Für fünf Minuten

Hier, man muss auch gönnen können: Reiche werden reicher. (Und mein innerer Fundi so: Ich muss überhaupt nichts.)

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Dafür gibt es bald Strohhalme aus Äpfeln. Immerhin.

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In diesem Zeit-Text etwas gelernt, nämlich die Sache mit dem Thomas-Theorem. Kannte ich nicht.

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Ich bin hin- und hergerissen zwischen einem unentwegten Starren auf die Nachrichtenseiten, das aber eine gewisse Ähnlichkeit mit der höchst verwerflichen Schaulust bei Unfällen hat, einerseits – und einer stoischen, nein, einer verbissenen Ignoranz gegenüber aktuellen Entwicklungen in Deutschland und Europa, die sich allerdings moralisch auch nicht mehr vertretbar anfühlt, andererseits. Ich bin komplett fassungslos angesichts der grandiosen Fehlleistungen deutscher Medien, die sich mit einer geradezu widerlichen Lust absichtlich oder doch immerhin fahrlässig versehentlich am Rechtsruck beteiligen, als gäbe es dabei ausgerechnet für Journalistinnen etwas zu gewinnen, was eine so hirnverbrannt dumme Rechnung ist, es fehlen einem die Worte. Pardon, es geht gleich wieder! Aber man möchte doch auch hingehen und theoretisch linken Parteien wie etwa der SPD so etwas wie “Sechs, setzen!” oberlehrerhaft entgegenbrüllen, ob ihrer selten schwachen Reaktion gerade. Kein Personal, keine Klasse, keine Meinung. Nein, man möchte dieses Brandt-Bild von damals aufhängen, das mit der Mandoline, die Älteren erinnern sich, das gibt es übrigens als Poster im SPD-Shop für 9,90, kein Scherz, man möchte es aufhängen und dann ein Lichtlein drunter gestellt und von alten Zeiten geträumt und wenigstens kurz mal glauben, für fünf Minuten!, dass früher irgendetwas tatsächlich besser war, was natürlich auch dummes Zeug ist Man möchte … ach, umsonst. Sela.

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Ich werde ja dauernd von Melodien geplagt, die mir so dermaßen hartnäckig durchs Gehirn spuken, dass es für meine Mitmenschen etwas seltsam sein muss, weil ich tagelang immer wieder dieselben Zeilen singe. Aktuell gerade: “Woran, meine Liebe, glauben wir noch?” Ja, woran? Bloß nicht drüber nachdenken.

Der olle Danzer. Passt schon.

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Sie können hier Geld in den nur virtuell vorhandenen Hut werfen, dann werde ich auch endlich reicher, nicht immer nur die Reichen. Und das ist doch was. Na gut, nur der Garten wird in Wahrheit reicher, und zwar an Blüten. Auch schön.

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Die uralte Sonne

Deutschland, so scheint es, wird von einem Verein der Verzagten regiert, der in Sachen Klimaschutz den Mumm verloren hat.

Siehe dazu auch: “Sie schmilzt”.

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Nicht weit weg von dem nun sattsam behandelten Text über Peer und seine sexuellen Vorlieben hat übrigens jemand etwas mit blauer Kreide auf den Boden geschrieben, es ist sicher nur Zufall, dass es farblich exakt zum Peer-Text passt. “Leiharbeit verbieten!” steht da, es sieht eher schnell geschrieben aus, im Gehen kurz innegehalten, schnell gebückt und da kann man es jetzt kurz vor einer Ampel an einer wüst befahrenen Durchfahrtsstraße lesen, und so lange kann man es lesen, bis es in Hamburg einmal regnet, also verdammt lange. Nicht weit weg von diesem Satz ist ein Gebäude, in dem ein deutscher Konzern Räume für eher schlecht bezahlte Mitarbeiterinnen in Uniform gemietet hat, es könnte da einen Zusammenhang geben, muss aber nicht. Die Passanten bleiben nicht stehen, um so etwas zu entziffern, die Passanten gehen da drüber weg, die wollen zum Hauptbahnhof und haben keine Zeit für Fußwegpolitk.

Beim Lesen der Aufforderung fällt mir auf, dass hier im Moment gar nicht viel Politik an den Wänden oder auf den Fußwegen zu finden ist, das war schon eimal mehr. Ich weiß gleich um die Ecke einen Zaunpfeiler, an dem lacht immer noch die uralte Sonne aus der “AKW Nee”-Zeit, das ist schon ein Museumsstück, Kulturgeschichte des Nachkriegswiderstandes. Aber ich will in der nächsten Woche mal genauer hinsehen, was ich noch an den Wänden etc. so finden kann, das ist ja immer auch geschichtsbuchrelevant.

Im Nachbarstadtteil Borgfelde steht an einer Garagenwand ein eher dezentes “Wieso?”, und wenn das eine politische Aussage ist, dann möchte ich mich nach kurzer Sichtung der heutigen Nachrichtenlage vollinhaltlich anschließen. Wieso? Was noch milde ausgedrückt ist.

An einem U-Bahngleis unter dem Hauptbahnhof ist eine Baustelle mit weißem Holz verschalt, große Wandaufsteller, auf denen steht fast nichts drauf, ich habe das Objekt komplett umkreist und gestaunt. Weiße Flächen mitten in der Stadt, wie in einer gated community. Ist das Sicherheitspersonal da neuerdings so gründlich und allzeit bereit? “Tina ist doof” steht da mit Edding immerhin ganz klein in einer Ecke, das ist fast schon wieder rührend. So ein Text, den auch schon die alten Römer an Wänden in dieser Art hinterlassen haben, die Formulierung zieht sich so über mehr als tausend Jahre. Siehe auch: “Wer das liest, ist doof”, was natürlich nicht für diesen Text hier gilt, wer den liest, der ist schlau, schön und karmisch ausgeglichen. Eh klar.

