Brache und Winterruhe

Am Dienstag fuhr ich kurz in den Garten, um die Biotonne an den Straßenrand zu stellen. Sie ist nach nur wenigen Jahren Benutzung kaputt und wird getauscht. Früher hat so etwas länger gehalten! Das stimmt selbstverständlich nicht, früher gab es gar keine Biotonnen, wir hatten ja nichts. Es war mir jedenfalls noch zu kalt, um im Garten etwas zu tun. Es sah zwar nicht so aus, die Sonne schien, blauer Himmel wonniglich, lieblicher Vogelgesang aus den noch kahlen Hecken, aber der Wind war eisig und dummerweise überall. Auch bei den Nachbarn überall noch Brache und Winterruhe, überkrautete Beete, tote Stauden, angekippte Gartenmöbel unter grünbemoosten, brüchigen Planen. Die Gartensaison wird etwas später starten in diesem Jahr, und das macht nichts, denn ein Garten ist ja nicht dazu da, uns zu stressen, wenn ich es recht erinnere. Man kann ohnehin noch kein Wasser anstellen, die Leitungen würden uns nachts einfrieren und dann platzen, es gibt also keinen Kaffee in der Laube. Nein, ich kann so wirklich nicht arbeiten.

Ich gehe zu Fuß nach Hause zurück, 8.000 Schritte, ich kaufe auf dem Weg ein. Es kommt mir so vor, als seien ein paar Artikel in den letzten Wochen noch einmal deutlich teurer geworden, etwa Süßigkeiten. Die Quengelware an der Kasse wird so zur Nörgelware für die Haushaltsbudgetverantwortlichen. Aber mittlerweile kann ich mich da manchmal auch irren. Allmählich doch deutliche Schwächen im Preisgefühl. Was kostete das früher und wann war früher überhaupt? War das immer schon so? Na, vermutlich war es anders. Ganz anders.

Im folgenden Bild noch einmal Hammerbrook, die letzten Meter auf dem Weg zu meinem Büro, aufgenommen von der Überführung zur Bahn aus. Rechts die S-Bahnstation Hammerbrook, die zur Bauzeit sicher wahnsinnig futuristisch anmutete, die heute noch auffällt. Bis zum Zweiten Weltkrieg stand ungefähr dort, wo jetzt die Bahnen halten, die zerstörte Kirche St. Annen, man hält also mit etwas Fantasie im ehemaligen Kirchenschiff. So sah es dort direkt nach dem Krieg aus, man sieht auf dem alten Foto die Ruinen der Kirche. Das Fleet vorne mit den Trümmern an den Ufern ist auf meinem Bild gestern im Blog der Abschnitt mit den Bürogebäuden und den schicken Hausbooten.

Die Hammerbrookstraße auf Höhe der S-Bahnstation Hammerbrook

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Süd, Südwest

Es kommt Sturm auf, höre ich am Dienstagmorgen, es heult ums Haus und die Badezimmertür klappert laut, es saust dazu gespenstisch in der Lüftung, so sehr zieht es in der Wohnung, durch die Wohnung. Auch andere seltsame Geräusche höre ich auf der Etage, knarrende Türen, klappende Fenster, der November hängt uns im Soundtrack weiterhin nach. Windstärke 10 draußen an der Küste, so melden es die Wetterdienste, aber für uns in der großen Stadt ist heute auch noch etwas übrig. Möwen in Höchstgeschwindigkeit am Himmel, in großem Bogen um die Kirche herum, deren Wetterfahne unruhig rüttelnd Süd, Südwest anzeigt.

Unten auf dem Spielplatz halten Einsatzfahrzeuge der Stadt, vom Gartenbauamt, nehme ich an. Männer in Orange steigen aus und fegen und harken mal durch, routiniert wirkt es. Ich sehe das gerne, es sieht so nach funktionierendem Staat aus, nach regelmäßigen Terminen und geordnetem Ablauf, es wird sich gekümmert, es wird gepflegt. Mein innerer Wertkonservativer findet das gut und richtig.

Am Nachmittag stehe ich mit Sohn II vor den Auslagen einer Bäckerei im Bahnhof, weil ich den Eindruck hatte, eine Rumkugel würde dem Tag jetzt guttun. Noch während ich mein Rückgeld wegstecke, bestellt der Mann hinter uns in offensichtlicher Eile, sich an uns vorbeidrängend und in energischer, sehr bestimmter Tonlage: „Ich bekomme ein Hanseatenherz!“ „Also meines nicht“, sage ich. Immer alles absichern, immer auch Grenzen setzen.

