen am Boden einer Stadt.

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Das wird ein Tag

18 Grad, man bekommt endlich Luft am Morgen. Man kann wieder atmen wie früher, wann war denn das, im März oder so. Auf dem Spielplatz unten am frühen Morgen noch herumhuschende Leute aus der Drogenszene, Geschäfte im Gebüsch, leise Absprachen, gezischte Giftigkeiten, da läuft etwas nicht glatt. Wütend geht einer ab, schüttelt theatralisch eine Faust und flucht gedämpft. Zwei kommen hinter dem Bambus hervor, Frau und Mann, sie zieht noch ihren Rock hoch. Bezogen auf Vermietungen ist das hier: Gute Wohnlage.

Das Laub der Birke über den Dealern ist jetzt am deutlichsten frühverfärbt, das satte Grün wird insgesamt heller und heller, lichtes Gelb ist das Ziel. Alle anderen Bäume haben nur Veränderungen an einzelnen Blättern vorzuweisen, lediglich hier und da sieht man einen Farbeinschuss, eine Auffälligkeit, die Birke aber gibt schon gesamt nach.

Beim Einkaufen sind es 19 Grad draußen, und ich merke mir, dass ich 19 Grad angenehm finde. Vielleicht sogar ideal. Das beweist noch nichts für Innenräume, aber ich arbeite mich vor, ich lerne Temperaturen, wie neulich angedeutet. 19 Grad sind also exakt richtig, um mit Oberhemd und Anzug gelassen draußen herumzugehen. Man schwitzt nicht, man friert nicht, man kann geradeaus denken. Eine sympathische Temperatur.

Im Discounter ein gerade aufgebauter Stand beim Gemüse, da liegen die neuen Hokkaido-Kürbisse, die im Garten noch längst nicht so formidabel herangereift sind, in satt leuchtender Färbung. „Guck mal, es ist so weit“, sagt eine Frau im Vorbeigehen zu ihrem Mann und zeigt ihm die auffälligen Kürbisse. „Geh mir bloß weg mit Kürbis“, sagt der und geht weiter.

In den Timelines wurden vorgestern irgendwo schon Lebkuchen gesichtet, die stehen hier noch nicht. Aber es wird natürlich nur eine Frage von Tagen sein.

Ich räume meinen Schrank auf, ich sichte Klamotten, ich sortiere aus, ich sauge sogar im Schrank Staub. Ich falte Wäsche akribisch und sortiere neu. Hinterher sieht der Schrank aus wie in einem Wohnmagazin, ich möchte da nie wieder etwas herausnehmen, damit das immer so bleibt. So anständig, so befriedigend, so voll der guten Absichten und mit besten Aussichten auf eine wohlsortierte Zukunft, also gefühlt jedenfalls. Wie damals, in der Schule, wenn man in der ersten Woche nach den großen Ferien all diese neuen Hefte hatte, die vorne ordentlich beschriftet waren und innen noch sauber und leer und man dachte, diesmal schaffe ich es, diesmal wird alles musterhaft laufen, ein ganz neues Leben wird es sein.

Das wird ein Tag,

unser Tag wird ein neuer Anfang sein.

An dem wir nicht mehr wanken,

in unserm Urteil schwanken.

Wo wir mit denen, die nach vorne schau‘n,

uns eine bessere Zukunft bau‘n.

Klaus Hoffmann war das, vor langer Zeit.

Na, was man eine Woche lang eben so denkt, bis der Alltag einen selbst, die Hefte und auch die Schränke überrollt.

Am Abend spielt Bernd Begemann an der Bille. Es sind viele Menschen da, also für eine kleine, eher nachbarschaftliche Konzertreihe jedenfalls, und wir treffen etliche bekannte Menschen, die wir aus verschiedenen Zusammenhängen kennen. Ich glaube, das habe ich lange nicht mehr erlebt, so eine Veranstaltung, zu der man geht und dann alle paar Meter „Oh, hallo!“ sagt, und es ist sogar nett und erfreulich. Ein eher präpandemisches Setting.