Aber apropos Leiharbeit, man guckt ja heute schon dreimal hin, wenn man so eine Schlagzeile sieht, aber das steht da wirklich, dass sich nämlich Menschen um andere Menschen sorgen, das gibt es also noch und vielleicht malen die da am Ende sogar noch was mit Kreide auf den Boden? Quasi Revolution.

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Ich: “Was hast Du heute noch vor?”

Sohn II: “Tanzen und chillen. Mehr findet nicht statt.”

Nehmen Sie sich bitte ein Beispiel, das Kind wirkte am Abend nach diesem Dialog recht gut gelaunt, das Programm scheint zu wirken. Hier gleich ein paar Tanzschritte für Ratlose:

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Sie können hier Geld in den nur virtuell vorhandenen Hut werfen, dann freue ich mich, kaufe mir bunte Kreide und dichte auf Fußwegen weiter. Nein, stimmt gar nicht, ich kaufe nur Pflanzen für den Garten davon. Immer ehrlich bleiben!

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Das Zielfernohr

Der Tag begann mit massiver Übersättigung, denn Sohn I hat gestern am späten Abend noch gebacken, das ist in seinem Freundeskreis gerade in. Nett, diese Trends bei den jungen Leuten!  Und weil es gestern bereits zu spät war, mussten wir den Kuchen natürlich heute zum Frühstück ausführlich probieren, Double-Choc mit Sahne und lemon curd, ich musste das erst einmal googeln, denn ich bin ja eher Banause, was so etwas angeht. Gefühlt war der Kuchen sogar eher Triple-Choc oder mehr und noch bis zur Mittagszeit fühlte ich mich im Zuckerschock wie nach drei Stück Frankfurter Kranz. Aber lecker war er, der Kuchen, gar keine Frage, den kann er gerne wieder machen, auch gerne mal fürs Blog. Foodgebloggt hat hier bisher noch kein Sohn, da geht noch etwas. (Stellt sich raus: Ja, das macht er gerne und bald, nach “Die Herzdame backt” also dann in Kürze “Sohn I backt”, aber er legt bereits im Vorwege Wert auf die Anmerkung, das er nicht im Kleid backen wird.)

Es ist überhaupt nett, wenn Kinder solche brauchbaren Fähigkeiten entwickeln. Kochen, Backen, Kaffee machen, Einkaufen, Beete anlegen, Knöpfe annähen, das ist alles nicht zu unterschätzen. Und nichts davon konnte ich in dem Alter. Warum eigentlich nicht?

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Die Augenärztin sagte gestern im Laufe der Untersuchung zweimal “Gucken Sie bitte auf mein Ohr”, um meinen Blick in die richtige Richtung zu dirigieren. Wenn die am Tag nun etwa 30 bis 40 Patientinnen hat, weist sie vermutlich 30 bis 40 Menschen an, bitte ihr Ohr anzusehen, das muss ja auch seltsam sein. Ob sie morgens im Bad diesem Zielohr ganz besondere Sorgfalt widmet, so mit dreimaligem Kontrollblick? Ob sie ihr Ohr überhaupt jemals irgendwo in einem Spiegel sehen kann, und sei es nur zufällig im Vorbeigehen an einem Schaufenster, ohne genau diesen Satz zu denken? Ob sie schon seit Beginn ihrer Berufstätigkeit ihre Frisur auf die Sichtbarkeit dieses Ohres ausrichtet? Und ob ihr der Satz schon jemals in anderen Situationen rausgerutscht ist, einfach weil er in ihrem Hirn so dermaßen präsent ist, etwa kurz vorm Küssen? Andere Berufe, andere Probleme!

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Eine Geschichte aus Moskau. Mir ist die WM ja in einem gar nicht mehr beschreibbarem Ausmaß egal, aber solche Geschichten kann sie ruhig produzieren.

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Der Plastiklink des Tages: diese vorgeschnittenen Früchte, die es in immer mehr Läden in immer größerer Auswahl gibt, sind nicht nur blöd verpackt, sie können einen auch ziemlich krank machen.

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Ich habe zum ersten Mal Zuckererbsen aus dem Garten gekocht und dann mit Zwiebeln – auch aus dem Garten – sachte in Butter geschwenkt. Was soll ich sagen, das war sensationell, ein Tellerchen voller Glück. Erbsen machen wir im nächsten Jahr wieder und mehr davon. Viel mehr.

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Im letzten Artikel hatte ich den jungen Bill Withers, heute die wesentlich ältere Version. Nicht die beste Tonqualität, dennoch sehenswert. Cornell Dupree an der Gitarre. Ich möchte bitte im höheren Alter noch so bloggen können, wie er spielt.

 

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Sie können hier Geld in den nur virtuell vorhandenen Hut werfen. Aber is’ alles freiwillig, ne.

 

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Peter und die Schwäne

Bezüglich Peer (siehe letzter Text von mir): Ich habe gestern auf dem Weg zur Arbeit noch einmal genau nachgesehen, ob man nicht vielleicht einfach in das ee im Namen ein schnelles t einfügen könnte, um so quasi über Nacht einen völlig überraschenden Peter ins Spiel zu bringen und Peer zu entlasten, aber nein, das geht nicht. Das ee ist formschön und mustergültig schreibschriftverbunden wie in der Grundschule, da ist keine Lücke. Die nächste einfache Variante wäre natürlich, das z in Schwänze einfach weiß zu übermalen, dann würde Peer plötzlich Schwäne lutschen und alle Passanten hätten künftig sehr merkwürdige Bilder im Kopf. Das ist doch im Grunde ein attraktiver Gedanke, nicht wahr? Sie sehen, es lässt mich nicht los.