Gehört: „Der kleine Muck“ von Wilhelm Hauff, das sagte mir eher nichts. Dann „Amerikanisches Tagebuch“ von Siegfried Lenz, gelesen von Burghart Klaussner, das Journal seiner Reise durch die USA im Jahr 1962, zur Zeit der Kubakrise. Er schreibt da unter anderem, dass sich angesichts der Gefahr auch die Opposition hinter die Entscheidungen des Präsidenten stelle, ein Szenario, das heute gar nicht mehr denkbar ist. Aber auch sonst ist das, was er beschreibt, sehr vergangen, in nahezu jedem Aspekt. Nur die aus deutscher Sicht auffällige Smalltalkfreundlichkeit bei Alltagsbegegnungen, die ist wohl heute noch erlebbar. Interessantes Buch, gerne gehört, und es ist noch etwas übrig.

Apropos Hörbuch, Heinz Baumann ist gestorben, es gibt von ihm eine sehr gute Aufnahme von „Ansichten eines Clowns“, Heinrich Böll. Empfehlenswert.

Im Tagesbild noch einmal Hammerbrook. Rechts liegen Hausboote, wobei Boot ein etwas trügerischer Wortbestandtteil ist, es sind eher modern überbaute Badewannen der größeren Art, die mit Booten rein gar nichts mehr zu tun haben, von der Schwimmfähigkeit einmal abgesehen. An den Ufern des Fleets stehen ausschließlich Bürohäuser. Dieses Viertel wurde im Zweiten Weltkrieg komplett ausradiert (Hamburger Feuersturm bzw. Operation Gomorrha, 1943) und dann nicht als Wohngebiet wieder aufgebaut, die Flächen wurden nur gewerblich genutzt. Erst in den letzten Jahren entstanden dort wieder Neubauten mit Wohnungen. Man kann annehmen, dass es wieder ein Wohngebiet wird, wenn man nur weit genug vorausdenkt. Eine Entwicklung Gebäude für Gebäude ist das, die sich in den letzten Jahren etwas beschleunigt hat, es gibt seit kurzer Zeit auch einen ersten Supermarkt in der Gegend. Gleich nebenan die Hafencity und das kleine Bahnhofsviertel, aber im Bewusstsein der meisten Menschen in Hamburg ist Hammerbrook weiterhin eine Nichtgegend. Man fährt nur manchmal durch, wenn man von der Autobahn kommt oder zum TÜV hinten im Gewerbegebiet muss, man sieht kaum hin dabei und nachts, das weiß man, nachts möchte man da ganz sicher nicht herumlaufen.

Blick über einen Fleet mit Hausbooten in Hammerbrook

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Dünnhäutig und unduldsam

Montag. Der Wetterbericht wirkt weiter unbemüht, copy and paste des Immergleichen im Endlos-Loop. Ich bin unzufrieden damit, alle sind unzufrieden damit. Am Morgen sehe ich weiße Flecken unten auf dem Spielplatz, heimlich gefallener Nachtschnee in der Sandkiste und auf den schwarzen Ästen der Eiche. Der wird nicht bleiben, der wird im Laufe des Vormittags noch wegschmuddeln. Die Woche geht mir zwei Stunden nach dem Aufwachen und den ersten paar gelesenen Mails und Nachrichten schon gewaltig auf die Nerven, womöglich bin ich etwas dünnhäutig und unduldsam. März eben.

Bundeskanzler Scholz, ich lese es in den Nachrichten, hat eine positive Bilanz seiner Regierungsarbeit gezogen. Da hat er mir entweder etwas Selbstbewusstsein voraus oder einen gewissen Mangel an Einsicht, ich könnte nicht einmal eine positive Bilanz des letzten Wochenendes ziehen, und das verlief ziemlich normal. So verschieden fallen wir Menschen aus, so verschieden urteilen wir.