In den Medien jetzt wieder die Hinweise, man möge doch bitte für Stromausfälle im Winter vorsorgen. Die Listen mit den Nahrungsmitteln, die dringend einzulagern sind. So viel Wasser, wie da für vier Personen und zehn Tage empfohlen wird, kann ich hier gar nicht lagern. Kerzen und Streichhölzer, so etwas. Ein Gaskocher, und ich denke, okay, die sind doch morgen eh ausverkauft, wenn das jetzt überall steht. Wir haben einen Gasgrill im Garten, um denen können wir uns vielleicht scharen, wenn der Strom tatsächlich tagelang ausfällt. Aber berichten werde ich davon dann nicht können, oder doch nur kurz, bis der Akku ebenfalls alle ist. Eine solarbetriebene Powerbank sollte man haben, das steht da auch. Ein batteriebetriebenes Radio. Ich habe das alles nicht. Ich habe nur ein paar Kerzen irgendwo, ganz kleine Lichter, die passen zu mir.

Eine Dose mit ewig haltbarem Pumpernickel steht hinten im Küchenschrank. Immerhin. Aber jetzt, wo ich sie erwähne, bekomme ich plötzlich Appetit auf Pumpernickel, ich krame nach der Dose und mache sie auf. Vielleicht bin ich für Vorratshaltung charakterlich auch gar nicht geeignet, denke ich kauend.

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Ich habe für das Goethe-Institut etwas über die Urlaubszeit geschrieben.

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Donnerstagmorgen

Am Donnerstagmorgen gib es endlich wieder eine überlebbar wirkende Außentemperatur. Was bis dahin geschah, das fiel unter Hitzeterror und Apathie, was bis dahin geschah, ist des Berichtens nicht wert, was bis dahin geschah, ist geschmolzen oder zu Staub zerfallen, wie alles andere auch.

Die Schule fängt wieder an, gestern Abend kamen die erwarteten Schulmails mit den Hausaufgaben für die Eltern. Wir suchen Nachweise für dies und das heraus und legen Papiere und Zeug bereit, wir tragen Termine ein, zählen Geld ab etc., wir suchen College-Blöcke und Hefte aus dem Vorrat heraus und bestätigen dies und das. Die Laune der Kinder sinkt derweil merklich.
Am Donnerstagmorgen schieben wir sie freundlich und unter gutem Zureden aus dem Haus und gehen dann auch zu beruflichen Terminen.

Das welke Laub, das mir letzte Woche nur im Garten aufgefallen ist, es liegt jetzt auch in der Stadtmitte und wird allmählich präsenter. Septemberfarbene Einsprengsel im Straßenbild, die hellbraunen Blätter der Linden, die blassgelben Blätter des Blauregens am Spielplatz, hier und da auch schon ein dezentes Rascheln beim Gehen.

Eine vermutlich drogensüchtige Frau sitzt vor den Stufen der Kirche. Sie schreit und brüllt, sie geifert, sabbert und keift, die Laute sind kaum zu verstehen und klingen teils tierhaft, dazu reißt es ihr die Gliedmaßen hin und her, dass es kaum mitanzusehen ist. Wild wedelnde Arme und Beine, da ist nichts mehr im Griff. Ich weiß nicht, woran es liegt, dass Drogenopfer dieser Art wieder öfter hier zu sehen sind, gibt es einen Bezug zur Hitze, ist ein neues Zeug auf dem Markt, das die Menschen noch schneller ruiniert – keine Ahnung. In gewissen Filmen werden Menschen, die von einem Dämon besessen sind, so dargestellt, wie diese Frau es gerade zeigt. Dieser Dämon ist glaubhaft. Ein Krankenwagen hält vor der Frau, jemand in der Nachbarschaft wird ihn gerufen haben.