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Ich war routinemäßig beim Augenarzt, weil man ja hier und da Vorsorgetermine locker in den Kalender streuen soll. Da steht jetzt an der Rezeption so ein Foliending mit einer zerknickten Mitteilung darin, auf der steht, dass man die Datenschutzerklärung der Praxis gemäß DSGVO selbstverständlich jederzeit auf Verlangen einsehen könne. Natürlich macht das nie jemand, nicht einer, kein Schwein, niemand möchte das ernsthaft lesen, es ist barer Unsinn, Schwachsinn, dummes Zeug, Zeitverschwendung, Beschäftigungstherapie und byzantinisch verschwurbelter Quark, für den vermutlich auch noch jemand geschult wurde – wenn man nicht verdammt gut aufpasst, dann kriegt man Blutdruck wegen so etwas und braucht gleich den nächsten Arzttermin.

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Frollein Polly über Verpackungen und Papier und Plastik und alles. Apropos Plastik, ich habe bei der GLS ein paar Links zu Pilzen zusammengetragen, die passen gut dahinter.

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Hamburg Wasser fordert Verbot von Mikroplastik.

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City-Defluencer. Zur Regulierung der Touristenmassen kann man sich doch eigentlich überall bezahlte Defluencer vorstellen – und dann relativiert man beruflich eben z.B. dauernd und auf allen Plattformen Florenz: “So doll ist es da auch nicht.” Weil der Rest der Gegend dort eben auch Besucherinnen braucht. Na, Hauptsache Arbeit, ich begrüße solche Entwicklungen.

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Ich empfinde es allmählich geradezu als brechreizerregend, mich mit solchen Themen überhaupt zu beschäftigen, aber es muss ja sein: Die Sache mit der Informationsfreiheit im Netz. Schauderhaft.

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Gestern stand unter dem Artikel von Jojo, dass das Spendengeld dafür an ihn geht. Er lässt vielen Dank ausrichten und ja, die eine Summe wird selbstverständlich wunschgemäß mit dem Bruder geteilt. Der Vorgang führte hier übrigens zu bemerkenswerten Szenen brüderlichen Friedens, das war auch einmal schön. Läuft.

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Nessy über Parship. Faszinierende Kommentare darunter. Sehr faszinierende Kommentare. Und viele. Alter Falter. Ich bin ja so alt, ich habe diese Dating-Dinger nie benutzt, keines davon, nicht einmal aus Spaß. Aber wie die Oma der Herzdame einmal mit Blick auf die Jugendlichen im Heimatdorf sagte: “Das ist doch schön, dass die jungen Leute heute so etwas nutzen können.“ Sie hatte damals nach dem Krieg so gut wie keine Auswahl.

Ich habe einmal eine ganz große Liebe kennengelernt, weil ein Bild von ihr in einem Printprodukt war, das können sich diese jungen Leute vielleicht schon nicht mehr vorstellen. Und ich bin dann einigermaßen kreativ geworden, um dieser Dame näher zu kommen. Was dann auch gelungen ist, ich habe mir aber auch nicht nur ein bisschen Mühe gegeben. In der Folge dieser Aktion lief mir später übrigens auch die Herzdame über den Weg, die dann eine noch größere Liebe wurde, na, und den Rest kennen Sie ja schon. Das war aber alles damals, als Print noch gewirkt hat, die Älteren erinnern sich, those were the days, my friend.

Genug davon, hier passt heute ein anderes Lied.

 

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Sie können hier Geld in den nur virtuell vorhandenen Hut werfen. Toll, Sie guter Mensch!

 

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Eine azurblaue Frauenschrift

Es gibt Muscheln. Macht aber nichts, es ist eh kein Monat mit r am Ende.

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Eine Vokabel zum Klimawandel, die mir bisher noch gar nicht geläufig war: The blob.

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Auf meinem Weg zur Arbeit komme ich an einem mehrteiligen Bauzaun vorbei, an einem dieser mannshohen Drahtgestelle auf Betonfüßen, mit Planen als Sichtschutz bespannt. Mit weißen Planen bespannt. Auf drei Segmente dieses Zauns hat jemand etwas gesprüht, einen großen Schriftzug, den kann man schon von ganz weit weg lesen. Je Segment nur ein Wort: “Peer lutscht Schwänze“ steht da. In einer erstaunlich manierlichen, irgendwie brav aussehenden Handschrift, in leuchtend blauer Schreibschrift auf weißem Grund. Ich lese das jeden Tag zweimal, auf dem Hin- und auf dem Rückweg, seit Wochen lese ich das schon und allmählich nervt es, denn es spricht ja doch vieles gegen diesen Satz. Obwohl da immerhin kein Nachname genannt wird, es sich also um jeden beliebigen Peer handeln könnte, von denen es sicher ein paar mehr gibt in dieser Stadt, selbst wenn man bedenkt, dass es ein eher seltener Name ist. Ich z.B. kenne keinen Peer, was ich jetzt nicht sage, um mich aus der angedeuteten Affäre zu ziehen. Ich kenne Peer nur als Zigarettenmarke und das auch nur von damals. Stünde jedenfalls auf dem Zaun ein Nachname dabei, es ginge hier eindeutig um besonders schützenswerte personenbezogene Daten, aber so, einfach nur Peer – das steht zumindest nicht im Konflikt mit der DSGVO, um mal die wichtigste Frage zuerst zu klären, DSGVOmäßig machen wir da also erleichtert einen grünen Haken dran. Puh!