Den Radetzkymarsch habe ich immerhin plangemäß und mit höchstem Genuss am Sonntag durchgehört, die Kapuzinergruft, die wesentlich kürzer ist, dann noch wenigstens halb, letztere gelesen von Peter Matic. Die Szenerie der Romane liegt teils in einer Gegend, in der heute wieder geschossen wird, ich werde den Gedanken beim Lesen nicht los. Ich kenne die Bücher schon, ich habe beim ersten Lesen als junger Erwachsener aber sicher nicht daran gedacht, dass Schießen und Kriegstote dort bald wieder gegenwärtig sein könnten. Sehr weit weg war das alles, die Gegenden, die Menschen, die Toten, die Kriege. Ich habe ohnehin erst spät im Leben, das schrieb ich schon einmal, verstanden, wir kurz vor meiner Geburt der letzte Weltkrieg endete, wenn man es in Geschichtsbuchmaßstäben betrachtet. Die paar Jahre Abstand, wenn ich die an mein Erwachsenenleben anlege, dann war das keine enorm lange Zeit. Wie überzeugend die Erwachsenen in meiner Kindheit dargestellt und sich vermutlich auch selbst und gegenseitig geglaubt haben, dass es alles unvorstellbar lange her war, so lange her, dass sich kaum noch jemand an irgendwas erinnern konnte.

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Gestern erwähnte ich kurz das geschlossene Schuhgeschäft im Hauptbahnhof, heute lese ich prompt in einer Meldung: Mehr als jedes zehnte Schuhgeschäft wurde im vergangenen Jahr geschlossen, so sagt es der Handelsverband. 13% der Geschäfte seien in einem Jahr verschwunden, es geht also schnell. Wenn Sie ein Schuhgeschäft in Ihrer Nähe haben, vielleicht einmal nachsehen, ob es wirklich noch da ist.

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Pro Tag ein Bild, auch mal irgendeinen Beschluss fassen, der mich ohnehin zu nichts verpflichtet – Vorteil Blog. Hier völlig zusammenhanglos ein Bild aus Hammerbrook, also aus der Gegend, in der das Büro ist, in das ich im Moment zweimal in der Woche gehe. Die anderen Tage bleibe ich im Home-Office, für mich ist das eine angenehme Mischung, das kann meinetwegen so bleiben. Ich bin damit vermutlich erneut tief im Mainstream, nehme ich an, denn das wird doch wieder so etwas Mehrheitsfähiges sein, die Zwei-Tage-Büro-Gesellschaft. Warum die S-Bahn dann morgens aber stets so voll ist wie vor der Pandemie – auch wieder rätselhaft. Wo fahren die denn alle hin? Oder gehen wir jetzt alle gleichzeitig jeweils am Mittwoch ins Büro? Das wird es vielleicht sein. Der Mensch macht, was die Menschen machen.

Häuserfronten an einem Fleet in Hammerbrook, leichter Nebel über dem Wasser, Morgenstimmung

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Prophylaxe am offenen Fenster

Am Sonntagmorgen sehe ich noch einmal Schneeflocken vor dem Küchenfenster, einzelne nur, winzige Pünktchen in der Luft, weit versprengte Truppen des Winters. Im Holunder der Grünfink und einige Spatzen und Meisen, die haben etwas zu besprechen, über die Artgrenzen hinweg. Sie ereifern sich dabei, ich höre schnell eskalierendes Gezwitscher. Das kennt man auch online, aber in der Natur, ich habe es gerade irgendwo gelesen, soll es die zuhörenden Menschen signifikant beruhigen, den Blutdruck senken, geradezu Wunder bewirken. Ich höre also zehn Minuten den Vögeln zu, es ist sicher besser als gar keine Prophylaxe. Dann wird es mir entschieden zu kalt am offenen Fenster, die gefühlte Temperatur liegt unter null Grad. Es beruhigt vielleicht, aber man erkältet sich dabei, irgendwas ist eben immer.

Ich gehe Brötchen holen, ich gehe am öffentlichen Bücherschrank vorbei. Dort hat jemand einige Werke von Alice Schwarzer ausgesetzt, sie wird endgültig Sympathiepunkte verloren haben, sie muss jetzt aus einem Wohnzimmer raus. Nur ein paar Meter weiter eine Putin-Karikatur an einer Hauswand, die Nachrichtenlage ist hier manchmal recht präsent im Alltag. Im Schaufenster des Ladens für Deko und Geschenke steht weiterhin ein Wimpel, die Flagge der Ukraine. Würde man jedes Haus und jede Ecke fotografieren, man könnte in der Zukunft noch ableiten, aus welchem Jahr diese Aufnahmen sind, es wäre nur etwas Detektivarbeit nötig, die Spuren wären zu sichten, man würde die Aufgabe dann lösen können.