Vor der Grundschule steht die Direktorin, begrüßt Eltern persönlich und ist um das Ausstrahlen von Zuversichtlichkeit bemüht. Hinten am Zaun stehen Eltern und linsen heimlich durch die Zweige des Gebüschs, beobachten ihre Kinder beim Spielen oder beim bloßen Herumstehen auf dem Schulhof. Was machen die da? Guck doch mal, da ist sie!

Auf der Straße vor der Schule Blinklicht und Geheul, erst eine Feuerwehrsirene, dann eine Polizeisirene, dann eine Notarztsirene. „Oh, oh“, sagt die Bäckereifachverkäuferin und reicht mir mein Franzbrötchen, „oh, oh.“

Vor einem Studentenwohnheim eine graue Mauer, über und über mit Graffiti gezeichnet, kein einziges davon kann man lesen. Ist das die Bildungsmisere?

An der Tür eines Altbaus ein historischer Türklopfer, darunter ein Zettel, auf dem steht: „Hier bitte klopfen.“ Da wir uns nicht mehr auf eine gemeinsame Wirklichkeit einigen können, wie es einige kluge Menschen im Laufe der letzten zwei wissenschaftsfeindlichen Jahre festgestellt haben, müssen wir die Wirklichkeit neu definieren und erklären, deswegen müssen wir bei einem Türklopfer auch dazuschreiben, dass es ein Türklopfer ist, mit dem an die Tür geklopft wird. Vielleicht sollte man auch noch erklären, dass man durch eine Tür hindurch … oder nein. Das ist schon zu viel, das ist schon Kafka.

An einem großen Werbeplakat an einer potthässslichen und vielbefahrenen Kreuzung steht „Dieses Plakat filtert Schadstoffe aus der Luft.“ Guck mal an, denke ich, das sind vielleicht die neuen Technologien, nach denen diese ausgesprochen unsympathische Kleinpartei immer schreit, diese Lösungen, von denen die dauernd faseln. Fein, fein. Die Werbung, die die Stadt verschandelt, macht die Stadt sauber. Warum auch nicht.

Aber es müsste noch ein wenig mehr passieren, nicht wahr. Ein klein wenig mehr, um die Welt zu retten.

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Dörrobstgedanken

Vor der Haustür liegt eine Taube auf dem Rücken. Ihr Hals ist grotesk abgewinkelt, die Brust wurde aufgebrochen, rotes Fleisch in der Mittagssonne, etwas Blut auf dem Boden, dunkel getrocknet, Federchen ringsum. Auf dem Brustbein schon das schwarze Gewimmel des Entsorgungstrupps aus dem Insektenreich. Ein Mann steht nicht weit davon und guckt in die Gegend, auf seinem schwarzen T-Shirt steht weiß: „Spitzbube“. Ein Zusammenhang zwischen Mann und Taube lässt sich nicht zweifelsfrei herstellen.

Auf einer Parkbank liegt am Abend eine verschmäht aussehende rote Rose, langstielig, edel. Die war einmal teuer und bleicht jetzt vermutlich tagelang auf dem Holz vor einem kaum bespielten Klettergerüst, das Rot der prächtigen Blüte hat schon an Kraft verloren. Auf dem städtischen Mülleimer daneben steht: „Ich fress dir aus der Hand.“ Ein Zusammenhang lässt sich herstellen oder auch nicht.

Auf den Stufen zu einem Hotel steht am Morgen eine leere Flasche Jack Daniels (keine bezahlte Werbung, nein), daneben breitet sich eine Lache Erbrochenes aus. Ein Zusammenhang darf vermutet werden.