Was aber sind die anderen Fragen? Etwa ob dieser Satz mit beleidigender Intention geschrieben wurde oder nur zum Zwecke der Information. Wenn er beleidigend sein soll, dann ist das hier leider der falsche Stadtteil dafür. Ich möchte ja nicht mit meinem Viertel angeben, aber wenn bei Budni in der Kassenschlange ein älterer Herr im pinkfarbenen Latexkleidchen steht, dann ist das hier nicht dramatisch auffällig. So etwas kommt eben vor, who cares. Es ist gar nicht so einfach, auf sexuelle Praktiken oder Vorlieben zu kommen, deren explizite Benennung im Stadtteil glatt als abwertend durchgehen würde, am ehesten vielleicht noch: “plain vanilla.” Aber Schwänze zu lutschen, das ist hier definitiv kein Problem, das macht auf einem Bauzaun ungefähr so viel her wie: “Peer hat Sex” – und wer würde ihm das absprechen wollen. Sex ist irgendwie ganz okay, das ist meines Wissens immer noch breiter gesellschaftlicher Konsens. Schwänze zu lutschen, das ist hier also kein Problem, solange man es einvernehmlich in seiner, haha, Peergroup macht.

Vielleicht deutet die manierliche Handschrift – kommt, wir wollen Klischees reiten! – auf eine Autorin hin, eine in Liebesdingen enttäuschte Autorin vielleicht. Er hat sie trotz ihrer glühenden Liebe mit einem Mann betrogen, so etwas soll ja vorkommen. Und so wütend hat sie das gemacht, dass sie nachts nach wilder Diskussion aus der gemeinsamen Wohnung gerannt ist, nur mit einer blauen Spraydose dabei. Und sie hat sich schlagartig erinnert, wo sie neulich diesen herrlich weißen Bauzaun gesehen hat, der ihr jetzt auf einmal wie ein überdimensionierter Raum für Notizen vorkommt, den sie spontan befüllen kann, wobei sie dann aller Welt mitteilt, was ihr gerade intim und verletzend vorkommt. Sie sprüht und sprüht, sie setzt nach “Schwänze” ab, tritt einen Schritt zurück, sagt zufrieden: “Ha!”. Sie steckt die Dose wieder ein und verschwindet im Laufschritt um die Ecke, denn es fällt ihr erst nach der Aktion siedendheiß ein, dass die nächste Polizeiwache quasi um die Ecke ist und gerade durch diese Straße dauernd Peterwagen fahren.

Am nächsten Tag schon haben sich die beiden wieder versöhnt, Peer und die Dame mit der azurblauen Frauenschrift, seitdem hofft sie inständig, dass er nicht an diesem Bauzaun vorbeikommt, denn er würde sich natürlich angesprochen fühlen und auch noch ihre Schrift erkennen – und dann wäre es das aber gewesen, das mit der Versöhnung. Mit allen Tricks bringt sie ihn also seit Wochen von diesem Weg ab und stirbt tausend Tode, weil sie sich auch nicht traut, das da nachts in neuer Aktion zu übermalen, denn da müsste man ja auch richtig großflächig … Eine verdammt heikle Lage und bis das Hotel fertig ist, dessen Baustelle der Zaun da schützt, fehlen noch drei ganze Stockwerke. Der steht also noch eine Weile.

Aber geht das so auf? Kann es so gewesen sein?

Wenn der Satz andererseits informierenden Charakter haben soll, dann fehlen Möglichkeiten der Kontaktaufnahme, denn Peer steht ja nicht leibhaftig am Zaun, zumindest habe ich da keine servicewillige Person dauerhaft stehen sehen. Und selbst wenn er da stehen würde, dann hätte er ja “Ich lutsche Schwänze” mit einem auf ihn weisenden Pfeil daran schreiben müssen, nicht Peer, denn welcher Peer nennt sich selbst schon Peer? Das ist doch unüblich. Ich gehe ja auch nicht ans Notebook und murmele “”Maximilian bloggt Texte”, das ist doch sprachlich abwegig. Egal. So belästigt mich dieser Satz jedenfalls täglich, das wollte ich nur sagen. es ist wirklich eine Zumutung. Immer wieder gucke ich da zwanghaft hin, immer wieder lese ich das.

Maximilian lutscht Texte, schreiben Sie das ruhig auf Bauzäune. Es beleidigt mich nicht.

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Sven schreibt kurz über Camping, inklusive eines netten Sinnspruchs. Das ist beim Schrebergarten übrigens ganz ähnlich, wenn auch etwas verdreht: sanitär gibt es noch deutlich weniger Komfort (Kompostklo, sehr speziell), aber eine Laube ist dann doch ein erheblicher Fortschritt im Vergleich zum Zelt. Möbel! Stehhöhe! Fenster und Türen! Dachpappe! Strom! Das ist alles sehr erstrebenswert. Aber man trägt – genau wie beim Camping – zum Wochenende massenhaft Zeug erst ins Auto, dann in die Laube, man sortiert alles stundenlang und wühlt sich dann hoffnungslos fest, man macht einen Kaffee wie die ollen Pfadfinder, wäscht den ganzen Krempel mit der Hand unter freiem Himmel ab und pustet sachte Ameisen von Tellern, man sitzt kurz im Garten herum – nur um dann alles wieder zusammenzusuchen und aus der Laube, ins Auto und dann wieder in die Wohnung zu schleppen, wo alles schon wieder neu sortiert wird. Ich kann gar nicht mehr zählen, wie oft wir in den letzten Wochen “Oh, zieht ihr um?” gefragt worden sind, dabei fuhren wir jeweils nur mal kurz in den Garten. Mit ein wenig Zeug dabei. Es ist alles wahnsinnig umständlich und kompliziert, man ist im Grunde dauernd mit Räumen beschäftigt und vollführt Alltagshandlungen auf einem geradezu lächerlichen Komfortniveau wie von vorm Krieg, dazu murmelt man aber dauernd, wie erholsam das alles ist. Und das ist es dann auch wirklich.

Der Mensch ist seltsam. Definitiv.

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Sie können hier Geld in den nur virtuell vorhandenen Hut werfen. Toll, danke!