Manchmal postet jemand alte Fotos aus dem kleinen Bahnhofsviertel in der Stadtteilgruppe auf Facebook, dann entschlüsselt die Gemeinschaft dort die Jahre, in denen die Fotos entstanden sind. Zusammengetragene Erinnerungsfetzen, dieses Geschäft gab es bis 79, dieser Laden war vor dem anderen in dem Haus, dieser Kiosk gehörte der Tante einer Freundin der Mitschülerin, und die starb 87, also war es … Es liest sich immer so, als würden das die Leute mit einigem Engagement betreiben, alle begeistert sein, etwas zu wissen, sich an etwas erinnern zu können. Und immer sind einige überrascht, wie schnell man manche Läden doch vergessen hat. Ich merke das auch in der Innenstadt, in der der Leerstand im Moment unübersehbar ist, ich weiß bei einigen der großen Schaufenster schon nicht mehr, was im letzten Jahr noch darin war, was vor Corona dort war.

Es geht ihr nicht gut, der Innenstadt, man kann es kaum übersehen. Im Hauptbahnhof schließt gerade ein Schuhgeschäft, reduziert die Buchhandlung die Fläche drastisch. Das Gegenteil nehme ich viel seltener wahr, Neueröffnungen, Erweiterungen kommen kaum vor. Oder sie fallen mir nicht auf, denn es ist so eine Sache mit den Beobachtungen, auch wenn man stets bemüht ist.

Ich lese beim Frühstück etwas in Colette, „Eifersucht“ heißt der Roman, da streichelt die Hauptperson gerade die Hauptkatze und befreit ihr Fell dabei von Ulmenblütenstaub. Man liest schnell so drüber weg, aber ich weiß nicht, wie Ulmenblütenstaub aussieht. Ich weiß auch nicht, ob es hier irgendwo noch eine Ulme gibt, ich nehme aber an, dem ist nicht so, das Ulmensterben, da war doch was. Eine kleine Naturerwähnung nur, die ich nicht mehr korrekt ausdeuten kann. In dreißig, fünfzig Jahren werden Leserinnen und Leser vor noch wesentlich mehr Rätseln dieser Art stehen.

Später am Tag in den Garten, kurz nach der Kornelkirsche sehen. Sie blüht.

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Währenddessen in den Blogs, Ausgabe 5.3.2023

Bei der Kaltmamsell bitte den letzten Absatz beachten, es geht um die Verödung von Twitter und die Folgen. Same here, same here, nur mit Hörbüchern. Ich hatte auch ein paarmal tatsächlich diesen albernen Moment, in dem ich vorm Computer saß und dachte: „Was mache ich eigentlich, warum sitze ich hier.“ Und das liegt tatsächlich daran, dass da früher mehr Inhalte waren. Also aus meiner Sicht, versteht sich, ich weiß, dass es noch genug Inhalte gibt, viel mehr als genug. Aber über meine gewohnten Kanäle kommt eben weniger rein, da wo ich angele, da schwimmt nun weniger herum. Dann muss man eben woanders angeln oder etwas ganz anderes machen. Da mal drüber nachdenken! Oder erst einmal weiter das Hörbuch laufen lassen, vielleicht lieber das, ich habe in den letzten Wochen meine Zeiten vor Bildschirmen erheblich reduziert. Den Radetzkymarschroman heute noch durchhören, das ist doch ein Plan, ein guter. Und dann gleich die Kapuzinergruft anfangen, man hat ja noch etwas vor sich.

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Frau Novemberregen beschreibt sich selbst als Verkörperung von FOMO, womit man uns beide als jeweilige Enden eines Spektrums verstehen kann, denn ich möchte lieber nicht. Gestern am späten Nachmittag habe ich, während das Hörbuch lief, zugesehen, wie es dunkel wurde, wie die Farben aus dem Wohnzimmer verschwanden, wie die Tulpen in der Vase auf dem Tisch im Abend versanken. Von so etwas möchte ich mehr machen, und dabei nichts machen.

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Einge kunstlastige Links bei Kiki.

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Und eine neue Monatsnotiz von Franziska.