Der Sonntag ist zu warm, viel zu warm, überall, sogar im Keller, sogar am Ufer der Bille, sogar im Schatten im Garten, wo jetzt eine Pflanze nach der anderen aufgibt und immer mehr der Gewächse zum eindeutig herbstlichen Look neigen, sogar im Freibad, das so wimmelvoll ist, wie ich noch nie ein Schwimmbad erlebt habe. Ich müsste dringend einen Text schreiben, ich kann aber nicht denken, da mein Hirn die Konsistenz und das Leistungsvermögen von Dörrobst angenommen hat. Ich müsste umschulen, auf einen Job, bei dem man nicht denken muss. Man dürfte aber auch nichts anderes machen müssen, denn es ist alles zu anstrengend. Was macht man denn da, was wird man da?

Es ist so heiß, ich tropfe schon im Sitzen, einfach vom bloßen Sein und Atmen. Ich nässe den Gartenstuhl unter der Weide, ich bin ein undichter Nichtdenker.

Die Ringeltaube monologisiert in der Glut des Nachmittags dumpf von der Nachbarparzelle, das klingt eintönig wie Morsezeichen. Ich googele, was sie da ruft, immer alles nachschlagen. Lang-kurz-lang, kurz-kurz, das steht für KI. KI ruft sie im gut erkennbaren Morse-Alphabet, immer wieder KI, tausendmal am Nachmittag. KI, das steht für Künstliche Intelligenz, das weiß man. Wer auch immer im Hintergrund diese Taube programmiert hat, er wollte uns doch ein kleines Zeichen geben.

„Verstanden“, sage ich, „ich habe es ja verstanden.“ Die Taube gurrt nicht mehr weiter, die hat ihre Mission erfüllt.

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Währenddessen in den Blogs, Ausgabe 15.8.2022

Ich hätte nie gedacht, dass ich mal ein unpolitischer Mensch werden könnte, aber vielleicht ist das viel einfacher.

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Eine neue Rezension zu den Krug-Tagebüchern, die mir auch sehr gefallen haben, ich erwähnte es vermutlich irgendwann.

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Leuchttürme und Erinnerungen

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Sven über das Stromsparen (Sven kennt sich aus)

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Über das Sparen und die Armut

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Eine interaktive Karte – wie weit komme ich in 5 Stunden mit dem Zug?

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Ein Update aus Frankreich, Interessantes zu Wasser und Senf, da muss auch gespart werden.

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Am und auf dem Fluss

Man muss die Flüsse nutzen, solange man sie hat. Ich war in der letzten Woche mehrmals an und auf der Bille, die die Insel mit dem Schrebergarten umfließt. Wasservögel sind auf dem Fluss und darin, und wenn man nur so dahertreibt, auf einem SUP-Board sitzend oder wie auch immer, sieht man die Schönheit ihrer Bewegungen besonders gut und aus der Nähe. Haubentaucher, Blässhühner, Schwäne, Möwen, Kormorane. Eine schwarzweiße Entenart, die ich nicht bestimmen kann, die ich auch später im Internet nicht finde, keines der Bilder passt. Sagen wir einfach, es waren Billlenten, eine größere Familie davon.

Am unbewohnten Uferstreifen, wo die Rückseiten der Hammerbrooker Industrie fabrikhässlich am Fluss aufragen, tummeln sich kaninchengroße Ratten. Eine guckt zu uns herüber und hat dabei eine Haltung wie ein possierliches Erdmännchen. Unter den großen Weiden der Schatten auf dem Wasser. Wie wohltuend das ist, an einem Tag mit sengender Sonne in den Schatten zu treiben, zwischen die hängenden Zweige. Die paar Grad weniger, raus aus dem Brand, rettend fühlt sich das an.

Wir picknicken dort im Kajak. Ein Schwan guckt uns skeptisch zu, was machen die jetzt da. Essen Zeug, das nicht aus dem Wasser kommt, das findet er allerdings befremdlich, wenn nicht sogar abstoßend, er zischt verächtlich und dreht ab. Zum Schwan gehört die indignierte Empörung.

Ab und zu auch nach oben sehen, ins wild anmutende Dickicht der Uferböschung, ob da nicht vielleicht der Eisvogel, das bunte Geschoss … heute aber nicht.