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Halb in der Hecke

Pardon, ich war im Garten, wo das Offline immer neue Dimensionen erreicht. Deswegen erschien hier nichts, Sie werden es sich gedacht haben. Mittlerweile lassen die Herzdame und ich die Handys schon einfach irgendwo in der Laube liegen, geladen oder nicht, auch egal. Nicht einmal der abendliche Blick auf die Nachrichtenlage oder den Twitterstream wirkt noch besonders anziehend, wenn es also eine Sucht war, dann ist der Garten die Entzugstherapie. Demnächst einfach mal ohne Handy in den Garten! Stundenlang ohne Nachrichten! Revolution! Die Wahrscheinlichkeit, dass in diesen Stunden dann etwas passiert, sie ist natürlich riesig. Irgendetwas, bei dem einen hinterher alle fragen , wie man das denn bitte nicht mitbekommen konnte. Wieso ich aber überhaupt in der Lage bin, nur mittels unterbrochener Handynutzung bedeutende Ereignisse zu triggern – es ist magisch.

Zwischendurch habe ich ganz ohne Netzzugang eine Kolumne für die Zeitung geschrieben, das war aber ein wenig albern, weil ich im Garten keinen Platz gefunden habe, an dem ich den Bildschirm einwandfrei erkennen konnte, immer spiegelte es oder es gab andere Probleme, übergriffige Insekten und dergleichen, im Haus dagegen war es viel zu heiß. Die Nachbarn halten mich jetzt vermutlich für irre, weil ich mit Klappstuhl laut fluchend halb in der Hecke saß und dauernd ein paar Meter weiter rückte. Mit Schreibmaschine wäre das nicht passiert!

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Ein Artikel über Mitgemeinte und Nichtgemeinte mit einem Satz zum Merken und Mitdenken: “Das generische Maskulinum macht Frauen besser unsichtbar als jede Burka.” Noch nie übrigens ist mir ein Artikel begegnet, der das Thema für die schöne Literatur aufgreift. Warum eigentlich nicht? Gleiches Problem? Die Räuberinnen? Nein, kein gutes Beispiel, schon klar. Aber ein Thema müsste es dennoch sein.

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Abgelaufene Lebensmittel sollen künftig ausgepackt werden. Ja nun, klingt ziemlich logisch, ne. Oder sagen wir gleich – wie bitte konnte es denn jemals anders sein? Nicht ganz dicht? Immer wieder sitzt man auf diese Elternart augenrollend vor den Nachrichten und möchte alle zusammenfalten. Schlimm. Dazu noch: The week in plastic. Oder hier, der Strand, der Müll und das Meer.

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Vielleicht entlastet es die eine oder den anderen, ich möchte hier freimütig bekennen, dass ich den Herrn, den offensichtlich meine gesamte Timeline seit Jahren intensiv liest, verfolgt und analysiert, überhaupt nicht kannte: Anthony Bourdain. Sein Tod wird vielfach beklagt, ich aber habe den Namen noch nie gehört, das fühlt sich immer ganz seltsam an. Hoffentlich kenne ich irgendwen, den Sie nicht kennen, von wegen Ausgleich und Fairness. Der muss dann aber nicht gleich sterben, wir wollen nicht übertreiben.

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Komm, gieß mein Glas noch einmal ein. Das ist eines der etwas bekannteren Lieder von Reinhard Mey, das ich hier kurz aufgreife, weil es einen ganz amüsanten Bezug zum Degenhardtschen Wildledermantelmann im letzten Beitrag hat. Denn da geht es ja um die Freunde aus der wilden Zeit, um die mit der geplanten Weltrevolution, die da im Song und im Wein heraufbeschwört werden. Es geht darum, was aus denen geworden ist, wo die jetzt wohl sind, die Kameraden aus den glorreichen Zeiten, wo die hingedriftet sind, um im Kontext zu bleiben. Wenn man das noch einmal hört, da sieht man den Sänger doch im Lehnstuhl vor sich, wie er sich den grauen Bart krault und eine gute Flasche leermacht, die er vermutlich nur aus Understatement als billig bezeichnet, nicht wahr? Dazu muss man aber wissen, das Lied ist von 1970. Das ist ganze sieben Jahre jünger als der Widledermantelmann. Wie isses nun bloß möglich!

Und wie alt dieser eine Satz geworden ist: “Geschrieben haben wir uns kaum”. Damals, als Kontakt noch aus Briefen bestand.

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Die ersten Erbsen im Garten sind reif, es sind Zuckererbsen, man kann sie direkt roh essen, gleich von der Pflanze, den Geschmack kannte ich so gar nicht. Stark! Falls Sie auch mal Erbsen anbauen wollen, das ist sehr simpel. Ich hatte die Sorte “Graue Rotblühende”, die gibt es im Bioversandhandel, etwa hier. Nein, keine bezahlte Werbung, reiner Servicegedanke. Die Erbse blüht weder grau noch rot, sie blüht überraschend schön dunkelrosa und lila, sie rankt brav, schmeckt toll, sie hat keine besonderen Pflegeansprüche. Das Rankgitter hat Sohn II aus zwei Stöcken und Draht gebaut, der Sohn ist acht Jahre alt, das kann man also problemlos an den Nachwuchs delegieren. Dicke Empfehlung.

Wie es aber die Erbsen schaffen, dass da alles plötzlich voller Schoten hängt, wo gestern noch nichts war? Unerfindlich. Pflanzen sind so verdammt schnell, man macht sich keinen Begriff. Und nie sieht man, was passiert, immer ist alles plötzlich da. Quasi grüne Ninjas. 