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Nils Minkmar denkt in seinem aktuellen Newsletter über die Beständigkeit und Erneuerungsfähigkeit von Gesellschaften nach: „Die Fantasie von der Beständigkeit ist vielleicht eine Reaktion auf die menschliche Erfahrung, dass der Wandel die einzige Konstante unseres Lebens ist. Beim Betrachten von Fotos kann man feststellen, dass die Zeiten, in denen man sich selbst gleicht, eher kurz sind. Normal ist eine Vielfalt und Veränderung der Gestalt. Aber unser Denken funktioniert anders, als sei die Gegenwart eine Ausnahme und bald schon werde es eine Rückkehr zu vertrauten Gefilden kommen. Ich erwische mich selbst dabei und erwarte beispielsweise, dass es eines Tages im Bund wieder eine schwarzgelbe Koalition gibt und dann wieder eine rotgrüne, die die ablöst. Und wieder umgekehrt. 

In Wahrheit offenbart sich da ein Fehler im System: Die Vergangenheit fungiert als Default-Mode, als Muster, zu dem wir zurückstreben.“

Im Text von Nils Minkmar werden auch die alten Kaiser erwähnt, die vorigen Gesellschaften, ich fühle mich bei Joseph Roth da gerade bestens informiert und ertappe mich dabei, dass ich beim Genuss des Hörbuchs lieber nicht zu lange über die Gegenwartsbezüge nachdenke und mich nur ganz am Rande frage, ob unsere Gesellschaftsordnung auf Basis fossiler Brennstoffe nicht so etwas wie das Habsburger Reich unserer Tage ist. Es ist ein zu weites Feld, wie ein gewisser Großdichter gesagt hätte.

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Eine Dankespostkarte

Ich habe vielfach und längst (pardon) zu danken für ein Eichhörnchenfutterhaus, was sicher ein besonders gutes Wort für einen Kurs „Deutsch als Fremdsprache“ ist, für verschiedene Schreibutensilien und für Gedichte von Karl Krolow, für gleich mehrere Puzzles, für das Buch „Anfänge“ von David Graeber und auch für diverse Summen im Hut, die wir im Moment für den Sommer beiseitelegen, wenn kein anderer Verwendungszweck angegeben ist. Neulich etwa kam „Kultur“, das wird noch im März so verarbeitet, die Planung läuft. Ganz herzlichen Dank! Immer denke ich, den nächsten Dank musst Du aber wirklich viel schneller schaffen, und dann gelingt es mir wieder nicht. Schlimm.

Es ist mir aber auch lange kein Bild mehr untergekommen, vorgekommen, wie auch immer, ich habe einfach zu wenig gesehen, was sich in der Langweiligkeit der Jahreszeit begründet, ich stumpfe da stets etwas ab und nehme nur noch unzureichend wahr, was um mich herum geschieht oder sich präsentiert. Im Folgenden dafür eine noch aktuelle Bewegtbild-Sequenz von erheblicher Unglaubwürdigkeit, die ich Ihnen gerade deswegen zeigen möchte. Die Szene ist dermaßen klischeehaft, dass sie nur ausgedacht sein kann, da sie aber echt ist, frage ich mich doch wieder etwas, in welcher Dimension ich hier eigentlich lebe. Die Welt ist Text, der Text ist Welt, die Kulissen sind Klischee, die Klischees sind die Kulissen.

Wie auch immer. Im Bürohaus hinter unserer Wohnung arbeiten Unternehmensberaterinnen und -berater. Manchmal sind da junge Menschen dabei, ich habe es irgendwann schon einmal beschrieben, die enorm danach aussehen, als hätte man sie für einen Kinofilm über eine große Unternehmensberatung gecastet, so neu, teuer und gut sitzend sind die Anzüge und Kostüme, so glänzend die Schuhe, so hart und schnell der Gang, so entschlossen die Kinnpartie, so präzise die Frisuren und Rasuren. Ich sehe sie meist zur Mittagszeit, wenn sie zum Essen gehen und dabei noch Kurzmeldungen beruflicher Natur ins Handy bellen, knapp und zackig. Sie müssen sich diese Leute bis zur Lächerlichkeit typisch vorstellen, dann erst haben Sie ein stimmiges Bild, denn natürlich kommen sie auch tatsächlich so vor, irgendwo haben fast alle Karikaturen ihren konkreten Anlass und Ausgangspunkt. Zwei von dieser Art kommen mir am frühen Nachmittag entgegen, kurz vor unserer Haustür. Ich komme eben beladen vom Einkauf, meinen Hackenporsche so motiviert ziehend wie ein Pferd nach langen Dienstjahren die Touristenkutschen am Nordseedeich. Die jungen Leute streben vermutlich zu einem schnellen Essen, sie sehen beim Gehen auf Handys und Uhren, keine Zeit, keine Zeit.