Am Ufer mit den Schrebergärten sitzen Menschen und gucken. Einige winken lässig, einige gucken nur, was da heute wieder alles im Fluss vorbeitreibt, altes Holz, Seerosen, ein Küchensieb aus Plastik, die Buddenbohms. Einer der Anwohner zieht sich aus, springt ins Wasser, taucht grinsend auf und hat ein großes Seerosenblatt auf dem Kopf. Flüchtige Erinnerung an eine Kinderbuchillustration von ganz damals, was war das noch.

Leise ist es auf dem Fluss, wunderbar leise. Und langsam, so ungewohnt langsam. Die Gärten und Häuser ziehen gemächlich vorbei, die Menschen am Ufer bewegen sich in Zeitlupe in der Nachmittagssonne, und mancher, der da vielleicht sportlich schwimmen wollte, ruht dann doch nur im Wasser, es reicht heute auch. Es ist ein Dümpelfreitag, so fühlt sich alles an, da macht man toter Mann und treibt ins Wochenende.

Unter Brücken durch, die von unten viel größer wirken, als wenn man mit dem Auto drüberfährt. Unter Brücken durch, wo jemand unverständliches Graffiti an den Beton gesprüht hat. So ein Aufwand, da etwas von einem Boot aus an den Bogen zu sprühen, und dann kann man es nicht einmal deuten. Angler am Ufer, Hunde hinter Zäunen, frisch gestrichene Hausboote, daneben Schiffsruinen, halb gesunken. Ein verrotteter Steg, vom Gestrüpp umschlungen, Betreten auf eigene Gefahr.

Der Sohn, der auf seinem SUP-Board ist, unter dem Board, daneben, dahinter, davor, Spritzwasser und Johlen, dann wildes Paddeln, er hängt uns ab, lässt sich wieder ins Wasser fallen, wartet auf uns. Er will Spaß, er will etwas essen, er will etwas trinken, er will weiter, er will ganz um die Insel. Ich möchte hier nur sitzen und sachte schaukeln und treiben und gucken. Altersgerechte Wunschverteilungen.

Am Abend gehe ich mit der Herzdame noch einmal ans Ufer, auf der Hammer Seite. Da gibt es ein kleines Konzert, Dirk Darmstädter spielt vor einem Catering-Wagen. Als wir ankommen ist das Konzert schon fast zu Ende, er singt gerade die Zeile „I’m so tired of the digital nomads.“ Entspannte Menschen sitzen vor ihm im Gras, lachen und klatschen. Die Sonne geht unter. Der Fluss weitet sich hier und glitzert in der Breite, weiter hinten kann man die Stadt sehen, die bekannteren Teile davon, die geschäftigen Teile und die aus den Reiseführern. Hier aber ist es nicht geschäftig, hier ist es sonnenuntergangsruhig und friedlich, sehr friedlich. Leise Gespräche nach dem Konzert auf der kleinen Wiese, ab und zu das Geräusch, wenn jemand zum Baden ins Wasser springt, das Spritzen. Das sind die Ortskundigen, die wissen wie und wo. Auf den Booten am Ufer sitzen Menschen, trinken und reden. Für einen Moment ist alles tiefgolden, die Stadt, der Fluss, die Menschen. Nur die Rückseite des großen Gebäudes weiter hinten am anderen Ufer nicht, die steht dunkel und mahnt, zumindest diejenigen, die das Gebäude erkennen.

Die Stadt ist friedlich und entspannt in diesem Moment und an dieser Stelle, gleich neben dem Grauen von damals. Es liegt ein allgemeines Wohlwollen in der Luft, eine angenehme Lässigkeit, ein mildes Sommerabendgefühl und es ist kurz schön, wirklich schön. Das braucht man ab und zu, wie soll man sonst alles schaffen.

Eine Frau steigt aus dem Wasser und trocknet sich ab, sie zittert vor Kälte. „Aber herrlich“, sagt sie, „aber herrlich!“

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