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Außerdem sind die ersten Stachelbeeren reif, die ersten Johannisbeeren und bald die ersten Him- und Blaubeeren und Kirschen. Die immerhin sechs Pfirsiche am Baum könnten sogar auch etwas werden. Die Erdbeeren werden immer mehr, der Garten fühlt sich jetzt noch sommerlicher als sommerlich an. Die Zwiebeln und der Knoblauch sind schon raus und trocknen, der Kohlrabi ist bereits abgeerntet und verzehrt. Der Spitzkohl ist in Kürze dran, der erste Mangold auch, die Kartoffeln blühen. An den Tomaten hängen grüne Kugeln und der Basilikum schmeckt irre gut, aber der bekommt hier ja auch deutlich mehr Sonne als im grauen Italien.

Der Cammarata-Kürbis hat währenddessen die Hälfte des Komposthaufens eingenommen und wirkt ganz außerordentlich dominant. Vivat, crescat, floreat!

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Sie können hier Trinkgeld in den nur virtuell vorhandenen Hut werfen, Sie können es aber auch lassen, es ist ein freies Land.

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Wildledermantelmann

Beim Freitext schreibt Michael Ebmeyer (den ich versehentlich und leicht übergriffig gerade per Tippfehler als Elbmeyer hanseatisch requiriert habe, hihi) über die Sehnsucht nach linken Erzählungen, er erwähnt dabei auch ein Lied vom ollen Degenhardt. Wie es der Zufall will, habe ich gestern gerade bei Spotify drauf geklickt, als ich nach etwas ganz anderem suchte. Ein völlig vergessenes Lied von 1977 also, das mir in zwei Tagen zweimal über den Weg läuft, guck an. Der Wildledermantelmann. 1977, da war ich elf Jahre alt, da konnte ich die modische Anspielung im Titel vielleicht sogar einordnen, da gab es genug solche Typen im Stadtbild, vielleicht waren es die etwas älteren Freunde meiner großen Schwester. Heute sind Wildledermäntel sehr weit weg. Bei Ebay-Kleinanzeigen laufen sie unter “Vintage” und kosten so 70 Euro, vielleicht kaufen die Söhne der damaligen Männer wieder so etwas, oder es sind schon die Enkel. Schön die Frage im Refrain: “Und wie ist das Gefühl, wenn man so langsam, langsam, langsam driftet nach rechts?” Wobei dem Degenhardt natürlich keine Gnade für den menschlich, allzu menschlichen Aspekt dieses damalige Driftens in den Sinn kam, dazu war er viel zu überzeugt und viel zu weit links. Aber doch eine interessante Sache, kann man 2018 auch mal wieder hören, das gilt doch heute schon als Geschichtsunterricht. Und es gibt auch wieder genug Drift da draußen, diesmal allerdings aus der Mitte nach ganz rechts, das war damals im Lied gar nicht so gemeint, so verschieben sich die Maßstäbe.

1977 war Helmut Schmidt Bundeskanzler und man ahnte allgemein eher nicht, dass er später einmal heiliggesprochen werden würde. 1977 gab es keine Nazis. Also natürlich gab es sie doch, gar keine Frage, aber sie sind mir nicht begegnet. Es gab diese eine ultrarechte Zeitung am Kiosk, die kauften aber nur ausgemachte Irre, und ansonsten war da ganz rechtsaußen der Strauß. In meiner Grundschule gab es keine Ausländer, auf dem Gymnasium gab es ein einziges Mädchen aus Griechenland, Rassismus hatte im Alltag kaum ein Ziel. Man spendete für Brot für die Welt oder ähnliche Einrichtungen, das war der gepflegte Umgang mit den Menschen im Süden, dieser Umgang war leicht und fand zu Weihnachten statt.

Ein paar Jahre später, Anfang der Achtziger, liefen die ersten Skins durch Lübeck, die hatten einen Aufnäher “Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein. an den Klamotten” Das war so abgedreht und absurd, wir haben das erst für einen Witz gehalten, so etwas konnte es doch gar nicht geben, das war undenkbar. Das Programm dieser Skinheads bestand darin, sich zu betrinken und andere zu verprügeln, wobei die anderen alle waren, die keine Skinheads waren, das war also ein recht schlichtes Programm. Die Skinheads prügelten sich abends durch Lübeck, während wir tagsüber das Dritte Reich auf dem Gymnasium durchnahmen. Nazis, das war klar, das waren in der Gegenwart nur Irre, das waren Jugendliche, die aus dem Gleis gekommen waren, genau wie die auf Drogen, im Grunde waren das vergleichbare Schicksale, Resozialisierung in beiden Fällen nicht ausgeschlossen. Diese Skinheads, das waren ja keine richtigen Nazis, das waren bestenfalls Show-Nazis. Echte Nazis, da war man sich damals noch parteienübergreifend einig, mussten massiv bekämpft werden, vorzugsweise mit Armeen. Aber es gab ja gar keine Nazis, die hatte man 45 erfreulicherweise erledigt.

Bei der Bundeswehr, damals gab es noch den Grundwehrdienst, ist mir kein einziger Rechtsradikaler begegnet, da fand ich eher die oben erwähnten bereits Gedrifteten mit der Frankfurter Rundschau. Eine Gefahr für die Demokratie ging von dieser Truppe nicht aus, eher schon eine Gefahr für die Verteidigungbereitschaft, denn ernst meinte da keiner irgendwas, auch die Offiziere nicht, nein, die schon gar nicht. Diese alte Bundeswehr war vermutlich die ironischste Truppe, die dieses Land jemals aufgestellt hat. Alles Martialische war in Anführungszeichen zu setzen, quasi per Dienstanweisung. Mit mir dienten auch Menschen, die aus anderen Ländern kamen, ein Problem waren die allerdings immer noch nicht, für niemanden, ich habe nicht erlebt, dass man die angefeindet hat. Die brachten aber eine schwer verdauliche Dimension in die Angelegenheit, denn die hatten manchmal Angehörige in anderen Staaten, in denen gerade Krieg war. Bei denen hatte dieses abstrakte Wort also tatsächlich eine ernste Bedeutung, da kamen wir dann nicht mehr mit. Einer hatte ein Foto seines Elternhauses, da waren Einschusslöcher drin. Das war ein Bild von einem anderen Planeten.