Im Vorübergehen ein Satzfetzen, kurz nur: „Die zwanzig Leute werden freigestellt, das ist ja nun das kleinste Problem.“

Links von mir in diesem Moment das Schaufenster eines sozialistischen Verlages im Souterrain, aktuelle Titel, dort ausgestellt: „´Die Krise des Marxismus“ und auch „Gewerkschaft? Ja, bitte“.

Rechts von mir die Schlange vor der Essensausgabe in der Kirche, etwa sechzig Menschen stehen gerade auf dem Kirchhof und warten vor dem Portal, in einer langen Reihe um das Denkmal für den Heiligen Sankt Georg herum, der seine Lanze in den Lindwurm bohrt. Die meisten der Wartenden haben auch einen Hackenporsche dabei, die sind aber durchweg noch leer und werden erst in der Kirche gefülllt.

Das ist alles. So trifft es zusammen, so passt es auch. Es hat keine Moral, es belehrt auch niemanden, es findet nur einfach so unverbunden und parallel statt und jemand schreibt es auf. Ein paar Schritte weiter, im Fenster des tailändischen Massagesalons mit dem rot blinkenden Schild „Geöffnet“, stehen eine Winkekatze und ein großer, hölzerner Nussknacker unerklärlich nebeneinander, als gehöre das so. Eine merkwürdige Verbindung auch das, aber es fällt kaum auf.

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Kaffeetassen vor alten Büchern

Ich wache um 4 Uhr 30 auf und verlasse Bett und Komfortzone. Ich mache Buchhaltungskram am Morgen. Ich verschicke Rechnungen, ich bezahle Rechnungen, der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen. Besinnlich in den Tag. Woher kommt dieser Bibeltext? Ich bin da kein Experte, immer alles nachsehen. Aus dem Buch Hiob, ausgerechnet. Das mal heute nicht weiter verfolgen.

Der erste Blick in den Wetterbericht, zweistellige Temperaturen sind vielleicht in etwa zehn Tagen zu erwarten. Ein Countdown, ein Countdown, ich male entschlossen einen Strich ins Notizbuch. Noch sind es minus 2 Grad da draußen, mir kommt es vor wie minus 20, ich habe keine Frostabwehrreserven mehr. Ich bin nicht der Einzige damit, ich sehe es in den Timelines, man friert kollektiv. Ich sah es gestern auch draußen an den Radfahrerinnen, die rotnasiger und in sich gekrümmter aussahen als den ganzen Winter über, die bibbernd an den Ampeln hielten. Und ja, ich weiß, der Winter war zu warm und Schnee und Eis da draußen wäre jetzt die Regel und auch die Rettung. Man kann das verstehen, man kann es auch beklagen, man kann es auf emotionaler Ebene dennoch nicht warm genug finden, denn der Mensch ist eine komplexe Angelegenheit und jederzeit fähig, merkwürdige Sachen im Hirn direkt nebeneinander zu arrangieren.

Die Mirabelle vor dem Haus trägt einen lichtgrünen Schleier, hauchzart. Kaum zu sehen. Erste Krokusse im Stadtteil sind bereits verblüht, abgeknicktes Lila.

Die Söhne haben heute den letzten Schultag, dann sind die zweiwöchigen Hamburger Märzferien, die wieder nur sie haben, ich nicht. Nie werde ich über diesen Neid hinwegkommen, nie. Home-Office, während sich nebenan die Teenager in den Kinderzimmern noch zehnmal umdrehen, eine schwere Übung wird das, eine Challenge, wie man heute reflexmäßig sagt. The holiday-challenge for parents.