Als ich ein Jahr später in meinem ersten Job in der Sozialforschung anfing, habe ich offene Fragen aus Fragebögen für die EDV vercodet, da fiel mir überhaupt zum ersten Mal im Leben auf, dass es eine gar nicht so kleine Gruppe von Leuten geben musste, die radikal waren, und zwar radikal rechts, hasserfüllt und feindselig. Bei denen brach es heraus, wenn sie interviewt wurden, die schlugen vor, politisch Andersdenkende abzuschlachten und dann an den Füßen aufzuhängen. Oder sie über die Mauer in die DDR zu werfen. Oder sie in der Ostsee zu ertränken und dergleichen mehr, es ging da recht kreativ zu, Hass macht erfinderisch. Meine Chefin, eine damals bekannte Sozialforscherin, schätzte die Anzahl dieser Typen auf etwa zehn Prozent in der Gesellschaft, und zwar über alle Staaten, Zeiten und Systeme hinweg. Zehn Prozent, die schon vom Typ her so sind, man muss sie und ihren Hass nur irgendwie wecken – und schwer ist das nicht. Das war nur ihre Meinung, versteht sich, dafür gab und gibt es keinen Beleg. Und auch diese zehn Prozent, wenn man die Zahl denn überhaupt glauben möchte, nahm man im Alltag damals kaum jemals wahr, Hass war noch nicht gesellschaftsfähig.

Vor etwa zwölf Jahren habe ich Social-Media-Monitoring gemacht, für Medienhäuser und vereinzelt auch für Kunden aus der Politik. Da habe ich zum ersten Mal eine rechtsradikale Öffentlichkeit im Web kennengelernt, die war damals noch gar nicht so bekannt, die hat sich gerade erst eingearbeitet und Seite um Seite aufgemacht, Foren eingerichtet, Gruppen gegründet und sich in Sachen Medien erst einmal langsam warmgespielt. Das waren die Anfänge zu dem, was man heute kennt, und viele, viele Menschen haben auch das überhaupt nicht mitbekommen. Denn es war zwar öffentlich, aber man fand es nur, wenn man danach ausdrücklich gesucht hat. Da war sozusagen eine Tür im Internet, da stand “Hass” drauf, die konnte man aufmachen, und dann fand man den Hass in reichlicher Menge.  Aber der Hass kam da eher nicht raus. Und wenn man sich mit Framing etwas auskennt, dann weiß man auch, dass das damals (bis vor drei Jahren!) noch anders lief, es gab noch keine Sinnverschiebung nach rechts und die Äußerungen der Hassenden wirkten daher in der Regel wie die Äußerungen von Spinnern, weit ab vom Mainstream. Weil der Sprachrahmen noch deutlich anders eingestellt war.

Das war vor der großen Drift, das war vor 2015. Das war, um es noch einmal und abschließend mit Degenhardt zu sagen, “In den guten alten Zeiten”. Aber das ist ein anderes Lied von ihm, das ist von 1966. Da wurde ich geboren, da war Kiesinger Bundeskanzler und Nazis gab es gar nicht. Na ja.

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Der Plastiktütenverbrauch sinkt rapide. Es ist ja nicht alles schlecht.

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Junifall

Sohn I hat sich auf dem E-Piano die Titelmelodie von Akte X selbst beigebracht und spielt das dauernd, ich habe jetzt also einen interessanten Soundtrack, wenn ich durch die Wohnung gehe und in die Räume gucke oder wenn ich einfach nur am Schreibtisch sitze und auf eine weiße Seite starre. Denn wenn man diese Töne hört, dann weiß man ja, gleich kommt was, und seltsam wird es auch, das ist im Grunde wie in jedem Familienalltag. Ich stehe beispielsweise in der Tür des Kinderzimmers und betrachte das deprimierende Chaos auf dem Fußboden, die umgestürzten Kinderstühle, die zerfledderten Comics, dieses wirre Gemisch von undefinierbarem Spielzeugs auf dem Boden, Eltern kennen das, diese Kinderalltagssedimente. Es ist dieses mit Lego, Paninibildchen und Zwiebackresten durchsetzte Gemisch von Zeugs aller Art, in dem wir kategorisch alles vermuten, was in den letzten Wochen hier in der Wohnung verloren ging. Man müsste eben mal aufräumen oder wenigstens umgraben, um etwas zu finden, aber wann. Man wüsste dann auch, was wirklich weg ist, das wäre immerhin interessant, denn dann müsste ich eventuell etwas nachkaufen. Frühstücksboxen etwa, von denen mittlerweile etwa fünf fehlen, aber bevor ich die wirklich kaufe, da brauche ich erst mehr Gewissheit.

Ich stehe in der Tür des Kinderzimmers und betrachte das Chaos und das Zeugs, der Sohn spielt im Wohnzimmer diese Melodie und ich denke mir: “Die Wahrheit ist irgendwo da drinnen.” Scully nickt nur neben mir und sieht auf einmal aus wie die Herzdame.

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Junifall, das habe ich gerade erst gelernt, so nennt man das also fachgerecht, wenn die Obstbäume einem in diesen Wochen unreifes Obst in rauen Mengen vor die Füße werfen. Ein normaler Vorgang, etwas Schwund ist immer, kein Grund zur Sorge. Bei Kirschen nennt man es Röteln, aber damit kann man nichts weiter anfangen, das klingt zu sehr nach Kinderkrankheit. Junifall dagegen ist ein wunderschönes Wort und ginge auch zweifelsfrei als Romantitel durch, den Schutzumschlag dazu hat man doch gleich vor Augen, ja, ich möchte fast sagen, es klingt nach Beststellerliste.