Ich sage einem Sohn, dass ich ein Problem mit seinen Ferien habe. „Probleme sind nur dornige Chancen“ sagt der Sohn reflexmäßig, es ist ein Zitat des Finanzministers, ausgerechnet. Ich verfluche Tiktok, wo derlei so erfolgreich verbreitet wird, nur Unsinn lernt der Nachwuchs dort. In meinem Erwachsenen-Tiktok dagegen sehe ich wieder viele dampfende Kaffee- oder Teetassen vor alten Büchern in englischen Cottages, umgeben von prachtvollen und doch seltsam lässig wirkenden Gärten, so soll das sein. Außerdem gleich mehrere Butler und Benimmexperten, die mir den korrekten Umgang mit Keksen oder Besteck erklären, mindless content von der allerbesten Sorte. „Ladies and gentlemen, when we drink tea …“ Die Aufforderung, alles mit Besteck zu essen, sie endet mit erhobenen Augenbrauen und „… we are not vultures.“

Das mal so bei nächster Gelegenheit auch an die Söhne weitergeben.

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Märzenblüte

Ich sehe im Stadtteil auf dem Weg ins Büro blühendes Frühlingsscharbockskraut, das man, ich habe es gerade auf Tiktok gelernt, auch gegen Skorbut (Skorbut = Scharbock) knabbern kann. Aber ich habe gerade nichts mit langen Seereisen zu tun und äse daher vorerst nicht, der unvermeidliche Beigeschmack von Hundeurin würde auch etwas stören, nehme ich an. In der Schweiz, das lerne ich in der Wikipedia, nicht auf Tiktok, heißt die Pflanze Glitzerli, und da möchte man den Schweizern doch sofort ein paar Extrapunkte vergeben. Glitzerli, wirklich schön. Denken Sie das bitte mal mit, wenn Sie irgendwo Frühlingsscharbockskraut sehen, aber denken Sie auch den Großvatersatz, an die Bauernweisheit: Märzenblüte ist ohne Güte. Als Kind habe ich das irgendwann gehört oder gelesen und mir aus unerfindlichen Gründen lebenslang gemerkt, manchmal kann man es sich selbst nicht recht erklären. Ich jedenfalls sage diesen Satz im März dauernd, einen Finger mahnend erhoben. Und warum auch nicht, es passt in so gut wie jedes berufliche Umfeld, einfach jeden kleinen Erfolg so kommentieren und abwerten. Ich kann sonst nur noch eine weitere Bauernregel, und die ist erst im Mai dran, Wiedervorlage.

Der Radetzkymarsch vom Roth, gelesen von Michael Heltau, ist übrigens ganz wunderbar, ein Erlebnis, der Hörgenuss des Jahres bisher. Sehr empfehlenswert, das überträgt eine sanfte, melancholische Ruhe, mit der man die paar restlichen Wochen bis zum deutlicheren Wechsel der Jahreszeiten vielleicht etwas besser ertragen kann. Sie ziehen sich doch wieder sehr, diese etwas öden Februarmärzwochen, wie immer.

Was noch? Erstmals zum Monatswechsel Taschengeld per Dauerauftrag an das Konto eines Sohnes transferiert, das sind so die kleinen Etappen des Auswilderns. Er kann sich jetzt selber Geld am Automaten abheben, Schluss mit der feierlichen Auszahlung von Bargeld. Die Kontoeröffnung war ein bürokratischer Akt erster Klasse, viel Papier, viele Unterschriften, viel Belehrung und Ermahnung seitens des Geldinstitutes, inklusive eines historischen Exkurses über die Geschichte der BLZ. Na, wenn es der Kundenbindung dient.

Die Herzdame ist währenddessen auf Dienstreise weit im Süden, in Dortmund, ich halte hier die Stellung und verschanze mich im Alltag. Es gab Spaghetti Bolognese, es gibt Fischstäbchen. Ich habe im Moment keine Lust aufs Kochen, das merkt man leider, es ist daher alles etwas suboptimal, aber es läuft immerhin. Buddenbohm expects himself to do his duty.

Egal. Jetzt weiter im Radetzkymarsch. Es ist noch viel Buch übrig, und das immerhin ist gut so.

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Der lange Weg zur Diagnose – Ein Lese-Hinweis

Ein Text von Maret Buddenbohm

Mein Blogartikel „Reiß dich doch einfach mal zusammen“ ist inzwischen schon ein paar Tage her, aber ich freue mich immer noch über das durchweg positive Feedback und die vielen Rückmeldungen von Betroffenen oder deren Angehörigen – viel mehr als ich vermutet hätte und vieles davon hat mich auch sehr berührt.