“Haben sie den Junifall vom Dings da?”

“Aber sicher, der große Stapel hier.”

Man müsste das Wort nur als passende Metapher für irgendwas sehen und sich dazu schnell eine Geschichte ausdenken, was weiß ich, über einen Autor, der nie zum Zuge kommt oder so, immer wieder wird alles früh verworfen, nichts reift aus, aber währenddessen bereitet das Leben selbstverständlich – von ihm unbemerkt, weil Spannung! – die Grundlage für die wahre Frucht zu einem späteren Zeitpunkt, da kommt dann die große Liebe ins Spiel, was sonst. Ohne Liebe geht eh kein Buch, das zieht sich dann aber noch über mindestens dreihundert bis vierhundert Seiten, bis da endlich alles klar ist mit den beiden. Am Ende ist sie auch noch schwanger und er sitzt glücklich dabei und schreibt wie noch nie, das Bild aus der Verfilmung sieht man schon vor sich, na, so in der Art.

Aber es ist viel zu heiß für Ideen, die fallen bei der Hitze alle unreif von mir ab, das wird so nichts.

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In Sachen Lyrik verweise ich heute auf den Gottvater der Monatsgedichte, also auf Erich Kästner und seinen Juni. Nicht ohne Warnung vor plötzlich auftretenden Melancholiestrudeln – und man beachte bitte unbedingt die allerletzte Zeile. Es gab also Zeiten, da ging man im Juni davon aus, dass der Sommer noch kommt.

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Sie können hier Trinkgeld in den nur virtuell vorhandenen Hut werfen, dann kaufe ich davon Wein  Nicht als Getränk, in der Form mag ich ihn ja nicht. Als Rankpflanze dagegen kann ich mich spontan mit ihm  anfreunden.

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Kurz und klein

Radfahrer erzählen nichts

Seit Wochen fahre ich mit dem Fahrrad zur Arbeit, weil es hier ja neuerdings nicht mehr regnet – oder nur am Sonnabend. Das ist gesundheitlich sicherlich fein für mich, die Bewegung unter der Glanzkröte (Sarah Kirsch) soll ja gut sein, aber fürs Blog taugt das so nichts. Als Radfahrer erlebt man einfach keine erzählbaren Geschichten, man könnte nur immer wieder den lodernden Hass auf SUV-Fahrerinnen, Nichtblinker, Rotfahrerinnen, Drängler, Radwegparkerinnen, Psychos etc. ins Blog kippen, aber das möchte ja nach nur einem Tag schon niemand mehr lesen, das ist alles sattsam bekannt und Hass ist eh nicht die feine englische Art, das wollen wir hier nicht. Aber diese netten Beobachtungen nebenbei, die in der S-Bahn eben so anfallen, weil man da eine Weile nebeneinander sitzt und kurz Zeit hat, die kleinen aber irgendwie doch feinen urbanen Szenen, die fehlen hier jetzt jedenfalls. Hm.

Vielleicht sollte ich abends mal ein wenig U-Bahn fahren, S-Bahn oder Bus und Fähre, einfach nur um diesen Mangel auszugleichen, ziellos und planlos quer durch die Feierabendstadt, immer dem weißen Kaninchen nach?

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Eine Schulung zur DSGVO mitgemacht und danach solange im weiteren Gespräch vom Hölzchen aufs Stöckchen gekommen, bis ich wirklich gar nichts mehr wusste. Ein schönes Gesetz, es stellt einen vor herrlich existentielle Fragen: Darf ich überhaupt wissen, wie ich heiße? Und wenn ich es weiß, darf ich es mir merken und wie lange? Aber keine Sorge, morgen geht es sicher schon wieder.

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Ich habe dieses Buch angefangen, Annemieke Hendriks über Tomaten. Das ist allerdings kein Buch für Hobbygärtner, es ist ein Buch für alle, die sich z.B. auch für die Themen meines Wirtschaftsteils bei der GLS Bank interessieren, also für nachhaltige Landwirtschaft und dergleichen. Und Frau Hendriks macht das sehr interessant, sie nähert sich dem Thema über die handelnden Menschen. Sie nimmt deren Hintergründe mit, all die Familiengeschichten, die Umstände, die Zeitläufe. Slow Journalism nennt sie das und es gefällt mir sehr, wenn man beim modernen Tomatenmarkt in der EU landen will und erst einmal irgendwann in der grauen Vorkriegszeit oder gar im alten Preußen beginnt, erst einmal Fragen zu Familienstammbäumen hat und etwas zur Kulturlandschaft im Oderbruch erklärt oder Ruinen zeigt, in denen irgendwer mal irgendwas gemacht hat, was sich bis heute so und so auswirkt. Das hat was, und “Reportage” ist hier ein nettes Understatement.

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Für die Lyrikabteilung pflücken wir uns heute einfach einen Song aus den FB-Kommentaren zum letzten Artikel – die hier aus irgendwelchen verdammungswürdigen technischen Gründen übrigens gerade nicht erscheinen – und dann müssen wir auch schon wieder einen trinken. Ladies and gentlemen, auf Herrn Koppruch! Lebend gehen wir nicht mehr aus der Welt. Prost.

Im Garten erröten derweil die Kirschen an dem Baum, den die Herzdame und ich im letzten Jahr nach langer Überlegung radikal zurückgeschnitten haben. Und er trägt so viele Früchte, das haben wir wohl versehentlich richtig gemacht. Anfängerglück!

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Sie können hier Trinkgeld in den nur virtuell vorhandenen Hut werfen, dann kaufe ich davon die Tomatensamen fürs nächste Jahr. Dem oben erwähnten Buch nach zu urteilen, werde ich trotz aller Bemühungen vermutlich nicht wissen, wo sie herkommen.

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