Es wurde mehrfach danach gefragt, ob ich nicht über meinen Weg zu den Diagnosen schreiben könne, was ich auch gerne tun wollte. Es hat dann ein paar Anläufe gebraucht, da mir einfach die Zeit fehlte und als ich dann endlich mittendrin war, klingelte das Telefon und das Magazin „Donna“ fragte an, ob ich nicht einen Artikel für sie schreiben will – und zwar *Trommelwirbel* über meinen langen Weg zur Diagnose.

Anfangs war ich etwas unentschlossen, da ich mich nicht kurzfassen kann, prinzipiell immer alles wichtig finde und damit ein ganzes Heft oder Buch füllen könnte. Außerdem war es mir wichtig, meine Erfahrungen mit den Blogleserinnen zu teilen, von denen ja nicht alle Donna-Leserinnen sind.

Am Ende habe ich mich dann aber für die Donna entschieden, gerade weil die Leserschaft noch einmal eine andere ist und auch wegen der hohen Reichweite. Mir ist es ein großes Anliegen, in meiner knappen Zeit möglichst viel Aufmerksamkeit auf dieses Thema zu richten. Ich hoffe, die Blogleserinnen sehen es mir nach und lesen den Artikel eventuell in der aktuellen Ausgabe.

Ich freue mich jedenfalls, dass ich die Gelegenheit hatte, für ein bekanntes Magazin zu schreiben!

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Währenddessen in den Blogs, Ausgabe 28.2.2023

Der Blogaufruf aus der letzten Linksammlung wurde aufgegriffen, so geht es nämlich auch.

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Fünf Nonsense-Studien bei Jochen, am schönsten vielleicht die mit den Fallschirmen.

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Im letzten Newsletter von Berit Glanz geht es u.a. um „mindless content“, also um das Zeug, das man konsumiert, wenn man nichts mehr konsumieren möchte, bei dem man auch nur ansatzweise denken muss. Sie landet bei Insta Reels, die ich für diesen Zweck auch am besten finde, noch besser übrigens als Tiktok. Tiktok hat einen dermaßen scharf eingestellten Algorithmus, dass man permanent in engen Schubladen landet, mag man ein vegetarisches Rezept, werden danach 100 vegetarische Rezepte vorgeschlagen, ziemlich konsequent sogar, ich finde das oft etwas nervtötend. Man mag eine Ansicht von Edinburgh, zack, hier sind 136 weitere Ansichten von Edinburgh. Ja, ist gut jetzt. Instagram ist viel lahmer in der Auswahl und bleibt zumindest bei mir daher bunter, nach den vegetarischen Rezepten kommen weiter Bilder aus den Highlands in angenehmen Brauntönen, lustig sein sollende Memes, japanische Altstädte im Regen, herumtollende Pandas und Clips von seltsamen Herrenmodenschauen etc. Wirklich ein sehr buntes Programm, und nichts davon ist des Nachdenkens wert. Aber immer hübsche Bildchen dabei.

Ich habe eine Weile überlegt, was ich eigentlich früher gemacht habe, als es noch gar keinen mindless content gab, jedenfalls nicht im heutigen üppigen Sinne. Als Jugendlicher und junger Erwachsener habe ich sicher manchmal eine Schallplatte aufgelegt und eine Zigarette dabei geraucht, doch, so wird es gewesen sein. Dann dem Rauch zugesehen, wir hatten ja nichts. Aber danach? War das auch mit CDs noch so? Ich bekomme es nicht mehr richtig zusammen, mir fehlen die Erinnerungsbilder, vielleicht liegt es am Nichtrauchen. Vermutlich gab es noch anderes, aber es ist mir gerade komplett entfallen. So etwas wie Stricken oder dergleichen habe ich nie gemacht, so etwas wird es also nicht gewesen sein, es gab keine hobbymäßige Beschäftigung irgendeiner Art, ich habe keine Männchen geschnitzt, keine Sonnenuntergänge aquarelliert, keine Aschenbecher oder Vasen getöpfert. Habe ich die Wand angesehen? Raufaser als mindless content. Kann sein.

Da fällt mir ein, vor Urzeiten habe ich auch regelmäßig ferngesehen, wie alle damals. Ja, das könnte es gewesen sein. Was man alles aus dem Blick verliert, wenn man es längere Zeit nicht mehr macht, es ist doch erstaunlich.

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Frau Klugscheißer trifft Gorillas.

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